Silvaplana Blue I - Auch ich war einst in Arkadien - Heide Fritsche - E-Book

Silvaplana Blue I - Auch ich war einst in Arkadien E-Book

Heide Fritsche

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Beschreibung

"Silvaplana Blue" habe ich in drei Teilen geschrieben. Das erste Buch ist "Auch ich war einst in Arkadien…" ist die Geschichte eines Sommers. Das ist die Geschichte einer Liebe, die ich nicht verwirklichen konnte. Gian war über sechs Jahre jünger als ich. Das war 1967 ein Skandal. Ich verließ Silvaplana, ich verließ Gian. Ich verdrängte und vergaß. Im Januar 2012 fing ich an, von Silvaplana zu träumen. Die Träume verfolgten mich. Ich googlete. In der "Engadiner Post" fand ich Gians Todesanzeige. Nach seinem Tod kam Gian zu mir. Hier beginnt der Psychothriller. Ich hatte mein ganzes Leben verdrängt. Jetzt musste ich den Weg in den Schmerz zurückgehen. Ich musste alle Wunden meines Lebens aufreißen, um mit mir selber ins Reine zu kommen. Dieses Buch ist Trauerarbeit. "Auch ich war einst in Arkadien …" sind Erzählungen von Silvaplana, Momentaufnahmen von Menschen, Ereignissen und Skandalen. Zwischen den Erzählungen von Silvaplana sind die Erlebnisse meiner Kindheit eingeflochten. Sie geben die Antwort und die Erklärungen für das, worüber ich mit Gian nicht sprechen konnte, was ich ihm nicht schreiben konnte und warum ich ihm nicht schreiben konnte. Meine Kindheit war eine Hölle gewesen. Ich war ohne Eltern aufgewachsen. Ich war traumatisiert und konnte nicht sprechen. Meine Angstvorstellungen ließen mich in die Hände eines Psychopathen fallen. Das war meine Ehe mit Theodor. Ich nenne ihn Theodor, weil mein erster Mann noch lebt. Ich habe alle Namen der Personen, die noch leben, verändert. Die Namen der Toten habe ich beibehalten.

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Silvaplana Blue I - Auch ich war einst in Arkadien

von

Fritsche

Dieses E-Book wurde erstellt für Heide Marie Herstad ([email protected])

am 03.11.2014 um 7:11 Uhr, IP: 80.212.67.4

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Inhaltsverzeichnis

Gian

Silvaplana

Meine Lehr- und Wanderjahre

Der Schweizer Nationalfeiertag

Liebesreigen

Frauen im Krieg

Die Dämonen meiner Kindheit

Fallhöhe

August Schellhase

Der Abschied

Impressum

Kapitel 1

Silvaplana Blue I - Auch ich war einst in Arkadien

Heide Fritsche

Inhaltsverzeichnis

Gian

Silvaplana

Meine Lehr- und Wanderjahre

Der Schweizer Nationalfeiertag

Liebesreigen

Frauen im Krieg

Die Dämonen meiner Kindheit

Fallhöhe

August Schellhase

Der Abschied

"Ah certi piccoli fiumi di bassa pianura

Che arrivano dritti nel mare

E chissà se si accorgon di niente

O si lasciano semplicemente arrivare

Assomigliano a certe tristezze

Che senza preavviso

Allagano i laghi del cuore

E alla solita acqua ci mischiano un’acqua

Che arriva da non si sa dove

E ti ho incontrata una sera sperduta

Che non c’era più niente da dire

Neanche l’ombra di un mezzo saluto

In quegli occhi che pure

Mi aveva guardato guardare

Non importa quanto tempo è passato

Ce ne siamo lasciate noi due

Di trace sul cuore

Che nessuna tristezza dovrebbe da sola

Dovrebbe poter cancellare

Eson ritornato qui

In verità,

Per contradirti

E non mi allontanerà questo silenzio

E la distanza de una giacca abbandonato

Sono tornato qui

Perché si fa di rincontrarsi

E non mi scoraggerà

Nemmeno il vuoto

Che ci piglia e che non ci fa più meraviglia

Sono tornato qui perché …”

(Gianmaria Testa: Piccoli fiumi)

Gian

I.

Hallo Gian, wie geht es Dir? Schon seit Tagen und Wochen träume ich von Dir, jede Nacht. Bilder und Gestalten tauchen auf, umgaukeln mich, verschwinden, schweben dahin und dorthin, sind hier und doch nicht da.

Auch heute Nacht warst Du wieder bei mir. Ich sah Dich nicht, aber ich fühlte Dich: „Ich kann nicht mit Dir kommen“, sagte ich. Du legtest Deine Hände auf meinen Rücken, ganz leicht, ganz sanft, ganz warm. Ich schmolz unter Deinen Händen. „Gian, noch nicht …“Du warst weg. Du warst wieder da. Du hattest Deine Hände auf meinen Rücken, intensiv. Deine Hände waren überall. Ich sah Dich nicht, ich sah kein Gesicht, Du hattest kein Gesicht, aber Du warst da, warm, lebendig und von einer unendlichen Zärtlichkeit. „Ich kann nicht mit dir zusammen sein“. Du warst wieder weg, Du warst wieder da, Deine Hände waren wieder da.

Ich wachte auf. Ich wollte nicht aufwachen. Mein Körper zitterte unter Deinen Händen:„Gian, nicht jetzt, ich komme bald zu Dir, aber nicht jetzt.“Ich schlief wieder ein, ich wachte wieder auf. Aber dieBilder verfolgten mich, Bilder von Dir, Bilder von Silvaplana. Sie halten mich feste. Ich lasse mich treiben in meinen Erinnerungen, ich verschwinde im Silvaplana Blue.

