Seele. Eine unsterbliche Idee - Thomas Vašek - E-Book

Seele. Eine unsterbliche Idee E-Book

Thomas Vasek

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Beschreibung

Was den Menschen zum Menschen macht

Unsterblich oder gar nicht existent? Die Frage nach der Seele beschäftigt die Menschheit seit Jahrtausenden und sie stellt sich heute drängender denn je. Denn in unserer kalten Hightech-Welt wächst das Bedürfnis nach Sinn und Spiritualität. Der Wissenschaftsjournalist Thomas Vašek begibt sich auf die fesselnde Suche nach einem Organ, über dessen Beschaffenheit sich Philosophie und Religion, Psychologie und Naturwissenschaften bis heute höchst uneins sind.

Die schwere Demenzerkrankung seines Vaters konfrontiert Thomas Vašek mit schwierigen Fragen: In welchem geistigen Zustand befindet sich sein Vater? Hat er noch ein Selbst? Was passiert mit seiner Seele, wenn er stirbt? Fragen, die viele Menschen umtreiben, denn der Gedanke an eine unabhängig vom Körper existierende Seele ist angesichts von Gebrechlichkeit und Tod ein großer Trost – auch wenn viele Wissenschaftler davon überzeugt sind, dass alle geistigen und psychischen Vorgänge auf hirnphysiologischen Prozessen beruhen.

Thomas Vašeks Buch handelt von dem Versuch, dem Seelen-Rätsel auf die Spur zu kommen. Sein Streifzug durch die Jahrhunderte und Disziplinen – von der antiken Philosophie bis zur modernen Neurowissenschaft – fördert so manche Überraschung zutage: unter anderem, dass sich die uralten Vorstellungen des Buddhismus und die moderne Hirnforschung erstaunlich nahekommen. – Jede Menge Stoff zum Nachdenken über eine der größten Menschheitsfragen.

Für Menschen auf der Suche – nach Erkenntnis, nach Sinn, nach Trost im Angesicht von Krankheit und Tod.

