Sechzehn Wörter - Nava Ebrahimi - E-Book

Sechzehn Wörter E-Book

Nava Ebrahimi

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Beschreibung

Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin 2021

Es gibt Wörter, die wir nicht kennen. Deren Bedeutung wir aber erahnen. Als wären sie immer schon hier gewesen. Als hätten sie schon immer in uns gewohnt. Und manchmal wollen sie endlich ausgesprochen werden.

Als ihre Großmutter stirbt, diese eigenwillige Frau, die stets einen unpassenden Witz auf den Lippen hatte, beschließt Mona, ein letztes Mal in den Iran zu fliegen. Gemeinsam mit ihrer Mutter wagt sie die Reise in die trügerische Heimat. Der Rückflug in ihr Kölner Leben zwischen Coworking und Clubszene ist schon gebucht. Doch dann überredet sie ihr iranischer Langzeitliebhaber Ramin zu einem Abschiedstrip nach Bam, in jene Stadt, die fünf Jahre zuvor von einem Erdbeben komplett zerstört wurde. Und Monas Mutter schließt sich den beiden an. Die Fahrt wird für Mona zu einer Konfrontation mit ihrer eigenen Identität und ihrer Herkunft, über die so vieles im Ungewissen ist. Aber manchmal wird uns das Fremde zum heimlichen Vertrauten. Und über das, was uns vertraut schien, wissen wir so gut wie nichts.

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Zum Buch

Es gibt Wörter, die wir nicht kennen. Deren Bedeutung wir aber erahnen. Als wären sie immer schon hier gewesen. Als hätten sie schon immer in uns gewohnt. Und manchmal wollen sie endlich ausgesprochen werden.

Als ihre Großmutter stirbt, diese eigenwillige Frau, die stets einen unpassenden Witz auf den Lippen hatte, beschließt Mona, ein letztes Mal in den Iran zu fliegen. Gemeinsam mit ihrer Mutter wagt sie die Reise in die trügerische Heimat. Der Rückflug in ihr Kölner Leben zwischen Coworking und Clubszene ist schon gebucht. Doch dann überredet sie ihr iranischer Langzeitliebhaber Ramin zu einem Abschiedstrip nach Bam, in jene Stadt, die fünf Jahre zuvor von einem Erdbeben komplett zerstört wurde. Und Monas Mutter schließt sich den beiden an. Die Fahrt wird für Mona zu einer Konfrontation mit ihrer eigenen Identität und ihrer Herkunft, über die so vieles im Ungewissen ist. Aber manchmal wird uns das Fremde zum heimlichen Vertrauten. Und über das, was uns vertraut schien, wissen wir so gut wie nichts.

Zur Autorin

NAVA EBRAHIMI, 1978 in Teheran geboren, studierte Journalismus und Volkswirtschaftslehre in Köln. Sie arbeitete unter anderem als Redakteurin bei der Financial Times Deutschland und als Nahost-Referentin. Nava Ebrahimi veröffentlichte bereits verschiedene Kurzgeschichten in Anthologien, Zeitungen und Zeitschriften. 2007 war sie Finalistin des Open Mike. 2013 nahm sie an der Bayerischen Akademie des Schreibens teil. Nava Ebrahimi lebt mit ihrer Familie in Graz. »Sechzehn Wörter« ist ihr erster Roman.

Nava Ebrahimi

Sechzehn Wörter

Roman

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Die Bayerische Akademie des Schreibens hat die Arbeit an diesem Buch mit dem Seminar »Romane schreiben« begleitet.
Copyright © 2017 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: semper smile, München Umschlagmotiv: © shutterstock/L. KramerSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-18706-4V002
Besuchen Sie unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de!www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

Prolog

Maman-Bozorg

Morde-Schur

Kos

Khastegar

Tschub-e do sar gohi

Tschub-e do sar tala

Ezafebar

Anar

Gharibe-Dust

Sherkat Naft

Baba ab dad

Narmkonande

Dschudschu

Tschahar-Rah

Dorugh

24+1 Beispiele kindlicher Pietät

Azadi

Für meine Großmutter

Prolog

Erst war es nur ein Wort. Das Wort, flink und wendig, überfiel mich, wie alle diese sechzehn Wörter, aus dem Hinterhalt. Nie hatte ich es bisher geschafft, mich zu wehren, stets zwangen sie mir aufs Neue ihre Botschaft auf; da ist noch eine andere Sprache, deine Muttersprache, glaube ja nicht, die Sprache, die du sprichst, wäre deine Sprache. Regelmäßig war ich ihnen ausgeliefert, diesen Wörtern, die nichts mit meinem Leben zu tun hatten, nichts mit der Art, mit der ich täglich das Fahrradschloss öffne, nichts damit, wie ich im Restaurant Essen bestelle oder im Frühling Winterkleidung verstaue. Nichts hatten sie mit meinem Leben zu tun, trotzdem, oder gerade deshalb brachten sie mich immer wieder in ihre Gewalt.

Doch dann, einer Eingebung folgend, übersetzte ich ein Wort, und es war, als hätte ich es entwaffnet. Weshalb erst jetzt, weshalb ich vorher nie auf die Idee gekommen bin, kann ich nicht sagen. Vielleicht hatte ich Angst davor, dem übersetzten Wort, dem entblößten Wort gegenüberzustehen. Mit einem Schlag verlor es die Macht über mich. Wie in einem Märchen, durch die Übersetzung hob ich den Bann auf, der auf dem Wort lag, und befreite mich aus der Geiselhaft. Wir waren nun beide frei, das Wort und ich. Die anderen Wörter kamen hinzu, auch sie wollten erlöst werden, von ihrem Bann und der Einsamkeit, in der sie ihr Dasein fristeten. Und als sie ihre Isolation überwanden, sich verbanden, da erkannten sie erst, welchen Schwindel sie all die Jahre befördert hatten. Nicht allein, aber alle gemeinsam. Im Unübersetzten hatte der Schwindel es sich herrlich einrichten können.