Silvaplana war mein Arkadien. Ich hatte es verdrängt. Ich hatte es seit langem vergessen. „Silvaplana war auch nur ein Traum“,sageich mir. Das war ein Traum, der an einer unbewältigten Wirklichkeit zerbrach. Dieser Traum konnte nie Wirklichkeit werden, aber der Schmerz blieb. Plötzlich wird der Traum einer verlorenen Liebe in meinen Träumen lebendig.

Silvaplana war die Liebe zu Dir. Das war die Liebe eines Sommers, eine Liebe, die ich nicht realisieren konnte. Ich lief vor Dir weg. Ich schrieb Dir nicht, aber ich konnte Dich nicht vergessen.

Ich lief weg, weil ich Angst hatte, Angst vor den unbekannten Gefühlen in mir, Angst vor dem Chaos in mir, Angst vor Dir, Angst vor mir selber. Die Angst bohrte in mir, aber ich wusste nicht, was mich verstörte.

Ich agierte febril und merkte es nicht. Es vibrierte in mir und ich fühlte es nicht. In meinen Gedanken und Gefühlen war Chaos und ich wusste nicht warum. Ich stand unter Hochspannung. Diese Spannung war die Anziehung zwischen uns. Das war ein Magnetismus, der mich elektrisierte. Wir saßen immer in nächster Nähe zueinander. Wo wir gingen und standen berührten wir einander. Das war so selbstverständlich, als gehörten wir zueinander. Das war so selbstverständlich, als wären wir seit Ewigkeiten zusammen. Das war so selbstverständlich, dass ich mir dessen nicht bewusst war.

Dann kam der Abschied von Silvaplana. Das war der Abschied von Dir. Das war der Schock, dem ich nicht gewachsen war. Du gehörtest zu mir wie die Luft zum Leben. Als Silvaplana hinter mir verschwand, bekam ich keine Luft mehr. Ich war leer und ausgebrannt. Ich versank in der dunklen Wolke einer Depression, ich verschwand in Passivität. Ich ahnte, was Du mir bedeutest hattest, ich wusste, was Du mir bedeutet hast, aber ich konnte nicht handeln.

Der „Coup de foudre“ beim Abschied, das Erkennen wurde für mich zum „Coup de grâce“, zum Todesstoß, zum Erkennen der Unmöglichkeit, diese Liebe zu verwirklichen. Diese Unmöglichkeit lag primär und vor allem in meiner Seele. Ich wagte nicht, Dich zu gewinnen, weil ich Dich nicht verlieren wollte. Damit habe ich mich selber verloren.

Ich ließ Silvaplana hinter mir. Ich würde es nie wieder sehen. Ich verschwand aus Deinem Leben. Ich würde Dich nie wieder sehen. Das wusste ich nicht. Ich war fest bestimmt, zurück zu kommen, und doch bohrte der Schmerz in mir. Etwas tat mir weh, irrational. Ich konnte meine Unruhe nicht fassen, begreifen und benennen.

Ich versuchte, logisch zu denken. Ich räsonierte. Ich stürzte mich niemals ins Ungewisse. Silvaplana war für mich das Ungewisse. Ich musste vernünftig sein. Ich durfte mich auf keinen Unsinn einlassen. Prinzipiell ging ich jedem Risiko aus dem Weg. Das Risiko warst Du. Du warst viel zu jung, um Dich binden zu können.

Ich lief bei jeder Gefahr weg. Du warst eine Gefahr. Darum lief ich vor Dir weg. Doch der Abschied von Dir tat weh. Dieser Schmerz durfte nicht wahr sein. Meine Angst durfte nicht wahr sein. Ich konnte mir keine Angst erlauben. Ich verdrängte. Ich rationalisierte. Ich wurde zum Spielball meiner Rationalisierung. Ich wurde zum Spielball meiner Verdrängung.

Ich räsonierte aus meiner traumatisierten Seele: Ich hatte den Augenblick verpasst, glaubte ich, ich hatte meine Chance verspielt. Meine Abreise erfolgte unter einer falschen Prämisse. Ich hätte mit offenen Karten spielen sollen. Das habe ich nicht getan. Das war ein Fehltritt. Danach beherrschte ich die Situation nicht mehr, danach gab es kein Zurück für mich. Ich kroch nicht zurück, niemals, nicht als Verlierer.

Darum hast Du nichts von mir gehört, keinen Gruß, keine Postkarte, kein Dankeschön. Das war keine Gleichgültigkeit. Das war keine Frivolität. Ich verdrängte Dich, ich verdrängte Silvaplana und einen ganzen Sommer. Ich folgte der Logik meiner verkrüppelten Seele, dumm, naiv, blind, arrogant und zum Schluss resigniert. Ich resignierte in Trauer. Ich wollte Dich vergessen und konnte es nicht, die Erinnerung blieb, sie tat weh. Die Erinnerung schmerzt noch immer. Je tiefer ich darin grabe, desto tiefer geht mein Blue.

II.