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Danksagung
TEIL I – Leben.
KAPITEL 1 – Ein Hauch von Leben
Meister der Ekstase
Sehnsucht nach Unsterblichkeit
Traurige Schatten
Seelen-Kulte
KAPITEL 2 – Göttlicher Stoff
Kosmisches Feuer
Feuchte Seelen
Seelen-Reisen
Die Seele ist Zahl
Gefallene Götter
KAPITEL 3 – Ein himmlisches Gewächs
Das geflügelte Gespann
Weltseele: Die göttlichen Wurzeln
Aristoteles: Prinzip des Lebens
Ein feines Gespinst
TEIL II – Geist.
KAPITEL 4 – Der innere Mensch
Alles fürs Eine
»Kehr ein bei dir!«
Felsengrund der Gewissheit
Der doppelte Tod
Allahs Geist
Die Seele bin nicht ich
KAPITEL 5 – Das Gespenst in der Maschine
Ich denke, also bin ich
Ein denkendes Ding
»Wahre Menschen«
Leidenschaften der Seele
KAPITEL 6 – Die Seele der Dinge
Einheit der Welt
Geistige Gottesliebe
Metaphysische Computer
Ein Kosmos voller Seelen
Metamorphosen der Seele
TEIL III – Ich.
KAPITEL 7 – Wer bin ich?
Neues Bewusstsein
Ein Bündel von Wahrnehmungen
Stabiles Selbst?
Die Seele stirbt
KAPITEL 8 – Das Super-Ego
Ein einsamer Spaziergänger
Romantische Seelen
Das transzendentale Ich
Trugschlüsse der Seele
Ein moralisches Postulat
Die Seele des Weltgeistes
KAPITEL 9 – Blinder Wille
Drang zum Dasein
Tod dem Subjekt!
Der Strom des Bewusstseins
Titanic der Seele
KAPITEL 10 – Das Bild der Seele
Die Wellen der Sprache
Die Seele des anderen
Das transzendente Ich
TEIL IV – Gehirn.
KAPITEL 11 – Sind wir niemand?
Andere Persönlichkeiten
Gespaltene Gehirne, gespaltene Seelen?
Ein Netz aus Geschichten
KAPITEL 12 – Zwischen Geist und Materie
Nichts als Materie?
Die Zombies kommen
Mem-Seelen
KAPITEL 13 – Seelen-Wandlung
Ein bescheidenes Selbst
Geistige Zyklopen
TEIL V – Seele?
KAPITEL 14 – Der Buddha in uns
Das wahre Selbst
Das Nicht-Selbst
Beam me up!
KAPITEL 15 – Der Quanten-Geist
Welt der Möglichkeiten
Die Macht des Beobachters
Tunnel zum Licht
KAPITEL 16 – Der Flug des Schmetterlings
Szenario 1: Leben als Geist
Szenario 2: Seelen auf Wanderschaft
Szenario 3: Wiedererweckung der Toten
Den Tod überleben
KAPITEL 17 – Das Haus der Seele
Externes Bewusstsein
Anmerkungen
Literatur
Register
Copyright
Meinen Elternund meinen Brüdern Alexander und Markus
Vorwort
Es ist der Blick. Wenn ich meinen Vater begrüße, wenn ich zu ihm spreche oder ihm über den Kopf streiche, öffnet er die Augen und schaut mich einfach nur an, bis er irgendwann wieder wegdämmert. Manchmal runzelt er dabei die Stirn, als wäre er verärgert – oder auch nur verwundert, was da um ihn herum passiert. Aber was sieht er wirklich? Erkennt er mich? Hat sein Blick überhaupt noch etwas zu bedeuten?
Seit zehn Jahren leidet mein Vater unter frontotemporaler Demenz. Mit Persönlichkeitsveränderungen fing es an, da war er Mitte 50.
Er begann sich zurückzuziehen. In Gesprächen wiederholte er sich, beharrte immer wieder auf den gleichen Dingen. Oft war es Kritik an mir. Wie schlecht meine Artikel seien. Dass er sie seit langem nicht mehr lese. Wir stritten sinnlos und laut. Bis ich ging, weil ich es nicht mehr ertragen konnte. Oder er ging. Vornübergebeugt, seufzend, ohne ein Wort zu sagen. Später gerieten seine Sätze ins Stocken. Es wurde anstrengend, mit ihm zu telefonieren. Er machte lange Pausen, wiederholte immer wieder die gleiche, längst beantwortete Frage. Oft verlor ich die Geduld und legte auf. Oder er legte auf. Es war nicht mehr möglich, mit ihm zu kommunizieren.
Erst dachten wir, der Vater sei schwerhörig, vielleicht auch depressiv.
Doch er, der Journalist, der Mann der Sprache, fand einfach die Worte nicht mehr. Am Ende brachte er kaum noch etwas heraus. »Es regnet«, sagte er irgendwann. Dann hörte er ganz auf zu sprechen. Lief nur noch rastlos in der Wohnung herum.
Wie viele Demenzkranke konnte er seine Impulse nicht mehr kontrollieren. Manchmal wurde er aggressiv, schlug plötzlich zu, mit verzerrtem Gesicht und ungeheurer Muskelspannung. Die Aggression war Ausdruck seiner Hilflosigkeit. Später wurde sein Gang schwerfällig und unsicher. Schließlich konnte er auch nicht mehr gehen. Eines Tages lag er zusammengekrümmt neben dem Bett. Und schaute. Aus eigener Kraft kam er nicht mehr hoch. Heute ist mein Vater in der finalen Phase der Krankheit. Ein Pflegefall. Magensonde, künstliche Ernährung, alles was dazugehört. Die Ärzte zucken nur noch mit den Schultern.
Es ist der Blick, der geblieben ist. Lächeln kann er schon lange nicht mehr.
Oft frage ich mich, was im Inneren meines Vaters vorgeht. Ob da überhaupt noch etwas vorgeht. Sind da noch Gedanken, Erinnerungen oder Gefühle? Was ist mit seiner Seele? Hat er noch ein Selbst – oder ist da einfach niemand mehr?
Meine Mutter ist davon überzeugt, dass mein Vater noch irgendwie »da« ist. Und sie muss es wissen. Schließlich pflegt sie ihn seit Jahren rund um die Uhr. Nur sie kann die unmerklichen Nuancen seiner Mimik deuten. Seinen Blick. Niemals habe ich ihr widersprochen. Und doch gebe ich zu, dass ich oft Zweifel hatte.
Im Blick meines Vaters spiegle ich mich selbst. Immer habe ich mich als rationales Wesen gesehen, ja als Intellektuellen und Geistesmenschen. Und mich dabei unglaublich wichtig genommen. Meine Gedanken, meine Sprache, meine innere Welt. Als Demenzkranker, so dachte ich, würde ich mich umbringen: Ohne unseren Geist können wir nicht existieren. Ohne Erinnerungen, ohne Sprache sind wir niemand. Doch wenn ich über den Zustand meines Vaters nachdenke, spüre ich eine Art metaphysisches Unbehagen. Mein rationales Selbstbild kommt mir fragwürdig, ja anmaßend vor. So zu denken heißt letztlich, Menschen wie meinen Vater für tot zu erklären. Heute glaube ich, dass meine Mutter Recht hat. In diesem Buch versuche ich zu begründen, warum.
Es ist meine Suche nach der Seele, jenseits von religiösen Überzeugungen und esoterischen Theorien. Mein Weg führt durch 2500 Jahre Geistesgeschichte – von Platon über den Buddhismus und die Theologen des Mittelalters bis zur Quantenphysik. Es geht um Unsterblichkeit und Seelenwanderung, um Weltseelen und Schamanismus, um außerkörperliche Erfahrungen, Zombies und bizarre philosophische Gedankenexperimente, die sich damit beschäftigen, was bei Teleportationen mit dem Selbst passiert.
Für die Menschen der Antike war die Seele eine von den Göttern eingehauchte Lebenskraft. Platon hielt sie für das rationale Wesen des Menschen. Die christlichen Denker des Mittelalters suchten in ihrem »inneren Menschen« nach Gott. Der französische Philosoph René Descartes sah die Seele als denkende Substanz, die unabhängig vom Körper existieren kann. Philosophen des 18. Jahrhunderts unterminierten schließlich den Seelenbegriff. An die Stelle der Seele setzten sie Bewusstsein und Selbst. Doch das 20. Jahrhundert hat unser Menschenbild ein weiteres Mal grundlegend verändert.
Von der Seele will die Wissenschaft schon längst nichts mehr wissen. Aus Sicht der meisten Philosophen lässt sich nicht einmal mehr der Begriff sinnvoll verwenden. Allenfalls als Metapher scheint das Wort noch brauchbar zu sein.
»Seele« – was für ein zerzauster Begriff. Wie ein Schiff ohne Besatzung treibt er auf den »Wellen der Sprache« (Wittgenstein). Der Mainzer Philosoph Thomas Metzinger versteckt die Seele in seinem Buch »Der Ego-Tunnel« sogar in einer Fußnote: Es sei zwar »nach wie vor logisch möglich, dass Seelen existieren«, meint Metzinger: »Allerdings würden wir für die Zwecke der Wissenschaft oder Philosophie den Begriff einer Seele nicht länger benötigen; die Seele würde in einer rationalen, empirisch fundierten Theorie des menschlichen Geistes nicht mehr vorkommen.« Immerhin meint Metzinger, es bleibe »immer möglich, dass wir eines Tages einen neuen Sinn entdecken, in dem die Seele alles andere als ein leerer Begriff wäre«1.
Aus Sicht der modernen Hirnforschung beruhen alle geistigen Phänomene auf neurobiologischen Prozessen – unsere Entscheidungen, unsere Persönlichkeit, unser Verhalten. Unser Geist ist nichts anderes als das Gehirn. In diesem Bild ist kein Platz mehr für eine immaterielle Seele, die womöglich den Tod überdauert. Und viele Hirnforscher und Philosophen halten heute nicht nur die Seele, sondern auch das Selbst für eine allenfalls nützliche Fiktion. »Es scheint, als müssten wir der Tatsache ins Angesicht schauen: Wir sind selbstlose Ego-Maschinen«, glaubt Metzinger.2 Wenn das tatsächlich so ist, dann frage ich mich allerdings, wer sein Buch geschrieben hat.
Es ist das Bild von Metzinger und anderen, das ich zutiefst unbefriedigend finde. Natürlich zweifle auch ich nicht daran, dass geistige Vorgänge und Hirnprozesse zusammenhängen. Die Beweise dafür sind überwältigend. Doch bis heute kann die Neurowissenschaft nicht ansatzweise erklären, wie aus elektrochemischen Vorgängen Geist und Bewusstsein entstehen. Den Blick meines Vaters kann die Hirnforschung nicht entschlüsseln.
Zugleich scheinen die meisten von uns zu wissen, was sie mit dem Begriff Seele meinen. Und wir zweifeln auch nicht daran, dass wir ein Selbst besitzen. Nichts scheint so real zu sein wie unsere subjektiven Erfahrungen, unsere Ich-Perspektive. Umgekehrt fällt es uns unglaublich schwer, uns als »neuronale Wesen« zu sehen – als »Ansammlung von Nervenzellen«, wie der DNA-Entdecker und Nobelpreisträger Francis Crick einmal meinte.
Ich bin weder Hirnforscher noch Philosoph. In diesem Buch folge ich nur einer Intuition, die mich seit Jahren beschäftigt. Mein Gefühl ist, dass an dem Menschenbild der Hirnforschung etwas nicht stimmt. Dass dieses Bild auf fundamentale Weise unvollständig ist – und womöglich sogar gefährlich. Nicht zu Unrecht fordern Denker wie Thomas Metzinger eine neue »Bewusstseinsethik«, damit wir als Gesellschaft mit den neurowissenschaftlichen Erkenntnissen klarkommen. Die Frage ist allerdings, ob das neue Menschenbild, das manche Hirnforscher mit geradezu triumphalem Gestus propagieren, überhaupt richtig ist.
Mein Gefühl ist, dass diesem Bild die »Seele« fehlt.
Und das meine ich nicht nur im metaphorischen Sinn.
Mir ist klar, dass ich mich damit auf dünnem Eis bewege. Womöglich ist die Seele ja wirklich nur ein Trugbild, eine vorwissenschaftliche Illusion – wie der Glaube, dass sich die Sonne um die Erde dreht, statt umgekehrt. Doch ich glaube, dass diese Analogie in die Irre führt. Für unser Selbstbild, für unseren Umgang mit anderen ist es schlicht gleichgültig, ob das heliozentrische Weltbild stimmt oder nicht. Würde sich morgen herausstellen, dass es doch andersherum ist, wären wir zwar vielleicht in unserer Vorstellung vom Kosmos verunsichert – aber für uns persönlich würde es relativ wenig bedeuten.
Bei der Seele ist es anders.
Die meisten von uns halten ihre Seele für ihr tiefstes Inneres, für einen höchst intimen, verwundbaren Bereich. Mit anderen Worten: Wir sehen unsere Seele als unser ureigenes Wesen – was auch immer das genau ist. Und ich behaupte, dass es einen Unterschied macht, ob mein Vater noch eine Seele hat oder nicht.