Applaus und Gejohle drangen an mein Ohr, gedämpft und von weit her. Ich öffnete die Augen. Es dämmerte. An der Decke zeichnete sich der Kronleuchter aus Messing ab, der hier in jedem Zimmer hing. Ruckartig, als hätte ich einen wichtigen Termin verschlafen, stand ich auf und tastete mich durch den Flur ins Wohnzimmer. Meine Großmutter saß im Halbdunkel auf der Couch, von den Bildern aus dem Fernseher in bläulichen Farben angestrahlt. Den Ton hatte sie so aufgedreht, dass das Gehäuse im Takt der Musik schepperte. Sie schnippte mit den Fingern und bewegte die Schultern rhythmisch vor und zurück. Auf dem weit ausgeschnittenen Dekolleté ihrer schwarzen Bluse glitzerte ein Schmetterling. Dazu trug sie die Jogginghose aus rosa Frottee, mit der sie zu Bett gegangen war.

»Komm, setz dich zu mir!«, rief sie, ohne ihre Bewegungen zu unterbrechen.

»Maman-Bozorg, ist es nicht noch ein wenig zu früh für …« Anstatt den Satz zu beenden, rieb ich mir mit beiden Händen die Augen.

»In Los Angeles ist es Abend, und die Gala hat gerade begonnen. Wie früh es hier in Maschhad ist, interessiert niemanden.« Sie schnippte weiter im Takt.

Ich setzte mich neben sie und betrachtete sie von der Seite. Ihre Wimpern waren vor lauter Wimperntusche verklebt. Der Lippenstift verlief in den Fältchen oberhalb ihres Mundes und bildete ein kleines rotes Flussdelta. Den Puder hatte sie so großzügig aufgetragen, dass er sich in den Runzeln auf ihrer Stirn sammelte. Sie hatte immer schon viel Zeit darauf verwendet, sich zurechtzumachen, aber je älter sie wurde, desto mehr uferte es aus.

Im Fernsehen lief ein iranischer Sender aus Los Angeles namens Tapesh, »Herzschlag«. Drei Mädchen in kurzen Paillettenkleidern tanzten zu persischem Pop um einen alten Mann im Smoking herum. Ich kannte ihn, er hieß Aref. Die Mädchen hüpften umher, als spielten sie in einem Weizenfeld Verstecken. Aref tat, als beachtete er sie nicht. Er besang eine Frau, die Herrscherin über sein Herz, die ihn allmählich umbringe mit ihrer Koketterie. Meine Mutter liebte dieses Lied. Eine Zeit lang hatte sie mehrmals am Tag die Kassette eingelegt, es gehört, zurückgespult, es noch einmal gehört, wieder zurückgespult. Während das Lied die Sehnsüchte meiner Mutter nährte, von denen ich bis heute nichts weiß, hatte ich vor dem Spiegel versucht, dazu zu tanzen, und unbeholfen mit meinen Kinderhüften gewackelt. Ich imitierte Maman; wenn wir in Köln Konzerte iranischer Bands besuchten, stand ich am Rand der Tanzfläche und schaute ihr stundenlang dabei zu, wie sie tanzte. Wie sie mit den Händen geschmeidig Figuren in die Luft zeichnete, wie sie mit dem Becken kreiste, die Schultern vibrieren ließ. Ich prägte mir alles ganz genau ein.

Aref machte einen Gesichtsausdruck, als litte sein Herz unter der Fremdherrschaft. Oder vielleicht auch darunter, dass er dieses Lied seit Jahrzehnten singen musste, früher in Teheraner Varietés, nun auf amerikanischen Showbühnen, als hätte sich nichts geändert, als sei die Zeit stehengeblieben.

Kaum hatte Aref die letzte Silbe gesungen, unterbrach ein Werbespot für ein Trainingsgerät das Programm. Amerikanische Bauchmuskeln mit persischer Tonspur. Meine Großmutter wirkte zufrieden und fächerte sich Luft zu.

»Aref fliegen die Herzen zu, aber er liebt nur mich. Nach seiner großen Neujahrsshow vor ein paar Wochen hat er mir von der Bühne aus einen Heiratsantrag gemacht. Ich sei eine einzigartige Frau und eine großartige Künstlerin, hat er gesagt!«

Sie schaute mich erwartungsvoll an. Ihre Augen glänzten. Ich wich ihrem Blick aus und starrte auf den Bildschirm, wo die Bestellnummer für den Bauchmuskeltrainer rot aufleuchtete, 676881. Die Telefonnummer meiner Grundschulfreundin Clara war 767881 gewesen. Die erste Nummer, die ich auswendig lernte. Und die mich, anders als Clara, bis an mein Lebensende begleiten wird.

Ich spürte, dass meine Großmutter mich musterte.

