Silvaplana Blue III - Masken göttlicher Heiterkeit - Heide Fritsche - E-Book

Silvaplana Blue III - Masken göttlicher Heiterkeit E-Book

Heide Fritsche

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Beschreibung

"Masken göttlicher Heiterkeit" ist meine Emanzipation aus der Versklavung meiner Ehe. Ich musste lernen, auf eigenen Beinen zu stehen. Ich musste lernen, die Wunden einer fünfundzwanzigjährigen Versklavung zu heilen. Auch das war nicht genug, ich musste diesen Weg meiner Emanzipation intellektuell bearbeiten. Diesen intellektuellen Prozess gehe ich mit Nietzsches Masken. Die erst Maske ist die epikureische Maske der göttlichen Heiter. Das ist die Heiterkeit über alles menschliche Leiden, über Krankheit und den Verlust von Liebe und Tod. Die "wissenschaftliche" Maske ist eine intellektuelle Maske vom Seins-Verständnis, Begreifen und Bewusstwerden des Menschen. Die dritte Maske ist die Maske des Narren. Das ist das Lachen über die Rigidität des Menschen in seinen automatisierten Handlungen. Das ist das Lachen im Erkennen, das sich nicht selber erkennen kann. Das ist das Lachen, das Distanz setzt und sich doch nicht von sich selber distanzieren kann. Das ist das Lachen über das Paradox unseres Lebens.

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Silvaplana Blue III - Masken göttlicher Heiterkeit

von

Fritsche

Dieses E-Book wurde erstellt für Heide Marie Herstad ([email protected])

am 02.11.2014 um 14:55 Uhr, IP: 80.212.67.4

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Inhaltsverzeichnis

Nietzsches Masken

Jakutsk

Siebenbürgen

Drabenerhöhe

Melhus

Lom

Hitra

Fauske

Mont-de-Marsan

Paris

Lillesand

Angstpsychosen

Bodø und Nesna

Alta und Bodø

Ein arktischer Farbenrausch

Knall und Fall

Tanz Makabre

Die Erbschaft

Masken göttlicher Heiterkeit

Die Maske der heiteren Gelassenheit

Die Maske des „wissenschaftlichen Menschen“

Die Maske des Narren

Silvaplana

Der Clown Gottes

Leben als ewige Wandlung

Der Traum

Impressum

Kapitel 1

Silvaplana Blue

Drittes Buch

Masken göttlicher

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Nietzsches Masken

Jakutsk

Siebenbürgen

Drabenerhöhe

Melhus

Lom

Hitra

Fauske

Mont-de-Marsan

Paris

Lillesand

Angstpsychosen

Bodø und Nesna

Korruption

Bodø und Alta

Ein arktischer Farbenrausch

Knall und Fall

Tanz Makabre

Masken göttlicher Heiterkeit

Die Maske der heiteren Gelassenheit

Die Maske des „wissenschaftlichen Menschen“

Die Maske des Narren

Silvaplana

Der Clown Gottes

Leben als ewige Wandlung

Nietzsches Masken

Nietzsches Masken

I.

„Nachdem der „Homo poeta“ im vierten Akt seiner Tragödie alle Götter umgebracht hatte, sagte er: ‚Was soll nun aus dem fünften werden! Woher noch die tragische Lösung nehmen! – Muss ich anfangen, über eine komische Lösung nachzudenken?“

(Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft)

Nachdem mich im Laufe meines Lebens alle Götter und bösen Geister umgebracht hatten, musste auch ich für den letzten Akt meines Lebens über eine „komische Lösung" nachdenken.

Eine komische Lösung? Sollte ich lachen, wenn mir nichts mehr blieb? Sollte ich lachen, wenn ich keinen Ausweg sah? Sollte ich lachen, wenn ich weinte? Soll ich lachen, wenn mein Leben zu Ende geht?

Doch, gerade dann, hier wird das Lachen zu einem Darüber-Hinaus. Das ist das Lachen trotz Verzweiflung und Ausweglosigkeit. Das ist das Lachen jenseits vom Weinen. Das ist das Lachen jenseits von Schmerzen, Tod und Vergänglichkeit. Das ist das Lachen jenseits der menschlichen Begrenztheit. Das ist das Lachen trotz der menschlichen Dummheit und Eitelkeit. Das ist das Lachen hinter der Maske des Clowns. Das ist das Lachen hinter Nietzsches Masken.

Die Themen von Nietzsches Masken haben mich mein Leben lang begleitet, unbewusst und ungewollt, denn ich war, was die Masken verspotten. Ich war der Clown, der Narr und der überhebliche Besserwisser. Ich identifizierte mich mit meiner Schwäche, mich nicht verteidigen zu können. Ich identifizierte mich mit meiner Abhängigkeit von meinen Lebensumständen. Ich identifizierte mich mit meinem Versagen und Nicht-Können. Ich identifizierte mich mit meinen Fehlgriffen und Fehlentscheidungen. Ich identifizierte mich mit meiner Feigheit und mit meinem So-Sein. Ich identifizierte mich mit den Gegebenheiten des täglichen Lebens. Ich schob jede Verantwortung von mir: „Das Leben ist eben so. Was kann ich daran ändern?“ Das war meine Rechtfertigung.

Die menschliche Seele ist träge. Sie will den Status quo. Das ist ihr Arkadien.

Erst im Kampf verbarg ich mich instinktiv hinter Masken. Erst in der Reaktion gegen meine Vernichtung verschwand ich hinter geschminkten Fassaden, instinktiv. Das war ein Fluchtreflex. Ich wusste es nicht. Ich kämpfte, um zu überleben. Die Flucht in die Maske, in die Camouflage war mein Überlebensmodus.

Dann las ich Deine Todesanzeige. Da wachte ich aus dem Schlaf des seligen Vergessens auf.