Um das verständlich zu machen, muss ich in diesem Buch einen riesigen Umweg gehen. Zumindest in einem Punkt haben die »sprachkritischen« Philosophen Recht. Man kann das Wort Seele nicht einfach unbefangen verwenden. Ich tue das in diesem Buch trotzdem auf intuitive (hoffentlich verantwortbare) Weise, auch wenn ich mir dadurch den heiligen Zorn einiger Fachphilosophen zuziehe – allerdings glaube ich, dass aus dem jeweiligen Zusammenhang klar wird, was ich eigentlich meine. Die »Seele« Platons kann man schlechterdings nicht mit jener Spinozas oder Kants in einen Topf werfen, und noch viel weniger lassen sich die westlichen Seelenvorstellungen mit jenen in der indischen Philosophie vergleichen. Meine Seelen-Suche folgt deshalb über weite Strecken dieses Buches einer gewissen, wenn auch losen Chronologie. Natürlich erhebe ich dabei keinerlei Anspruch auf geistesgeschichtliche Vollständigkeit. Meine Auswahl der Denker und Ideen ist höchst subjektiv und von eigenen Sympathien und Antipathien bestimmt. Allerdings habe ich mich bemüht, einen gewissen »roten Faden« beizubehalten. Die Titel der ersten vier Teile (»Leben«, »Geist«, »Ich« und »Gehirn«) sollen den jeweiligen Seelenbegriff, um den es geht, andeuten. In Teil V (»Seele?«) geht es dann noch einmal um die grundsätzliche Frage, ob und inwiefern die Seele tatsächlich existiert. Im letzten Kapitel dieses Buches versuche ich schließlich, eine sehr persönliche Antwort auf die Frage der Seele zu geben – und zu begründen, warum wir mehr sind als unser Gehirn. Warum unser Selbst keine Fiktion ist, sondern tatsächlich existiert. Warum ich glaube, dass auch mein Vater noch ein Selbst hat – und warum es nicht unvernünftig ist, auf ein Weiterleben nach dem Tod zu hoffen. Allerdings habe ich das Gefühl, dass dieses Selbst nicht unser manchmal riesig aufgeblähtes intellektuelles Ego ist, sondern ein irgendwie kleineres, bescheideneres Selbst.
Ein Selbst, das gerade groß genug ist, um uns darin wiederzuerkennen.
Es ist der Blick meines Vaters, der mich auf dieser Suche begleitet. Ich glaube, dass hinter diesem Blick etwas steht, das die Menschen seit Jahrtausenden umtreibt. Ein Etwas, das wir nicht berühren, riechen oder schmecken können – und doch macht es uns zu Menschen. Ein Etwas, das wir Seele nennen.
DANKSAGUNG
Es gibt Gespräche, die einem Schreiber in schwierigen Situationen die Augen öffnen. Ein solches hatte ich mit meinem Kollegen und Freund Bernd Lüdtke – und dafür bin ich ihm herzlich dankbar. Besonders danke ich außerdem allen, die meinen Seelenzustand während der Arbeit an diesem Buch ertragen mussten. Es war bestimmt nicht einfach mit mir. Mein Dank gilt auch Johann Lankes für sein umsichtiges Lektorat meines Textes. Erwähnen möchte ich an dieser Stelle zwei gelehrte Bücher, die mir eine unverzichtbare Orientierungshilfe bei meiner Seelen-Suche waren. Das eine stammt von den US-Philosophieprofessoren Raymond Martin und John Barresi und trägt den Titel »The Rise and Fall of Soul and Self« (Columbia Univ. Press). Nicht minder wertvoll war »History of the Concept of Mind« (Ashgate) von Professor Paul S. MacDonald. Ich empfinde es als bedauerlich, dass es keine vergleichbaren Werke in deutscher Sprache gibt.
TEIL I
Leben.
KAPITEL 1
Ein Hauch von Leben
Mein Vater atmet. Er bewegt seine Hand. Manchmal öffnet er die Augen und schaut. Sonst ist da nicht mehr viel. Seit Jahren hat er kein Wort mehr gesprochen. Seine Mimik ist vor langem erstarrt. Im Rollstuhl dämmert er vor sich hin. Meine Mutter ernährt ihn per Magensonde.
Da ist nicht mehr viel. Und doch ist es etwas Entscheidendes.
Etwas, das den Unterschied macht.
Mein Vater lebt.
Er ist nicht tot.
Er atmet. Er hustet. Er schaut. Meine Hand spürt die Wärme auf seiner Stirn. Ärzte könnten seine Vitalfunktionen messen – seinen Blutdruck, seinen Puls, die Hirnströme in seinem Kopf. Sie würden alle physiologischen Anzeichen von Leben finden. Teile seines Körpers funktionieren noch. Sein Geist hat sich schon vor längerem verabschiedet.
Unglaublich zäh sei er, sagt meine Mutter. Einfach nicht unterzukriegen. Der Vater hat schon alles Mögliche überstanden. Lungenentzündungen, Fieberschübe, irgendwelche Infekte. Jedes Mal dachten wir, dass es zu Ende gehe. Eigentlich lebt er nun schon länger, als es die Statistik erlaubt.
Eine Demenzerkrankung ist gnadenlos. Unaufhaltsam zerstört sie über die Jahre das Gehirn. Was mit Gedächtnislücken oder Persönlichkeitsveränderungen beginnt, führt schließlich zu völligem Verfall. Sukzessive brechen neben den geistigen auch die körperlichen Funktionen zusammen – Motorik, Schluckreflexe, Stoffwechsel. Wenn das Gehirn nicht mehr funktioniert, stirbt auch der Mensch irgendwann. Das ist die einfache und brutale Botschaft einer Demenz: Ohne unser Gehirn sind wir nichts.
Und doch: Mein Vater lebt. Ich kann es fühlen. Ich begrüße ihn, streiche ihm über den Kopf, rede zu ihm. Zugleich höre ich die Leute sagen, dass das doch kein Leben mehr sei. Jedenfalls kein lebenswertes Leben. Was soll ein Leben ohne Geist, ohne Sprache, ohne Erinnerungen und ohne Selbst? Ein Leben, das nur noch aus Leben besteht? Was unterscheidet ein solches Leben vom Totsein?
Ich weiß nicht, ob mein Vater noch Gedanken, Erinnerungen oder Gefühle hat. Ob er noch etwas empfinden kann. Ob er mich überhaupt noch erkennt.
Es ist nicht gerade viel, was ich weiß.
Meine Suche nach der Seele beginnt mit Ratlosigkeit. Ich habe nicht die leiseste Vorstellung davon, was im »Inneren« meines Vaters vor sich geht. Ob da überhaupt noch etwas vor sich geht. Niemand kann das wissen. Unter dem Magnetresonanztomografen könnte man vielleicht sehen, wo in seinem Gehirn noch Nervenzellen feuern. Doch seinen subjektiven Zustand zeigen die Bilder der Hirnforscher nicht. Wir würden trotzdem nicht wissen, was er denkt, was er fühlt.
Die Seele meines Vaters ist mir nicht erschienen. Ich habe zu ihr auch keinen übersinnlichen Kontakt. Ich weiß eigentlich nichts. Dafür habe ich viele Zweifel. Die Neurowissenschaftler und die meisten Philosophen sind gegen mich: »Die Seele – ein naives Konstrukt aus vorwissenschaftlicher Zeit!« Es kann gut sein, dass ich einem »Hirngespinst« nachjage. Das Wort sagt schon alles: Selbst Gespinste brauchen das Gehirn. Alles was ich habe, ist eine einfache Tatsache. Und eine vage Intuition.
Mein Vater atmet.
Er lebt.
Wenigstens das weiß ich genau.
Meine Intuition hat mit dem Leben zu tun – und mit dem Unterschied zwischen Leben und Tod. Ich glaube, dass Leben etwas Besonderes ist und zugleich eine Grenze, über die wir nicht schauen können. Das Leben trennt uns von verstorbenen Menschen. Es trennt uns vom eigenen Tod. Es trennt uns aber auch von den Dingen. Mein Computer mag intelligenter sein als ich. Und doch lebt er nicht. Mein Computer ist genauso tot wie der Tisch, auf dem er gerade steht. Mein Vater hingegen lebt. Und ich lege Wert darauf, dass es »mein Vater« ist – und nicht bloß sein Körper. Dass »mein Vater« mehr ist als sein devastiertes Gehirn.
In vielen frühen Kulturen war die Vorstellung einer Seele unmittelbar mit dem Leben verbunden. Die Seele war schlicht das, was einen lebenden Menschen ausmachte – was ihn unterschied von einem Toten. Häufig assoziierte man den Begriff mit dem Atem. Das hebräische Seelen-Wort »nepesh« etwa bezeichnet die Kehle, es bedeutet aber auch Verlangen und Lebenskraft. Das griechische Wort »psyche« wiederum hängt etymologisch mit dem Verb »psychein« (blasen, atmen) zusammen. Auch das indische »atman« bedeutet eigentlich Atem.
Schon in prähistorischer Zeit muss den Menschen aufgefallen sein, dass Sterbende irgendwann zu atmen aufhören. Vermutlich glaubten sie, mit dem letzten Atemstoß entweiche auch die Seele in den Himmel. In den frühen Seelenvorstellungen dreht sich alles ums Atmen, um das Fliegen und um den Wind. Die Ägypter stellten sich die Seele symbolhaft als Vogel vor, die frühen Griechen als Schmetterling – oder als Rauch, der zischend den Körper verlässt. Manche dieser Vorstellungen waren rührend naiv. Auf einer griechischen Vase sieht man, wie eine Seele in der Gestalt eines bewaffneten Zwerges über dem Leichnam eines Helden schwebt.
Ich glaube nicht, dass es irgendwo ein »geheimes Buch« aus uralten Zeiten gibt, das alle Wahrheiten über die Seele enthält, nützliche Anleitungen für das Leben nach dem Tod inklusive – eine Art spirituellen Schatz, den wir nur zu bergen brauchen. Genauso wenig denke ich, dass die Menschen der frühen Kulturen einen Zugang zu »übernatürlichen« Phänomenen hatten, der uns zivilisatorisch verblendeten Menschen heute verwehrt ist.
Es sind vielmehr die einfachen, unbefangenen Intuitionen der Frühzeit, die mich bewegen. Dazu gehört vor allem die Vorstellung, dass »Seele« und »Leben« miteinander verbunden sind, dass es ohne Seele kein Leben gibt. Dass der Mensch stirbt, wenn seine Seele den Körper verlässt.
Manchmal frage ich mich, wie die Menschen der Vorzeit den Zustand meines Vaters empfunden hätten. Wie sie überhaupt dachten über Leben, Krankheit und Tod. Diese Menschen wussten nichts über Demenz, über Hirnströme und Körperfunktionen. Was empfand ein Steinzeitmensch, wenn wieder einmal ein Verwandter bei der Jagd umkam? Wie ordnete er den Tod in sein Leben, in seine Gefühlswelt ein? Und welche Vorstellung hatte er davon, was nach dem Tod geschah?
Die Welt muss unseren Vorfahren zutiefst geheimnisvoll, ja beängstigend vorgekommen sein. Überall waren sie mit Gefahren konfrontiert – mit Naturgewalten, die sie weder durchschauen noch beherrschen konnten. Schon der Himmel, der sich über ihnen wölbte, muss ihnen als schicksalhafte Macht erschienen sein, jedes Gewitter als Wirken böser Geister. Alles war für sie »übernatürlich«, durchdrungen von Zauber und Magie. Vielleicht hätten sie meinen Vater für einen Besessenen gehalten.
Schon die Menschen des Paläolithikums glaubten wohl an eine Fortexistenz nach dem Tod. In frühesten Zeiten bestäubte man die Leichen mit Ocker, als Symbol des Lebens, und man richtete die Toten nach Osten aus. Der rumänische Religionswissenschaftler Mircea Eliade deutete das als die »Absicht, das Geschick der Seele mit dem Lauf der Sonne zu verbinden, also die Hoffnung auf eine ›Wiedergeburt‹, auf ein Weiterleben in einer anderen Welt«.3 Wahrscheinlich träumten die Steinzeitjäger von den Toten. Überhaupt muss der Tod für sie sehr präsent gewesen sein. Bei der Jagd standen sie Lebewesen gegenüber, die ähnlich aussahen wie sie selbst, deren Blut floss wie ihr eigenes. Vielleicht hörten sie im Traum die Schreie der verwundeten Tiere.
Heute wissen wir, dass Träume im Gehirn entstehen. Doch den frühen Menschen erschien der Spuk in ihren Köpfen wahrscheinlich wie eine zweite, immaterielle Realität. »Wir können uns keine Zeit vorstellen, in der der Mensch nicht Träume und Wachträume gehabt hätte, in der er nicht in ›Trance‹ gefallen wäre, in einen Zustand der Bewusstlosigkeit, der als Reise ins Jenseits gedeutet wurde«, schrieb Eliade.4