»Kämm dir mal die Haare. Du siehst aus wie eine verprügelte Nutte.«

»Maman-Bozorg!«

»Und setz bitte Tee auf. Ich muss gleich auf die Bühne und habe einen ganz trockenen Mund.« Sie schmatzte mehrmals, etwas knackte. Vermutlich saß das Gebiss nicht richtig. »Trocken wie die Kos einer alten Jungfer.«

Auf dem Herd stapelten sich die Plastikteller vom Kabab-Lieferdienst. Früher hatten hier um diese Uhrzeit schon Lammhaxen im Schnellkochtopf geköchelt. Ich füllte schwarzen Tee in eine Kanne und setzte Wasser auf. Während ich wartete, stützte ich mich an der Arbeitsplatte ab und schloss die Augen. Ich war müde. Statt, wie geplant, um zweiundzwanzig Uhr war das Flugzeug, das ich in Istanbul bestiegen hatte, erst um zwei Uhr nachts in Maschhad gelandet. Die Maschine hatte mehrere Schleifen über der Stadt gedreht, das Mausoleum des Imam Reza, das in der Dunkelheit in allen Farben funkelte, schien wie eine offene Schatzkiste jedes Mal zum Greifen nah. Doch dann erklärte der Pilot, dass er nicht in Maschhad landen dürfe und nun nach Teheran fliegen müsse. Gestöhne, Geseufze, Gemurmel, schließlich Rufe aus allen Richtungen.

»Vielleicht ist das Wetter schlecht.«

»Hat es für Sie eben nach Unwetter ausgesehen?«

»Ich habe vorhin noch mit meiner Mutter telefoniert. Die sagte, der Himmel sei klar.«

»Es ist mitten in der Nacht. Der Himmel unter der Bettdecke Ihrer Mutter ist vielleicht klar.«

»Wir sollten in Teheran nicht aussteigen. Sonst können wir selbst schauen, wie wir nach Maschhad kommen.«

»Wenn Sie nicht aussteigen, wird man Sie bezichtigen, Gegner der Revolution zu sein.«

»Was ist denn mit den Leichen an Bord?«

»Welchen Leichen?«

»Mit diesem Flug werden zwei Leichen transportiert.«

»Das meint man wohl mit ›jemandem die letzte Ruhestätte verwehren‹.«

»Dieser Zwischenstopp ist die Strafe dafür, dass wir uns in Istanbul amüsiert haben.«

Einige lachten.

Wir landeten in Teheran. Das Flugzeug stand eine Weile herum, ohne dass sich etwas tat, dann startete die Maschine wieder, ohne weitere Ansage.

Der Kessel pfiff. Ich füllte das kochende Wasser in die Kanne und wartete, bis es die Farbe von Bernstein angenommen hatte. Ich brachte meiner Großmutter ein Glas voll, dazu zwei Zuckerstückchen. Sie hielt das Glas gegen das Licht der aufgehenden Sonne.

»Genau richtig, jetzt ist es Zeit zu heiraten. Oder wann gedenkst du zu heiraten? Mit dreißig?«

»Maman-Bozorg, ich bin doch längst über dreißig.«

»Alle Frauen machen sich jünger, nur du machst dich älter.«

»Erinnerst du dich nicht? Ich bin doch vor der Revolution geboren worden.«

»Vor welcher?«

Sie nahm ein Zuckerstück in den Mund und nippte am Tee, den Blick auf den Fernseher geheftet. Ein Moderator mit gelglattem Haar erzählte Witze über Ahmadinedschad.

»Komm – du hast doch einen Khastegar! Oder zumindest einen Freund? Das kannst du mir nicht weismachen. Was ist denn mit den deutschen Männern los? Du bist jung, lebst in Azadi und hast keinen Mann?«

Sie sagte das oft, »Du lebst in Azadi«, aber es lag dabei nichts Pathetisches in ihrer Stimme. Sie sagte es mit einer Mischung aus Neugier und Neid, und ich spürte schon früh, dass sie es sich aufregender vorstellte, als es tatsächlich war, das Leben in Freiheit.

»Ich hatte mal einen Khastegar. Er wollte mich, aber ich wollte ihn nicht heiraten.«

Ich sagte das, um sie zu beruhigen. Wie sollte ich ihr einen Eindruck davon vermitteln, wie es lief als Single mit Mitte dreißig in einer Großstadt der westlichen Hemisphäre? Wie sollte ich ihr so etwas wie Bindungsängste erklären? Auf Deutsch klang es schon lächerlich. Angst vor zu viel emotionaler Nähe. Dass jemand die Flucht ergreift, sobald eine Beziehung verbindlicher wird. Auf Persisch ging es überhaupt nicht. Für derartige Nuancierungen war die Sprache nicht vorgesehen.

Die Wahrheit über mein deutsches Liebesleben hätte meine Großmutter nicht verstanden, die verstand ich ja selbst kaum, und die bloße Zahl an Männern, mit denen ich geschlafen hatte, hätte auf der Stelle ihr Herz stillstehen lassen. Dachte ich zumindest.

»Nur einen Khastegar? Tststsss. Hier stünden sie Schlange für dich. Du hättest schon längst einen Mann. Was rede ich – mehrere! Meine Nichte lässt sich von Männern nach Dubai einladen, in die teuersten Hotels.«

»Von mehreren?«

»Ja klar! Der Iran ist ein einziges Freudenhaus geworden! Selbst Neunzigjährige, bei denen du blättern musst, um die Kos zu finden, amüsieren sich ungeniert.«

»Maman-Bozorg!«

»Ich habe auch einige Verehrer. Zum Beispiel den Konditor am Ende der Straße. Nicht einmal fünfzig Jahre alt. Jedes Mal, wenn er mir eine Schachtel mit Gebäck übergibt, berührt er meine Hände.«

Sie legte ihre Hand kurz auf meine. Dann hob sie sie vor die Augen und sah sie sich sehr genau an.