„Dir geht es gut. Du bist glücklich und zufrieden.“,das war meine Rechtfertigung, ein Leben lang. Das war meine Lüge mir selber gegenüber. Das war meine Lüge, Dich zu vergessen.

Meine Lüge? Meine Lüge! Ich war im Engadin gefangen. Als ich abfuhr, wusste ich, dass ich log: „Ich kann die Gegebenheiten nicht ändern.“ Das war eine Lüge. Man kann immer, wenn man will.

Ich aber habe das Engadin in den Bücherschrank gestellt. Ein Buch unter Büchern, eine Sache unter anderen, eine Erinnerung an die nächste. Wir haben unsere Gewohnheiten. Es häuft sich an, ein ganzes Leben mit Fotos, Nippes, Erinnerungen, Nostalgie, Klüngel, Plunder und Klimbim. Daran darf keiner rühren.

Nicht? Nein! Jedes Mal, wenn ich daran rührte, verbrannte ich mich. Ich wagte es nicht, in meine Seele zu schauen. Ich konnte nicht in meine Seele schauen. Ich wollte nicht meine Feigheit sehen. Ich durfte nicht meine Feigheit sehen. Ich verschwand in meinem Trauertal.

Silvaplana Blue? Fang bloß nicht an zu spinnen. Weiter, immer weiter, jeden Tag, immer weiter trotteln.

Wohin? Einfach fallen lassen. Sich gehen lassen.„Was kann ich ändern?“ „Gar nichts!“

Das „Gar nichts“ wurde zur Rechtfertigung meines Lebens.

Gar nichts? Kann man gar nichts tun? Alles, was ist, ist konkret, sagt Wittgenstein. Dann ist auch das Gar-Nichts konkret. Aber ja doch, es ist! Wir tun nichts, also sind wir nichts.

Es geht uns nichts an! Also sind wir dieses Nicht-Angehen. Wir trotteln, im Leben, in der Masse, mit der öffentlichen Meinung, im Konsensus. Also sind wir dieses Trotteln, diese Wiederholung des Nichts und Nichts und Nichts bis in alle Ewigkeit. Unser Leben wird zu diesem Nichts. Wir werden dieses Nichts. Das ist konkret.

Damit komme ich zu Nietzsches Masken.

Denn im Erwachen, im Erkennen war die Lüge zu ende. Was mir blieb waren die Masken.

II.

Nietzsches erste Maske ist die heitere MaskeEpikurs. Diese Maske ist „Eine der feinsten Verkleidungsformen“ des Leidens. Sie ist Maske der Heiterkeit, die um ihrer selbst willen missverstanden werden will. Diese Menschen „wollenmissverstanden sein“, sagt Nietzsche.

Nietzsches zweite Maske ist die Maske der Wissenschaft, welche sich einen „heiteren Anschein“ gibt. Dieser heitere Anschein lasse darauf schließen, „dass der Mensch oberflächlich“ sei. Diese Menschen „wollenzu einem falschen Schluss verführen“,sagte Nietzsche.

Nietzsches dritte Maske ist der freie freche Geist. Es ist die Maske der Menschen, „welche verbergen und verleugnen möchten, dass sie zerbrochene, stolze, unheilbare Herzen sind … und bisweilen ist die Narrheit selbst die Maske für ein unseliges allzu gewisses Wissen“ (Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse)

Hinter den Masken versteckt sich die Verzweiflung, die sich selber überwindet, die sich selber reflektiert und die über sich selber lächelt. Das ist eine Verzweiflung, die sich im Lachen aufhebt.

Epikurs Maske der heiteren Gelassenheit über Schmerz und Tod, über den Verlust von Liebe und über die Sehnsucht hinweg,ist das Lachen aus dem Leiden, im Leiden, vom Leiden und über das Leiden hinaus.

Nietzsches Maske des wissenschaftlichen Menschen ist ein spöttisches Spiel und ein lächelnder Spiegel menschlicher Hochmut, gefangen und eingefangen in sprachlichen Masken.

Die Maske des Narren ist ein verzerrtes Narrenspiel vom Driften des Menschen in den Wiederholungszwang, in die Gleichgültigkeit, in Neurosen, Psychosen und Traumata. Die Maske des Narren spiegelt spottend das langsame Sterben des Menschen. Sie repräsentiert die Erstarrung und Verkümmerung des Lebendigen und die langsame Transformation des Lebendigen in Materie.

Die Maske des Narren spiegelt und verbirgt die Todesangst des Menschen vor dem Auslöschen der Individualität mit Spott und Hohn vor dem Spott und Hohn der Menschen.

Nietzsche bittet um Ehrfurcht vor den Masken.

Jakutsk

Jakutsk

I.

Onkel Hans rief mich aus Drabenerhöhe an. Tante Emilie war gestorben. Sie hatte mir die Geige ihres Vaters vererbt. Wenn ich diese Geige haben wollte, müsse ich selber nach Deutschland kommen.

In meiner Kindheit hatte mir Tante Emilie oft von der Geige ihres Vaters erzählt. Tante Emilie lebte für und von ihren Erinnerungen. Diese Erinnerungen kreisten um die großbürgerliche Vergangenheit der Familie Schellhase. Die Geige von Hermann Schellhase, dem Vater von Tante Emilie, war in den Erzählungen der Familie vom Mythos umsponnen. Dieser Mythos ist mit der Geschichte der Familie Schellhase verbunden.

II.

Der Sommer 1914 wurde heiß. Onkel Herman saß in St. Petersburg und spielte Cello. August saß in Gerthe und spielte Herrenmensch.

Tante Martha, die Mutter von Tante Emilie, saß in Claswipper und spielte keine Rolle. Sie musste sich mit drei kleinen Kindern alleine durchwurschteln. Aber über so etwas spricht man nicht.

Am 28. Juni 1914 wurde der österreichische Thronfolger in Sarajewo erschossen. Der österreichische Kaiser Franz-Joseph war alt und ohne Erben. Österreich wollte Revanche.