Meister der Ekstase

Irgendwo im westlichen Amazonasgebiet lebt ein Volk, das heute noch an die Seele glaubt. Genau genommen, glauben die Cashinahua-Indianer nicht bloß an eine Seele, sondern an viele davon. Die »wahre Seele« ist nach ihren Vorstellungen einfach die Lebenskraft. Daneben kennen sie auch eine Traum-Seele, die während des Schlafs aktiv wird. Die »Körper-Seelen« sind für Bewusstsein, Erinnerung, Denken und Gefühle zuständig und machen die Individualität eines Menschen aus. Der Geist sitzt für die Cashinahua nicht in einem bestimmten Organ. Das Gehirn selbst hat kein eigenes Wissen – im Unterschied zu Händen, Augen oder der Haut. Die Körper-Seelen sind an den Körper gebunden, und sie sterben auch mit diesem, genauer gesagt verwandeln sie sich in einen gesichtslosen Baumgeist ohne jede Erinnerung. Die »wahre Seele« hingegen kann den Körper schon während des Lebens verlassen – und nach dem Tod weiterexistieren. 5
Die Cashinahua-Indianer praktizieren den Schamanismus, eine der ältesten religiösen Formen der Menschheit. Schon bei prähistorischen Jägervölkern galten die Schamanen als Spezialisten für das Unsichtbare – als Menschen, die besondere Kontakte zur Welt der Geister und Dämonen unterhielten. Der Religionswissenschaftler Eliade nannte sie »Meister der Ekstase«. 6 In Trancezuständen konnte ihre Seele den Körper verlassen, um andere Ebenen der Welt zu bereisen und eine höhere, unsichtbare Wirklichkeit zu schauen. Dank ihrer spirituellen Fähigkeiten konnten sie, wie es heißt, durch entfernteste Himmelsregionen ebenso schweifen wie in die Unterwelt hinuntersteigen.
Schon in paläolithischen Höhlenkultstätten finden sich Darstellungen von Menschen mit Vogelmasken – wahrscheinlich zeigen sie Schamanen auf ihrem spirituellen »Flug« in den Himmel.
Bei südamerikanischen Indianervölkern wirken Schamanen bis heute als Heiler und Medizinmänner. Sie sollen die flüchtigen Seelen von Kranken wieder einfangen und zurückholen. Zugleich geleiten sie die Seelen von Verstorbenen in die Unterwelt.
Schamanische Heiler halten eine Demenzerkrankung für eine Art »Seelenverlust«. Ich muss gestehen, dass ich mich dieser Interpretation nicht ganz entziehen kann. Natürlich weiß man heute, dass es sich bei Demenz um eine neurodegenerative Erkrankung handelt, die zum Abbau von Hirngewebe führt. Allerdings liegen die Ursachen immer noch im Dunklen. Meine Mutter ist davon überzeugt, dass es eine schwere berufliche Enttäuschung war, die letztlich die Krankheit bei meinem Vater ausgelöst hat. Wissenschaftlich lässt sich das natürlich nicht beweisen. Aber was meinen Vater betrifft, hat meine Mutter schon einmal gegen die Ärzte Recht behalten. Als sich bei ihm schon dramatische Persönlichkeitsveränderungen und Ausfallserscheinungen zeigten, als man sich kaum noch mit ihm unterhalten konnte, erklärte ihr ein führender Demenzspezialist nach der Untersuchung herablassend, was sie denn eigentlich wolle – es sei doch alles in Ordnung. Meine Mutter konnte das nicht glauben. Kurze Zeit später diagnostizierte ein anderer Arzt eine fortgeschrittene frontotemporale Demenz. Seither nehme ich die Intuition meiner Mutter in Seelen-Dingen sehr ernst.
Für die Vorstellung, die Seele meines Vaters könnte in eine unsichtbare, spirituelle Welt abgetaucht sein, fehlt es mir an Fantasie. Und ich glaube auch nicht, dass ein schamanischer Heiler den Geist meines Vaters wieder zurückholen könnte. Allerdings halte ich es für möglich, dass Schamanen über eine besondere Intuition für seelische Vorgänge verfügen, die wir mit rein rationalen, wissenschaftlichen Methoden nicht erfassen können.
Einige Wissenschaftler halten schamanistische Erfahrungen sogar für den Ursprung der Seelen-Idee, die unsere abendländische Kultur so sehr geprägt hat.7 Trancen, Träume und ekstatische Erlebnisse könnten zur Vorstellung eines unkörperlichen »zweiten Ich« geführt haben. Der Philosoph Thomas Metzinger von der Universität Mainz führt die Entstehung des Seelenbegriffs auf »außerkörperliche Erfahrungen« zurück – auf Phänomene, bei denen Menschen bei vollem Bewusstsein der höchst realistischen Illusion erliegen, ihren eigenen Körper als eine Art »ätherisches Double« zu verlassen. Heute glauben die Wissenschaftler zwar, dass es sich dabei um eine vom Gehirn produzierte Täuschung handelt. So ist es sogar gelungen, außerkörperliche Erfahrungen durch gezielte Hirnstimulation auszulösen. Davon wussten unsere Vorfahren natürlich noch nichts. »Angesichts des Wissensstands der frühen Menschheit war es hoch rational, an die Möglichkeit einer unkörperlichen Existenz zu glauben«, schreibt Metzinger.8

