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Einen Toten Mann bringt man nicht um! In dem verzweifelten Versuch, die verlorene Seele ihrer kleinen Schwester zurückzugewinnen, wendet sich Walküre Unruh gegen das Sanktuarium. Und Skulduggery kann nichts tun, um sie davon abzuhalten. Währenddessen plant Abyssinia etwas Großartiges: Eine Nacht der Magie, des Terrors und des Blutvergießens. Nun ist es Omen Darklys Aufgabe, die Leben tausender unschuldiger Menschen zu retten. Dabei ist er ECHT noch nicht bereit dazu. Aber der Wahnsinn bricht sich bereits Bahn. Als bisher verborgene Feinde ans Licht treten, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Omen muss endlich der Held werden, der er nie sein wollte – oder heldenhaft sterben. Die Kultserie geht weiter. Denn eine Kleinigkeit wie das große Finale seiner Reihe um den zaubernden Skelett-Detektiv konnte Bestsellerautor Derek Landy nicht aufhalten, sich weitere Geschichten über Skulduggery Pleasant auszudenken.
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Seitenzahl: 774
INHALT
Magie. …
„Du bist sauer …
„Omen“, …
Razzia stand …
Walküre schloss …
Die Tür …
„Schön hier, …
Der Wagen …
„Mr President, …
Weinen war …
Walküre kehrte …
Tanith stieg …
Mittagszeit. …
Um die Ecke …
Temper Fray …
„Leert euren …
Walküre schlenderte …
Walküre klopfte …
Fletcher brachte …
Walküre trat …
„Was hältst …
Im Vampirviertel …
Alles in allem …
Sie war …
Die Menschenmenge, …
Nachdem sie …
Walküre zuckte …
Es war zwei …
Walküre erwachte …
Bruder Bär …
Nach etwa …
Plötzlich strömte …
Walküre schrie. …
Sie lag im Dunkeln. …
Sie schrie erneut. …
Die Zeit verging nicht. …
Sie geriet …
Die Luft. …
In der Dunkelheit. …
In der Dunkelheit. …
Walküre trat …
Grässlich Schneider …
Walküre versetzte …
Die Corrival-Schule …
Eine aufgeregte …
Omen war …
Als die Träume …
Fletcher teleportierte …
Sie flog …
In der Klasse …
Skulduggery wartete …
„Sie werden uns …
Die Savagery …
Mann, …
Hinter der …
Walküres Lächeln …
Serienmörder, …
Es war fast …
Sie landeten …
Es dauerte …
Temper entdeckte …
Walküre wachte …
Taniths Motorrad …
Die Dunkelheit …
Sie landeten …
Nachdem Temper …
Never betrat …
Das Portal …
Die Toten …
… flog sie. …
Liebe, …
Tanith traf …
Omen hatte …
Omen schaffte …
Walküre fühlte …
Mr Lilt sagte …
Walküre hockte …
Omen saß …
Walküre erwachte, …
Auf der Kuppe …
Als Tanith …
An dem Gefreiten …
Nero teleportierte …
Flanery brauchte …
Noch ein Motelzimmer. …
Da es in ihrer Zelle …
Temper schaffte …
Sie fuhren ihn …
China schloss …
„Bejant“, …
Der Beamte …
Yonder schrie …
Yonder stieg …
Walküre schlüpfte …
Walküre öffnete …
Sie gingen weiter …
Walküre rechnete …
Serafina stürmte …
Coldheart war …
Sie flogen …
Bisher war Omen …
Die Hauptstraße …
Temper erwachte. …
Omen kroch …
Slyboots schlüpfte …
Destriers Werkstatt …
Walküre schwamm …
„Verstehst du …
Bisher hatte Auger …
Walküre zog …
Omen fühlte …
Razzia gefiel …
Walküre beobachtete, …
Abyssinia konnte …
Die Marinebasis Whitley …
Walküre rollte …
Nachdem die Dunklen …
Der Darkly-Junge …
Die Nacht in Irland …
Walküre sah, …
Flanery schaltete …
Razzia starb …
Tanith traf …
Walküre packte …
Während der …
Es war Sonntag. …
China lag neben ihm. …
Zehn Kilometer …
Es war ein sonniger Tag. …
Dieses Buch ist Laura J. gewidmet.Denn offenbar zählt es nicht, dass man dir ein Buch widmet – es sei denn, es handelt sich um ein Skulduggery-Buch.Hey, ich hab’s kapiert. Echt.Aber bedeutet das, dass ich nicht mehr aufhören darf, welche zu schreiben?Denn das wird ziemlich schwer werden, wenn man bedenkt, dass am Ende dieses Buchs hier alle sterben.Oh Mann … jetzt sieh dir an, wozu du mich gebracht hast.Ich habe den Schluss für all diese netten Leute ruiniert.Keine Sorge, Leute. Dieses Buch hat ein Happy End!Superhappy, mit Regenbogen!(Glaubst du, sie haben es mir abgekauft?Ja, ich auch. Puh. Das war knapp.)(Nur gut, dass du echt süß bist …)Und aus dem Alles entstand das Universum, das wuchs und sich ausbreitete und seinen Platz neben den anderen einnahm.
MAGIE.
Der Ort triefte nur so von dem Zeug. Es sammelte sich in den Sitzecken, ergoss sich über die lange, polierte Bar, kroch über den Boden und grinste sein breites, idiotisches Grinsen. Es steckte in allem – in der Musik, den Drinks, den geäußerten Worten und den Lachern, die sie erzeugten. Es war in die Kleidung eingenäht, in den Schmuck graviert, hing in den Frisuren und im Lippenstift.
Das war typisch für die Zauberer der heutigen Zeit. Nicht mehr an die alten Regeln gebunden, experimentierten sie mit ihrer Magie. Sie zwängten ihre Macht in Sigillen, die sie auf Papier kritzelten. Sie teilten und tauschten, probierten aus und stümperten herum. Für einige bedeutete es eine unvergessliche Nacht voller Wunder. Andere sanken hinab an einen kalten, dunklen Ort, an dem es keine Wände und keinen Boden gab – und keine Möglichkeit, je wieder hinauszuklettern. Aber die Party ging weiter. Die Party ging immer weiter.
Die Zauberer warfen Walküre lange Blicke zu, als sie den Raum betrat. Sie kannten sie. Alle kannten sie. Walküre Unruh, die Schlichterin, die Detektivin. Sie trug ihr langes, dunkles Haar offen und hatte ihre Jacke an, weil ihr nach ihrem Aufenthalt im Freien noch immer kalt war. Fünfundzwanzig Jahre alt, über eins achtzig groß und nur Muskeln und Sehnen – ein hübsches Mädchen mit einer gemeinen Ader.