„Revanche? Was ist das?“, schrieen die Russen und rüsteten.

„Revanche? Was ist das?“,schrieen die Franzosen und rüsteten.

„Revanche? Was ist das?“schrieen die Engländer und rüsteten. Eigentlich wussten sie nicht, was sie wollten. Aber man hatte Verträge - geheim hin, geheim her - Verträge sind Verträge. Man rasselte mit dem Säbel, weil alle es taten.

In der Zeit, als der Kaiser in Berlin seinem kaiserlichen Vetter in Wien einen Blanko Scheck schickte: „Auf ewig Treu und Redlichkeit!“,saß man in der Patsche und wusste es nicht.

Ganz Europa meinte, glaubte, vermutete, befürchtete, ahnte. Der Darwinistische Virus zerfraß die Gehirne. Das Recht des Stärkeren wurde zum göttlichen Gesetz. Entweder wir fressen oder wir werden gefressen. Entweder wir schlagen zu oder wir werden erschlagen. Entweder wir schießen oder wir werden erschossen. Das Recht des Stärkeren muss man beweisen. Also auf! Marschieren!

Ganz Europa marschierte. Die ganze Welt marschierte. Das ganze zwanzigste Jahrhundert marschierte. Wohin? In die Schützengräben.

Da saß man und konnte weder vorwärts, noch rückwärts. Das saß man und wusste nicht ein noch aus. Alle haben verloren. Die einen verloren ihr Leben, ihre Arme, ihre Beine, ihre Augen, die anderen verloren ihr Haus, ihre Familie, ihre Heimat. Die übrigen verloren ihr Gesicht, ihre Ehre, ihre Seele. Es gab keine Sieger mehr.

Das begann mit der „Belle Epoque“, der schönen Epoche, mit Sahnetorte-Kriegen in den Diplomatenräumen. Das begann mit dem Gezanke der Vettern. Ein Vetter saß in St. Petersburg, einer in London, einer in Berlin und einer in Wien. Das war Familiengezeter gemischt mit Hinterhofs Diplomatie.

Man streute mit Depeschen Sand in die Augen der Gegner und ließ ihn über alles stolpern, was man nicht gesagt zu haben glaubte, an was sich niemand erinnern konnte und was niemals jemand gehört hatte. Die Luft war verpestet von Gerüchten, Emotionen, und Sentimentalitäten, Scheinwahrheiten und eingebildeten Wahrheiten.

Die Preußen waren die engstirnigen und ungeschliffenen Barbaren. Sie waren ohne „savoir vivre“, plump und brutal. Die Preußen hatten keine Kultur. Sie verstanden nicht das feine Spiel der Diplomatie. Sie missverstanden alles, was missverstanden werden konnte und marschierten mit Pickelhauben und Kanonen in Flandern ein.

Damit waren sie die Aggressoren. Sie waren die Kriegshetzer. Sie waren die Angreifer. Sie waren verantwortlich für den Krieg. Sie waren verantwortlich für Millionen von Toten. Darum sollten sie blechen, auf immer und ewig. Darum sollten sie leiden, auf immer und ewig. Christus war tot. Also schlagen wir die Deutschen ans Kreuz.

III.

In dieser Zeit spielte Onkel Hermann nicht mehr in St. Petersburg beim Zaren Cello, er war Reserveoffizier in Deutschland. Irgendwann kam er in die russische Kriegsgefangenschaft.

Doch Russland löste sich in Chaos auf.

Russland war politisch, sozial und wirtschaftlich im Altertum stecken geblieben. Die Bevölkerungen der Randprovinzen Finnland und Ukraine wurden unterjocht. Die Bauern wurden unterjocht. Die Fabrikarbeiter wurden unterjocht. Der einfache Soldat war unterjocht. Recht gab es nur für den Zaren und die Aristokratie. Im Krieg mussten dann alle hungern. Alle verarmten.

Schuldig an allem waren der Zar und seine Klicke. Hier war der Sündenbock. Er war schuldig am verlorenen Krieg gegen Japan von 1905. Er war schuldig für das Massaker am Blutsonntag 1905, wo Demonstranten niedergeschossen wurden. Dann ging er unvorbereitet und halbherzig in einenden Krieg mit Preußen und wurde bei Tannenberg geschlagen. Auch das war seine Schuld.

Indessen regierte die Zarin in Petrograd mit Unverstand und Dummheit. Die Zarenfamilie brachte nichts als Unglück übers Land. Alle Reformen kamen zu spät.

Die Bolschewiken sahnten ab. Die Bolschewiken waren eine Gruppe von Gesinnungsgenossen. Sie waren fanatisiert von derselben Ideologie. Sie hatten die gleichen Zielsetzungen. Diese Zielsetzungen waren die Beseitigung des Zaren und der Aristokratie. Sie wollten die Herrschaft des Volkes, sagten sie. Das war die offizielle Version. Das war die Propaganda. Dahinter standen ihre eigenen Interessen, dahinter stand ihr eigener Machthunger.

Um ihren Machthunger zu stillen, wurden die Massen aufgewiegelt. Die Massen waren die Waffen der Bolschewiken. Mit und in dieser Hetze entstand eine Massenpsychose. Gefühle wurden geschürt. Hass wurde gepredigt. Gegen die Machthaber wurde gegeifert und gehetzt.

Die Masse wuchs. Mit und in der Masse wuchs die Anonymität. Die Anonymität erlaubte und ermöglichte es, negative Gefühle und Emotionen wie Verzweiflung, Not, Hunger, Angst, Neid, Habsucht, Hass, Menschenverachtung und Mordlust auszuleben. Damit entwickelte die Masse ein Eigenleben. Das Eigenleben der russischen Masse wurde unkontrollierbart und irrational. In Russland gärte es. Russland explodierte. Russland löste sich im Chaos von Massenhetze, Massenverdummung, Massenhysterie und Massenpsychose auf. Alle schrien. Alle liefen mit.