Sehnsucht nach Unsterblichkeit

Zu allen Zeiten waren die Seelenvorstellungen eng verbunden mit der Frage, was nach dem Tod mit uns passiert. Schon die ägyptische Hochkultur hatte ausgesprochen komplexe Vorstellungen von Himmel und Unterwelt – und sogar von einem Totengericht.
Die frühesten Belege für den Glauben an ein Leben nach dem Tod waren Beschreibungen des königlichen Totenrituals. Jeder verstorbene Pharao wurde post mortem zum unsterblichen Gott erhoben. Die Pyramidentexte beschreiben seine Himmelfahrt in Gestalt eines Vogels, eines Skarabäus oder einer Heuschrecke. Im Himmel empfängt ihn der Sonnengott – und der Pharao setzt seine irdische Herrschaft glanzvoll fort.
Eine besondere Rolle in den ägyptischen Jenseitsvorstellungen spielt der Totengott Osiris. Nach dem Mythos wird er von seinem Bruder Seth ermordet. Doch seiner Frau Isis, einer Zauberin, gelingt es, sich vom toten Osiris befruchten zu lassen. Nachdem sie ihren Mann bestattet hat, bringt sie ihren Sohn Horus zur Welt. Der besiegt Seth, steigt in die Unterwelt hinab und erweckt Osiris von den Toten, indem er seine »Seele in Bewegung setzt«, wie es in den Texten heißt – der erste Auferstehungsmythos der Weltgeschichte. Osiris selbst war für die Ägypter nicht bloß Totengott und Totenrichter, sondern auch Quelle der Fruchtbarkeit – und damit allen Lebens.
Die Ägypter sahen den Tod als eine Art Metamorphose nach dem Vorbild von Osiris, als Verwandlung des unbedeutenden Menschen zu einer höheren, unzerstörbaren, »wissenden« Geistperson. 9 Die sogenannten Sargtexte, magische Sprüche, die an den Innenseiten von Särgen angebracht wurden, sollten den Toten dabei nützliche Hinweise vermitteln.
Ein Totenreich kannten auch schon die ältesten indischen Texte. Unter anderem verknüpfte man das Weiterleben nach dem Tod mit dem rituellen Feueropfer an die Götter. Die »Seele« stellte man sich als Feuer vor – als belebende Energie, die man durch Rituale und Atemtechniken beeinflussen konnte. Auch die Inder hatten bereits die Vorstellung von einem Totengericht. In einem Text wird berichtet, dass die Seele des Toten zur Sonne gelangte und erklären musste, wer sie sei. Nur wenn sie richtig antwortete, dass ihre wahre Identität in der Sonnensphäre liege, ließ man sie in den Himmel ein – andernfalls wurde sie in die vergängliche Welt zurückgeschickt.10
Faszinierende Vorstellungen von einer »Seelenreise« gab es auch in der iranischen Religion. Da musste die Seele Flüsse und Seen durchqueren, sich einem Totengericht stellen und schließlich die Brücke über einen kosmischen Berg überschreiten, der die Erde mit dem Himmel verbindet. Unter den Schritten der Gerechten, so heißt es, wurde die Brücke breiter, doch wenn ein Gottloser darüberlief, wurde sie schmal wie ein Rasierklinge. Auf ihrer Reise begegnete die Seele nicht bloß den Göttern, sondern sogar ihrem eigenen Selbst. Guten Menschen trat es in der Gestalt eines schönen Mädchens entgegen, den Schlechten jedoch als schreckliche Megäre.11
Die Angst vor dem Tod muss die Menschen schon zu Urzeiten umgetrieben haben. Bereits das babylonisch-sumerische Gilgamesch-Epos handelt von der Suche nach der Unsterblichkeit. Der Held Gilgamesch war wohl eine historische Persönlichkeit, ein sumerischer König, um den sich schon zu Lebzeiten Legenden rankten. Das Epos beschreibt ihn als vollkommene, allwissende Heldengestalt – zu zwei Dritteln Gott, zu einem Drittel Mensch. Doch Gilgamesch ist auch ein rücksichtsloser Despot, der Frauen schändet und seine Untertanen brutal knechtet. Auf das Drängen der Bewohner von Uruk erschaffen die Götter ein riesiges Wesen namens Enkidu, das es mit Gilgamesch aufnehmen soll. Im Kampf bleibt Gilgamesch Sieger. Der Held macht den Unterlegenen zu seinem Gefährten und zieht mit ihm durch die Lande, um gemeinsam Abenteuer zu bestehen.
Dabei stirbt Enkidu.
Sein Tod löst bei Gilgamesch eine Wandlung aus. Sieben Tage und sieben Nächte beweint er den Verlust seines Freundes. Klagend streift er durch die Steppe. Der einstige Despot bekommt Angst vor dem eigenen Tod. »Auch ich werde sterben! Werde ich nicht werden wie Enkidu?« Seine Heldentaten können ihn nicht mehr befriedigen. Gilgamesch will nur noch dem eigenen Tod entrinnen. Irrsinnig vor Angst macht er sich auf, um das Geheimnis der Unsterblichkeit zu ergründen. Auskunft erhofft er sich von Utnapaschtin, einem berühmten Helden der Sintflut-Sage. Doch auf seiner Reise muss Gilgamesch eine Reihe von Prüfungen bestehen. Unter anderem versperren ihm gefährliche Skorpion-Menschen den Weg, »deren Anblick den Tod bedeutet«. Oder er begegnet einer Nymphe, die ihn von seinem größenwahnsinnigen Plan abzubringen versucht. »Gilgamesch, wohin läufst du? Das Leben, das du suchst, wirst du gewiss nicht finden. Als die Götter die Menschheit erschufen, da bestimmten sie der Menschheit den Tod, behielten das Leben in ihrer eigenen Hand.«12 Die Nymphe rät ihm, er solle sich lieber an seinem Leben erfreuen: »Du, Gilgamesch – dein Bauch sei voll, Tag und Nacht magst du dich ergötzen, feiere täglich ein Freudenfest, tanze und spiele bei Tag und bei Nacht. (…) Die Gattin freue sich oft über deine Umarmung, denn das ist die Bestimmung des Menschen, der da lebt auf dieser Welt.«13
Gilgamesch schlägt den Rat in den Wind. Schließlich findet er Utnapaschtin. Der hält eine weitere Prüfung für ihn bereit. Sechs Tage und sieben Nächte lang soll der Held wach bleiben. Doch Gilgamesch sinkt sofort in den Schlaf. Utnapaschtin spottet: »Sieh den Mann an, der das ewige Leben erstrebt: Der Schlaf hauchte ihn an wie ein Nebel.«14 Als Gilgamesch erwacht, wird ihm bewusst, dass auch er nur ein sterblicher Mensch ist. Schließlich offenbart ihm der Weise doch noch das »Geheimnis der Götter« – den Ort, an dem eine Pflanze wächst, die Unsterblichkeit verleiht. Gilgamesch taucht ins Meer hinunter und pflückt sie. Doch letztlich misslingt ihm auch diese Prüfung. Als er auf dem Heimweg ein Bad nimmt, frisst eine Schlange das Kraut. Reumütig kehrt er in seine Heimatstadt zurück. Auf seiner langen Reise hat Gilgamesch gelernt, dass Menschen eben keine Götter sind. Selbst ein unbesiegbarer Held wie er kann das menschliche Schicksal nicht überwinden.
Was mich an der Gilgamesch-Geschichte am meisten berührt, ist, wie der einst unbezwingbare, hochmütige Held von Todesangst übermannt, ja völlig durchgebeutelt wird. Wie er förmlich um sein Leben bettelt. Wie er rastlos umherirrt, sich völlig aufreibt und zerrüttet bei seinem Versuch, den Tod zu besiegen. In diesen Passagen wird der Held Gilgamesch plötzlich sehr menschlich. Dabei ist es nicht die Angst vor dem Sterben, vor qualvollem Leiden, die ihn so in Panik versetzt. Es ist die Angst, einfach nicht mehr zu existieren – die Angst vor dem Nichts: »Würde ich nicht wie er daliegen, mich nicht mehr erheben auf immer und ewig?«
Schon als Kind hatte ich oft lähmende Angst vor dem Tod. Eigentlich war ich mir sicher, dass ich keine 30 werden würde. Bei jedem Arztbesuch fürchtete ich irgendeine niederschmetternde, fatale Diagnose. Etwas von der Art: »Wir haben da was gefunden. Sie haben noch sechs Monate. Tut uns leid. Machen Sie das Beste daraus.« Und wenn meine Eltern abends unterwegs waren, horchte ich oft stundenlang auf jedes Fahrstuhlgeräusch. Ich hatte einfach Angst, es könnte ihnen etwas zugestoßen sein.
Irgendwann habe ich zum Glück gelernt, den Tod aus meinem Leben zu verdrängen. Als Schatten ist er aber immer noch gegenwärtig. So gesehen, kann ich Gilgamesch gut verstehen. Ehrlich gesagt, auch ich will nicht sterben.
Manchmal frage ich mich, ob auch mein Vater Angst vor dem Tod hat. Ob er dieses Gefühl überhaupt noch empfinden kann. Eigentlich hat es nicht den Anschein, als würde er noch irgendetwas fürchten. Eher strahlt er Ruhe aus, als habe er eine Art von Frieden gefunden. Hätte mein Vater den Wunsch zu leben, wenn er wüsste, wie es um ihn bestellt ist? Das ist eine dieser scheinbar sinnlosen Fragen. Ich weiß nicht, ob er es weiß. Niemand kann es wissen. Und ich kann mich nicht erinnern, dass sich mein Vater jemals dazu geäußert hätte, als es ihm noch besser ging.
Als ich 13 war, starb mein Großvater, der Vater meines Vaters. Nach einem Schlaganfall konnte auch er irgendwann nicht mehr sprechen. Er bekam einfach keine Worte mehr heraus, musste sich schriftlich verständigen. Ich weiß noch, wie ich eine Zeit lang versuchte, mit ihm das Sprechen zu trainieren. Irgendwann schüttelte er nur noch den Kopf. Am Ende fütterte ihn meine Großmutter mit Astronautennahrung. Doch der Großvater war nicht dement. Bis zum Ende blieb er völlig klar im Kopf. Er litt furchtbar unter seinem Verfall.
Mein Vater erlebte, wie meine Großmutter seinen Vater pflegen musste. Und meine Großmutter musste mitansehen, wie mein Vater zum Pflegefall wurde. Vor ein paar Jahren starb auch sie. Über 90 Jahre wurde sie alt, diese kleine, zarte Frau, die am Ende weniger als 30 Kilo wog. Die Schicksalsschläge in ihrem Leben hat sie mit der ihr eigenen Gelassenheit ertragen. Den Tod des Großvaters, die Demenz des Vaters, den eigenen Krebs. Zum Schluss sagte sie, dass sie einfach nur noch die Augen schließen wolle. Im Krankenhaus wünschte sie sich noch einen Schluck Bier. Einen Tag später war sie tot.
Natürlich weiß ich, dass meine Geschichten nichts Besonderes sind. Jeder von uns ist irgendwann mit dem Tod von Eltern, Partnern, Verwandten oder Freunden konfrontiert. So gesehen ist der Tod tatsächlich »nichts Besonderes«. Doch zugleich könnte man sagen, dass er das schlechthin Besondere ist.
Es scheint vergleichsweise leicht, uns ein Jenseits auszumalen, an die Seelenwanderung oder an die Wiederauferstehung zu glauben. Doch zugleich fällt es uns unglaublich schwer, den Tod als das Ende von allem zu denken.