Und wo sie war, war auch er … der jetzt am anderen Ende der Bar auftauchte: Skulduggery Pleasant, der Schlichter, der Skelett-Detektiv im schwarzen Dreiteiler mit blauem Hemd und schwarzer Krawatte, den Hut tief über eine Augenhöhle gezogen. Alles Böse, das einen Namen hatte, musste sich letztendlich vor Skulduggery verantworten.
Die Unterhaltung ebbte nur einen Moment ab, nahm dann aber wieder Fahrt auf – als könnten sich alle retten, indem sie unschuldig taten. Sie redeten und lachten, und jeder hoffte, er möge nicht die Person sein, nach der die Schlichter suchten. Nicht heute Abend. An welchen Gott man auch glauben mochte: bitte nicht heute Abend.
Walküre zog ihre Jacke aus. Einige waren beeindruckt, andere nicht – aber alle schauten hin. Sie schauten auf ihre aus Granit gemeißelten Schultern und warfen verstohlene Blicke auf ihre aus Marmor gehauenen Bauchmuskeln, als ihr T-Shirt nach oben wanderte. Sie sahen, welche Arbeit darin steckte, welche Opfer sie dafür auf sich genommen hatte. Welche Strapazen. Die wenigsten ahnten auch nur, was dafür nötig war. Und keiner von ihnen kannte den Schmerz, der sie antrieb.
Christopher Reign zumindest wusste, welche Mühen damit verbunden waren – schließlich liebte er seine Muskeln ebenso sehr wie seine Anzüge. Letztere kamen aus Italien, die Muskeln direkt aus Detroit.
Walküre und Skulduggery saßen an seinem Tisch und schwiegen. Skulduggery nahm den Hut ab.
Reign musterte die beiden. Und lächelte. Dann nickte er Walküre zu. „Hab gedacht, du seist größer.“
„Nein, hast du nicht“, entgegnete sie.
Er drehte den Kopf zur Seite und hob eine Hand. „Ich hab ein Mädchen, das dich bankdrücken könnte.“
Sein „Mädchen“ stand auf. Sie war größer als Walküre, mit muskulösen Oberarmen. Die Hose spannte sich um ihre Oberschenkel.
Walküre würdigte sie keines Blickes. „Ich bin nicht hier, um mich mit deinen Muckibuden-Kumpels zu messen, sondern um mit dir über Doktor Nye zu reden.“
„Das ist mir klar“, sagte Reign und lachte. „Das weiß jeder. Du suchst nach diesem verkorksten Freak schon seit der Vorweihnachtszeit. Das ist jetzt über zwei Monate her. Wieso eigentlich?“
„Eine Familienangelegenheit.“
„Eine Familienangelegenheit, in die Nye verwickelt ist? Aua.“ Er lachte in sich hinein. „Schon mal dran gedacht, dass er vielleicht nicht gefunden werden will?“
„Das ist uns ziemlich egal“, erklärte Walküre. „Wir werden ihn sowieso finden. Wir haben gehört, du könntest wissen, wo er ist.“
Reign schüttelte den Kopf. „Ich verkehre nicht mit Crengarrionen. Sie mögen zwar so reden, als wären sie irgendwie menschlich, aber das sind sie nicht. Sie sind Monster. Zugegeben, intelligente Monster, aber dennoch Monster. Und einem Monster kann man nicht trauen.“
Walküre legte ein Blatt Papier auf den Tisch, auf das eine Sigille gezeichnet war.
„Ich weiß nicht, was das ist“, sagte Reign.
„Natürlich nicht. Man nennt es ‚Spritzer‘.“
„Ah, davon habe ich gehört“, antwortete Reign. „Ein kleiner Schuss Magie unter Freunden, richtig? Gerade genug, um sich gut zu fühlen?“
„Genau“, bestätigte Walküre. „Ein vollkommen harmloser Spaß – wenn man die potenziellen Nebenwirkungen außer Acht lässt.“
Reigns Grinsen wurde breiter. „Nebenwirkungen, Frau Detektivin? Ach, du meinst wohl diese Magier, die ein bisschen die Kontrolle verloren und ein paar Leute verletzt haben? Wirklich eine Schande.“
„Ja, wirklich“, sagte Walküre. Sie tippte auf das Blatt Papier. „Die stammt doch von dir, oder? Eine, die du verkauft hast?“
„Was für eine ungeheuerliche Anschuldigung. Ich bin zutiefst verletzt.“
„Wir haben mit ein paar Leuten geredet“, fuhr Walküre fort. „Unsere Hausaufgaben gemacht. Diese kleinen Spritzer sind zum ersten Mal vor sechs Wochen aufgetaucht. Wir haben sie bis hierher zurückverfolgt.“
„Hierher?“, fragte Reign und zog verwundert die Augenbrauen hoch.
„Hierher“, antwortete Walküre und nickte.
„Wow. Ich nehme an, ihr habt Beweise dafür …“
„Das ist hier keine Polizeiserie für Sterbliche, Christopher. Wir brauchen keine Beweise. Uns reicht ein Verdacht, und dann lassen wir unsere Sensitiven einen Blick in dein Hirn werfen.“
„Das wäre beunruhigend, wenn ich tatsächlich in ein kriminelles Unternehmen verwickelt wäre – und nicht die besten psychischen Barrieren hätte, die man für Geld kaufen kann.“
Zum ersten Mal lächelte Walküre. „Ich bin selbst ein wenig eine Sensitive“, sagte sie. „Ich habe meine Fähigkeiten erst vor Kurzem entdeckt, aber ich wette, deine lächerlichen Barrieren könnte ich mit Leichtigkeit durchbrechen.“
„Das würde ich wirklich gern erleben.“
„Wie hast du es angestellt, Christopher?“
Er machte ein langes Gesicht. „Haben wir schon aufgehört zu flirten?“
„Ach, das war kein Flirten. Wir wissen, dass es in deiner Crew keinen gibt, der diese Spritzer hinbekommt. So etwas lässt sich nicht so leicht entwickeln, nur relativ leicht nachmachen. Also nehmen wir an, dass du Hilfe von außen hattest.“
„Ah, ihr glaubt also, Doktor Nye steckt dahinter“, entgegnete er.
„So ist es.“
„Und deshalb hofft ihr, ich wüsste, wo sich dieser schlaksige, nasenlose Irre verstecken könnte.“
„Genau.“
Reign trank sein Glas aus, und sofort erschien eine Kellnerin, die es durch ein volles ersetzte.