Am 23. Februar 1917 wurde der Palast in St. Peterburg gestürmt.

Im März 1917 dankte der Zar Nikolaus II. ab.

Das war den Bolschewiken nicht genug. Die Zarenfamilie wurde verhaftet. Der Stellvertreter des Zaren Michail Alexandrowitsch Romanow wurde mit seiner Familie verhaftet. Auch das war nicht genug, man wollte Blut, Blut und nochmals Blut.

Zu dieser Zeit befand sich Onkel Hermann in Sibirien in russischer Gefangenschaft. Jetzt spielte er Cello in Sibirien. Die Kriegsgefangenen Post vom Roten Kreuz vom „Verwundeten- und Vermissten-Nachweis, Cöln“vom 7.4.1918 lautet an: „Hermann Schellhase, 3 Rotte, Blagowjeschtschensky, Amur Gebiet“.

Sein Bruder August saß nicht mehr im Teutoburger Wald, sondern mit den hohen Herren beim Bierschoppen. Im Freundeskreis konnten delikate Probleme vertraut besprochen werden. Hier waren preußische Offiziere versammelt, hier regierten immer noch preußische Ehre und Disziplin.

Die Herren Offiziere waren die Verkörperung des preußischen Ehrenkodex. Sie waren der Felsen, auf dem der preußische Staat aufgebaut war. Dieser Ehre war man es schuldig, dass man keinen Freund im Stich ließ, auch nicht den Bruder in Sibirien.

Die Herren in Berlin hatten einen Trumpf in der Hand: Nach der Oktoberrevolution am 24. und 25. Oktober 1917 musste die sich selbst ernannte Bolschewiken Regierung versuchen, mit dem Chaos zurechtzukommen und sich durchs Desaster durchzuwurschteln. Sie besaßen keine Erfahrung in der Administration. Sie waren Analphabeten in der wirtschaftlichen Organisation, in der Kriegsführung, in der Politik und Diplomatie.

Das Land war wirtschaftlich ruiniert. An der Front erlitt das Heer eine Niederlage nach der anderen. Man brauchte Frieden, um ein Konzept für die Verwaltung zu entwickeln, um die Wirtschaft in den Griff zu bekommen und um überleben zu können. Schon am 26. Oktober 1917 wurde ein Dekret über die Beendigung des Krieges nach Berlin geschickt.

Berlin konnte Forderungen stellen.

Bereits am 3. Dezember 1917 schrieb Tante Martha an ihren Mann in Sibirien: „Lieber Hermann … Die Regierung wird Dich benachrichtigen. Erhielt am Samstag eine Karte von Karl aus Dortmund. Die Stelle bei Hamm Rhyern, ist wohl so weit für Dich bestimmt, es geht darum, ob Du sie annehmen willst. Weißt Du da Bescheid? Ich soll mal nach Dortmund kommen, werde diese Woche hingehen. Wär doch nur erst Frieden, wo das langersehnte Ziel für uns nun endlich erreicht ist. Meinst Du, dass ich hinziehen soll? Und mit Karl und August alles überlegen?“

Also hatte die deutsche Regierung hier interveniert. Sie hatte sich für die Entlassung von Hermann Schellhase aus der Kriegsgefangenschaft eingesetzt. Gleichzeitig wurde ihm ein Job in Deutschland angeboten. Es kam anders.

Diese Kriegsgefangenen-Sendung kam erst am 7. April 1918 bei Onkel Hermann in Jakutsk an. Ob er das Arbeitsangebot ablehnte oder ob sich die Kriegsverhältnisse in Russland geändert hatten oder beides, bleibt unklar. Jedenfalls ging 1918 eine neue Kriegsgefangenenpost nach Sibirien ab. Tante Martha schrieb: Karl und August haben mal wieder ihre Verbindungen in Berlin benutzt und Dir einen Posten als Bezirksschornsteinfegermeister für Castrop-Rauxel verschafft. Du wirst noch von ihnen hören.

Dann habe ich erst wieder eine Postkarte aus Nagasaki in Japan vom 21. November 1920. Onkel Hermann befand sich auf der Fahrt nach Hause.

Onkel Hermann war über Japan geflüchtet, wurde mir erzählt. Geflüchtet? Alles, was er besaß, konnte er mitnehmen, ein wertvolles Cello, die Gefangenenpost und als Erinnerung an diese bemerkenswerte Zeit ein riesiges Foto der Gefangenenkapelle.

Das Foto wurde 1917 professionell aufgenommen und entwickelt. Das Gefangenenorchester posierte im Stil der Zeit. Die hinterste Reihe steht auf einer Erhöhung, Stühle oder dergleichen. Die Musiker halten ihre Instrumente hoch, Jagdhörner, Posaunen, Trompeten und Klarinetten. Hier sollte kein Zweifel aufkommen, warum sie da standen.

Die Männer der zweiten Reihe stehen auf der Erde. Rechts und links sind drei Kontrabässe platziert. Dazwischen stehen sechs Flöten und ein paar Geigen. Das können auch Bratschen sein, das ist auf dem Foto nicht eindeutig zu erkennen. In der ersten Reihe sitzen rechts und links ein Cello. Dazwischen sind neun Geigen platziert. Onkel Hermann sitzt mit seinem Cello links. Onkel Hermann sieht dünn aus. Aber alle Schellhasen waren ursprünglich dünn, auch mein Opa.

