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Beschreibung

Tagungsband zum rechtswissenschaftlich-interdisziplinären Kolloquium am 18. Juli 2014 in Gießen zum Thema: Selbstbestimmte und selbstorganisierte Bildung versus Schulpflicht - Betrachtungen zum Spannungsverhältnis zwischen Schulbesuchspflicht und den Grundrechten der betroffenen Menschen. Dieses Buch enthält überarbeitete Vorträge von: Karen Kern Maisun Kuhn-Cicek Malchus Kern Dr. Christoph Schickhardt Prof. Dr. Johannes Rux Dr. Andreas Vogt Martin Stoppel Franziska Klinkigt Bertrand Stern

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Seitenzahl: 201

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Selbstbestimmte und

selbstorganisierte

Bildung versus Schulpflicht

Betrachtungen zum Spannungsverhältnis zwischen Schulbesuchspflicht und den Grundrechten der jungen Menschen

Beiträge zur Frage des Rechts, frei sich zu bilden – Band 1 Tagungsband zum Kolloquium vom 18. Juli 2014 in Gießen

Herausgeber: Matthias Kern

Vorwort des Herausgebers

Dieser Band ist in Folge eines rechtswissenschaftlich-interdisziplinären Kolloquiums entstanden, das von der Freilerner-Solidargemeinschaft e. V. initiiert und veranstaltet und von Karen Kern, Franziska Klinkigt, Bertrand Stern und mir, Matthias Kern, organisiert wurde. Auf die Bitte der anderen Organisatoren hin habe ich die Herausgeberschaft für diesen Band übernommen.

Die im Sommer 2012 gegründete Freilerner-Solidargemeinschaft e.V. hat sich zum Ziel gesetzt, das Recht junger Menschen auf eine selbstbestimmte Bildung zu stärken und junge Menschen (und gegebenenfalls deren Familien) zu unterstützen, die aufgrund der eigenständigen Wahl ihrer Bildungsform (unter anderem in rechtlicher Hinsicht) unter Druck gesetzt werden. Aus der selten in Frage gestellten – unserer Ansicht nach aber keineswegs zwangsläufigen und oft nicht sachgerechten – engen Koppelung von Bildung und Schule ergeben sich oft harte Auseinandersetzungen, wenn junge Menschen ihre Bildung in anderer Form, nämlich selbstbestimmt, gestalten wollen und sich der Schule verweigern. Diese Konstellationen werfen für alle Beteiligten, für Schulen, Schulbehörden, Jugendämter und Gerichte ebenso wie für die jungen Menschen und gegebenenfalls ihre Eltern, viele Fragen ethischer, philosophischer, juristischer, aber auch praktischer Art auf. Welche Konsequenzen ergeben sich diesbezüglich aus der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und dem Recht auch des jungen Menschen auf Achtung seiner Menschenwürde und freie Entfaltung seiner Persönlichkeit?

Zu diesem Thema möchten wir die damit zusammenhängenden Fragenkomplexe in einem konstruktiven, aber auch kontroversen Dialog interdisziplinär, insbesondere rechtswissenschaftlich, beleuchten und diskutieren.

Als ersten Baustein zu diesem Dialog haben wir ein Kolloquium veranstaltet, das am 18. Juli 2014 im Vortragsraum der Kongresshalle in Gießen stattfand und unter dem folgenden Titel stand:

Selbstbestimmte und selbstorganisierte Bildung versus Schulpflicht

Betrachtungen zum Spannungsverhältnis zwischen Schulbesuchspflichtund den Grundrechten der jungen Menschen

Die einzelnen Beiträge zu diesem Kolloquium schienen uns so interessant, dass wir uns entschlossen haben, sie in Form dieser Publikation allgemein zugänglich zu machen. Die Referenten hatten die Möglichkeit, ihre Beiträge für diesen Band nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen zu überarbeiten, zu ergänzen und zu aktualisieren. Dies erklärt auch den zeitlichen Abstand der Veröffentlichung zu der Veranstaltung.Wir verstehen auch diese Veröffentlichung als Einladung zu einem Dialog. Bitte zögern Sie nicht, uns für Ihre Kritik, Ihre Anmerkungen und Fragen zu kontaktieren.

Wir freuen uns auf konstruktive Gespräche!