Skulduggery sah ihr nach. „In Ihrer Bar arbeiten Sterbliche, MrReign?“, fragte er.
„Klar. Einige sogar. Es ist vollkommen legal, und es ist billiger, als welche von uns anzustellen. Welcher Magier will schon gern kellnern oder Toiletten putzen, stimmt’s?“
„Zurück zu Doktor Nye, Christopher“, sagte Walküre.
„Ich habe dir schon gesagt, dass ich nicht mit Crengarrionen verkehre. Ich bin Geschäftsmann und führe eine Bar. Ich bin kein Krimineller, der mit Drogen dealt, ob magische oder sonstige. Ich bin ein gesetzestreuer Bürger von Roarhaven und zahle meine Steuern, genau wie alle anderen auch. Ich habe euch gerade erst kennengelernt, und ich mag euch, aber momentan fühle ich mich … wie soll ich sagen? Schikaniert. Ich habe das Gefühl, dass ihr mich schikaniert. Ihr könnt euch gern einen Drink bestellen und bleiben, euch unterhalten und neue Freunde kennenlernen. Ich würde liebend gern sehen, dass ihr ein wenig lockerer werdet. Aber ich fürchte, dass dieses Verhör jetzt vorbei ist.“
„Das hast du nicht zu bestimmen“, stellte Walküre klar.
Reigns Fitness-Freundin kam auf sie zu, die große Frau mit den vielen Muskeln.
„Das ist Panthea“, stellte Reign sie vor. „Sie gehört zu unseren Sicherheitsleuten und hat durchaus das Recht, euch aus dieser Bar zu werfen. Sie braucht nur einen Grund.“
Walküre seufzte und stand auf. Die Unterhaltungen an den Tischen verstummten, nur die Musik spielte weiter. Skulduggery wollte ebenfalls aufstehen, aber Walküre legte ihm eine Hand auf die Schulter, während sie um ihn herumging.
„Willst du den ersten Schlag haben?“, fragte sie und schaute zu Panthea hoch.
Panthea schnaubte. „Damit du mich verhaften kannst, weil ich eine Schlichterin angegriffen habe?“
„Ach, für so etwas würde ich dich nicht verhaften.“
„Also … dann könnte ich dich windelweich prügeln und würde nicht in einer Gefängniszelle landen?“
„Ich bezweifle, dass du dazu in der Lage wärst, aber ja, so ist es.“
Panthea lächelte.
„Wie hättest du’s denn gern?“, fragte Walküre. „Sollen wir rausgehen, willst du irgendwo Platz machen, oder sollen wir uns einfach hier über die Tische hinweg aufeinanderstürzen?“
„Das überlasse ich ganz dir.“
„Bitte nicht Letzteres. Diese Tische kosten ein Vermögen“, meinte Reign.
„Ich überlasse dir den ersten Versuch“, bot Walküre an. „Ein sauberer Haken, direkt aufs Kinn. Mal sehen, ob du mich ausknocken kannst.“
Panthea grinste. „Wenn ich dir so einen verpasse, gibt’s nur noch Essen durch den Strohhalm.“
„Wenn ich mich kurz einmischen dürfte“, setzte Skulduggery an und versuchte erneut aufzustehen.
Wieder legte Walküre ihm eine Hand auf die Schulter und drückte ihn nach unten. „Nicht jetzt“, sagte sie. „Ich unterhalte mich gerade mit der hübschen Lady.“
Panthea zog eine Augenbraue hoch. „Du findest mich hübsch?“
„Du hast wunderschöne Augen.“
„Komplimente halten mich nicht davon ab, dich so übel zuzurichten, dass du zu deiner Mami nach Hause kriechen wirst.“
„Das würde ich auch nicht erwarten, meine Schöne.“
Panthea verschränkte die massiven Arme vor der Brust. „Okay, du kannst jetzt aufhören. Ich mag ja vieles sein, aber schön ganz bestimmt nicht.“
„Machst du Witze?“, entgegnete Walküre. „Bei deinem Knochenbau?“
„Ich habe eine zertrümmerte Nase.“
„Deine Nase hat Charakter. Sie ist niedlich und macht den Rest von dir nur noch niedlicher.“
Panthea schnaubte erneut verächtlich und musterte Walküre von oben bis unten. „Deine Arme sind der Hammer“, meinte sie schließlich.
„Findest du?“
„Perfekt definiert“, bestätigte Panthea und nickte.
„Deine Arme können sich aber auch sehen lassen.“
„Ja, aber es ist schwer, passende Klamotten zu finden.“
„Wem sagst du das.“
„Ich bin verwirrt“, meldete sich Reign. „Ich dachte, ihr beiden wolltet euch prügeln.“
Panthea zögerte und schaute dann zu ihrem Boss. „Ich glaube, ich kann das nicht, MrReign. Ich mag sie.“
„Ahh“, sagte Walküre. „Danke. Ich mag dich auch. Ich suche hier in Roarhaven ein Studio zum Trainieren – wo gehst du denn hin?“
„Fit to Fight, in der Ascendance Street.“
„Hey“, protestierte Reign, „da gehe ich auch hin. Ich will sie nicht in meinem Fitnessstudio haben.“
Walküre und Panthea ignorierten ihn.
„Eigentlich mache ich den Job als Türsteherin nur stundenweise“, erklärte Panthea. „Tagsüber arbeite ich im Studio als Personal Trainer, also …“
Walküre biss sich auf die Unterlippe. „Meinst du, du könntest mich noch unterbringen?“
„Klar.“
Reign stand auf. „Okay, was zur Hölle geht hier vor?“
„Wir flirten“, sagte Walküre. „So geht das, Christopher.“
„Panthea, du kannst nicht mit ihr flirten“, beschwerte sich Reign aufgebracht. „Sie ist eine Schlichterin und ein … ein Gast.“
Panthea runzelte die Stirn. „Sie ist ein Gast? Selbst wenn sie nicht mal einen Drink bestellt hat?“
„Du hast einen festen Freund, Panthea!“
„Na und?“, meinte Walküre. „Und ich habe eine feste Freundin. Dürfen wir deshalb nicht einen kleinen, harmlosen Flirt haben?“
„Genau“, pflichtete Panthea ihr bei. „Mach dich mal locker, Christopher.“
Skulduggery stand endlich auf. „Dieser Abend hat sich nicht so entwickelt, wie ich es mir vorgestellt hatte“, sagte er. „MrReign – reden wir nicht länger um den heißen Brei herum. Wo hält sich Doktor Nye auf?“
„Keine Ahnung“, antwortete Reign, aus dessen Augen sämtliche Gutmütigkeit gewichen war. „Ich weiß nicht, wo der Irre ist, und es ist mir auch egal. Wenn er die Spritzer entwickelt hat – und ich sage nicht, dass er das getan hat oder dass ich überhaupt davon wüsste, falls er das getan hätte –, dann hat er sein Geld genommen und ist verschwunden, ohne eine Nachsendeadresse zu hinterlassen.“
„Und wie haben Sie zu dem guten Doktor überhaupt Kontakt aufgenommen?“
„Ich habe euch schon gesagt, dass ich kein Krimineller bin. Aber selbst wenn ich einer wäre – was ich nicht bin –, hätte ich euch trotzdem nichts zu sagen, weil er mit einem Vorschlag zu mir gekommen wäre.“
„Verstehe“, sagte Skulduggery. „Walküre, hast du noch irgendwas hinzuzufügen?“
„Ja“, antwortete sie und zeigte auf einen Mann, der an einem benachbarten Tisch saß. „Dieser Typ.“
Der Mann wurde sofort kreidebleich und setzte sich kerzengerade auf.