»Dein Großvater hat sich zuerst in meine Hände verliebt, als ich ihm im Krankenhaus Tee brachte. Meine Hände waren weiß und schön rundlich. In die kleinen Kuhlen auf meinen Fingergelenken hätte man Erbsen legen können.«

Vor meinem geistigen Auge erschien ein Handrücken mit Erbsen darauf. Meine Großmutter ließ ihre Hand fallen wie einen nassen Sack. Auch ihre Gesichtszüge wirkten plötzlich schlaff.

»Aber Schönheit führt einen nur ins Verderben. Schau dir mich, schau dir deine Mutter an. Das Schicksal meint es nur mit hässlichen Frauen gut.«

Maman-Bozorg nahm wieder Haltung an und blickte auf den Fernseher.

Eine Frau in einer weißen Robe mit weißem Pelzkragen hatte die Bildfläche betreten. Sie sang von der Sehnsucht nach dem Iran, die Augen hielt sie geschlossen. Maman-Bozorg übergab mir die Fernbedienung und sang mit. Krächzte mit. Sie ahmte die Frau nach, breitete die Arme aus, kreuzte sie vor der Brust, ballte die Fäuste, verzog schmerzerfüllt das Gesicht. Das Lied endete mit einem Tusch. Die Sängerin öffnete die Augen. Close-up. Tränen brachen sich Bahn, rollten die aufgespritzten Wangen hinab. Der Keyboarder im weißen Smoking reichte ihr ein Taschentuch, sie tupfte sich das Gesicht ab und verbeugte sich so zaghaft, als fürchtete sie, der Haarturm könne ihr nach vorne wegrutschen.

Jetzt stand auch meine Großmutter auf und verbeugte sich mit wackligen Knien, ihre dürren Beine waren in der ausgebeulten Frotteehose nur zu erahnen.

Sie setzte sich wieder und zog am Ausschnitt ihrer Bluse.

»Hast du schon einmal solche Brüste gesehen? So rund und fest? Sag!«

Ich sah kurz hin. »Nein, Maman-Bozorg. Du hast tolle Brüste.«

»Im Schwesternwohnheim haben sie zu mir gesagt: ›Komm, Maryam, zeig uns deine schönen Brüste!‹«

Noch immer hielt sie den Ausschnitt ihrer schwarzen Bluse umklammert, blickte an sich hinab.

»Solche Brüste in meinem Alter! Nach zwei gestillten Kindern!«

»Zwei? Wen außer Maman hast du denn noch gestillt?«

Sie ließ den Ausschnitt los, zupfte die Bluse zurecht, schob das Kinn nach vorne, nahm mir die Fernbedienung ab und wechselte den Kanal.

»Du hättest auch schönere Brüste, wenn du auf mich gehört und mehr Zwiebeln gegessen hättest.« Sie zappte weiter.

»Hast du eine deiner Nichten gestillt?«

»Deine Mutter hat immer auf mich gehört. Keine ihrer Cousinen hatte so schöne Brüste wie sie. Mit dreizehn trug sie sie schon vor sich her wie zwei reife Orangen. Und dann habe ich sie deinem Vater gegeben. Gott vergib mir.«

Meine Großmutter hatte jetzt einmal durchgezappt. Sie stoppte wieder bei Tapesh, seufzte laut, sackte in sich zusammen wie ein Akkordeon und schloss die Augen.

»Maman-Bozorg?«

Sie reagierte nicht.

Ich sprang auf und hielt meine Wange vor ihren leicht geöffneten Mund. Atemhauch, glaubte ich. Vorsichtshalber tastete ich nach dem Puls ihrer Halsschlagader. Dann zog ich ihr langsam die Fernbedienung aus der Hand und schaltete den Fernseher aus.

Ein Schritt noch, und die elektrische Schiebetür würde sich öffnen. Ich weiß, was mich erwartet, und doch fühlt es sich jedes Mal an, als ließe ich mich in ein schwarzes Loch fallen. Ich werde nicht aufschlagen, das weiß ich, viele Hände werden mich auffangen, vielleicht noch einmal ein paar Meter in die Luft werfen, bis ich schließlich auf dem Rücken liegen bleibe und den Punkt, an dem ich mich habe fallen lassen, sehr weit oben nur noch als ein winziges weißes Loch erkennen kann.

Meine Mutter hält ebenfalls inne. Als hätten wir die Wahl. Als könnten wir es uns doch noch einmal anders überlegen, gleich wieder in das Flugzeug steigen und zurückfliegen. Wir holen beide tief Luft, bevor wir den Schritt setzen. Die Scheibe aus Milchglas schiebt sich zur Seite, Mamans Cousinen ziehen heran, eine Gewitterwolke, die uns einhüllt und sich entlädt. Fremde Tränen benetzen mein Gesicht, Klagen überziehen mich, Parfüm und Schweiß nehmen mir kurzzeitig die Luft zum Atmen. Ich lasse mich an unterschiedliche Brüste drücken, sage »Danke, danke«, versuche gar nicht erst, irgendetwas Sinnvolles zu entgegnen. Irgendwann ruft eine Cousine, wir müssten jetzt aufhören, in Maman-Bozorgs Wohnung warteten noch einige Verwandte, ihnen gegenüber sei es unfair, am Flughafen schon alle Tränen zu vergießen.