Wir danken den Mitgliedern der Freilerner-Solidargemeinschaft e. V., die durch ihre Spenden die Veranstaltung dieses Kolloquiums ermöglicht haben. Ganz besonders danken wir den Referentinnen und Referenten für ihre bereichernden Beiträge und für die Bereitschaft, sowohl zu dem Kolloquium als auch zu dieser Publikation beizutragen.

Markdorf, 9. Juni 2016

Matthias Kern

Kontakt: [email protected]

Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der Bildung

Karen Kern

Für mich und meinen Ehemann ist selbstbestimmte und selbstorganisierte Bildung – auch und gerade in unserer Rolle als Eltern – schon seit Jahrzehnten ein Thema. Ab 2001 haben wir die Verweigerung des weiteren Schulbesuchs durch unsere Söhne im Alter von elf und vierzehn Jahren und deren Wunsch nach selbstbestimmter Bildung akzeptiert. Seitdem bestimmt das Spannungsverhältnis zwischen Schulbesuchspflicht und den Grundrechten der betroffenen jungen Menschen unser Leben.

Für uns war das Akzeptieren der Entscheidung unserer Söhne eine konsequente Folge des bisherigen Zusammenlebens mit unseren zwei Töchtern und drei Söhnen. In den Jahren davor haben wir zunehmend deren Wünsche und Entscheidungen ernst genommen und sie an Entscheidungen, die uns als Familie betrafen, beteiligt. In diesen Jahren haben wir Eltern die Vorstellungen, wie Kinder zu sein haben und wie mit ihnen umgegangen werden soll, in Frage gestellt und diese im Zusammenleben mit unseren Töchtern und Söhnen dann auch geändert. Zum Zeitpunkt der Entscheidung, das Nein unserer Söhne zum weiteren Schulbesuch ernst zu nehmen, wäre es einem grundsätzlichen Vertrauensverlust gleichgekommen, wenn wir diese Entscheidung unserer Söhne nicht ernst genommen hätten.

Gerade am Thema »Schulpflicht« wurde uns bewusst, dass wir persönlich einen grundlegenden Paradigmenwechsel in Bezug auf die Einstellung zu jungen Menschen vollzogen haben. Leider wurde uns auch bewusst, dass es fast unmöglich ist, diesen Paradigmenwechsel anderen Menschen nahezubringen, die junge Menschen als Kinder oder Zöglinge ansehen, die erzogen werden müssen. Hier prallen zwei unterschiedliche, unvereinbare Weltbilder aufeinander, die sich meiner Ansicht nach ähnlich diametral gegenüberstehen wie das geozentrische und das heliozentrische Weltbild.

Die Mehrheit der Menschen unserer Gesellschaft hängen dem Paradigma der »paternalistischen Erziehung« an. Der herrschenden Vorstellung von Erziehung liegt das Menschenbild zugrunde, junge Menschen seien unvollständig, sie müssten erzogen werden und ihnen müsse etwas beigebracht werden, sowohl Wissen und Fertigkeiten als auch soziale Fähigkeiten und Umgangsformen. Innerhalb dieses Paradigmas haben sich in den letzten Jahrhunderten im Bildungsbereich Schule und Schulpflicht für eine bestimmte Altersgruppe zur Norm entwickelt, mit der massive Einschränkungen der Grundrechte junger Menschen gerechtfertigt werden.

Eine größer werdende Gruppe von Eltern stellt dem ein anderes Modell der Einführung in die Gesellschaft, also einer anderen Art von »Erziehung« gegenüber, das ich hier als »partnerschaftliches Aufwachsen« bezeichnen möchte. Eltern, die ihren Töchtern und Söhnen gegenüber eine gleichberechtigte Haltung leben und die bei einer Schulverweigerung das »Nein!« ernst nehmen, bleibt nur der Weg des zivilen Ungehorsams, wenn sie in Deutschland leben wollen und eine Auswanderung für sie nicht in Betracht kommt. Dadurch werden sie in der Regel mit den nach den geltenden Normen in Fällen von Schulverweigerung vorgesehenen Konsequenzen konfrontiert.

Schulverweigerung – wie gehen Schulen und Schulbehörden damit um?