„Du hast die Kellnerinnen begrapscht“, sagte Walküre und ging auf ihn zu. „Ein kleines Hinterntätscheln hier, ein kleiner Kneifer dort.“
Vehement schüttelte der Mann den Kopf.
Walküre beugte sich über ihn. „Glaubst du, das ist in Ordnung? Glaubst du, dass man das einfach so durchgehen lassen kann?“
Der Mann räusperte sich. „Ich … ich …“
„Steh bitte mal auf“, sagte Walküre.
Der Mann zögerte, folgte aber dann der Aufforderung.
„Was dagegen, wenn ich dich ein bisschen tätschele?“, fragte sie und schlug ihm mit der Handkante gegen das Kiefergelenk. Er schoss hoch, taumelte nach hinten und war ohnmächtig, noch bevor er auf dem Boden aufschlug.
„Oh Mann“, protestierte Reign. „Das kannst du nicht machen. Panthea, das kann sie mit einem zahlenden Gast nicht machen.“
„Der zahlende Gast hat das Personal belästigt“, entgegnete Panthea, ohne sich zu rühren.
„Wenn ihr Doktor Nye seht, gebt uns bitte Bescheid“, sagte Skulduggery, nahm seinen Hut und ging zur Tür.
„Denkt daran, eurer Kellnerin ein ordentliches Trinkgeld zu geben“, mahnte Walküre die übrigen Gäste und ging dann ebenfalls Richtung Ausgang. Panthea kam ihr nach und reichte ihr ihre Jacke. Walküre zog sie über, zwinkerte Panthea zu und ging.
„Das“, sagte Panthea, als sich die Tür geschlossen hatte, „war ganz schön cool.“
„DU BIST SAUER auf mich“, sagte Walküre, als sie die Bar verließen.
„Nein, das bin ich nicht“, versicherte Skulduggery.
„Ich habe alles nur noch schlimmer gemacht.“
„Reign weiß nichts, das uns weiterhelfen könnte. Und uns beiden war klar, dass diese Möglichkeit bestand, bevor wir einen Fuß in den Laden gesetzt haben.“
„Ich hätte mich fast geprügelt.“
„Genau genommen hast du einen Mann angegriffen.“
Walküre runzelte die Stirn. „Ich meine nicht ihn. Sondern Panthea. Ich hätte mich fast mit Panthea geprügelt. Ich wollte es. Ich wollte jemandem eins verpassen.“
„Das ist dir gelungen.“
Sie blieb stehen. Es war eine kalte Februarnacht, und man rechnete mit Schneefall. „Irgendetwas stimmt nicht mit mir“, meinte sie.
Skulduggery wandte sich ihr zu. „Ja, du hast einen schweren Anfall von Menschlichkeit. Ich fürchte, dafür gibt es kein Gegenmittel.“
„Das meine ich ernst.“
„Ich auch“, erwiderte Skulduggery, legte den Arm um sie und zog sie an sich. „Du bewältigst die Situation mit Alison so gut, wie du kannst, aber du bist wütend. Nicht auf mich, denn auf mich kann niemand wütend sein, aber auf andere. Und auf dich selbst.“
„Nennen wir es jetzt so? Die ‚Situation mit Alison‘?“
„Wie würdest du es denn nennen?“
Walküre wusste es nicht. Sie bezweifelte, dass sie eine geeignete Formulierung für den Tod ihrer eigenen Schwester und die anschließende Zerstörung ihrer Seele finden konnte. Sie zuckte die Schultern. „Die Situation mit Alison habe ich im Griff“, murmelte sie und ließ sich wieder gegen ihn sinken. „Aber wie sollen wir Nye jetzt finden? Wir sind im September auf ihn gestoßen, als wir nicht einmal nach ihm gesucht haben – aber jetzt, wo wir den verdammten Typ brauchen, ist er wie vom Erdboden verschwunden.“
„Wir werden Nye finden, weil das nun mal unsere Spezialität ist. Wir finden Dinge. Hinweise. Wahrheiten. Unangemessenen Humor zu unangemessenen Zeiten.“
„Ärger“, sagte sie.
„Genau“, bestätigte Skulduggery. „Wir finden Ärger.“
„Nein“, widersprach Walküre, löste sich aus seiner Umarmung und deutete mit dem Kopf nach vorn. „Ärger.“
Ein Streifenwagen der Stadtwache parkte in der nächsten Straße. Der Motor lief nicht, die Scheinwerfer waren ausgeschaltet. Neben dem Auto befand sich ein kleiner Laden, dessen Tür jemand eingetreten hatte. Aus dem Inneren drangen krachende Geräusche.
Walküre und Skulduggery rannten über die Straße. Skulduggery war als Erster an der Tür, Walküre direkt hinter ihm. Sie machte sich auf einen Kampf gefasst; ein unschöner Teil in ihr hoffte, dass die Cops deutlich in der Unterzahl waren und sie heute Abend richtig loslegen konnte. Sie hatte einige Sorgen abzuarbeiten.
Stattdessen fanden sie drei Beamte der Stadtwache vor, die das Geschäft in der Dunkelheit verwüsteten.
Zwei Männer und eine Frau. Die Frau bemerkte sie und zischte den anderen etwas zu. Sie hielten inne und drehten sich um. Walküre erkannte einen von ihnen: Hauptmeister Yonder. Sie mochte ihn nicht.