Wir waren jeden Tag zusammen, in der Bar, in Silvaplana, in Museen und Ausstellungen in St. Moritz. Wir schlenderten herum, ziellos, zeitlos, weltvergessen. Wir atmeten im gleichen Rhythmus, wir gingen im gleichen Rhythmus, wir tanzten im gleichen Rhythmus, wir schwiegen im gleichen Rhythmus. Wir interessierten uns für die gleichen Dinge. Wir diskutierten und sprachen zusammen, stundenlang, tagelang, nächtelang, wochenlang, von der Schweiz, von den Rätoromanen, vom Engadin, vom Tourismus, von der Schweizer Geschichte und Politik, von Organisationen, Verfassungen, von Eurem Militärdienst und von den täglichen Problemen, die ihr bewältigen musstet.

Du erzähltest von Dir und von Deinem Leben. Aber wir sprachen nicht von mir und meinem Leben. Mein Leben existierte in Silvaplana nicht, meine Vergangenheit existierte nicht, nicht für mich, nicht für Euch, für niemanden.

Du warst jung. Du warst zurückhaltend. Du warst diskret. Du fragtest mich nicht. Niemand fragte mich.

Warum dann sprechen? Worüber? Mein Leben war kein Gesprächsthema, nicht für mich. Ich hatte kein Leben, über das es sich zu sprechen lohnte, glaubte ich.

Ich lebte, um zu überleben. Wie? Danach fragte keiner. Darum kümmerte sich keiner. Die Menschen wechselten, denen ich begegnete. Die Umstände wechselten, die ich bewältigen musste. Die Orte wechselten, wo ich überleben konnte. Ich war hier, ich war da, ich war nirgendwo. Eine Episode nach der anderen verschwand hinter mir. Was blieb, war Vergessen.

Schmerzen? Hunger? Einsamkeit? Tod? Das hat er nie gegeben. Ich drehte mich um und vergaß, einen Tag nach dem anderen, eine Episode nach der anderen, einen Menschen nach dem anderen. Die Menschen, die mich verließen und die ich verlassen musste, schob ich gleichgültig zur Seite, ich vergaß. Die Menschen, die mich schlugen, die mich hungern ließen und die mich ausnutzten, lies ich hinter mir liegen. Diese Menschen hatte es für mich niemals gegeben. Das Hinter-mir-Lassen, das Vergessen wurde zur Gewohnheit, es wurde Routine. Auch das Engadin habe ich hinter mir gelassen und vergessen, glaubte ich. Ich habe mich getäuscht, das Verdrängte kam wieder, in der Nacht als Traum, Vision und Phantasmagorie.

In Silvaplana hatte ich keine Zeit, in Nostalgien zu verweilen. Ich lebte im Hier und Heute, nicht im Gestern. Ich verspürte kein Verlangen, in Erinnerungen zu schwelgen. Erinnerungen schmerzten. Ich vergaß einen Tag nach dem anderen. Ich vergaß das Gestern, ich vergaß jedes Gestern, je schneller, umso besser. Ich schüttelte meine Vergangenheit von mir ab, ich schüttelte jede Vergangenheit von mir ab.

Ein Mensch nach dem anderen verschwand aus meinem Leben. Mit jedem Menschen verschwand ein Teil meines gelebten Lebens. Kein Mensch interessierte sich dafür. Darum interessierte es mich nicht. Keiner fragte mich danach. Warum dann sprechen? Mit wem? Über was?

Ich lebte von einem Tag zum anderen. Ich überlebte. Ich überlebte eine Kindheit, die keine war. Ich überlebte eine Jugend, die keine war. Ich lebte trotz alledem. Ich lebte im Trotz. Ich hatte nur meinen Trotz. Ich handelte im Trotz und aus dem Trotz heraus: Wenn mich alle Menschen wie einen Gegenstand behandelten, ausnutzten und wegschmissen, konnte auch ich alle Menschen wegschmeißen. Wenn mich alle Menschen verließen, konnte auch ich alle Menschen verlassen.

Kinder sind die schwächsten Glieder einer Gesellschaft. Kinder, die alleine überleben müssen, werden von allen ausgenutzt, sie werden von allen herumgeschubst und herumgestoßen.

Ich wurde herumgeschubst. Das akzeptierte ich nicht. Ich lernte, dagegen zu kämpfen. Ich wurde von allen verlassen. Das akzeptierte ich nicht. Ich ließ alle und alles hinter mir. Ich wurde geschlagen. Das akzeptierte ich nicht, ich wehrte mich. Meine Mutter schrie und wütete. Das akzeptierte ich nicht, ich drehte mich um, ließ sie schreien und ging weg. Sie versuchte zweimal, mich umzubringen. Das akzeptierte ich nicht, ich schob sie, ich schob die Ereignisse als Alpträume zur Seite. Ich vergaß und verdrängte. Ich kämpfte weiter, alleine, trotz alledem.

Ich verlor den Kontakt mit meiner Mutter. Ihren Mann akzeptierte ich nicht. Ich sprach nicht mit ihm. Ich gab ihm nicht die Hand. Ich grüßte ihn nicht. Ich setzte mich nicht an denselben Tisch mit ihm. Ich wollte lieber hungern. Meine Mutter schrie mich an. Meine Mutter tobte. Meine Mutter prügelte mich. Bei meiner Mutter durfte ich mich nicht mehr sehen lassen. Ich lebte trotz alledem.

Ich verlor den Kontakt mit meinem Vater. Mein Vater heiratete zum dritten Mal. Seine neue Frau wollte mich nicht in ihrem Haus sehen. Sie hatte genug Probleme mit sich selber. Dann eben nicht, ich hatte genug Probleme mit mir selber. Meine Eltern lebten ihr eigenes Leben. Ich lebte mein eigenes Leben.