Wenn ein junger Mensch sich weigert in die Schule zu gehen – also sein »Nein!« zum Schulbesuch ausspricht – wird dies in der Regel fast automatisch mit pathologischen Begriffen wie Schulangst, Schulverweigerung oder sogar Schulphobie in Verbindung gebracht. Mittlerweile haben viele Landkreise ihre eigenen Broschüren und wohl jedes Bundesland hat ein Konzept, wie damit umgegangen werden soll. Als Gründe für eine ausnahmslose Schulbesuchspflicht werden in diesen Broschüren, wie auch in Begründungen von Gerichtsurteilen zu Schulpflichtverletzungen, neben dem Aufbau von Fachkompetenzen, die Entwicklung von Sozial- und Selbstkompetenzen gesehen, beispielsweise auch von der Erziehungswissenschaftlerin Margit Stamm in ihrer Studie zur Schulverweigerung »Zu cool für Schule!«.

Bei Schulverweigerung werden die Gründe selten in der schulischen Situation selbst gesehen, sondern vor allem bei den betroffenen jungen Menschen. »Traditionell geht man davon aus, dass der einzelne Schüler resp. die einzelne Schülerin und ihre Familie für ihr schulabsentes Verhalten selbst verantwortlich sind. Seit ein paar Jahren betont die Forschung jedoch auch die bedeutsame Rolle der Schule.« (Vergl. L1/S. 9) Auch wenn Margit Stamm die Rolle der Schule in ihre Studie mit einbringt, ist im weiteren Verlauf ihrer Studie der Fokus wieder auf den jungen Menschen und ihren Eltern: »Schulverweigerung umschreibt Kinder und Jugendliche mit enormen emotionalen Verhaltensproblemen, die – mit Wissen der Eltern – nicht mehr imstande sind, zur Schule zu gehen und in diesem Zusammenhang auffällige psychogene oder psychosomatische Veränderungen zeigen.« (vergl. L1/S. 9)

Negative Folgen für die Zukunft werden bei Schulverweigerung als nahezu zwangsläufig vorausgesetzt:

»Schulverweigerung kann nachhaltige Konsequenzen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen haben. So führt häufiges Fernbleiben von der Schule in der Regel zu Leistungsabfall und damit zu schlechteren Schulnoten. In der Folge sind der Schulabschluss und damit ein erfolgreicher Übergang ins Berufsleben gefährdet.

Da Schule einen wichtigen Ort der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen darstellt, trägt massive Schulverweigerung zu einer mangelnden oder fehlenden sozialen Integration sowie zu Einbußen in der Entwicklung von Sozialkompetenzen bei.

Des Weiteren wird die Entstehung von psychischen Auffälligkeiten, wie Sucht, soziale Phobien und Depression, gefördert. Schulverweigerung führt häufig zu Langeweile und verleitet damit zum Einstieg oder zur Verfestigung delinquenten Verhaltens, wie z. B. Diebstahl und Körperverletzung.« (vergl. L2/S. 6)

Alle unterstützenden Maßnahmen innerhalb und außerhalb von Schule zielen darauf ab, den jungen Menschen wieder auf den »rechten Weg« zu bringen, das heißt zurück in die Schule. Eltern werden sehr schnell therapeutische Maßnahmen ans Herz gelegt, entweder nur für den jungen Menschen oder besser noch für die gesamte Familie. Im Vordergrund steht, dass sich der junge Mensch wieder gut in die Schule einfügen muss. Der Fokus liegt nicht darauf, dass es ihm persönlich gut geht und er sich in der Schule wohl fühlt, sondern dass er mit der Situation in der Schule, egal wie schwierig diese ist, zurechtkommt.

Der Schulverweigerung unseres ältesten Sohnes gingen jahrelange Mobbingerfahrungen voraus. Wir Eltern haben viele Gespräche mit den Lehrern unseres Sohnes geführt, er selbst hat mehrere Schulwechsel gehabt, war lange Zeit in psychotherapeutischer Betreuung und hat eine sozialpädagogische Kur mitgemacht. Und obwohl die Lehrerin der zuletzt von ihm besuchten Schule seine Situation sehr ernst nahm und auch versuchte, das Problem durch entsprechende Maßnahmen zu lösen, wie z. B. die Aufarbeitung der Mobbingsituation in der Klasse durch Mobbingspezialisten der Caritas, hat sich seine Situation über die Jahre hinweg nur weiter verschlechtert. Als wir sein Nein akzeptierten, er sich fortan zu Hause bildete, war es wie ein großes Aufatmen. Der tägliche Stress fiel weg und er konnte sich endlich erholen und sich auch zunehmend wieder seiner Bildung widmen. In den letzten zwei Schuljahren hatten wir erlebt, wie er in der Schule in einen Überlebensmodus geschaltet hatte, um den Schulalltag zu überstehen. Seine Bildung geriet dort völlig in den Hintergrund. Von einem guten Teil der Lehrer wurde er deswegen als dumm und faul bezeichnet. Weder das eine noch das andere traf zu.