„Nun“, sagte Skulduggery, „dafür gibt es hoffentlich einen guten Grund.“
Yonder reagierte zuerst nicht, aber was er schließlich sagte, war nicht sonderlich überzeugend. „Das ist eine offizielle Maßnahme der Stadtwache. Ihr könnt euch hier nicht aufhalten.“
„Wir sind Schlichter“, erklärte Skulduggery und stieg über die Reste eines zertrümmerten Regals. „Wir können uns aufhalten, wo wir wollen.“
Yonder empörte sich. „Eure Zuständigkeit …“
„… ist absolut. Das wollten Sie doch sagen, oder? Sie beide – weisen Sie sich aus.“
Die Frau straffte die Schultern. „Ich bin Wachtmeisterin Lush“, stellte sie sich vor.
„Und ich bin Wachtmeister Rattan“, sagte der dritte Polizist.
„Und was genau geht hier vor?“, fragte Skulduggery.
„Wir erhielten die Meldung von einem Einbruch“, antwortete Yonder. „Wir ermitteln hier.“
Walküre bahnte sich einen Weg durch den Raum. „Haben Sie jemanden gefunden?“
Yonder schaute wütend. „Die Verdächtigen sind geflüchtet, bevor wir eintrafen.“
„Und das Chaos?“
„Das haben wir so vorgefunden, als wir ankamen.“
„Wem gehört der Laden?“, fragte Skulduggery, und die drei richteten ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihn.
„Ich weiß es nicht“, sagte Yonder.
„Glauben Sie, es könnte vielleicht ein Sterblicher sein?“
Yonder zuckte die Schultern.
„Wir haben nämlich Geschichten gehört“, erklärte Walküre, und alle schauten sie an. „Ihr kennt all die nervigen Sterblichen aus der Dimension X?“
„Aus dem Leibniz-Universum“, korrigierte Skulduggery.
Sie ignorierte ihn. „Ihr wisst, dass man ihnen all die leer stehenden Häuser im Westviertel überlassen hat? Das ist doch hier ganz in der Nähe, oder? Sie sind erst seit fünf oder sechs Monaten hier, geben sich aber alle erdenkliche Mühe, sich ein neues Leben aufzubauen, weit weg von Mevolent und all den miesen Zauberern ihrer Heimatdimension. Nun, wir haben gehört, dass auch hier ein paar dieser miesen Zauberer waren und sie diese Sterblichen ausgeraubt haben.“
„Kein Raub“, stellte Skulduggery richtig. „Sondern Erpressung, um genau zu sein.“
Walküre schnippte mit den Fingern. „Stimmt. Erpressung. Ihre kleinen Läden werden ins Visier genommen und bedroht. Sie müssen die miesen Zauberer bezahlen, damit sie sie nicht verwüsten.“
Yonder wirkte nicht besonders mitfühlend. „Das ist wirklich Pech“, meinte er. „Schutzgelderpressung ist der Fluch kleiner Geschäfte. Wurden diese Vergehen der Stadtwache gemeldet?“
„Genau das ist das Problem“, sagte Walküre und ging an Lush vorbei. „Wie es aussieht, sind die miesen Zauberer, die all den Schaden anrichten, Beamte der Stadtwache. Genau wie ihr drei.“
„Das ist eine ernste Anschuldigung“, sagte Lush.
Walküre lächelte sie an. „Ich bin in einer ernsten Stimmung.“
Aus Yonders Funkgerät blaffte eine Stimme. Als sie verstummte, nickte er. „Okay, die Pflicht ruft. Noch einen schönen Abend.“
Er wollte gerade den Laden verlassen, als Skulduggery sich ihm in den Weg stellte.
Yonder kniff die Augen zusammen. „Sie behindern einen Hauptmeister der Stadtwache.“
„Ich stehe einfach nur hier.“
Yonder wollte um ihn herumgehen, doch Skulduggery trat ihm erneut in den Weg.
„Jetzt behindere ich Sie. Übrigens, habe ich Ihnen eigentlich schon gratuliert? Zu Ihrer Beförderung? Herzlichen Glückwunsch. Hauptmeister Yonder, Wachtmeisterin Lush und Wachtmeister Rattan – Sie sind verhaftet. Übergeben Sie uns Ihre Waffen, dann müssen wir Ihnen nicht wehtun.“
Einen Herzschlag lang herrschte Stille, dann lachte Yonder und schaute seine Kollegen an, die ebenfalls lachten – als ob Walküre und Skulduggery die Absicht in ihren Augen nicht erkennen konnten. Yonder griff nach seiner Waffe, Lush nach ihrer, aber Walküre schlug ihr mit der Faust auf die Kehle und drängte sie zurück. Rattan hatte seine Pistole gezogen und auf Skulduggery gerichtet, doch der warf gerade Yonder zu Boden, sodass Rattan nicht richtig zielen konnte. Also schwang er die Waffe herum und nahm Walküre ins Visier. Ihre Hand glühte auf, dann zuckten Energieblitze durch Rattans Brust, schleuderten ihn ruckartig nach hinten und erfüllten die Luft mit Ozon.
Nach Luft schnappend zog Lush ihre Waffe, aber Walküre packte sie mit einer Hand am Handgelenk und schlug ihr mit der anderen ins Gesicht. Dann riss sie ihr die Waffe weg und schleuderte sie ins Dunkel der Nacht. Aber Lush stieß ihren Arm vorwärts, und aus ihrer Handfläche schoss ein Luftwirbel hervor, der Walküre von den Beinen hob.
Sie krachte auf den Boden, rollte sich ab und schaute gerade noch rechtzeitig hoch, um einem Feuerball auszuweichen. Energie knisterte rund um ihren Körper, und die feinen Härchen an ihren Armen richteten sich auf. Als Lush ihr einen weiteren Feuerball entgegenschleuderte, richtete Walküre sich auf, streckte ihre linke Hand aus und benutzte ihre Magie als Schutzschild, an dem die Flammenkugel abprallte und explodierte. Lush stürzte sich auf ihre Pistole, aber Walküre jagte ihr einen Energieblitz in die Seite, der sie zu Fall brachte.
Walküre zog ihre Magie wieder an sich und löschte sie, bevor sie ihre Kleidung versengen konnte. Das wurde langsam zu einem Problem.
Yonder lag auf dem Bauch, die Hände auf dem Rücken gefesselt.
„Das könnt ihr nicht machen!“, tobte er. „Ich bin ein Beamter der Stadtwache!“
„Nicht mehr lange“, teilte Skulduggery ihm mit.