Traurige Schatten

Die Seele war schon zu Urzeiten so etwas wie eine globale Idee. Wie Anthropologen festgestellt haben, ähneln sich die »primitiven« Seelenvorstellungen der meisten Völker, vom Schamanismus bis zu den frühen Griechen, in zentralen Punkten. So gingen die meisten frühen Kulturen von einer dualistischen Seelenvorstellung aus. Die Seele war für sie noch keine Einheit, kein Zentrum von Bewusstsein, Geist und Emotionen, das einen Menschen unabhängig vom Körper und über den Tod hinaus repräsentiert. Die Vorstellung von Erlösung und ewigem Leben spielte in ihrem Seelenkonzept eine untergeordnete Rolle.
Der schwedische Sanskrit-Forscher Ernst Arbman unterschied zwischen verschiedenen »Körperseelen« und einer »Freiseele«. Die Körperseelen sind für Bewussteins- und Lebensfunktionen zuständig, sie machen das ganze Innenleben eines Menschen aus. Mit dem körperlichen Tod gehen auch sie zugrunde.15
Nur die »Freiseele« kann außerhalb des Körpers weiterexistieren. Sie repräsentiert das Individuelle eines Menschen. Doch sie hat keinerlei psychische oder physische Attribute – also nichts von dem, was wir heute unter der Persönlichkeit eines Menschen verstehen. Sie ist einfach nur ein Double ohne Bewusstsein und Selbst – der blutleere Schatten eines Menschen.
Bei Homer ist die »psyche« schlicht das, was die Lebenden von den Toten unterscheidet. In der »Ilias« haucht man seine »psyche« auf dem Schlachtfeld aus. Schon in der ersten Strophe des Epos heißt es, der Zorn des Achilles habe viele »kraftvolle psyches« in den Hades geschickt.
An vielen Stellen kann man das Wort einfach mit »Leben« übersetzen. Wo eine »psyche« ist, da ist auch Leben. Von ihr ist immer dann die Rede, wenn Leben in Gefahr ist – und zwar menschliches Leben. Tiere haben bei Homer keine »psyche« (die einzige Ausnahme ist die Schlange).16
Die »psyche« stand zu Homers Zeiten nicht nur in enger Verbindung zum Leben, sie war auch die Grundlage des Bewusstseins. Während einer Ohnmacht, so dachte man, verlässt sie den Körper. Mit dem Gefühlsleben, also mit dem, was wir heute unter »Psyche« verstehen, hatte die »psyche« nichts zu tun. Dafür gab es eine Reihe von anderen Begriffen. Als Zentrum der Emotionen etwa galt der »thymos«, als Sitz des Geistes der »nous«. Doch alle diese »Seelen« waren sterblich. Nur die »psyche« konnte den Tod überdauern. Nach der »Psychologie« Homers haben »nous« und wohl auch »thymos« meinen Vater verlassen. Seine »psyche« hingegen wäre, wenn ich es richtig verstehe, noch da.
Doch Homers Vorstellung von der »psyche« ist wenig befriedigend. Diese Art »Seele« kommt mir vor wie eine Art Avatar in einem Computerspiel. Ein virtuelles Wesen, das zwar so aussieht wie mein Vater, sich vielleicht auch so bewegt – das aber eben nicht »echt« ist. Einer Computerspielfigur könnte man wenigstens Sprache und eine gewisse rudimentäre Persönlichkeit einprogrammieren. Die bedauernswerten Geschöpfe im Hades hingegen haben nicht einmal das.
Nachdem sie von der Quelle des Vergessens getrunken haben, fristen die Seelen der Toten ein trauriges Dasein als blutleere, kraftlose Schattenwesen. Zwar behalten sie ihr Aussehen. Doch sie haben kein Inneres mehr – keine Emotionen, keinen Geist, keine Erinnerung. Sie können nicht mal richtig sprechen. In manchen Darstellungen heißt es, die Seelen der Toten würden quieken oder zwitschern.17 Diese Seelen hatten weder Bewusstsein noch Selbst. Nach unseren heutigen Begriffen waren sie einfach Zombies.
Auf die Unsterblichkeit im Hades kann man leicht verzichten. Genauso gut könnte man einfach tot sein. In der »Odyssee« erklärt der Geist von Achilles einmal, er wäre lieber auf der Erde »Tagelöhner (…) als die ganze Schar vermoderter Toten zu beherrschen«. Auf eine Erlösung im Jenseits von ihrem schweren Leben brauchten die Menschen zu Homers Zeit nicht zu hoffen. »Die griechische Religion richtete sich mehr auf dieses Leben als auf das Leben danach. Obwohl man an ein Jenseits glaubte, hielt man den Tod zu Homers Zeiten mehr oder minder für das Ende des Lebens«18, meint der Altertumsforscher Jan Bremmer.
So elend das Jenseits war, so abgehoben und lebensfern agierten die Götter. Für die Griechen waren Zeus, Apollon & Co. eine Art Über-Menschen, die sich im Olymp an Ambrosia labten und ihren diversen Affären nachgingen, mit der Lebensrealität »unten« jedoch wenig zu tun hatten. Zwar stieg selbst Göttervater Zeus gelegentlich hinunter, um sterbliche Frauen zu beglücken oder in Schlachten einzugreifen. Doch die Kluft war unüberwindlich. Und wenn Menschen die Götter mal auf die Probe stellten, endete das für die Sterblichen meist fatal.
Ohnehin glaubten die Menschen an die unentrinnbare Macht eines vorherbestimmten Schicksals. Zwar konnte man versuchen, im Diesseits sein Bestes zu geben. Doch die Möglichkeiten waren beschränkt. Wer die vom Schicksal vorgegebenen Grenzen überschritt, wer in »Hybris« verfiel, den bestraften gnadenlos die Götter. Einige Dichter meinten sogar, es sei am besten, gar nicht geboren zu werden oder möglichst früh zu sterben.