Viele junge Menschen, deren Eltern sich wegen ihrer Schulverweigerung an uns wenden, berichten von ähnlichen Erfahrungen wie wir sie mit unserem ältesten Sohn gemacht haben. Die meisten von ihnen haben aufgrund ihrer Probleme in der Schule eine lange therapeutische Geschichte hinter sich.

Wenn sich Töchter oder Söhne in einer solchen angespannten Situation befinden, suchen viele Eltern irgendwann für ihre Tochter, ihren Sohn nach einem Ausweg und fangen mit zunehmenden Informationen an, die Schule und letztlich die Schulpflicht in Frage zu stellen.

Bietet die schulische Situation selbst nicht schon nachvollziehbare Gründe?

Schulbesuch und schulische Bildung werden als die Norm für das Aufwachsen junger Menschen angesehen. Auch wenn diese Norm nicht in Frage gestellt wird, knirscht und knackt es in diesem System seit Jahren und es kann nicht behauptet werden, Schule so wie sie ist, sei ein Erfolgsmodell und würde die an sie gestellte Aufgabe bei allen jungen Menschen erfüllen. Alleine die Berichte in den Medien in Bezug auf Schulverweigerung, Gewalt und Mobbing in der Schule, Unterforderung, Überforderung, Hochbegabung, Dyslexie, Dyskalkulie, Analphabetismus u. a., aber auch die Artikel über die wenigen leuchtenden Beispiele bringen uns regelmäßig ins Bewusstsein, dass für viele junge Menschen die Realität der Schule nicht dem entspricht, was als Rechtfertigung für die Aufrechterhaltung der Schulpflicht angegeben wird. Schule kann weder eine Garantie für den Erwerb von Bildung geben, noch kann sie die Sicherheit der jungen Menschen garantieren, sie kann nicht sicherstellen, dass diese weder körperlich noch in ihrer Würde angegriffen werden. Auch ist ein Schulbesuch keine Garantie für spätere gesellschaftliche Teilhabe, beruflichen Erfolg, hohes Selbstbewusstsein oder angemessene Konfliktfähigkeit. Trotz des Bewusstseins über die Schwierigkeiten in den Schulen und vieler Reformen in den letzten Jahrzehnten haben sich viele Dinge nicht geändert, womöglich eher noch verschlechtert. Dennoch scheint der Großteil unserer Gesellschaft immer noch der Meinung zu sein, dass Schule so wie sie ist, für das Heranwachsen zu einem guten Mitglied unserer Gesellschaft notwendig ist, und die negativen Seiten von Schule werden in Kauf genommen oder sogar für das Aufwachsen als notwendig angesehen. Dabei sprechen oft die Zahlen für sich.

Schulabbrecher

Nach den aktuellen Angaben des Statistischen Bundesamts (L3) verlassen jedes Jahr ca. 45.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss. Durch das Aufrechterhalten der Vorstellung, Schule sei der einzige Bildungsweg, werden junge Menschen schon in jungen Jahren als Versager abgestempelt. Bei anderer Betrachtungsweise könnte man eingestehen, dass Schule diesen jungen Menschen nicht gerecht wird und ihnen andere für sie passende Wege vorschlagen und zwar Wege, die ihnen nicht zusätzlich ihr Versagen vor Augen halten. Einrichtungen mit Namen wie »Zweite Chance« teilen schon im Titel mit, dass das Versagen aufseiten der jungen Menschen gesehen wird und nicht innerhalb des Schulsystems.

Viele dieser jungen Menschen werden nicht nur als Versager abgestempelt, sondern auch noch als Kriminelle behandelt. Je nach Bundesland sind bis zu 40 % der Jugendlichen in den Jugendarrestanstalten nur deswegen dort, weil sie sich weigern, in die Schule zu gehen.