Yonder rollte sich auf die Seite, sodass er ihn zornig anstarren konnte. „Niemand wird euch glauben! Kommandant Hoc weiß, dass ihr es von Anfang an auf mich abgesehen hattet! Er ist auf meiner Seite!“
„Ihm bleibt gar keine Wahl“, erklärte Walküre, als sie zu ihnen trat. „Er wird tun, was die Oberste Magierin Sorrows ihm befiehlt.“
„Du bist so was von selbstgefällig“, knurrte Yonder. „Du hast bei der Obersten Magierin einen Stein im Brett, also stolzierst du überall rum und machst, was du willst. Aber ich will dir was sagen: Das hat bald ein Ende. Verstehst du? Hier wird sich einiges ändern.“
Trotz ihrer Sorgen, trotz ihrer Ängste und trotz allem, was geschehen war und was sie getan hatte, schaute Walküre auf Hauptmeister Yonder herab und stellte fest, dass sie noch immer über dumme Leute lachen konnte.
„OMEN“, sagte Miss Gnosis. Sie hatte die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt und beugte sich vor, die Fingerspitzen gegeneinandergelegt. „Wir müssen über deine Zukunft sprechen.“
Omen Darkly nickte. Das Büro war von der Morgensonne durchflutet, hübsch und sauber und roch nach einem exotischen, aber nicht zu aufdringlichen Gewürz. Überall standen Bücher, und der Schreibtisch quoll über von Papieren. Es hatte den Anschein, als habe Miss Gnosis alle Hände voll zu tun.
„Omen“, sagte sie wieder.
Er schaute auf. „Ja?“
„Deine Zukunft. Wie stellst du sie dir vor?“
„Ich habe eigentlich noch nicht wirklich darüber nachgedacht.“
„Das merke ich“, teilte Miss Gnosis ihm mit ihrem coolen schottischen Akzent mit und schob ihm ein Formular hin. „Weißt du, was das ist?“
„Das ist die FO.“
„Und wofür steht FO?“
„Fächerwahl der Oberstufe.“
„Sehr gut.“ Miss Gnosis lehnte sich zurück. „Wie alt bist du, Omen?“
„Fünfzehn.“
„Dann hast du also noch zwei Schuljahre nach diesem, und danach vielleicht noch zwei Jahre vor dem Aufwallen der Kräfte. Hast du schon irgendeine Idee, auf welche Disziplin du dich spezialisieren möchtest?“
„Na ja, also … Ich meine, ich nehme an, ein Elementemagier zu sein, wäre … Sie wissen schon …“
„Willst du ein Elementemagier werden?“, fragte Miss Gnosis. „Allzu begeistert klingst du nicht gerade.“
„Ja, nein, ich meine: natürlich.“
„Gibt es irgendwas anderes, das du lieber werden möchtest?“
Omen zuckte die Schultern.
„Durchforste mal dein Gehirn, Omen. Gibt es irgendeine Disziplin außer der Elementemagie, die du für den Rest deines Lebens praktizieren möchtest? Denn darüber reden wir hier. Die Disziplin, auf die du beim Aufwallen deiner Kräfte fokussiert bist, ist die Disziplin, an die du von diesem Augenblick an gebunden bist.“ Sie schwieg einen Moment, bevor sie fragte: „Du weißt doch, was beim Aufwallen passiert?“
„Ja, Miss.“
„Sehr gut.“
„Also, es wäre auch cool, ein Teleporter zu sein“, gestand Omen. „Ich komme überall zu spät und vertrage keine langen Autofahrten. Damit wären also schon mal einige meiner Probleme gelöst.“
„Teleportation ist knifflig“, entgegnete Miss Gnosis. „Im Allgemeinen muss man mit dieser Fähigkeit geboren sein, so wie Never.“
„Ja, ich weiß“, sagte Omen, ein wenig niedergeschlagen. „Sehen Sie, Miss, das Problem besteht darin, dass ich bei den meisten Dingen nicht besonders gut bin.“
„Ach, Omen, sei nicht so hart zu dir selbst.“
„Aber es stimmt doch. Ich bin nicht gut im Energiewerfen und …“
„Fachausdrücke bitte.“
„Entschuldigung. Ich bin nicht gut in Ergokinese und deshalb wollte ich Signum-Linguist werden. Aber es fällt mir so schwer, all diese Buchstaben zu verstehen.“
„Was ein Problem ist, wenn es um Sprache geht“, räumte Miss Gnosis ein. „Aber du hast ja noch Zeit, dich zu entscheiden. Ich möchte, dass du eine Liste mit sieben Disziplinen aufstellst – realistischen Disziplinen –, die du in deinen letzten beiden Schuljahren belegen willst. Dann kannst du herausfinden, auf welche Disziplin du dich spezialisieren willst.“
„Und was, wenn ich das nicht schaffe?“
„Dann hast du nach der Schule noch immer zwei oder drei Jahre Zeit, um deine Entscheidung zu treffen. Du setzt dich ganz schön unter Druck damit, aber soll ich dir ein Geheimnis verraten? Niemand hat alle Antworten. Alle entscheiden spontan, denn keiner weiß, was die Zukunft bereithält.“
„Auger weiß es.“
„Die Situation deines Bruders ist etwas anders gelagert.“
„Sensitive wissen, was passieren wird.“
„Nein, das tun sie nicht“, widersprach Miss Gnosis. „Sensitive können eine Zukunft sehen – nicht unbedingt die Zukunft. Aber wie wäre es denn damit? Wie wäre es, wenn du ein Sensitiver wirst?“
Omen verzog das Gesicht. „Wir machen gerade eins von Miss Wickeds Modulen.“
„Und, wie läuft es?“
„Ich soll mit Auger zusammenarbeiten, weil Geschwister eine starke psychische Verbindung haben, Zwillinge sogar eine noch stärkere.“
„Das ist klar.“
„Wir haben diesen Test gemacht. Dabei saßen wir uns gegenüber, und ich musste mir Karten mit einem Muster darauf ansehen. Auger sollte dann diese Muster in meinem Kopf erkennen, was er auch bei allen geschafft hat. Dann haben wir gewechselt.“
„Und wie hast du abgeschnitten?“
„Ich bin vom Stuhl gefallen.“
„Hm.“
„Ich glaube, es hat was mit meinem Gleichgewicht zu tun. Miss Wicked sagt, Hellsehen kann den Gleichgewichtssinn stören, und deshalb … Jedenfalls werden wir heute versuchen, uns nur mithilfe des Geistes zu unterhalten.“
„Vielleicht bist du darin besser.“
„Ich wüsste nicht, wieso.“
Miss Gnosis lächelte. „Komm schon, Omen. Ein bisschen Selbstvertrauen kann nicht schaden, oder?“
„Es ist nur … Wir sind die einzigen Zwillinge in der Klasse, und Auger kommt bei allem hervorragend mit. Ich halte ihn nur auf.“
„Ich glaube nicht, dass er das so sieht.“
Omen grunzte leise.