Seelen-Kulte

Abgehobene Super-Götter, ein übermächtiges Schicksal, ein tristes Jenseits: Die traditionelle Religion muss vielen Griechen wohl sehr unbefriedigend erschienen sein. Vor allem die Gebildeteren begannen, über ihr eigenes Schicksal nach dem Tod nachzudenken. Und sie wünschten sich mehr als bloß ein kümmerliches Schattendasein im Hades. Die spirituelle Unzufriedenheit bildete den Nährboden für Mysterienkulte, Initiationsriten und esoterische Geheimlehren, die den Menschen mehr Hoffnung versprachen als die traditionelle Religion.
Die Frage nach der Seele war stets auch etwas Mystisches – etwas, das sich der rationalen Erklärung entzog. Ein Gegenstand des religiösen Erlebens, untrennbar verbunden mit der Hoffnung auf Erlösung. In späteren Zeiten haben die Philosophen viel nachgedacht über die Unsterblichkeit der Seele. Doch die emotionale Kraft mystischer Erfahrungen erreichten ihre Theorien nie.
In Eleusis in der Nähe von Athen beging man über 2000 Jahre lang einen geheimnisvollen Mysterienkult, der schon die griechischen Dichter faszinierte: »Selig, wer jenes geschaut hat und so unter die Erde geht! Er kennt das Ende des Lebens! Er kennt auch den Anfang!«, rief der Dichter Pindar aus.19 Und bei Sophokles heißt es: »Dreimal selig die Sterblichen, die diese Weihen geschaut haben und so in den Hades kommen; für sie allein gibt es dort Leben; für die anderen hat er alles Unheil.« Mit anderen Worten: Das Mysterium verhieß den Eingeweihten ein glückseliges Leben nach dem Tod – statt bloß ein trauriges Schattendasein im Hades.20
Der Kult von Eleusis beruht auf dem Mythos vom Raub der Persephone. Dabei geht es um die Trauer der Fruchtbarkeitsgöttin Demeter um ihre Tochter, die vom Unterweltgott Hades entführt wurde – also um eine Geschichte über Leben und Tod. Was genau sich bei den Feierlichkeiten und Ritualen abgespielt hat, worin genau die »Geheimnisse« bestanden, die die Teilnehmer schauen durften, liegt bis heute weitgehend im Dunklen. Die Vermutungen reichen von Zeremonien, bei denen es um eine Kornähre als Fruchtbarkeitssymbol ging, bis zu Sex in unterirdischen Gängen – der Kult beflügelte vor allem die Fantasie früher christlicher Autoren, die Eleusis für ein Symbol heidnischer Blasphemie hielten. Im Kern ging es wohl um das mystische Nacherleben der Geschichte von Demeter und Persephone. Doch das eigentliche Versprechen von Eleusis war ein Initiationsritual: Durch die bloße Teilnahme an dem Mysterium konnte man eine höhere Seinsweise erreichen – ein Leben ohne Angst vor dem Tod.
Alle frühen Kulturen entwickelten ihre Vorstellungen über die Unsterblichkeit. Doch es ist interessant, wie unterschiedlich ihre »Lösungen« ausfielen. Während die Ägypter das Jenseits verherrlichten, zelebrierten die frühen Griechen eine Art Mystik des Lebens. Nirgendwo kommt das so deutlich zum Ausdruck wie in den Kulten und Mysterien des Dionysos. Heute kennt man ihn zumeist als Gott des Weins. Doch der Zeus-Sohn Dionysos war viel mehr. Man verehrte ihn als Stier, als Baumgott und in zahllosen anderen Formen. Vor allem aber war er ein Gott der Vitalität, der Lebenskraft.
Von Anfang an galt Dionysos als Außenseiter, als Fremdling, der die Werte der traditionellen Religion bedrohte. Und doch kam wohl kein anderer griechischer Gott den Menschen so nahe. Wo er mit seinem Gefolge, den Mänaden oder Bacchantinnen und Satyrn, auftauchte, gerieten die Menschen in Verzückung. Und er tauchte ständig irgendwo auf. Stets begleiten Wunder sein Erscheinen, wie sie Euripides in seinem Drama »Die Bacchantinnen« beschrieben hat: Da sprudelt plötzlich Wasser oder Wein aus einem Felsen. Oder aus Efeu tropft Honig. So schnell Dionysos erscheint, so schnell verschwindet er auch wieder, um noch machtvoller wieder zu erscheinen – manche Religionswissenschaftler sahen darin das Motiv der mystischen Wiedergeburt, der symbolischen Einheit von Leben und Tod. Der berühmte Mythenforscher Karl Kerényi bezeichnete Dionysos einmal als »Archetyp des unzerstörbaren Lebens«.21
Dionysos und seine Anhänger verstanden es zu feiern. Zu Ehren des Gottes gab es orgiastische nächtliche Feste und Opferrituale fernab von den Städten, auf Bergen oder in Wäldern. Man berauschte sich mit Wein, man tanzte – und aß rohes Fleisch. Diese »Homophagia« sollte den Anhängern vergegenwärtigen, wie das Dionysos-Kind von den Titanen zerstückelt und gekocht wurde. »Lustbarkeit und Gelag liebt Zeus’ Sohn, unsere Gottheit«, sagt Euripides. In seiner ursprünglichen Form war der Dionysoskult wahrscheinlich nichts für feinsinnige Gemüter.
Seine Anhänger verehrten Dionysos nicht nur, sie waren von ihm regelrecht besessen. In der Ekstase, im Rausch verschmolzen sie mit ihrem Gott. »Die dionysische Ekstase bedeutet vor allem die Überschreitung der menschlichen Bedingtheit, die Entdeckung der totalen Befreiung, das Erlangen einer Freiheit und Spontaneität, die dem Menschen sonst unerreichbar sind«, schrieb der Religionswissenschaftler Eliade.22
Man kann es vielleicht auch so ausdrücken: Die Dionysos-Anhänger mussten über die Unsterblichkeit der Seele nicht lange nachdenken. Sie erlebten sie höchst emotional in der mystischen Vereinigung mit ihrem Gott.
Der Kulturhistoriker Egon Friedell hat die dionysische Ekstase mit literarischer Vorstellungskraft so beschrieben: »Im Mantel der Nacht, beim Flackerschein düsterer Fackeln tanzten sie zum Getöse kreischender Becken, donnernder Pauken und jauchzender Flöten den rasenden Rundreigen durch die wilden Wälder und öden Berghalden, Fuchspelze um die Schultern, Hörner auf dem Haupte, Schlangen und Dolche schwingend. Rauschtränke erhöhten die Ekstase, bis schließlich die Psyche aus dem Leib trat und sich mit dem Gott vereinigte, dem thrakischen Fremdling Dionysos.«23
Kein Denker hat die dionysische Ekstase später so verherrlicht wie Friedrich Nietzsche. Das »Dionysische«, das Prinzip des wilden, ungezügelten, überschießenden Lebens stellte er dem »apollinischen« Prinzip gegenüber, das für ihn das Maßvolle, das Rationale verkörperte. Nietzsche feierte die »Selbstvergessenheit der dionysischen Zustände« und forderte die Hingabe an Rausch und Ekstase, an schiere Lebens- und Daseinslust.24 Der Altertumsforscher Erwin Rohde, ein Freund Nietzsches, stellte in seinem Buch »Seelenkult« sogar die These auf, die griechische Vorstellung vom »unsterblich-göttlichen Leben der Menschenseele« sei aus dem Dionysoskult entstanden.25
Der Dionysosmythos hat mich immer schon gleichermaßen fasziniert wie erschreckt. Das Ekstatische, das Entgrenzte ist mir eigentlich fremd. Für dionysische Erfahrungen fehlt mir eine Art emotionale Musikalität. Zu sehr fürchte ich den Kontrollverlust. Enthemmte Menschenmengen kann ich bis heute nicht ertragen. Grölende Fußballfans zum Beispiel stoßen mich ab. Meine bescheidenen Drogenexperimente endeten kläglich. Schon als Kind tat ich mir schwer damit, aus mir »herauszugehen«.
Für mystische Erlebnisse bin ich immer noch nicht sehr empfänglich. Allerdings glaube ich heute, dass man die Vernunft manchmal zügeln muss, um Dinge auf intuitive Weise besser zu verstehen. Damit meine ich nicht »übersinnliche« Erfahrungen, sondern etwas, das ich »emotionale Evidenz« nennen möchte – ein Gefühl dafür, wie die Dinge sein könnten.
Von den ersten Schamanen über Gilgamesch bis zu den berauschten Anhängern des Dionysos: Sie alle waren getrieben von der Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tod. Von der »Seele« hatten sie zwar keinen klaren Begriff. Aber wahrscheinlich brauchten sie den auch gar nicht. Vielleicht vermittelten ihnen ihre Rituale und Trancen einfach das traumwandlerische Gefühl, dass die Seele, ihr zweites Ich, etwas anderes sein müsse als der Körper. Etwas, das auf geheimnisvolle Weise mit dem Leben zu tun hat – und womöglich sogar den Tod überdauern kann.
Aus unserer heutigen Sicht erscheint uns das manchmal naiv oder gar irrational. Ich glaube auch nicht, dass mystische Erfahrungen einen Beweiswert haben. Würde mir jemand berichten, er habe sich in einer Trance mit der Seele meines Vaters vereinigt, hätte ich vermutlich meine Zweifel. Allerdings denke ich heute, dass mystische Erfahrungen den Menschen vielleicht eine Intuition für die Seele vermitteln konnten – eben eine emotionale Evidenz, eine gefühlte Gewissheit, dass es da noch »etwas anderes« gibt als den Körper.
Mein Vater ist für mich mehr als sein zerstörtes Gehirn. Und ich glaube, dass dieses »mehr« mit der Tatsache zu tun hat, dass er lebt. Ich weiß, das ist nicht viel. Wie viel »mehr« ist »mehr«? Und vor allem: Woraus besteht dieses »mehr«?
Im 7. und 6. Jahrhundert vor Christus begannen einige Naturphilosophen, sich der Frage nach der Seele wissenschaftlich zu nähern. Natürlich waren sie keine Wissenschaftler im heutigen Sinne. Diese Denker verfügten weder über wissenschaftliche Instrumente noch über eine klare Terminologie. Doch mindestens in einem Punkt war ihr Vorgehen wissenschaftlich. Statt sich auf Mythen und mystische Erfahrungen zu verlassen, suchten sie nach Erklärungen. Aus welchem Stoff ist die »Seele« gemacht? In welcher Beziehung steht sie zum Kosmos? Kann sie tatsächlich den Tod überdauern? Und wenn ja, wie – und warum?
KAPITEL 2
Göttlicher Stoff
Irgendwann im 7. Jahrhundert vor Christus machte ein Astronom namens Thales von Milet eine merkwürdige Beobachtung. Wenn man an Bernstein rieb, bekam dieser plötzlich die Kraft, ein Stück Eisen zu bewegen. Thales grübelte über das bizarre Phänomen. Besaß dieser scheinbar tote Stein etwa Leben? Hatte auch er eine »psyche«, eine Seele – wie wir Menschen? Und wenn ja: War womöglich der ganze Kosmos »beseelt«, also von Leben durchdrungen?
Wer im frühen Griechenland rational über die Frage der Seele nachdachte, war mit einer ziemlich verwirrenden Situation konfrontiert. Einerseits gab es nach den traditionellen religiösen Vorstellungen nicht bloß eine Seele, sondern ein gutes halbes Dutzend davon – ein ganzes Bündel von Lebenskräften, von denen die meisten an den Körper gebunden und sterblich waren. Nur die »psyche«, der körperlose Doppelgänger, der »Schatten« eines Menschen, existierte nach dem Tod im Hades weiter. Andererseits blühten religiöse Kulte und Geheimlehren, vom eleusinischen Mysterium bis zum Dionysoskult mit ihren eigenen Vorstellungen von der Unsterblichkeit. Und zugleich kursierten bizarre Wundergeschichten über »schamanistische« Trance-Reisen und Seelenwanderungen, die griechische Reisende von asiatischen Völkern mitgebracht hatten.
Die frühen Naturphilosophen standen vor dem Problem, diese völlig unterschiedlichen Strömungen miteinander in Einklang zu bringen – und mit ihrer neuen, »wissenschaftlichen« Denkweise zu verbinden.
Die Frage der Seele muss Denker wie Thales oder Heraklit vor tiefe Rätsel gestellt haben. Was ihre Ansätze aus heutiger Sicht so interessant macht, ist unter anderem, dass sie noch keine dualistische Trennung zwischen Geist und Materie kannten. Die Seele war für sie ein Naturphänomen, das sie aus einem kosmischen Urstoff zu erklären versuchten – aus einer alles durchdringenden »Lebenskraft«.
Thales von Milet (ca. 624-547 v. Chr.) war Astronom und Mathematiker. Unter anderem sagte er eine Sonnenfinsternis des Jahres 585 vor Christus korrekt voraus. Der erste Seelen-Forscher des frühen Griechenlands war wohl nicht nur Theoretiker. Einmal soll ihn zwar eine thrakische Magd verspottet haben, weil er, vertieft in astronomische Überlegungen, in eine Zisterne gefallen war. Thales dürfte aber auch ein cleverer Geschäftsmann gewesen sein. Nachdem er dank seiner wissenschaftlichen Kenntnisse eine reiche Olivenernte vorausgesehen hatte, mietete er günstig alle Ölmühlen, die er bekommen konnte – um sie später teurer weiterzuvermieten.
Thales hielt das Wasser für ein Urelement. Wo Wasser ist, so beobachtete er wohl, da ist auch Leben. Thales dachte, sogar die Erde schwimme auf Wasser. Anscheinend sah er das Wasser als eine göttliche, den ganzen Kosmos durchdringende Lebenskraft. Wahrscheinlich glaubte er deshalb auch, dass die Seele vermischt mit dem Kosmos und »alles voll von Göttern« sei.26 Für Thales steht die Seele in einem großen, kosmischen Zusammenhang, der sich ungefähr so beschreiben lässt: Alles entsteht letztlich aus Wasser, das Wasser aber ist das Göttliche – also ist alles mehr oder weniger vom Göttlichen durchdrungen.
Aus der Tatsache, dass Thales auch Magnetstein eine »psyche« zuschrieb, schloss Aristoteles später, dass der Naturphilosoph die Seele offenbar für etwas »Bewegendes«27 halte – ein Gedanke, der in der antiken Auffassung von Leben eine zentrale Rolle spielt. Bis heute streiten die Experten allerdings darüber, ob Thales alle Dinge als »beseelt« ansah oder doch nur einige.
Was »beseelt« ist, also lebendig, das bewegt sich selbst (und andere Dinge): Die Fähigkeit zur Fortbewegung ist bis heute eines von mehreren Kriterien, nach denen man lebende von unbelebten Dingen unterscheidet. Natürlich wissen wir heute, dass Magneten kein Leben oder eine »Seele« brauchen, um Eisen anzuziehen. Doch die Intuition von Thales war beachtlich: Heute geht die Wissenschaft davon aus, dass motorische und kognitive Fähigkeiten bei Tieren eng miteinander verbunden sind.
Anaximenes von Milet (ca. 575-525 v. Chr.) hielt nicht Wasser, sondern Luft (»pneuma«) für das alles durchdringende Prinzip des Seienden. Auch die Seele war für ihn einfach Luft. Anaximenes zog eine faszinierende Parallele, die manche als erstes Seelen-Konzept der griechischen Philosophie sehen. In einem antiken Text wird sein Gedanke so wiedergegeben: »Ebenso, sagt er, wie unsere Seele, welche Luft ist, uns mit ihrer Kraft zusammenhält, so umfasst auch den ganzen Kosmos Wind (oder Atem)
(…).«28 Möglicherweise dachte Anaximenes, dass die Seele den menschlichen Körper »zusammenhält«, ihn womöglich auch steuert. Vielleicht sah er die Welt sogar als einen einzigen, lebendigen Organismus. Seine Idee einer kosmischen Atemseele erinnert an die indische Vorstellung der alles durchdringenden Lebensenergie »prana«. Nach dieser Vorstellung gibt es zwischen körperlichen und psychisch-geistigen Vorgängen keinen prinzipiellen Unterschied – beide sind nur verschiedene Formen oder »Verdichtungen« von »prana«.29