Vor dem Orchester liegen zwei Männer auf Teppichen oder Turnmatten. Sie haben eine Pauke und eine Trommel zwischen sich. Hierauf stehen der Name des Orchesters und der Ort „SLOVENSKA HUDBA. 19. PLUK. JAKUTSK“. Wie kommt ein großes Orchester mit Kontrabass und allem Drum und Dran in die Gefangenschaft nach Sibirien? Auf den Bildern, auf denen Feldmarschall Paulus Armeen nach Sibirien marschierten, hat kein einzigers der gefangenen Soldaten ein Gepäckstück in der Hand. Keiner käme auf die Idee, Soldaten mit Kontrabass und Cello in die Gefangenschaft marschieren zu lassen. Noch erstaunlicher ist, dass dieses Cello dann in Castrop-Rauxel wieder auftauchte. Es gibt noch Wunder und Märchen.

Zu diesen Sagen und Märchen von Sibirien gehört auch, dass alle Männer lächeln. Sie schauen friedfertig, ruhig und gelassen in die Kamera. Alle Orchestermitglieder sind ordentlich ernährt, rasiert, gewaschen, beschuht und gekleidet. Die Kleidung ähnelt einer einfachen russischen Militärbekleidung ohne Rangabzeichen. Die Idylle in Jakutsk signalisiert eine zivilisierte Orchestertournee mit eigenem Hofphotograph. Gefangenlager in Sibirien? Wenn ich nicht die Postkarten von den Gefangenensendungen hätte, würde ich die Bezeichnung „Gefangenenorchester“ für eine Sage oder ein Gerücht halten.

Auf der Postkarte von Nagasaki sieht man ein Dampfschiff. Das Schiff sieht gepflegt aus. Trotzdem, es war 1920, es waren über zwei Jahre seit der ersten Gefangenenpost vergangen. In Russland herrschte Chaos.

In Deutschland herrschte Chaos. Achtzehn Mitgliedern der Zarenfamilie waren von den Bolschewisten ermordet worden. Diese Nachrichten waren noch taufrisch. Der deutsche Kaiser hatte keine Lust, das gleiche Schicksal zu erleiden. Als die Novemberrevolution 1918 ausbrach, flüchtete Kaiser Wilhelm II. nach Holland.

Deutschland war zerrüttet. Machtkämpfe, Intrigen und Inkompetenz verhinderten eine handlungsfähige politische Führung. Unangemessene Reparationszahlungen an die Siegermächte erbosten und verbitterten. Korruption auf dem internationalen Finanzmarkt kreierte eine Weltwirtschaftskrise nach der anderen. Wirtschaftliche Not, soziales Elend und Arbeitslosigkeit lähmten die Bevölkerung. Eine gärende Sozialisierung, die sich nicht selber kontrollieren und organisieren konnte, ließ Deutschland nach rechts abrutschen.

1921 steht Onkel Hermann mit Pickelhaube auf einem Bazar in Deutschland. Pickelhaube als Karnevalschmuck? Oder ist es der Ausdruck dieses nationalen Tanzes makabre nach rechts? Eine Demonstration fürs Deutsche Vaterland?

Seine nächste Postkarte vom 9. April 1923 ist aus der Lungenheilanstalt Bad Lippspringe. Die Karte ist an Frau Hermann Schellhase in Castrop adressiert. Onkel Hermann hat also seinen Posten als Bezirksschornsteinfegermeister in Castrop angetreten. Aber er war lungenkrank. Sibirien war wohl doch nicht nur ein Orchesterausflug. Onkel Hermann starb Anfang der dreißiger Jahre.

IV.

Onkel Hermanns Frau Tante Martha musste in den Jahren, wo ihr Mann in Russland und Sibirien war, in Deutschland drei Kinder alleine großziehen. Sie lebte finanziell in begrenzten Verhältnissen. Ihre Kinder konnten nicht die höhere Schule besuchen. Keines der Kinder konnte studieren. Ihre Tochter Emilie wurde Krankenschwester. Die Söhne wurden Schornsteinfeger in Castrop-Rauxel. Das waren sie, solange ihr Vater lebte.

Nach dem Tod von Onkel Hermann wurden beiden Söhne arbeitslos. Der preußische Hof existierte nicht mehr. Die Freunde und Beziehungen, die man einst in Berlin gehabt hatte, starben einer nach dem anderen. Deutschland veränderte sich. In kilometerlangen Schlangen standen die Arbeitslosen vor den Suppenküchen. Deutschland verarmte. Deutschland wurde braun.

Ohne Beziehungen konnte man 1933 auf dem freien Markt keinen festen Arbeitsplatz mehr bekommen. Aber beim Militär wurde alles angenommen was nicht rot, gelb oder rosa war, das heißt, was nicht kommunistisch, jüdisch oder homosexuell war. Denn Hitler war an die Macht katapultiert worden. Jetzt bliesen alle Hörner zum Sturm. Es wurde marschiert, nicht nur auf dem Kasernenhof, auch auf den Schulhöfen und auch bei den Arbeitsämtern. Die Jugendlichen und Arbeitslosen marschierten in den Arbeitsdienst. Die beiden Söhne von Onkel Hermann marschierten in der Waffen-SS.

Die Familie von Onkel Hermann, die so viel hatte entbehren müssen, weil ihr Vater jahrelang in St. Peterburg und in der Gefangenschaft in Sibirien war, kompensierte ihre sozial schwierige Situation mit einer Verherrlichung der Glanzzeit der Familie. Diese Glanzzeit waren die Offiziere der Familie Schellhase am Hofe der preußischen Könige und Kaiser. Die militärische Laufbahn war der erste Schritt, diese Glanzzeit wieder aufzurichten. Damit gehörte man wieder dazu.

Tante Emilies Sohn war 1956 einer der ersten Rekruten, die sich bei der soeben errichteten Bundeswehr freiwillig meldeten. Die westdeutschen Bürger demonstrierten rasend gegen eine neue Militarisierung von West-Deutschland. Das waren die ersten ernsthaften Krawalle in der neu etablierten Bundesrepublik.