Miss Gnosis entließ ihn ein paar Minuten früher, und so konnte Omen kurz auf die Toilette gehen, ohne in den plötzlichen Ansturm der Schüler zu geraten. Ihm blieb sogar noch genug Zeit, den längeren Weg zu seiner nächsten Stunde zu nehmen, der sowohl am Nord- als auch am Ostturm vorbeiführte. Nachdem er die Treppe im Hauptgebäude hinuntergelaufen war, ging er nur ein klein wenig schneller als gewöhnlich und kam genau in dem Augenblick vor dem Klassenraum an, als es schellte.
Türen flogen auf, und aus jedem Raum ergoss sich ein nicht versiegender Strom von Teenagern in schwarzen Hosen oder Röcken, weißen Hemden und schwarzen Blazern. Ein paar von Omens Mitschülern der vierten Klasse liefen an ihm vorbei. Ihre Blazer waren mit grünen Paspeln besetzt, genau wie sein Jackett auch. Er nickte ihnen zu. Sie ignorierten ihn. Er zuckte mit den Schultern.
Dann ging er in den Klassenraum und setzte sich auf seinen Platz. Kurz darauf kam Never herein und hockte sich neben ihn; sie sah total erschöpft aus.
„Alles in Ordnung?“, fragte Omen.
„Nein“, antwortete Never und starrte todmüde auf ihr Pult. „Hatten wir Hausaufgaben auf?“
Omen holte seine Bücher heraus. „Ja. Hast du sie nicht gemacht?“
Statt zu antworten, stöhnte Never nur und schaute Omen mit einem Auge an. „Warum grinst du?“
Omen zuckte mit den Schultern. „Es ist nur so ungewöhnlich, dass du diejenige bist, die Probleme hat, während ich klarkomme. Vielleicht ist das ja ein Zeichen, dass ich mein Leben langsam in Ordnung bringe und endlich die Person werde, die ich sein soll.“
„Oder“, sagte Never, „es könnte gar nicht um dich gehen, sondern vielmehr um mich – und darum, wie schwer es ist, gleichzeitig fantastisch in der Schule zu sein und fantastische Abenteuer zu erleben.“
„All diese Abenteuer fordern ihren Tribut, stimmt’s?“
Never ließ die Stirn auf den Tisch sinken, sodass ihre Haare das Gesicht verdeckten. „Ich bin zerschunden und habe überall blaue Flecken. Ich gerate in Kämpfe. Richtige, echte Kämpfe. Ich, eine Pazifistin!“
„Du bist keine Pazifistin.“
„Nein, kann sein, aber ich hasse Schlägereien. Ich hasse den Aspekt des Schmerzes. Und den der Anstrengung. Sich zu prügeln, wäre so viel einfacher, wenn man es übers Telefon machen könnte.“
„Diese verdammten physischen Körper.“
„Ach, nein, so weit würde ich nicht gehen“, erwiderte Never, setzte sich aufrecht und strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Ich bin mit meinem Körper gesegnet. Siehst du diese Wangenknochen? Ich werde sie nie als selbstverständlich betrachten. Aber ich empfinde Schmerzen. Ich meine, man kann nicht von mir erwarten, dass ich deinem Bruder in jede einzelne Schlacht folge. Er ist der Auserwählte. Er hat die Kraft, die Schnelligkeit und das Geschick. Ich habe nur den Knochenbau und die Einstellung.“
„Kase und Mahala sind auch keine Auserwählten“, wandte Omen ein. „Wie schlagen sie sich in diesen Schlachten?“
„Sie machen das schon länger. Sie sind darin besser als ich.“
„Na bitte“, ermunterte Omen sie. „Du musst einfach Geduld haben, und irgendwann wirst du so gut sein wie die beiden.“
Never warf den Kopf in den Nacken und schaute zur Decke. „Vor drei Tagen haben wir gegen diesen Typen gekämpft, ein Kind der Spinne. Hast du schon mal einen von denen gesehen? Sie sind schon in ihrer menschlichen Gestalt ziemlich unheimlich, aber wenn sie sich verwandeln …“
„Du hast tatsächlich gesehen, wie er sich verwandelt hat?“
„Und ob!“, bestätigte Never. „Es war krass. Echt widerwärtig. Ihm wuchsen all diese zusätzlichen Beine, sein Körper verrenkte sich, sein Gesicht wurde zu dem einer Spinne … und dann die Geräusche. Beim Geist des Großen Cäsar, diese Geräusche! Malmen, Reißen, Platzen und wieder Malmen … Und am Schluss war er doppelt so groß wie wir und eine richtige Spinne. Eine Spinne, Omen.“
„Du hast doch nicht etwa Angst vor Spinnen?“
„Ich entwickle durchaus eine leichte Arachnophobie, wenn sie dreimal so groß sind wie ich.“
„Verständlich.“
„Wir haben also gegen diese Riesenspinne gekämpft, und dann wurde mir klar, dass ich vergessen hatte, meine Bio-Hausaufgaben zu machen.“
„Du hast beim Kampf gegen eine Riesenspinne an Biologie gedacht?“
„Na ja“, setzte Never an. „Es fiel mir plötzlich ein – das Modul, in dem wir Spinnentiere durchgenommen haben, und dann das Kapitel über die Kinder der Spinne und dass wir noch immer nicht genau wissen, wie sie zu Spinnen geworden sind.“
„Ja“, sagte Omen, „ich erinnere mich daran.“
„Wirklich?“
Omen zögerte. „Nein.“
„Dachte ich mir. Jedenfalls habe ich Auger wegen der Hausaufgaben gefragt.“
„Während ihr gekämpft habt?“
„Wow, nein. Es dauert wohl noch ziemlich lange, bis ich mich lässig unterhalten kann, während ich gleichzeitig versuche, am Leben zu bleiben. Ich habe einfach nicht die nötige Kondition – ich bin die ganze Zeit außer Atem. Also habe ich gewartet, bis wir fertig waren. Und weißt du, was er gesagt hat?“
„Er hätte die Hausaufgaben gemacht?“
„Ja, schon, aber weißt du, wann er sie gemacht hat?“
„Ich könnte mir vorstellen, in seiner freien Zeit?“
„Würdest du bitte aufhören, meine Geschichten zu verderben, indem du ahnst, was ich sagen will?“
„Entschuldigung.“
Never seufzte und fuhr fort: „In der letzten Nacht, nachdem wir uns wieder in unsere Schlafzimmer geschlichen hatten. Um vier Uhr morgens macht er Hausaufgaben. Genau wie Kase und Mahala.“
„Und … warum hast du das nicht auch getan?“
Never runzelte die Stirn. „Weil ich geschlafen habe.“
„Aber warum hast du nicht …?“
„Weil ich geschlafen habe“, wiederholte Never. „Ich liebe meinen Schlaf, Omen. Er gehört zu den acht Dingen, die ich am besten kann. Man kann nicht von mir erwarten, nur für Hausaufgaben wach zu bleiben. Wir alle haben unsere Grenzen, die Linien im Sand, die wir nicht überschreiten. Und das ist nun mal meine.“
Omen nickte. „Es ist eine große Ehre, manchmal einfach nur mit dir zusammen zu sein.“
MrChou kam herein und schloss die Tür hinter sich.