Ich war alleine für mich verantwortlich. Das war mein Status quo als ich nach Silvaplana kam. Ich versorgte mich alleine. Ich war unabhängig. Ich brauchte bei niemanden zu betteln. Ich fühlte mich stark. Ich war niemals schwach, glaubte ich. Ich fühlte mich allmächtig. Ich wurde arrogant. Diese Arroganz war blind. Ein Blinder kann seine Zukunft nicht sehend projizieren. Daran bin ich zerbrochen.

Denn dieses Nicht-Akzeptieren meiner Verlassenheit, der Kampf gegen die Gleichgültigkeit der Menschen, gegen ihren Egoismus, ihre Unbeherrschtheit und Brutalität war Aufruhr gegen, ja! aber es war auch Flucht davor, es war auch Verdrängung. Diese Menschen waren nicht wahr, nicht für mich. Ihr Schreien und Toben waren nicht wahr, das konnte nicht wahr sein. Mein Hunger und meine Verlassenheit waren nicht wahr. Das hat es niemals gegeben. Sowas konnte es nicht geben. Mein ganzes gelebtes Leben hatte es niemals gegeben. Ich löschte jede Erinnerung in mir.

Im Vergessen verschwand meine Vergangenheit. Ohne Vergangenheit wusste ich nicht, woher ich kam. Darum wusste ich auch nicht, wohin ich ging. Meine Seele versandete in Orientierungslosigkeit.

Mein Trotz, mein Widerstand halfen mir zu überleben. Bei jeder Gefahr, die ich witterte, verschwand ich. Ich wehrte mich mit allen Tricks und allen Finten, skrupellos. Aber ich überlebte in der Verdrängung, ich überlebte in der Verblendung und Versteinerung meiner Seele.

Ich fühlte mich klug. Ich fühlte mich nüchtern denkend. Warum sollte ich in Erinnerungen verweilen, wenn jede Erinnerung schmerzte? Warum sollte ich über eine Vergangenheit sprechen, die ich hasste und die mich anwiderte? Ich wollte nicht im Dreck meiner Kindheit und Jugend hängen bleiben. Daran und dafür arbeitete ich jeden Tag bis zu achtzehn Stunden. Da blieb keine Zeit für ein überflüssiges Verweilen in den Schmerzen von Gestern. Ich hatte wichtigere Dinge zu tun. Ich musste leben, überleben und weiterkommen. Meine nüchtern kalkulierenden Überlegungen waren eine nüchtern kalkulierende Verdrängungen.

Die Verdrängung löscht das Bewusstsein vom menschlichen Geworden-Sein. Das fand ich genial. Das empfand ich als wohltuend. Das Vergessen war für mich ein Narkotikum. Das war mein Fluchtweg. Das war meine Rettung, glaubte ich.

Es war genau das Gegenteil. Denn was es nicht gibt, kann nicht reflexiv erfasst, begriffen, verbalisiert, bearbeitet und verarbeitet werden.

Die Verdrängung hat keine Sprache. Das wusste ich nicht. Nicht einmal das Wissen um die Verdrängung war mir begrifflich zugänglich.

Doch mein gelebtes Leben lief als Grauen, Entsetzen, Alptraum und Angst hinter mir her. Diese Angst beherrschte mich und meine Entscheidungen. Ich wusste nicht, was in mir schmerzte. Mein Schmerz war mir reflexiv nicht zugänglich. Ich konnte weder mich noch meine Schmerzen reflexiv begreifen. Darum konnte ich meine Verlassenheit, meine Angst und Einsamkeit nicht objektivieren. Ohne Objektivierung dieser Angst und Verlassenheit wurde ich zum Opfer eben dieser Angst und Verlassenheit. Das war mein unbewältigtes Trauma.

Ich begriff meine Angst, Verlassenheit und Einsamkeit nicht, darum beherrschte ich mein Trauma nicht, darum beherrschte mein Trauma mich.

Das war eine Psychose. Meine Psychose diktierte meine Entscheidungen. Aus der Verdrängung meines Traumas folgten meine Fehlentscheidungen und Irrtümern. Wegen der Verdrängung dieses Traumas wurde ich das Opfer von Psychopathen.

Jetzt muss ich den Weg in den Schmerz zurückgehen. Ich muss wieder an den Ort meines Traumas ankommen, um von hier aus neu starten zu können.

Dieser Dialog mit Dir ist mein Weg zurück in die Zerstörung meines Lebens, es ist Trauerarbeit. Ich muss mir Rechenschaft über meine Irrtümer und Fehlentscheidungen ablegen. Ich muss meine Erniedrigung und mein Versagen als mein Leben anerkennen. Ich muss meine Fallhöhe ausloten. Dieser Dialog entsteht im Schmerz der menschlichen Hilflosigkeit, er entsteht im Schmerz des menschlichen Unvermögens und der Vergänglichkeit.

III.

Jetzt an Dich und für Dich zu schreiben, ist zu spät. Es ist schon seit Jahrzehnten zu spät, und doch habe ich das Gefühl, Du bist hier, Du hörst mich, Du verstehst mich.

Was bedeutete ich Dir? Ich fragte nicht. Du warst kein Sommerflirt, Du warst da, jeden Tag. Eure Anwesenheit war in der Bar so selbstverständlich, wie der Abend, der auf den Tag folgt. Wir waren in Ewigkeiten zusammen. Wir waren für Ewigkeiten zusammen. Es gab keinen Anfang und kein Ende. Ich begegnete Dir nicht, Du warst einfach da. Ich lernte Dich nicht kennen, Du warst immer da, Du würdest immer da sein. In meiner Wirklichkeitsauffassung war Silvaplana ein immerwährendes Heute.