Analphabetismus

Die Anzahl der Analphabeten ist seit Jahren unvermindert hoch. Es wird geschätzt, dass es 7,5 Millionen funktionale Analphabeten in Deutschland gibt (L4). Der Großteil dieser Menschen ist hier in Deutschland zur Schule gegangen. Da im schulischen Kontext Unterricht und Lernen spätestens ab der dritten Klassenstufe fast nur noch über Schrift ablaufen und Lesen und Schreiben als selbstverständlich vorhandene Fähigkeiten vorausgesetzt werden, ist es für viele junge Menschen, die bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht Lesen gelernt haben, fast unmöglich, aus dem weiteren Schulunterricht irgendeinen Nutzen zu ziehen. Darüber hinaus macht es die jahrelange Misserfolgserfahrung sehr schwierig, diese Fähigkeit noch so zu erlernen, dass sie auch im späteren Alltag einen Nutzen daraus ziehen können. Damit werden sie automatisch als lernbehindert eingestuft. Die Folgen, die sich daraus für den einzelnen Betroffenen ergeben, sind gravierend. Das Selbstwertgefühl wird schon in jungen Jahren womöglich langfristig geschwächt. Eine Teilhabe an vielen gesellschaftlichen Bereichen ist nicht möglich. Aber nicht nur die Folgen für den einzelnen Betroffenen sind dramatisch. Eine Gesellschaft, die vor allem hochqualifizierte Arbeitskräfte sucht, kann mit diesen Menschen nichts anfangen und hat wahrscheinlich Kosten durch vermehrte Arbeitslosigkeit und psychische wie körperliche Krankheiten.

Schule und Lehrplan setzen voraus, dass Lesen und Schreiben bis zum Alter von spätestens acht Jahren gelernt wird. Oft wird das auch mit dem Konzept eines »Zeitfensters« im Hinblick auf die Bildung verbunden, welches sich vorgeblich schließt, wenn das Alter für eine bestimmte Fähigkeit vorüber ist.

Dabei zeigen die Erfahrungen, zum Beispiel an Sudbury-Schulen wie auch bei selbstbestimmt lernenden, unbeschulten Kindern, dass diese bisherige Annahme so nicht aufrechterhalten werden kann. Wenn junge Menschen sich Lesen und Schreiben im eigenen Tempo erarbeiten können, dann ist wohl die Altersspanne für den Beginn des Lesen- und Schreibenlernens wesentlich größer als bisher angenommen. Bei den Untersuchungen (L5, L6) lernten die meisten jungen Menschen diese Fähigkeiten zwar im Alter zwischen 5 und 8 Jahren, aber es gab doch eine große Anzahl, die es vor diesem Zeitpunkt gelernt haben, oder aber auch erst sehr viel später mit 9 oder 10 Jahren oder sogar erst mit 12 oder 13 Jahren. Bei den späten Leselernern ist festgestellt worden, dass ihre Leistungen sich etwa ein halbes Jahr nach dem Erlernen der Fähigkeit kaum mehr von denen Gleichaltriger an Schulen unterschieden. Es war aber ein großer Unterschied darin festzustellen, welches Verhältnis zum Lesen diese jungen Menschen hatten. Fast alle lasen mit Begeisterung und Lesen wurde ebenso intensiv für das Lesen von Geschichten zum Vergnügen wie bei der Erarbeitung neuen Wissens genutzt. Interessanterweise war die Anzahl der Analphabeten vor Einführung der Schulpflicht in einigen Ländern wie z. B. Großbritannien geringer als nach Einführung der Schulpflicht (L7).

Dyslexie, Dyskalkulie, ADS, ADHS, Autismus, Hochbegabung etc.

Ähnlich wie beim Analphabetismus werden Dyslexie, Dyskalkulie, ADS, ADHS und andere Störungen als Abweichungen von einer immer enger gesetzten Norm angesehen. Bei fast allen jungen Menschen, bei denen »Störungen« diagnostiziert wurden, liegt zumindest im schulischen Kontext der Fokus vor allem auf diesen Störungen, selten auf dem jungen Menschen als ganzheitlicher, eigenständiger Person. Durch ständige Maßnahmen, die oft doch nicht zum gewünschten Ergebnis führen, ist auch hier dann bei vielen betroffenen jungen Menschen das Selbstwertgefühl dauerhaft niedrig und dies begleitet sie in ihr Erwachsenenleben. Therapie- und Fördermaßnahmen sind oft keine wirkliche Hilfe, eher Maßnahmen der Schule, die damit zeigt, dass sie dem jungen Menschen Förderung zukommen lässt. Auch in diesen Bereichen lassen Studien aus anderen Ländern vermuten, dass zumindest für einen Teil der jungen Menschen mit diagnostizierten »Störungen« Bildung außerhalb der Schule ein sinnvoller Weg sein kann.