Kosmisches Feuer

Auch Heraklit von Ephesos (ca. 500 v. Chr.) glaubte an einen tiefen Zusammenhang zwischen Seele und Kosmos. Wegen seiner rätselhaften Aussagen nannte man ihn »den Dunklen«. Für manche war er einfach ein hochmütiger und menschenfeindlicher Spinner.
In einem zeitgenössischen Text wird er wenig freundlich charakterisiert: »Schließlich wurde er zu einem Misanthropen, zog sich aus der Gesellschaft zurück und lebte im Gebirge, wo er sich von Gras und Pflanzen ernährte. Jedenfalls wurde er durch diese Lebensweise wassersüchtig, kam in die Stadt herunter und fragte die Ärzte in Rätselworten, ob sie aus Überschwemmung Dürre machen könnten. Als sie ihn nicht verstanden, grub er sich selbst in einem Kuhstall ein und hoffte, durch die Wärme des Mists werde das Wasser verdunsten.«30
Für Heraklit herrscht in der Welt ständige Veränderung – »alles fließt«. Doch auf jede Veränderung in die eine Richtung folgt eine Veränderung in die andere. Die Welt besteht daher aus Gegensätzen und Spannungen, die zusammen eine Einheit bilden
- wie Tag und Nacht, wie Leben und Tod. »Krieg ist der Vater aller Dinge«, sagte Heraklit. Die kosmische Weltordnung sorgt für Ausgleich und Balance. Heraklit beschreibt diese Ordnung als »ein ewiglebendiges Feuer, das nach Maßen entflammt und nach Maßen verlöscht«.31 Dieses Feuer umgibt wie ein Äther die Welt. Es ist nicht nur die archetypische Form von Materie, sondern universelles Prinzip – eine Art göttliches Zahlungsmittel. »Alles ist austauschbar gegen Feuer und Feuer gegen alles, ebenso wie es Waren gegen Gold sind und Gold gegen Waren.«32
Nicht Geld, sondern Feuer regiert die Welt.
Oder in Heraklits Worten: »Alles steuert der Blitz.«33
Auch die Seele ist Feuer. Es ist zwar nur ein winziger »Funke der Sterne«, der da in unserem Inneren glimmt. Doch unser Seelenfeuer unterliegt den gleichen Veränderungsprozessen wie der ganze Kosmos. Auch die Seele besteht aus Gegensätzen und Spannungen, die in Balance gehalten werden müssen.
Die Seele entsteht nach Heraklit aus Wasser. Durch richtige Lebensführung »trocknet« sie wie ein nasses Handtuch in der Sonne – und wird dadurch immer »feuriger«, wirkungsvoller und edler. »Die trockene Seele ist die weiseste und beste«, sagt Heraklit.34 Krankheit und Laster hingegen lassen das Seelenfeuer immer feuchter werden – bis es schließlich wieder ganz zu Wasser wird und damit zugrunde geht. »Für Seelen ist es der Tod, Wasser zu werden, und für Wasser der Tod, Erde zu werden; aus Erde entsteht Wasser und aus Wasser Seele.«35 Leben und Tod gehen für Heraklit also ineinander über.
Oder wie er in einem seiner vielen rätselhaften Formelsätze sagt: »Unsterbliche sind Sterbliche, Sterbliche sind Unsterbliche.«36
Man kann darüber streiten, ob Heraklit auch die individuelle Seele für unsterblich hielt. Denn einerseits ist der Tod für ihn notwendig, damit neues Leben entstehen kann. Andererseits deutet er an, dass einige besonders »feurige« Seelen dem sonst unvermeidlichen Wasser-Tod entgehen und sich nach dem Tod wieder mit dem kosmischen Feuer vereinigen können – etwa jene von Kämpfern, die auf dem Höhepunkt ihrer Vitalität plötzlich in der Schlacht sterben. Heraklit behauptet sogar, dass Seelen, die im Krieg gefallen sind, »reiner« seien als jene, die an Krankheiten sterben. Über den Körper sagt er ohnehin nur abschätzig, dass er »eher weggeworfen werden sollte als Mist«.37 Vielleicht glaubte Heraklit auch an die Möglichkeit eines »unsterblichen« Ruhms – nicht zuletzt für sich selbst, der die Dummheit der Masse, die bloß »vollgefressen wie Hausvieh« sei, so sehr verachtete.
Als einer der Ersten analysiert Heraklit verschiedene Bewusstseinszustände, wie Schlaf und Traum: »In der Nacht zündet der Mensch ein Licht für sich an, wenn seine Sehkraft erloschen ist; lebendig rührt er im Schlaf an den Toten und im wachen Zustand an den Schläfer.«38 Die Auswirkungen einer »feuchten« Seele illustriert Heraklit mit einer rührend bodenständigen Beobachtung: »Wenn ein Mann betrunken ist, wird er von einem unerwachsenen Buben geführt, schwankend, ohne zu wissen, wohin er geht; denn feucht ist seine Seele.«39
Heraklit war vielleicht der erste Denker, der die Seele als eine Art »Selbst« konzipierte, wie die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum40 meint: So wie das »ewige Feuer« den Kosmos im Maß hält, so verbindet die Seele, die »psyche«, die vielen Fähigkeiten des Menschen zu einer Einheit. Das persönliche Geschick hängt für Heraklit daher nicht von einem vorherbestimmten Schicksal ab – sondern vom Individuum: »Des Menschen Eigenart ist sein Schicksal«, sagt Heraklit. Mäßigung ist dabei ein entscheidender Faktor. »Frevelhaften Übermut« lehnt er ebenso ab wie die ekstatischen Rauschzustände im Dionysoskult.
Wahre Weisheit können wir nach Heraklit nicht durch Ekstase oder Rausch erlangen, sondern indem wir das zentrale Gesetz erkennen, das Seele und Kosmos gleichermaßen regiert. Die Seele reicht über uns hinaus, sie ist Teil des ewigen kosmischen Spiels der Gegensätze: »Der Seele Grenzen kannst du nicht entdecken gehen, selbst wenn du jeden Weg abschreitest; so tief ist die Erklärung, die sie hat.«41

Feuchte Seelen

Ob Wasser, Luft oder Feuer wie bei Heraklit: Gemeinsam ist diesen frühen griechischen Philosophen die Idee eines universellen, alles durchdringenden kosmischen Prinzips. Seele und Kosmos sind für sie aus dem gleichen Stoff gemacht, sie haben die gleiche Struktur – daher folgen beide auch den gleichen Gesetzen und Regeln.
Natürlich glaubt niemand heute ernsthaft, dass die Seele im wörtlichen Sinne aus »kosmischem Feuer« besteht. Doch Heraklits Intuition wirkt immer noch in unserem Sprachgebrauch, in unseren Metaphern nach.
Von besonders engagierten, energiegeladenen Menschen sagen wir, dass sie »brennen«. Oder wir meinen umgekehrt, ein Leben sei »erloschen«. Dahinter steht wohl die Vorstellung, dass die »Seele« etwas Lebendiges und Veränderbares ist, bestimmt von Spannungen und Gegensätzen, von Werden und Vergehen – eben wie das Feuer, das durch Zufuhr von Sauerstoff genährt wird, ohne Sauerstoff aber verlischt, das Energie verbraucht und zugleich Energie abgibt.
Es ist diese Intuition von der Seele, die mich im Zusammenhang mit meinem Vater bewegt. Natürlich liegt es mir fern, seine Krankheit in irgendeiner Weise aus einer im Wortsinn »feuchten Seele«, aus der Abnahme irgendeiner mysteriösen »Lebensenergie« oder seines »prana« zu erklären – auch wenn solche Theorien bei vielen Esoterikern hoch im Kurs stehen.
Es war eine berufliche Katastrophe, in der seine Seele ertrank. Zumindest glaubten wir alle das.
Mein Vater war Chefredakteur des Pressedienstes der Sozialdemokratischen Partei Österreichs. Das war in den 1970er Jahren, während der SPÖ-Alleinregierung unter dem legendären Kanzler Bruno Kreisky, eine wichtige politische Funktion. Ich erinnere mich, dass ich in der Schule gerne damit prahlte. Doch dann wurde er plötzlich gefeuert.
Mein Vater führte seine Ablösung auf den Machtwechsel an der Spitze der Regierungspartei zurück. Den Rückschlag hat er nie überwunden. Die Partei, so meinte er, hatte ihn verlassen. Und die »Partei« war sein Leben.
Mein Vater hatte die glorreiche Zeit der SPÖ-Alleinregierung in den 1970er Jahren erlebt. Ich weiß noch, wie ich der bewunderten Lichtgestalt Kreisky als Kind einmal die Hand geben durfte.
Und ich erinnere mich an die rührende Geschichte meiner Großmutter, wie sie einmal nachts um halb zwei beim Bundeskanzler höchstpersönlich zu Hause anrief, um nach dem Verbleib ihres Sohnes zu fragen. Es muss für meinen Vater eine großartige Zeit gewesen sein. Seine Seele stand sozusagen unter Feuer. Doch nun war er ausgebrannt.