Erst als Silvaplana hinter mir verschwand, kam das Erwachen, erst da räsonierte ich. Zurück in Deutschland musste ich eine andere Wirklichkeit bewältigen. Das wusste ich. Das verstand ich. Das hättest Du nicht verstehen können, glaubte ich.

Du warst so jung, zu jung. Du hattest Dein ganzes Leben vor Dir. Du hast morgen alles vergessen, sagte ich mir.

Du wolltest in Neuchâtel studieren, sagtest Du. Das war Deine Zukunft, das war Dein Leben. Das waren neue Gelegenheiten, neue Begegnungen und neue Chancen. Das waren neue Bekanntschaften mit anderen Mädchen und Frauen, jünger als ich. Ein ganzes Leben mit Freundschaften, Liebeleien und Liebschaften wartete auf Dich, glaubte ich.

Was wusste ich? Ich wusste gar nichts und doch wusste ich so viel, denn ich hatte die Schattenseiten des Lebens kennen gelernt. Mir war in meiner Kindheit nur eine Lebensweisheit eingeprügelt worden: Verlass Dich auf niemanden und auf nichts, sonst bist Du verlassen!

Silvaplana? Der Klatsch im Dorf? Nicht mit mir! Du aber warst Silvaplana. Du wusstest es und Du wusstest es nicht. Du warst immer nur Du selbst.

Du träumtest und plantest, unbeirrt. Du hattest klare Ziele. Du gingst einen Schritt nach dem anderen, realistisch. Die Schweizer Kreditbank war Dein Ziel, schon mit siebzehn Jahren. Hier begann Deine Karriere, hier endete sie. Von Silvaplana bis Zürich vollendete sich Dein Leben. Das war ein magischer Zirkel, der mich anzog. Das war der magische Zirkel, den ich verpasste.

Warum? Weil ich mit zwanzig Jahren schon ein ganzes Leben als menschliche Tragödie hinter mir und in mir hatte

Für diese zerstörte Seele hatte ich keine Worte. Sie existierte nicht in meiner Vorstellungswelt.

Ich wusste nicht, was in mir schmerzte. Ich konnte nicht an den Ort des Schmerzes zurückgehen. Darum konnte ich nicht begreifen. Darum konnte ich nicht sprechen. Darum haben wir nie über mein Leben gesprochen.

Mein Leben war in Silvaplana nicht existent. Ich lebte in der Enklave eines Traumes. Ich war in Arkadien. In Arkadien gibt es keine Vergangenheit und keine Zukunft. In Arkadien gibt es keine Schatten. Hier gibt es keine Schmerzen und keinen Tod. Du würdest niemals sterben. Du würdest für immer und ewig in Silvaplana sein. Jetzt bist Du für immer und ewig in Silvaplana.

Meinen Traum von Arkadien habe ich ein Leben lang bewahrt. Ich habe ihn in mir verborgen. Ich habe mich danach gesehnt. Ich habe ihn verdrängt. Ich habe ihn in mir begraben, bis er wieder lebendig wurde. Jetzt muss ich mich ihm stellen. Ich muss mir selber und ich muss mir für mein Leben eine Antwort geben. Dieser Prozess ist schmerzhaft. Dies zu schreiben tut weh.

IV.

Ich träumte, wieder und wieder. Die Träume verfolgten mich. Das sind Träume ohne Gesichter. Das sind Ahnungen und Fetzen von Emotionen. Das sind Bilder, die sich überlagern, die einander auslöschen, die aufeinander folgen. Das sind Bilder, die zerbröckeln. Das sind Visionen der Nacht, die sprechen ohne Sprache. Das sind Masken im Schweigen, das sich schweigt. Das ist das Vergessen, das lebendig wird. Das ist Vergessen ohne Worte. Worte schmerzen. Bilder liebkosen und umgaukeln mich. Das sind Almosen der Erinnerung von einem zerbrochenen Leben. Das sind Bilder von Wünschen und Sehnsucht. Das sind Wahn und Phantasmagorien. Das sind Träume wie Blei.

Ich wollte wissen. Ich wollte den Bildern einen Namen geben. Ich kramte in meinen Büchern, in alten Fotos, Dias und Erinnerungen. Ich hätte Dir schreiben sollen. Das war ich Dir schuldig. Die Scham machte mich stumm.

Dann kam die Angst, unmotiviert, ein Klumpen in der Seele. Wo warst Du? Was machst Du?

Ich googlete. Die Informationen, die wir heute durch Google, Wikipedia, Facebook, Twitter, Instagram, Yous Tub und alle mehr oder weniger bezahlten und professionellen Informationsquellen im Internett zusammen sammeln, twittern, bloggen, googlen, trommeln und pfeifen können, gehen auf keine Kuhhaut. Das Problem ist die Informationsverarbeitung. Was ist angemessen? Was ist relevant? Was ist richtig? Was ist wahr? Was ist ethisch und moralisch verantwortlich? Denn, wie viele Männer mit Deinem Namen gibt es?

Ich fand Bilder von Männern, die Deinen Namen haben. Das sind Männer von Zürich. Das passt zur Dir, aber sonst gar nichts. Kein Erkennen und keine Erinnerungen werden lebendig, kein Funken springt über.