Der Schulalltag an den meisten Schulen ist immer noch bestimmt davon, die meiste Zeit still an seinem Tisch zu sitzen und mehr oder weniger passiv den Unterricht über sich ergehen zu lassen. Für Menschen im schulpflichtigen Alter wird dies als normal angesehen. Weder vor diesem Lebensabschnitt noch danach gibt es ein solches Diktat für Menschen. In der Zeit vor dem Eintritt der Schulpflicht wird jungen Menschen ein hohes Bewegungsbedürfnis zugesprochen und auch zugestanden. Im Erwachsenenleben wiederum sind die Menschen frei sich einen Beruf zu wählen, der ihrem Bewegungsbedürfnis entspricht.

Wenn jemand im schulpflichtigen Alter einen großen Bewegungsdrang hat und sich womöglich nicht besonders gut auf die Inhalte des Unterrichts konzentrieren kann, wird eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung diagnostiziert. Um dieses Verhalten zu bessern, werden Medikamente eingesetzt, deren Nebenwirkungen und Risiken schwerwiegend sind. 7 % aller Jungen und 2 % aller Mädchen wurde 2013 Ritalin/Methylphenidat verabreicht, damit sie mit ihrem Verhalten in der Schule nicht mehr weiter anecken, obwohl bekannt ist, dass die Nebenwirkungen dieser Medikamente schwerwiegend sind und die Einnahme in die Sucht führen kann (L8).

Mobbing und Lehrergewalt

Mobbing wird meiner Auffassung nach immer noch zu sehr unterschätzt und zu wenig beachtet, obwohl die Anzahl der Fälle zeigt, dass viele junge Menschen von Mobbing betroffen sind. Je nach Quellenangabe werden zwischen 10 % und 15 % der Schüler gemobbt, wobei die Zahl derjenigen, die unter Cyber-Mobbing leiden, wohl noch wesentlich größer ist. Man geht davon aus, dass mindestens ein Schüler pro Klasse gemobbt wird. Laut der DAK-Initiative »Gemeinsam gesunde Schule entwickeln« berichtet jeder dritte Schüler in einem Zeitraum von drei Monaten von mindestens einer Situation, in der er »von anderen Schülern schikaniert und fertiggemacht« (L9) wurde.

Wenn Mobbing nur die einzelnen Mobbingopfer betreffen würde, wären alleine diese Zahlen schon alarmierend. Mobbing betrifft aber immer eine Gruppe, in der Schule heißt das die gesamte Klasse (oder die gesamte Schule) – Täter, Mittäter, Unterstützer der Täter, Opfer, die wenigen, die ihnen zur Hilfe kommen, aber auch die größte Gruppe, nämlich diejenigen, die wegschauen und das Geschehen ignorieren. Aufgrund der Zahlen können wir davon ausgehen, dass für fast jede Klasse jeder Schule Mobbing ein Thema ist und damit ein soziales Klima schafft, bei dem in meinen Augen fraglich ist, ob wir es als Gesellschaft wirklich wollen, dass unsere jungen Menschen in einem solchen Klima aufwachsen.