Fariba, Mamans Cousine, die meine Großmutter tot aufgefunden hat, sitzt vorne neben dem Taxifahrer, unangeschnallt, den Oberkörper uns auf der Rückbank zugewandt. Sie habe mit Medikamenten und einer Tüte Anar vor der Wohnungstür gestanden und mehrmals geklingelt, eine Ohrmuschel an die Tür gelegt und den Fernseher gehört, geklopft, mit den Fäusten gegen die Tür getrommelt, den Schlüsseldienst gerufen, gewartet, gebetet, dass die Tante im Bad steht und sich schminkt oder gerade auf einer Gala auftritt und ihre Show nicht unterbrechen will.

Meine Mutter wimmert, das Gesicht in beide Hände vergraben.

Fariba spricht gedankenverloren weiter.

»Tante bewegte sich nicht mehr vom Fernseher weg. Das war ihr Leben.«

»Am Telefon klang sie immer so normal …« Maman wischt sich mit einem Taschentuch Tränen aus dem Gesicht.

»Sie hat den Fernseher ausgemacht, wenn du anriefst. Oder du, Mona. Ansonsten lief er Tag und Nacht. Und wenn der Fernseher an war, dann tauchte sie ab.« In Faribas Stimme schwingt ein Unterton mit, nur hörbar für die, die für schlechtes Gewissen empfänglich sind.

Ich hatte Maman-Bozorg seit meinem letzten Besuch im Iran noch drei, höchstens vier Mal angerufen. Jedes Mal wiederholte sie immerzu dieselben Sätze.

»Wann heiratest du denn endlich? Mit dreißig oder was? Ich hätte deine Mutter nicht mit dreizehn deinem Vater geben dürfen. Woher hätte ich denn wissen sollen, dass …?«

Dann ging ihr die Luft aus, und sie legte auf.

Fariba fand meine Großmutter im Wohnzimmer auf der Couch. Die Details knallen wie Peitschenhiebe auf meine Mutter nieder:

In einem Kleid aus grünem Samt.

Mit grüner Spitze am Dekolleté.

Die Lippen rot angemalt.

Das Haar rundgeföhnt.

»Wie eine Puppe hat sie ausgesehen. Wie eine Puppe, mit der niemand mehr spielen will.«

Die Cousine dreht sich mit dem Oberkörper nach vorne, schlägt sich mit den flachen Händen auf den Kopf, schreit.

Ich sitze auf der Rückbank wie jemand, der an Flugangst leidet, kurz vor dem Start.

Der Taxifahrer bremst ruckartig, wechselt die Spur und sendet durch den Rückspiegel Flüche an das Auto, das wir überholen.

Fariba verfällt wieder in Apathie. »Der Arzt hat festgestellt, dass sie schon ungefähr einen Tag lang tot war.«

»So sterben doch nur Deutsche, so allein vor dem Fernseher, einsame Deutsche, aber doch nicht meine Mutter, meine Mutter doch nicht …«

Ich reiche Maman ein neues Taschentuch. Der Taxifahrer tritt aufs Gas. Ein meterhohes Porträt des religiösen Führers zieht an uns vorbei. Die Augen wissend, das Lächeln höhnisch.

Am Tag der Beerdigung steht die Sonne allein am Himmel. Mamans Cousinen, wir und viele Verwandte, die ich nicht zuordnen kann, haben sich vor einem kastenartigen Gebäude versammelt, in dem die Morde-Schur den Leichnam meiner Großmutter wäscht. Die Tür ist angelehnt, ich höre das Wasser fließen und plätschern. »Fester, fester!«, hatte sie immer gesagt, wenn ich ihr in der Badewanne den Rücken abgerubbelt hatte, »fester, so kommt der Dreck bestimmt nicht herunter.« Ob ich nach der Waschung die Chance ergreifen werde, sie ein letztes Mal zu sehen, habe ich noch nicht entschieden.

Ein paar Meter weiter links von mir stehen drei Frauen zusammen. Mit gedämpften Stimmen tauschen sie Informationen aus. Jemand hat etwas gehört, jemand hat etwas erzählt, jemand hat etwas gesehen, und es darf auf keinen Fall weitergesagt werden. Maman-Bozorgs Wirklichkeit setzte sich ausschließlich aus Dingen zusammen, die auf keinen Fall weitergesagt werden durften. Je strenger der Überbringer darauf beharrte, desto glaubwürdiger die Nachricht, desto höher wurde sie gehandelt, und desto mehr konnte man sich in der nächsten Runde von demjenigen erwarten, dem man sie weitergab. Wäre es ein Geschäft gewesen mit Währung und Preisen, meine Großmutter hätte über eine milliardenschwere Holding mit Briefkastenfirmen auf den Cayman Islands verfügt. Wenn sie nicht gerade praktische Anweisungen gab, sprach sie fast immer mit gedämpfter Stimme. Die Augen riss sie dann besonders weit auf, und mit den Lippen formte sie überdeutlich die Laute, um die geringere Lautstärke zu kompensieren.

Die jüngste der drei Frauen kann es sich nicht verkneifen, zu mir herüberzuschielen. Als sich unsere Blicke treffen, lächelt sie mich an. Ich lächle zurück.

Die Tür öffnet sich, alle verstummen. Die Morde-Schur, eine hagere, alterslose Frau mit müdem Blick, erscheint und deutet mit dem Kinn in den weiß gekachelten Raum hinein, in dem meine Großmutter auf einem Metalltisch liegt. Ich sehe nur ihre Füße. Sie schauen unter dem weißen Tuch hervor, mit dem ihr Körper bedeckt ist. Ihre Zehennägel sind unlackiert, und ich frage mich, ob es auch zum Job der Morde-Schur gehört, Aceton auf einen Wattebausch zu tröpfeln und den Nagellack zu entfernen, oder ob meine Großmutter in letzter Zeit nachlässig geworden war. Ich bleibe stehen, wo ich bin, nur wenige Schritte von der Tür entfernt. Meine Mutter geht hinein, schreit auf, wird von drei Cousinen herausgeholt.