Ein Man sieht aus wie eine ältere Ausgabe von Dir, wie eine ältere Ausgabe vom siebzehn Jahre alten Gian von Silvaplana, aber die Körperhaltung ist anders und auch in den Augen ist etwas, was mir fremd ist. Nach seinen Lebensdaten könnte es Dein Sohn sein, aber das bist nicht Du.

Es gibt im Internett auch Bilder von einem anderen Mann mit Deinem Namen. Bist Du das? In mir ist nichts als Zweifel. Dieser Mann hat auf dem Bild im Internett die Muskelpakete der Arme vor der Brust verschränkt. Signal: Bis hierhin und nicht weiter! Oder: Na und? Na bitte? Lässige Nonchalance. Er repräsentiert was? Die Ausstrahlung einer Erfolgsstory?

Meine Zweifel werden zur Abwehr und Selbstverteidigung. Das kannst Du nicht sein. Auch wenn siebenundvierzig Jahre vergangen sind, kann ein Mensch sich nicht so verändern, ein Kern bleibt. Die Seele des Menschen liegt in den Augen. Dieser Mann hat fremde Augen.

Auf allen Bildern, die ich von Dir habe, sind Deine Augen ernsthaft, zu ernsthaft für Dein Alter, ruhig, zu ruhig für die Hektik um Dich, fragend. Wonach? Deine Augen sind jung und unschuldig. Du schaust mich nachdenklich an, traurig. Resigniert? Schon mit siebzehn Jahren? Warum?

Du lächelst nicht. Du lächelst niemals. Du flirtest nicht. Du flirtest niemals. Und trotzdem ... Du warst da, immer, jeden Tag, jeden Abend, jede Nacht. Du warst kein Traum, keine Phantasie, Du warst Du. Wusstest Du es? Ich wusste es nicht.

Der Mann im Internett mit Deinem Namen hat spöttische Augen, leicht ironisch und leicht zynisch. Das sind nicht Deine Augen. Du warst niemals zynisch. Zynismus ist ein tödlicher Bumerang: er tötet den anderen, er tötet uns selber. Auch daraus hätte ich wachsen können, vielleicht. Aber auf wie viele Arten müssen wir sterben, um leben zu können?

Es gibt noch andere Daten mit Deinem Namen, Hinweise auf Silvaplana. Das sind Hinweise ohne Bilder und ohne Adresse. Auch stimmen die Namen nicht, da sind Zwischennamen und Doppelnamen, die ich nicht kannte und nicht kenne.

Dann kam der Schock. Ich habe die „Engadiner Post“ gelesen. Da fand ich Deine Todesanzeige.

NEIN!

Das kann nicht wahr sein, das darf nicht wahr sein. Du warst viel jünger als ich. Du bist zu jung, um zu sterben.

Du warst sechs Jahre, vier Monte und zwei Tage jünger als ich. Darum bin ich vor Dir weggelaufen. In meinem Kopf spukte das abgestandene Klischee von Jokaste. Das passte nicht zu mir. Das passte nicht zu Silvaplana.

In Silvaplana wurde getuschelt. In Silvaplana wurde geklatscht, ich gäbe mich mit kleinen Jungen ab. Die kleinen Jungen, das ward Ihr, das war Dein Freund Peter und das warst Du.

Alle Informationen kamen in Silvaplana in der Bar zu mir. Alle gaben sich in der Bar am Engadinerhof ein Stelldichein. Jeder klatschte mit jedem, jeder klatschte über jeden. Manchmal amüsierte mich der Klatsch, meistens war er mir gleichgültig. Ich hatte kein Begriffsvermögen und keine Kenntnisse von diesem Netzwerk von Verwandtschaften, Freundschaften, Feindschaften, Beziehungen, Boshaftigkeiten und sozialer Abhängigkeit, wie es sich im Klatsch, in den Erzählungen, Informationen, Gerüchten und Skandalen von Silvaplana präsentierte. Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, ich musste arbeiten. Ich war in Silvaplana, um Geld zu verdienen. Alles andere interessierte mich nicht.

Das Dorf interessierte mich nicht. Das Dorf existierte nicht in meiner Vorstellungswelt. Das Oberengadin war für mich ein Bilderbuch mit Geschichten, die man liest und wieder vergisst. Ich habe gleichgültig alles von mir abgeschüttelt, glaubte ich.

Doch die Wirklichkeit lief auf Schritt und Tritt hinter mir her und verfolgte mich. Wir kreieren Wirklichkeit aus unserem Vorstellungsvermögen. Aber unser Vorstellungsvermögen ist ein Wahn, der geboren wurde als Projektion unserer Umwelt. Er entsteht in Abhängigkeit von der Wirklichkeit aller anderen Menschen um uns herum.

V.

Deine Todesanzeige war vom Januar 2012. Da fing ich an zu träumen, da bist Du in meinen Träumen erschienen. Von da an hast Du mich verfolgt, Tag und Nacht. Du bist so gegenwärtig wie eine anwesende Person, wie ein lebender Mensch.

Zuerst, als ich die Daten im Internett fand, verschwanden meine Träume. Der Schmerz schrie in mir. Der Schmerz schreit in mir in der Nacht.

Diese Todesanzeige ist ein elektrischer Schock. Der Schock foltert mich. Ein lähmendes Gefühl der Ohnmacht verkrampft mein Denken. Wenn diese Verkrampfung sich löst, weine ich. Meine Tränen kristallisieren zu Salz.

Tränen sind die Tropfen, die Lots Frau vergaß, als sie sich umschaute. Sie sah nichts, sie hörte nichts, sie schrie im Schweigen, sie erstarrte im Schweigen.