Mobbing kann jeden treffen. Haben frühere Studien versucht, Opfer- und Tätertypen festzulegen und diese unter anderem auch sozialen Schichten zuzuordnen, zeigen neuere Studien deutlich, dass fast jeder zum Opfer werden kann, auch junge Menschen, die beliebt sind. Auch Mobbingtäter gehören eher selten sozialen Randgruppen an, sondern oft zu den beliebten Schülern, denen ein solches Tun von Lehrern nicht zugetraut wird. Lehrer wie auch die gesamten Schulen erkennen oft nicht das ganze Ausmaß an Mobbing, ignorieren oder bagatellisieren es. Nach der Online-Broschüre »Mobbing« des Rheinisch-Bergischen Kreises gibt es viele Faktoren, die Mobbing als Teufelskreislauf erscheinen lassen: »Die Reaktion der Lehrerschaft ist oft gering, viele Eltern wissen nichts, viele Kinder schweigen. Mobbing geschieht gewöhnlich an unbeaufsichtigten oder schlecht beaufsichtigten Orten … Bei Übergriffen erhalten die Kinder wenig Hilfe und Schutz; … Zudem ändert sich die Perspektive der Wahrnehmung; im Nachhinein werden ›Opfer‹ für das Geschehen häufig selbst verantwortlich gemacht.« (L10) und die meist manipulativen Täter werden für ihr Tun bewundert. Nach den Erfahrungen des Mobbing-Telefonprojekts der Universitäten Freiburg, Heidelberg und München (L11) ist eine Lösung der Mobbingsituation in der Regel nur bei frühzeitigem Eingreifen möglich. Viele junge Menschen leiden oft jahrelang unter Mobbing. Schwere gesundheitliche Probleme können für die Opfer von langanhaltendem Mobbing die Folgen sein, nicht nur in der aktuellen Situation, sondern auch für das spätere Leben. Therapien für die Mobbingopfer, oft die einzige Maßnahme zu der von Schulseite geraten wird, helfen selten in der aktuellen Situation, vor allem, wenn sie täglich wieder in die für sie entwürdigende und angstauslösende Situation zurück müssen und erleben, dass die Täter meist unbehelligt weiter mobben.

Mobbing ist eine Straftat. Erwachsene Mobbingopfer haben die Möglichkeit, den Täter anzuzeigen oder die Situation, in der sie gemobbt werden, zu verlassen, auch wenn beides in der Praxis, sicher auch am Arbeitsplatz, nicht immer einfach ist. Für junge Menschen, die in der Schule in eine Mobbingsituation geraten, ist es in den meisten Fällen fast unmöglich, aus dieser Dynamik wieder herauszukommen. Nach einer Studie aus Großbritannien (L12) ist Mobbing der am häufigsten genannte Grund für die Entscheidung zur Bildung zu Hause. Ich gehe davon aus, dass die Zahlen in Deutschland ähnlich aussähen, wenn Bildung zu Hause geduldet würde. Hierzulande wird aber sogar dringend dazu geraten, dass ein gemobbter Schüler keinesfalls die Schule oder die Klasse wechselt, weil dadurch der Mobber in seinem Verhalten gestärkt würde und damit eine Verhaltenskultur etabliert würde, die für unsere Gesellschaft unerwünscht ist, eine Verhaltenskultur, und hier schließt sich der Teufelskreis, die sie schlussendlich täglich erleben.

Oft tragen Lehrer durch ein herabwürdigendes Verhalten noch dazu bei, die Mobbingsituation aufrechtzuerhalten, oder sie lösen durch ihr Verhalten erst eine solche aus. Leider ist Lehrergewalt an Schulen immer noch ein Tabuthema. Den Studien von Erziehungswissenschaftler Volker Krumm (L13.1, L13.2, L13.3), Edgar Schmitz, Peter Voreck, Klaus Hermann und Ernst Rutzinger vom Lehrstuhl für Psychologie der technischen Universität in München (L14) und dem Autor Holger Strohm (L15) zufolge gehört Gewalt durch Lehrer zum Alltag in Schulen.

Selbstbestimmung und Mitbestimmung in der Schule

Im Bereich Schule wird Eltern zwar nach dem Gesetz ein Mitspracherecht bei der Wahl der Schule eingeräumt, je nach Schulstufe und Schulart aber meist nur, wenn sie sich für eine private Schule entscheiden. Nun gibt es zwar eine große Anzahl an Privatschulen, aber wenn Eltern eine Schule suchen, die ein freies Konzept umsetzt, ist es für viele nicht möglich, eine solche innerhalb einer erreichbaren Entfernung zu finden. Noch wesentlich weniger Mitspracherecht haben Eltern und Schüler in staatlichen Schulen. Hier gibt es bei den Schulen für die Grundbildung keine freie Schulwahl, nur wer sich ab der fünften Jahrgangsstufe für die Realschule oder das Gymnasium entscheidet, bekommt hier teilweise die Freiheit zugesprochen, zwischen den Schulen in der Umgebung auszuwählen.