»Allah-o Akbar!«, rufen die Männer, als sie den Leichnam vom Metalltisch auf die Holzbahre hieven, immer wieder »Allah-o Akbar!«, als sie das Gebäude verlassen und sich, die Bahre hochhaltend, ihren Weg durch die Menge bahnen. Gott ist groß! Sie rufen es laut und kraftvoll, mit einer mir unbekannten Gewissheit und zugleich so voller Ehrfurcht, dass ihre Stimmen vibrieren. Die Vibration versetzt auch mich in Schwingung, als sie mit dem Leichnam an mir vorbeiziehen, seismische Wellen bis ins Mark, sie lösen ein inneres Erdbeben aus, ein Abgrund öffnet sich, alles wackelt und klirrt einen kurzen Augenblick lang, und als der Abgrund sich wieder schließt, ist nichts mehr an seinem Platz.

Wir gehen los, ein schwarzer Strom, den Männern folgend, die den Leichnam tragen und mit jedem »Allah-o Akbar« eine Bugwelle des Schauderns erzeugen. Um eines von vielen Löchern in der Erde herum bilden wir einen Kreis, meine Mutter wirft sich auf die Knie und fängt an, mit den Händen wie Scheibenwischer auf dem staubigen Boden hin- und herzufahren. Ihre Cousinen schieben mich in die erste Reihe. Ich bleibe dort stehen, mit hängenden Schultern und gesenktem Blick, als zöge es auch mich hinab. Als die Männer das weiße Bündel in die Erde hinunterlassen, drängen von hinten die schluchzenden Cousinen nach vorne, ich gebe bereitwillig nach, falle zurück und setze mich schließlich unbemerkt auf einen Stein, der in Sichtweite aus dem Boden ragt.

Leichter Wind geht. Eine Handvoll Blätter steigt auf, raschelt. Schleier heben sich, Klagegesänge verwehen.

»Alleine vor dem Fernseher, so sterben doch nur Deutsche, einsame Deutsche, aber nicht meine Mutter, meine geliebte Mutter!«

Maman hält sich an diesem Satz fest, als wüsste sie nicht, was sie sonst hinausschreien sollte. Bei der Beerdigung meines Vaters schrie seine Schwester immer wieder, dass er noch Enkelkinder habe auf den Schoß nehmen wollen. Ich war mir nicht sicher, ob das stimmte, aber das spielte keine Rolle. Diese hinausgeschrienen Worte sind vor allem Öl in das Feuer der Trauernden, das immer wieder angefacht werden will, Öl in ein Feuer, in dem die bösen Geister der Nachrede brennen sollen. Doch was hätte meine Mutter in dieser Hinsicht bieten können?

Bei Maman-Bozorg fiel einem nichts ein, das sie noch hätte erleben, sehen oder essen wollen. Sie hat sich immer geholt, was sie brauchte. Wenn sie Eintopf kochte, fischte sie das beste Fleisch für sich heraus, bevor sie ihn servierte. Wenn sie ein Bad nahm, ließ sie sich von ihrer Tochter den Rücken abrubbeln, bis ihre Haut leuchtete wie eine rote Ampel und Maman der Schweiß von der Stirn rann. Deshalb hatte meine Großmutter bis zum Schluss eine Haut wie eine Dreizehnjährige. Jeden Tag legte sie sich nach dem Mittagessen nieder, egal, was um sie herum passierte. Selbst nach dem großen Erdbeben 1968 in Birdschand, wohin mein Großvater kurzzeitig als Beamter versetzt worden war, zog sie sich täglich um Punkt dreizehn Uhr in das Zelt zurück, das mein Großvater im Garten aufgestellt hatte. Baba-Bozorg starb, als ich noch ein Kind war, und das Einzige, woran ich mich bei ihm erinnere, ist, wie er mir erzählte, dass damals Maman-Bozorgs Schnarchen aus dem Zelt drang, während er und die ganze Stadt mit Bergen und Räumen beschäftigt waren.

Sie war gut zu sich. Vielleicht hat sie deshalb alle ihre Geschwister überlebt, selbst ihre jüngste Schwester. Bei deren Begräbnis, berichtete eine von Mamans Cousinen anschließend am Telefon, hatte meine Großmutter sich mit gutem Hunger die Kababspieße einverleibt, um dann, früher als alle anderen Trauergäste, davonzustelzen auf ihren dürren Beinen, die einerseits gebrechlich wirkten, anderseits wegen ihrer O-Förmigkeit so elastisch, als könnten sie jedes beliebige Gewicht abfedern. Die schwarze Handtasche hatte sie, wie immer, mit der ganzen Kraft des angewinkelten Armes an den Körper gepresst. Angeblich hatten meine Großmutter und ihre Schwester kurz vor deren Herzinfarkt gestritten. Es soll um einen gemeinsamen männlichen Bekannten gegangen sein, den Konditor am Ende der Straße, in der Maman-Bozorg wohnte. Ich erinnere mich, dass sie bei meinem letzten Besuch von ihm erzählt hatte.