Aber Tante Emilie war stolz auf Erwin. Er gehörte zum Militär. Damit gehörte er wieder zur Elite, glaubte Tante Emilie. Sie lebte in ihrer eigenen Vorstellungswelt und Wirklichkeit und die lag immer noch im Pomp und in der Pracht des Kaiserreichs.

Erwin war stolz auf seine Uniform. Er stellte sich und die Uniform meinem Großvater vor. Mein Großvater war der unbestrittene Experte der Familie auf militärischem Gebiet. Er sollte Schnitt, Farbe, Schmiss und Schneid fachmännisch begutachten und kommentieren. Erwin stolzierte wie ein aufgeblasener Pfau vor meinem Großvater hin und her.

Nach dieser Modeschau fuhren Tante Emilie, Onkel Hans, Erwin und ich nach Essen und stolzierten in Begleitung von Erwin in Uniform wie aufgeblasene Pfauen in der Bundesgartenschau herum. Um uns entstand ein Vakuum. Wir waren hier der Höhepunkt der Exotik. Alle glotzten uns aus der Entfernung an. Keiner sprach mit uns.

Wir gingen in ein Gartenrestaurant. Auch hier entstand ein Vakuum um uns herum. Keiner setzte sich in unserer Nähe. Die Angestellten liefen mit hochroten Köpfen an uns vorbei: „Kollege kommt gleich.“Kein Kollege war weit und breit zu sehen.

Dann kam die Geschäftsführung. Wir wurden diskret und höflich aufgefordert, das Restaurant zu verlassen. „Sie müssen verstehen, keiner will jemals wieder eine Uniform in den Straßen von Deutschland sehen.“

Einstmals war die Uniform der Stolz und die Ehre des preußischen Staates. 1956 signalisierte die Uniform einen Kriegshetzer und Kriegstreiber. Behandelt wurde der Soldat wie ein „Outlaw“, wie der Abschaum der Gesellschaft.

1945 war in Deutschland die Stunde „NULL“, Deutschland existierte nicht. Die Deutschen existierten nicht. Die Deutschen erstarrten in einem Trauma. Niemand wagte an diese Wunde zu rühren. Niemand durfte ungestraft diese Wunden aufreißen, auch keine auf der Straße herumlaufende Uniform, schon gar keine auf der Straße herumlaufende Uniform.

V.

Als Hitlers große Gruppenreisen begannen, kam Tante Emilie zum Kriegseinsatz als Krankenschwester nach Holland. Hier hatte sie mehrere Jahre lang ein Verhältnis mit einem Holländer. Sie bekam zwei Kinder von ihm, weigerte sich aber hartnäckig, ihn zu heiraten. Sie hat einen jahrelangen Prozess gegen ihn geführt, um von ihm Alimente zu bekommen. Der Mann weigerte sich zu zahlen. Er hatte Emilie Schellhase die Heirat angeboten und war immer noch bereit war, sie zu heiraten.

Laut Gesetz brauchte ein Mann, wenn er die Frau heiratete oder heiraten wollte, die von ihm Kinder hatte, keine Alimente zu zahlen. Holland war die besiegte Nation. Hier galten deutsche Gesetze, auch für Holländer. Gesetz ist Gesetz, damit spaßen die Deutschen nicht. Tante Emilie verlor diesen Prozess.

Nach dem Krieg hat Tante Emilie wie viele deutsche Frauen Trümmer aufgeräumt. Diese Frauen wurden Trümmerfrauen genannt. Die Trümmerfrauen durften die Steine, die sie sich aus den Trümmern herausgeholt hatten, behalten. Besser gesagt, sie behielten diese Steine unterstützt von einer sich vorsichtig etablierenden zivilen Städteverwaltung in Absprache mit den Alliierten Verwaltungsmächten. Von der gleichen zivilen Städteverwaltung bekamen sie auch das Angebot, billig ein Grundstück zu kaufen.

Viele der norddeutschen Städte waren bis zu neunzig Prozent zerbombt. Gleichzeitig kamen rund fünfzehn Millionen Flüchtlinge aus den ehemaligen östlichen Gebieten von Deutschland. Sie flohen vor der russischen Armee und vor der polnischen und tschechoslowakischen Bevölkerung.

Millionen von Menschen lagen auf der Straße. Millionen wurden in Gymnastik Sälen, in Ruinen, in Kellern, auf Dachböden und in Baracken untergebracht. Es war ein unbeschreibliches Elend. Darum wurden Gesetze erlassen, dass die großen Grund- und Villenbesitzer alle überflüssigen Räume an Flüchtlinge und Vertriebene abgeben mussten. Pro Kopf durfte jeder nur ein Zimmer für sich beanspruchen.

Mein Großvater war über diese Zwangsmaßnahmen der provisorischen Verwaltungsbehörden empört. Das war ein Eingriff in seine Privatrechte. Weil meine Schwester und ich mit zum Haushalt gerechnet wurden, konnte er fünf Zimmer für sich beanspruchen. Noch zehn Jahre nach dem Krieg schimpfte mein Großvater über diese Unverschämtheit, ihn derart in seinen Rechten zu beschränken.

Die Maßnahmen der provisorischen Zivilverwaltungen der Städte, die Bevölkerung zum Bau von Eigenheimen anzuspornen, war eine weitere Maßnahme, um dem Elend der Menschen abzuhelfen, die kein Dach über dem Kopf hatten. Gleichzeitig war es auch ein Mittel, die Trümmer zu beseitigen und Deutschland wieder aufzubauen.

Tante Emilie wurde Trümmerfrau und baute sich in Castrop-Rauxel ein Häuschen. Der Garten, der zu diesem Reihenhaus gehörte, half ihr, die schwersten Hungerjahre zu überleben.

Hier wohnte in den Zimmern unterm Dach Tante Martha, die Mutter von Tante Emilie. Tante Emilie versorgte und pflegte sie bis zu ihrem Tod. Aus diesem Grund erbte Tante Emilie die letzten Wertgegenstände der Familie: den großen Flügel von Onkel Hermann, sein wertvolles Cello und seine Geige.