Ich habe ein ganzes Leben lang versucht, mich umzudrehen und zu sehen und jedes Mal bin ich aufs Neue versteinert. Ich vergaß meine Tränen und meine Seele wurde zur Salzsäule.

Wenn ich versuchte, mich umzudrehen, wenn ich versuchte, mich zu erinnern, sah ich nichts als die zu Salz erstarrten Tränen. Gestorbene Seelen können nicht reden.

Der Schmerz hat keine Worte, er schreit in sich selbst, er schreit nur sich selbst. Der Tod hat keine Worte. Er schweigt in sich selber. Meine Worte verlieren sich im Traum und im Schweigen.

Ich versuche, das Nicht-Mehr-Konkrete ins Konkrete zu transportieren. Ich versuche, im Nicht-Mehr-Wirklichen Wirklichkeit zu finden. Ich versuche, die Realität Deiner Wirklichkeit im Traum zu erfassen.

Der Traum ist das Fenster zu unserer Seele über unser Bewusstsein hinaus. Das Undenkbare können wir nicht denken, aber wir können es träumen.

Wir gehen in unseren Träumen über uns selber hinaus. Unsere Träume sind Sehnsucht und Vision. In unseren Träumen erfahren wir die Ahnung einer anderen Welt.

Wirklichkeit, als das Konkrete haftet nur an sich selbst. Wirklichkeit ist gefangen in den Grenzen ihres eigenen Konkret-Seins. Wirklichkeit träumt sich nicht selbst, Wirklichkeit ist im Traum aufgehoben. Das Konkrete geht nicht über sich selbst hinaus. Das Konkrete ist im Unkonkreten annulliert.

In Silvaplana träumte ich nicht. Ich träumte keine Zukunft, ich suchte kein Darüber-Hinaus. Erst in der Zerstörung meines Seins lernte ich, mich neu zu finden. Erst als mein Leben und meine Lebensgrundlage vernichtet wurden, lernte ich, mich neu zu erfinden. Erst in der Eliminierung meines Seins, im Nicht-Mehr-Sein wurde der Traum meine Rettung, erst hier konnte ich ein neues Sein aus dem Nichts schaffen.

Wenn wir alles haben, sind wir uns selber genug. Wenn wir alles verlieren, müssen wir uns in unserer Vorstellung und Imagination neu träumen. Ich bin ein ganzes Leben lang von einem Tod zum anderen gegangen, um mich immer wieder in meinen Träumen neu zu finden und neu zu erfinden.

Mit Deinem Tod verlor ich Arkadien. Mit Deinem Tod verlor ich meine Jugend. Mit Deinem Tod starb die Hoffnung. Mit Deinem Tod kamst Du zu mir. Nach Deinem Tod sah ich Dich wieder.

Ich versuche, Vergangenes wieder zu finden. Scherbenlese! Das sind Erinnerungen wie Seifenblasen, die mich umgaukeln und zerplatzen. Nur der Schmerz bleibt, die Unmöglichkeit zurück zu gehen, die Unmöglichkeit, Dich wieder zu sehen. Ich finde nichts als Dein Grab.

Du warst an die Berge gebunden. Du warst in den Bergen verhaftet. Du hattest im Engadin Deine Wurzeln. Ich suchte immer das Unmögliche. Ich wollte immer über mich hinauswachsen, ich wollte immer weiter gehen. Ich verlor mich ins Weite, ins Licht, das blendet.

Du lehrtest mich, das Licht vom Engadin zu sehen und zu begreifen. Dieses Licht kreiert Farbpartikeln. Diese Farbpartikel formen sich zu Bildern und Visionen in uns. Das Licht gebiert als Vorstellung und Imagination eine glitzernde Wirklichkeit in uns.

Ich begriff das Licht des Engadins, diese physisch gegebenen Bedingungen, die sich im Cluster meiner Nervensysteme zu Innenwelt konstituieren und im reflexiven Erfassen meines Bewusstseins als Außenwelt kreiert und gemeint werden. Ich begriff Innenwelt als reflexives Erfassen und Transformieren von Außenwelt, als eine Umwandlung physikalischer Gesetze in imaginierte Landschaften.

Aber dieser Prozess war mir verbal nicht zugänglich. Der Prozess der Erkenntnis erstarrte in meiner traumatisierten Seele. Ich musste Arkadien verlassen, um mein Trauma aufzulösen. Ich musste lernen, mein Trauma zu verbalisieren.

„Am Anfang war das Wort…“, steht im Johannis Evangelium. Das Wort ist auch der sich selbst begreifende Mensch. Der Mensch sagt „Ich“ und setzt dieses Ich als Ding in die Welt. Das Wort kreiert den Menschen. Es konstituiert Sein. Das ist der Anfang jeder individuellen Welt.

In meiner Sehnsucht tanze ich auf dem Licht des Engadins. In meiner Sehnsucht tanze ich mit den Lichtpartikeln über mein Alter, über alle Zeiten und über alle Tränen hinweg. Auch meine Sehnsucht ist konkret. Aber die Sehnsucht geht im Konkret-Werden über sich selbst hinaus. Das Konkret-Sein der Sehnsucht, die sich im Über-sich-Hinausgehen konkret erfüllt, ist das Paradox unseres Seins.

VI.

In Silvaplana lernte ich, mit Deinen Augen zu sehen. Aber ich lernte nicht zu sprechen.