»So sterben doch nur Deutsche, einsame Deutsche, aber nicht meine Mutter, meine geliebte Mutter …«

Mamans Schreie sind in einen rhythmischen Singsang übergegangen, haben sich verselbstständigt und ziehen davon. Ich wiege den Oberkörper vor und zurück wie eine Schiffsschaukel, und nacheinander fliegt alles aus mir hinaus, Gedanken, Empfindungen, Erinnerungen. Ich erleichtere mich um mich selbst, werde angenehm leicht und leer. Das Ich hat sich verzogen, hat die Gunst der Stunde genutzt und ist abgehauen, macht blau, sitzt irgendwo im Grünen, an einem Bach und wirft Steine hinein, in einen seichten Bach mit klarem, ganz klarem Wasser, so dass es jeden einzelnen Stein auf dem Grund landen sehen kann. Ein Stein nach dem anderen, plitsch, platsch, jedes Mal klingt es ein wenig anders. Die Zeit dehnt sich unendlich aus. Manchmal trägt eine Brise den Geruch von gegrilltem Fleisch herüber, das Gelächter der Großfamilie.

Oder das Geheule.

Wieder leichter Wind, Staub steigt vom Boden auf, verrät sich in den Sonnenstrahlen und legt sich auf die Trauernden. Ich schaue mich um, als müsste ich alles mit neuen Augen betrachten. Wenn ich hier lebte, ginge ich vermutlich auf alle möglichen Beerdigungen, wie eine Süchtige, steigerte den Rausch jedes Mal ein wenig, trauerte mich immer routinierter in Trance und entwickelte mich zu jener Frau, bei der sich Angehörige aus dem Ausland fragten, wer das denn bitte sei.

Auf dem Weg zurück zum Parkplatz gehen zwei von Mamans Cousinen nebeneinander her wie zwei Mädchen auf dem Schulweg. Wenn sie etwas sagen, halten sie sich den Tschador vor den Mund und blicken aus den Augenwinkeln um sich.

»Sie hat nur ein einziges Mal geweint«, wird die eine sagen.

»Meine Schwägerin hat mir erzählt, im Westen ist das nicht so mit dem Weinen«, wird die andere antworten.

»Vielleicht haben sie im Westen auch einfach weniger Gefühle.«

»Oder der Tod ihrer Großmutter geht ihr nicht nahe.«

»Sie hat sie auch kaum noch angerufen in den vergangenen Jahren.«

Jemand greift nach meiner Hand. Es ist eine von Mamans älteren Cousinen, die Einzige, die nie spricht, die nur knapp und lächelnd antwortet, wenn man sie etwas fragt, und dann schnell wieder seitlich zu Boden blickt. Wir gehen schweigend nebeneinanderher, bis wir den Parkplatz erreicht haben. Sie drückt noch einmal meine Hand und lässt sie dann los. Stille, wissende Gesten. In der Vagheit fühle ich mich geborgen.

Auf die Beerdigung folgen drei Tage, an denen ich Gäste begrüße, Beileid entgegennehme, Tee serviere, der Frage nach einem Ehemann ausweiche, Worte suche und nicht finde, mich nach Kindern erkundige, deren Namen mir nicht mehr einfallen. Nachts, wenn die letzten Gäste Maman-Bozorgs Wohnung verlassen haben, rollen meine Mutter und ich im Gästezimmer nebeneinander unsere Matratzen aus, und ich falle, kaum, dass ich mich hingelegt habe, in tiefen Schlaf. Und dennoch, wenn ich mich vormittags aus dem Bettenlager quäle, habe ich nicht das Gefühl, ein neuer Tag sei angebrochen. Die Zeit hört auf zu fließen und staut sich zu einem tiefen, dunklen See. In meinem anderen Leben, in der christlichen Welt, fällt mir zwischendurch ein, nähert sich der vierte Advent, doch ich spüre nichts von der klaren Ordnung des Dezembers, von den Etappen, von der anschwellenden Geschäftigkeit, die klar auf das eine große Ziel hinarbeitet. Ich kenne nur noch Todestage, die ich wie Bohnen zähle.

Am siebten Todestag wache ich morgens auf, als es an der Tür läutet. Meine Mutter dreht mir den Rücken zu und zieht sich die Bettdecke über den Kopf. Ich bleibe liegen, lausche. Es klingelt erneut. Und noch einmal. Ich vergrabe meinen Kopf unterm Kissen. Es hört nicht auf.

An der Garderobe hängt die tannengrüne Trachtenstrickjacke mit Hirschgeweihknöpfen und Edelweißmotiv am Kragen, die meine Großmutter in Deutschland gekauft und gerne zu Hause getragen hatte. Ich lege sie mir über die Schultern und öffne die Tür.

Zwei kohlenschwarze Augenpaare starren mich an. Ich stoße die Tür wieder zu und öffne sie ein paar Sekunden später erneut, dieses Mal mit einem schwarzen Tuch um den Kopf. Das Tuch fühlt sich vor lauter Friedhofsstaub und Tränenflüssigkeit der Cousinen an wie Pappmaché. Unterm Kinn habe ich es etwas zu fest zugeknotet.

»Verzeihen Sie.« Die ersten Worte des Tages, intimer als Haupthaar.

Vor mir steht ein Mann, kaum größer als ich, den Schädel kahlrasiert, die Haut gräulich braun, das Holzfällerhemd nachlässig in eine beigefarbene Bundfaltenhose gesteckt. Neben ihm die kleinere Ausgabe seiner selbst.

»Entschuldigen Sie die Störung«, sagt der Mann, offensichtlich der Vater, und senkt den Blick. »Ist Khanum Nafissi gar nicht zu Hause?«

Die löchrigen Turnschuhe an seinen Füßen kommen mir bekannt vor.