Tante Emilie erzählte mir, dass ihr Vater einmal einem Zigeuner zuhörte, wie er Geige spielte. Onkel Hermann war verzaubert von dem Klang dieser Geige. Er bat den Zigeuner, ihm die Geige zu verkaufen. Er war bereit, jeden Preis zu zahlen.

Die Geige war schwarz lackiert. Durch einen jahrzehntelangen Gebrauch kam an einigen Stellen die originale Farbe der Geige durch den schwarzen Lack zum Vorschein. Mir wurde erzählt, dass Zigeuner wertvolle Geigen gestohlen haben. Um die Herkunft dieser Instrumente zu vertuschen, hätten sie die Geigen schwarz angemalt.

Als ich Tante Emilie am Telefon erzählte, dass meine vierjährige Tochter Geigenunterricht bekam und dass wir beide im Orchester spielten, war sie euphorisch begeistert. Ich erweckte die große Glanzzeit der Familie Schellhase wieder zum Leben. Als Tante Emilie starb, hat sie mir die Zigeuner Geige ihres Vaters vererbt.

Onkel Hans rief mich an und erzählte mir die Geschichte. Eine Bedingung dieser Erbschaft war, ich müsse selber nach Deutschland kommen und mir die Geige abholen.

Siebenbürgen

Siebenbürgen

I.

Onkel Hans kam aus Siebenbürgen. Die Siebenbürger Sachsen waren 1140 vom ungarischen König Géza II. nach Siebenbürgen geholt worden. Siebenbürgen liegt im Karpatenbogen im heutigen Rumänien. Damals gehörte es zu Ungarn.

Die Siebenbürger kamen vom Mittelrhein, dem Niederrhein und aus Flandern, aus dem Moselgebiet und aus Luxemburg, aber nicht aus Sachsen. In der Kanzleisprache wurden die Siebenbürger als „Saxonen“ bezeichnet. „Saxonen“ kommt als Sprachverdrehung von „Sassen“, also Ansässigen. Daraus wurden später „Sachsen“.

Die Einwanderungswelle der Deutschen wurde geplant durchgeführt, um die Ostgebiete zu kultivieren und auszubauen. Die Deutschen sollten aber auch das Land vor eindringenden Feinden verteidigen. Bei den Überfällen von Tataren und Mongolen und in den Türkenkriegen waren die deutschen Einwanderer aktiv an der Verteidigung des Landes beteiligt.

Die deutschen Ansiedler hatten bereits 1224 im „goldenen Freibrief“ umfassende Rechte bekommen. Sie bekamen die Territorialautonomie zugesprochen. Sie hatten eine Selbstverwaltung. Sie hatten ein freies Besitz- und Erbrecht. Sie hatten eine eigene Gerichtsbarkeit. Sie konnten nach eigenem Ermessen ihre Richter und Pfarrer wählen. Sie waren frei von Zöllen und Abgaben. Sie hatten eigene Zeitungen, Schulen und eine eigene Universität.

Diese umfassenden Privilegien ermöglichten es den Siebenbürger Sachsen, bis ins 20. Jahrhundert ihre Sprache und Kultur zu pflegen und weitere zu entwickeln. Damit haben sie ihre deutsche Identität bewahrt. Diese Wahrung ihrer ethnischen Identität wurde ihnen während des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit zum Verhängnis.

Siebenbürgen gehörte bis zum Ersten Weltkrieg zur Doppelmonarchie Österreich – Ungarn. Die Doppelmonarchie verlor den Krieg und wurde aufgesplittert. Reichsgebiete wurden abgetrennt. Neue Staaten wurden etabliert. In dieser Federkriegsverwaltung der Siegermächte kam Siebenbürgen zu dem neu errichteten Staat Rumänien.

Nach dem rumänisch-deutschen Wirtschaftsvertrag kamen die Siebenbürger Sachsen in den dreißiger Jahren unter den Einfluss des Naziregimes. Das bedeutete, das beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges junge und gesunde Männer von deutscher Abstammung zum deutschen Kriegsdienst eingezogen wurden. Hierzu gehörte auch Onkel Hans.

Aber auch der Ribbentrop-Molotov-Vertrag beeinträchtigte das Schicksal der Deutschen in den Ostgebieten. Dieser Vertrag wurde am 27. August 1939 unterschrieben. Es war ein Nichtangriffspakt mit geheimen Zusatzprotokollen. Diese Protokolle regulierten die Aufteilung Osteuropas zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Die Baltischen Staaten und Polen hörten auf zu existieren. Die Russen marschierten ins Baltikum ein und schmissen alle Deutschen aus ihren okkupierten Gebieten raus. Die Deutschen marschierten in Polen ein und schmissen alle Russen aus ihren okkupierten Gebieten raus. Das hieß Umsiedlung. Sie wurde mit der Parole: „Heim ins Reich“ umschrieben.

In dieser Zeit wurde der Begriff „Volksdeutsche“ und „Reichsdeutsche“ erfunden. Reichsdeutsche waren die Deutschen, die innerhalb der Grenzen des deutschen Reiches von 1939 wohnten. Volksdeutsche waren die Deutschen, die Jahrhunderte lang in anderen Ländern gelebt hatten. Hierzu gehörten neben den Siebenbürger Sachsen auch die in Russland lebenden Wolgadeutschen und die in Polen und im Baltikum lebenden Deutschen. Alle wurden „umgesiedelt.“

Besonders gesunde und arbeitsfähige junge Volksdeutsche sollten mit Familie und Kindern in den von Nazideutschland okkupierten Gebieten angesiedelt werden. Zuerst wurden die Volksdeutschen in Lagern aufgesammelt. Diese Lager wurden von der SS verwaltet. Hier wurden die Volksdeutschen administrativ erfasst, kategorisiert und ausgesiebt.