Weder den jungen Menschen selbst noch ihren Eltern wird ein bedeutsames Mitspracherecht eingeräumt. Auf Lerninhalte, schulische Strukturen, Bildungsmaterialien, Lehrer, Tutoren, Mitschüler haben sie praktisch keinen Einfluss. Auch im Schulalltag gibt es nur sehr geringe Freiräume, Tätigkeiten selbst zu bestimmen. Der Schulalltag ist durchstrukturiert. Schüler müssen oft sogar um Erlaubnis bitten, wenn sie essen, trinken oder auf die Toilette gehen möchten.

Für unseren jüngeren Sohn waren die Hauptgründe für seine Entscheidung, sich nicht weiter in der Schule, sondern selbstbestimmt von zu Hause aus zu bilden, dass er seinen eigenen Interessen nicht nachgehen konnte und alle Bildungsaktivitäten vorbestimmt waren sowie der fehlende Respekt und die geringe Achtung von Seiten der Lehrer gegenüber Schülern. Er fühlte sich nicht ernst genommen und empfand eine große Diskrepanz in der Einforderung der Schulregeln. Schüler wurden bestraft, wenn sie gegen diese Regeln verstießen, Lehrer hingegen hielten sich regelmäßig nicht an diese Regeln und hatten mit keinerlei erkennbaren Konsequenzen zu rechnen.

Paradigmenwechsel in Bezug auf junge Menschen – Vom Erziehungsobjekt Kind zum selbstbestimmten Individuum / Gesellschaftlicher Wandel

Eltern, die die Entscheidungen ihrer Töchter und Söhne in Bezug auf eine andere Form von Bildung unterstützen, sind in der Minderheit. Aber das darf meines Erachtens kein Grund sein, diese Minderheit nicht ernst zu nehmen. Für mich stehen diese Eltern am Anfang einer Bewegung zur Gleichberechtigung junger Menschen. Im letzten Jahrhundert haben durch die Bewegung zur Gleichberechtigung der Frauen umwälzende gesellschaftliche Änderungen stattgefunden, die mit gesetzlichen Änderungen einhergingen. Auf die Einführung des Frauenwahlrechts im Jahr 1918 folgten viele weitere gesetzliche Änderungen, um für die Gleichberechtigung in allen gesellschaftlichen Bereichen eine Grundlage zu schaffen.

Im Kielwasser der Emanzipationsbewegung der Frauen folgte auch ein veränderter Blick auf junge Menschen, auf ihre Entwicklung, auf die Beziehung zwischen ihnen und ihren Eltern und im familiären Zusammenleben, aber auch in Bezug auf die Bildung und andere sie betreffende Bereiche. Jetzt findet ein grundlegender Paradigmenwechsel in der Haltung zu jungen Menschen statt. In vielen Lebensbereichen ist inzwischen klar, dass nicht nur das (von Erwachsenen beurteilte) Wohl des Kindes von Bedeutung ist, sondern auch dessen Wille und Meinung angemessen berücksichtigt werden müssen.

Immer mehr Eltern bevorzugen einen partnerschaftlichen Umgang mit ihren Töchtern und Söhnen und pflegen ein gleichberechtigtes und gleichwürdiges Zusammenleben innerhalb der Generationen.

Wenn Eltern ihre gleichberechtigte Haltung den jungen Menschen gegenüber wirklich konsequent leben wollen, geraten sie in ein Spannungsfeld zwischen ihren eigenen Überzeugungen und den gesellschaftlichen und juristischen Erwartungen und Normen. Spätestens wenn ihre Töchter und Söhne schulpflichtig werden, kommt es zu Konflikten, weil die Normen von ihnen etwas fordern, das zu ihren Vorstellungen von Erziehung im Widerspruch steht. Die vorherrschende Meinung ist immer noch, dass Kinder bevormundet und erzogen werden müssten, was sich in den gesetzlichen Regelungen in Bezug auf junge Menschen deutlich widerspiegelt. Ihre Rechte, über das eigene Leben selbst zu entscheiden, sind stark eingeschränkt. Mit diesen Regelungen wird ihnen auch ein Großteil der Entscheidungskompetenz in Bezug auf ihr eigenes Leben abgesprochen, vor allem im Bereich von Bildung und Arbeit.