»Nein. Sie ist gestorben.« Ich spreche es zum ersten Mal aus. Es klingt, als wäre es nicht die ganze Wahrheit. Als folgte da noch etwas. »Sie ist gestorben«, wiederhole ich den Satz, bemüht, die Stimme am Ende zu senken.

»Mein Beileid«, murmelt er, ohne aufzuschauen.

Die Turnschuhe hatte ich mir vor ein paar Jahren gekauft, kaum getragen und sie irgendwann meiner Großmutter in den Iran mitgegeben. Wenn sie bei uns zu Besuch war, mistete sie ständig unsere Schränke und Regale aus, auf der Suche nach Dingen, die sie für Bedürftige mit in den Iran nehmen konnte. Von einem Vater, dessen Frau an Krebs gestorben war und der als Tagelöhner mehrere Söhne versorgen musste, sprach sie öfter.

»Khanum Nafissi war eine gute Frau, sie hatte ein reines Herz. Sie hat uns immer geholfen, wenn wir in Not waren. Gott erbarme sich«, sagt der Vater.

»Gott erbarme sich«, murmelt der Sohn.

Die beiden bleiben regungslos stehen, fixieren einen Punkt auf dem Boden, sagen nichts. Ich überlege angestrengt, was ich ihnen geben kann. Tuman besitze ich keine, Euro nur in großen Scheinen. Den Kühlschrank haben wir schon ausgeräumt, die Küchenregale ebenfalls.

»Können wir ihren Fernseher haben?«, fragt der Junge. Er hält die Luft an, sieht mir kurz ins Gesicht, lugt zu seinem Vater hinüber.

Dieser versetzt ihm einen Schlag auf den Hinterkopf.

»Sei nicht frech, Junge.«

Der Blick des Vaters flitzt zwischen seinem Sohn und mir hin und her, die Augenbrauen sorgenvoll zusammengezogen.

»Eine gute Idee. Bitte nehmen Sie den Fernseher mit.«

»Das ist zu gütig, aber das kann ich nicht annehmen. Mein vorlautes Kind …«

Der Vater schimpft weiter, während sie den Fernseher hinaustragen. Da opfere man sein Leben für die Kinder, und heraus komme so etwas, ein Rotzlöffel ohne Manieren, frei von Anstand und Demut. Der Sohn beißt sich auf die Unterlippe und arbeitet mit aller Kraft dagegen an, dass ihm das Gerät von den Fingern rutscht.

Die Fernbedienung haben sie vergessen. Ich entdecke sie Stunden später, als das Wohnzimmer schon wieder voll mit Trauergästen ist. Sie liegt auf dem Tisch, versteckt zwischen unzähligen Teegläschen. Wie ein Walkie-Talkie, das meine Großmutter zurückgelassen hat, damit sie aus dem Himmel oder der Hölle oder was auch immer sie extra für sie eröffnen mussten alles mithören kann. Mithören kann, was die Familie über sie redet, ob die Familie sie als jene betrauert, als die sie sich selbst sah: als aufopferungsvolle Mutter einer vom Schicksal geschlagenen Tochter, als duldsame Ehefrau an der Seite eines Spielers, als verkannte Heilige. Sie war nicht der Typ, der einfach so geht. In ihrem Fall wird die Erinnerung nicht in dem Moment zu welken beginnen, da die Urkunden ausgestellt und die Kleider entsorgt sind. Ich ahne es.

Ich wickle die Fernbedienung in ein T-Shirt und verstaue sie in meiner Reisetasche. Im Schlafzimmer ist es leer, still und kühl. Ich rutsche an der Wand herab auf den Boden. Die Stimmen aus dem Wohnzimmer dringen zu mir, das Gemurmel massiert meinen verspannten Nacken. Heute muss der 19. Dezember sein, fällt mir ein, heute wäre ich auf ein Konzert gegangen. Es war ausverkauft, wenige Stunden, nachdem der Ticketverkauf begonnen hatte, aber Jan hatte noch eine Karte ergattert und sie mir geschenkt. Die Band sei eigentlich gar nicht so sein Ding, sagte er. Das Ticket befestigte ich mit einem Magneten am Kühlschrank, und jedes Mal, wenn mein Blick es in den vergangenen Wochen streifte, wuchs die Vorfreude. »Funeral« heißt das Album, das ich so sehr liebe, und jetzt sorgt ausgerechnet eine Beerdigung dafür, dass ich das Konzert verpasse. Eine iranische Beerdigung, die sieben Tage dauert. Eine deutsche hätte mich nicht um mein Konzert gebracht. Für ein deutsches Begräbnis hätte ich mir einen Tag freinehmen und mich einige Stunden lang pietätvoll verhalten müssen, bis ich am späten Nachmittag alle Trauergäste mit Händeschütteln verabschiedet hätte. Am Abend hätte ich auf das Konzert gehen und die Texte aus voller Kehle mitgrölen können. But now that I’m older, my heart’s colder. Dazu zöge der Satz, den ich an diesem Tag mehrmals vernommen hätte, als Laufschrift immer wieder durch meinen Kopf: Der Tod gehört zum Leben dazu. Wie Werbung, völlig wirkungslos.

»Mona. Mona! Kümmere dich um deine Mutter. Sie sieht aus, als hätte sie Drillinge geboren.« Eine von Mamans Cousinen rüttelt an meiner Schulter. Ich brauche ein paar Sekunden, um zu begreifen, wo ich bin. Der Kronleuchter aus Messing hilft mir wieder auf die Sprünge.