Onkel Hans war bei Ausbruch des Krieges Anfang zwanzig. Er war verheiratet und,hatte zwei gesunde Kinder. Er war deutsch mit einem jahrhundertalten Ahnenpass. Er war gesund und ohne Erbkrankheiten. Er war Facharbeiter in der Milch- und Käseproduktion. Für die herrschende Naziideologie gehörte er damit zur ersten Klasse von produktivem Menschenmaterial.

Normalerweise wurden die volksdeutschen Familien geschlossen mit Frau, Kindern, Eltern und Schwiegereltern umgesiedelt. Onkel Hans kam alleine in das Umsiedlungsauffang-Lager nach Zdunska Wola. Ich fragte Onkel Hans, wo seine Frau war.

„Sie ist in Siebenbürgen zurückgeblieben.“

„Warum?“

„Sie kam aus dem Banat“, sagte Onkel Hans.

„Aus dem Banat? Was ist das?“Onkel Hans winkt ab. Er äußerte sich nicht weiter dazu. Meine Informationen musste ich mir alleine aus Lexika und Internett zusammen sammeln.

Die Banater Deutschen waren ursprünglich Schwaben, also auch Deutsche, aber Deutsch und Deutsch war doch nicht das gleiche. Geschichtlich betrachtet sind die Banater Schwaben zwischen 1686 und 1848 in die Pannonische Tiefebene eingewandert, während die Siebenbürger Sachsen schon seit dem 12. Jahrhundert im Karpatenbogen wohnten und eine hohe Kultur entwickelt hatten.

Die Einwanderung der Schwaben war von der Österreichischen Monarchie organisiert worden. Diese Schwaben hatten niemals dieselbe Autonomie und Selbstverwaltung zugesprochen bekommen wie die Siebenbürger Sachsen. Sie hatten sich verschiedenen staatlichen Machtstrukturen anpassen müssen.

Außerdem waren diese Gebiete im 16. Jahrhundert hauptsächlich von Serben und Walachen bevölkert. Die Banater Schwaben hatten also keine staatsrechtliche Autonomie und teilten zudem den gleichen Lebensraum mit anderen Bevölkerungsgruppen. In dieser Symbiose haben sie nicht ihre Sprache, Kultur, Zivilisation und ethnische Abstammung in der gleichen organisierten Form wie die Siebenbürger Deutschen bewahren können. Sie hatten auch keine Möglichkeit, eine neue Kultur aus dieser Symbiose heraus zu entwickeln.

Onkel Hans wusste das alles, aber er konnte das, was er eigentlich meinte, nicht sprachlich formulieren. Er sagte nur mit einer wegwerfenden Handbewegung: „Sie kam aus dem Banat.“,und danach hätte ich alles Weitere, was ich nicht wusste, intuitiv wissen müssen.

Möglicherweise gab es für die Siebenbürgern Sachsen ein kollektives Selbstverständnis, mit gewissen Begriffen bestimmte Dinge zu assoziieren. Diese Assoziationen waren mir nicht zugänglich.

Als ich nicht locker ließ und Onkel Hans mit weiteren Fragen plagte, wich er auf eine andere Ebene aus. Ich bekam intime Bekenntnisse von Dingen, die ich gar nicht wissen wollte und die ich nicht verstand. Onkel Hans erzählte mir, dass seine Frau „kalt“ war. Nicht einmal als er an die Front reisen musste, habe sie mit ihm schlafen wollen.

Er wäre ganz verrückt nach Sex gewesen. Bis er zwanzig Jahre alt war, hatte er niemals Sex gehabt, als er aber einmal damit anfing, sei er total explodiert.

 „Das war doch was Scheenes!“, sagte er. Onkel Hans hatte seinen speziellen Siebenbürger Dialekt beibehalten.

Außer diesen intimen Bekenntnissen, bekam ich keine weiteren Erklärungen.

Onkel Hans war offen, großzügig und in gewisser Hinsicht auch naiv, derartige detaillierte Intimitäten zu erzählen. Durch diesen Einfluss von Tante Emilie und Onkel Hans hätte ich vortrefflich aufgeklärt sein müssen. War ich aber nicht. Denn für eine Jungfrau, der jede körperliche Erfahrung fehlt, hat der Lehrsatz des Pythagoras den gleichen Erkenntniswert wie Beschreibungen von erotischen und sexuellen Erlebnissen, beide können ein reflexives Staunen auslösen: „So etwas gibt es also auch“, aber sonst gar nichts.

Derartige Erzählungen und Erklärungen von Onkel Hans oder von meiner Schwester, beweisen die Unmöglichkeit, theoretisch Dargestelltes und Vermitteltes in eine körperliche Adaption und Erkenntnis zu transformieren, wenn die Voraussetzung einer entsprechenden körperlichen Erfahrung fehlt. Es ist keine Antenne für den Empfang solcher Aussagen vorhanden. Bei mir riefen diese Anspielungen und Erzählungen weder erotische Visionen noch sexuelle Bilder hervor. Sie vermittelten mir keinerlei Erkenntnisse, welcher Art auch immer.

Onkel Hans wurde also alleine umgesiedelt. Er kam nach Zdunska Wola in Polen. Zdunska Wola war eines dieser von der SS errichteten und geleiteten Lager, wo die Auslandsdeutschen aufgesammelt und ausgesiebt wurden. Von hier aus wurden sie umgesiedelt.

Meine Mutter arbeitete in Zdunska Wola als Lehrerin. Sie war damals zwanzig Jahre alt. Onkel Hans, der allen Frauenröcken nachlief, schwärmte noch zwanzig Jahre später: „Das war ein scheenes Mädchen.“

Meine Mutter wäre jeden Morgen mit den Kindern ihrer Klasse spazieren gegangen. Jeden Morgen hätten die jungen Männer am Lagerzaun gestanden und hinter ihr her gehechelt.