Ich lernte, hinter dem Glanzbild des Tourismus vom Engadin den Stolz einer Jahrtausend alten Kultur zu erkennen. Ich lernte, Dich in Deinem Lebensrhythmus und Sein zu begreifen. Das geschah ganz selbstverständlich. Ihr gehörtet zu meinem Leben dazu. Ich war ein Teil von eurem Leben. Aber mein Leben als Geworden-Sein, mein Ich war hier nicht anwesend.

Du und Deine Freunde, ihr ward jeden Abend in der Bar am Engadinerhof. Wir haben die ganze Nacht gesprochen und diskutiert. Ihr habt Rätoromanisch gesungen, einzeln und im Chor. Ich versuchte, Rätoromanisch zu lernen. Für mich eröffneten sich Welten, die mich narkotisierten, die mich nie wieder los ließen und die mich begleiteten. Aber ich konnte nicht zurückgehen.

Ihr wart in eurem Element. Du warst die Erde, die Berge, die Wälder, die Felsen und Seen. Das war Deine Stärke, das war Deine Festung, das war Dein Sein, das fesselte Dich. Das fesselte mich.

Du warst erdgebunden, ich musste weitergehen, immer weiter, immer wieder neu anfangen, immer wieder begrenzt, gefesselt, verzweifelt und immer wieder ausgebrochen. Zum Schluss blieb mir nichts als die Sehnsucht.

Ich musste weiter gehen und in diesem Weiter habe ich meine Wurzeln verloren. In diesem Weiter weine ich.

Heute bist Du die Erde, die Berge, die Wälder, die Felsen und Seen von Silvaplana. Da, wo wir uns verwirklichen, verlieren wir uns auch, ich genauso wie Du. Erst im Verlieren, im Sein als Nichtmehrsein fand ich Dich wieder.

Silvaplana

I.

Ich habe in Silvaplana gearbeitet. Das war während meiner Sommerferien. Ich habe in allen Ferien gearbeitet. Es gab keinen Platz, wohin ich hätte fahren könne. Ich kannte keinen Menschen, zudem ich hätte gehen können.

Ferien als Luxus? Ferien als Erholung? Ferien als Amüsement und Freizeit? Was ist das? Ich musste arbeiten. Meine Schulausbildung und mein Studium habe ich selber finanziert.

Im Sommer 1967 hatte ich einen Sommerjob am Engadinerhof in Silvaplana. Was dieser Job beinhaltete, war zunächst unklar, das konnte alles sein, vom Tellerwaschen bis zum Zimmeraufräumen und Putzen. Dergleichen Jobs hatte ich während meiner ganzen Schulzeit gehabt. Ich habe bei der Bundesbahn im Speisewagen gearbeitet, am Bahnhof in Dortmund, in Hotels in Dortmund, in Privathaushalten, am Max-Planck-Institut in Dortmund, im Sommerlager der Lutheran Church in England und anderswo.

Bis auf die Hausdame und Chefin des Hotels, einen Koch und einen Hausknecht waren in Silvaplana während der Sommerzeit alle anderen Saisonangestellte. Alle waren junge Mädchen, ungefähr zwanzig Jahre alt. Alle diese Mädchen waren vor mir angekommen und hatten sich die Jobs ausgesucht, die ihnen am besten gefielen. Sie halfen in der Rezeption, sie halfen beim Servieren, sie räumten die Zimmer auf und putzten.

Keine von ihnen wollte in der Bar arbeiten. In der Bar mussten sie jede Nacht bis zwölf Uhr oder länger arbeiten. Sie waren jeden Abend an den Arbeitsplatz gebunden und konnten nicht ausgehen. Sie konnten keine Freunde treffen, sie konnten keine Männer kennen lernen, sie konnten nicht flirten, tanzen und sich amüsieren. Für einige war das der Hauptzweck ihres Aufenthaltes in Silvaplana.

Über tausendachthundert Meter hoch in die Berge zu fahren, um Männer kennen zu lernen und zu flirten, fand ich absurd. Hier gab es prozentual mehr Bäume, Sträucher und Steine als Männer. Auch Logik hat individuelle Varianten.

Welche Arbeit ich verrichten sollte, war mir egal. Ich hatte zwei Berufsausbildungen abgeschlossen, ich hatte unzählige Jobs übernommen, ich hatte als Fotograf, Fotolaborant, Verkäuferin, technische Hilfsassistenten in der Histologie, Arzthelferin, Hilfskrankenschwester, Buchhalterin, Tellerwäscherin, Kellnerin und Putzfrau gearbeitet. Ich war ein Hans Dampf in allen Gassen.

In einer Bar hatte ich noch nie gearbeitet, aber es war offensichtlich kein Kunststück, Getränke einzuschenken, für Musik zu sorgen, Gläser zu waschen, die Bar in Ordnung zu halten, zu servieren, Gäste zu unterhalten und andere Banalitäten.

Die ersten Tage waren in der Bar turbulent. Die männliche Bevölkerung der gesamten Umgebung gab sich am Engadinerhof ein Rendezvous.

Silvaplana hat sich verändert. Seit 1967 sind neue Häuser und Hotels hinzugekommen. Hinter der Kirche, vor dem Engadinerhof und um den Engadinerhof herum ist das gesamte Areal ausgebaut. An diesen baulichen Veränderungen gemessen scheint sich die Einwohnerzahl des Dorfes verdoppelt zu haben.

Laut „Engadiner Post“ vom Januar 2012 hatte Silvaplana 2011 einhundert und zwei feste Einwohner. 2012 kamen acht neue Einwohner hinzu. 1967 kann es darum in Silvaplana kaum achtzig Einwohner gegeben haben.