„Kann ich von dir abschreiben?“, flüsterte Never.
„Äh, tut mir leid“, flüsterte Omen zurück, „aber ich habe die Hausaufgaben auch nicht gemacht.“
„Warum nicht, zum Teufel?“
Omen zuckte mit den Schultern. „Ich habe an andere Dinge gedacht.“
Never starrte ihn wütend an.
„Also gut“, sagte MrChou, „lasst uns mit den Hausaufgaben anfangen. Wer kann mir die erste Frage beantworten? Never?“
Never ließ den Kopf hängen.
RAZZIA STAND über das Waschbecken in der Damentoilette gebeugt und schminkte sich, denn dies war praktisch der einzige Raum im gesamten Coldheart-Gefängnis, wo das Licht gut genug war. Bei ihr war Abyssinia, und die beiden verbrachten einfach Zeit zusammen, ohne groß zu reden – zwei Mädels, die abhingen, die Stille genossen und sich ihren Gedanken überließen. Dann sagte Abyssinia: „Ich weiß nicht, ob ich es tun kann.“
Razzia hörte auf, sich die Wimpern zu tuschen, und runzelte fragend die Stirn. Hatte Abyssinia etwa die ganze Zeit geredet? War dies wieder eine dieser Unterhaltungen, die sie bereits nach der Hälfte wieder vergessen hatte?
Grundgütiger, wie ihr lieber alter Dad immer zu sagen pflegte. Ihr lieber alter Dad sagte allerdings ziemlich viel. Ihr lieber alter Dad konnte einem Känguru ein Ohr abkauen.
Sagten die Leute das so in Australien? Grundgütiger? Sie konnte sich nicht erinnern. Ihre Vergangenheit war manchmal so nebulös; sie war sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt einen lieben alten Dad hatte, zumindest einen, den sie gekannt hatte. Sie hatte ein vages Bild von einem gemeinen alten Kerl, der schnell mit den Fäusten war. Aber dieses Bild gefiel ihr nicht und wurde durch das von Alf Stewart ersetzt, dem verschrobenen, aber liebenswerten alten Typen aus Home and Away, der tollsten TV-Serie, die je gedreht worden war. Jawohl, Alf war eindeutig ein viel besserer Dad. Vielleicht. Sie hatte die Serie seit Jahren nicht gesehen. Wurde sie überhaupt noch produziert?
Verdammter Mist. Abyssinia redete noch immer. Inzwischen hatte Razzia komplett den Überblick darüber verloren, was los war. Sie wusste nur, dass sie mit der Wimperntusche noch nicht ganz fertig war, also machte sie damit weiter.
Wie sie Abyssinia kannte, redete sie wahrscheinlich von ihrem lange verlorenen, aber vor Kurzem wiedergefundenen Sohn Caisson. Sie sprach immer von ihm. Razzia verstand das. Schließlich gehörte Caisson zur Familie. Und es gab nun mal nichts Wichtigeres als die Familie.
Außerdem es war schön, Abyssinia so glücklich zu sehen. So glücklich wie in jenen ersten Wochen – als Caisson kaum etwas anderes schaffte, als schlechte Träume zu haben, weil er ständig unter Beruhigungsmitteln stand – hatte sie Abyssinia überhaupt noch nie erlebt. Sie war so stolz auf ihren Sohn, dass er es durchgestanden und all diese Schmerzen überlebt hatte.
Auch sie selbst wirkte wie ausgewechselt, seit sie ihren Sohn wieder bei sich hatte. Plötzlich war ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Plan konzentriert, denn der Plan sicherte Caissons Erbschaft. Die Konzentration hatte zwischendurch ein wenig nachgelassen, aber jetzt war alles wieder auf Kurs. In weniger als zwei Wochen würde die Sache losgehen.
Razzia konnte es kaum erwarten: Sie hatte seit Ewigkeiten niemanden mehr getötet.
Es gab nur ein Problem: Seit Caisson wieder auf den Beinen war, hatten alle anderen ziemlich schnell erkannt, was für ein schräger Vogel er war.
Es fiel Razzia nicht leicht, sich das einzugestehen. Sie hatte sich selbst immer als den schrägen Vogel in Abyssinias kleiner Gruppe von Sonderlingen betrachtet und diesen Titel jetzt an einen Neuen abzutreten – selbst wenn es der lange verlorene Sohn der Chefin war –, fühlte sich einfach nicht richtig an.
Aber es bestand kein Zweifel: Caisson war ein echter Spinner.
Sie konnte es ihm natürlich nicht verdenken. Er war neunzig Jahre lang so gut wie ununterbrochen gefoltert worden. Da würde jeder auf einen imaginären Flieger aufspringen und sich eine Auszeit von der Realität nehmen. Seine Haut war vollkommen vernarbt, sein silbernes Haar – das dem seiner Mutter so ähnlich sah – wuchs nur noch in vereinzelten Büscheln auf seinem ramponierten Schädel, und seine Augen schienen immer auf etwas gerichtet zu sein, was sich weder direkt vor ihm noch irgendwo in der Ferne befand.
Aber eines stand fest: Er hätte noch sehr viel schlimmer dran sein können. Glaubte man Caisson, lag das alles an seiner Kerkermeisterin Serafina. Denn sie wusste: Wenn er sich tief in seinen Geist zurückzog, dann war es ziemlich sinnlos, seinen Körper zu foltern. Also erhielt Caisson alle paar Wochen die Chance, sich zu erholen und wieder zu Kräften zu kommen … und dann ging alles wieder von vorn los.
Das Ganze war so herrlich sadistisch. Razzia hoffte, Serafina eines Tages zu begegnen. Sie war mit diesem Mevolent verheiratet gewesen, einem jahrhundertealten Typen, der für den ganzen Ärger mit dem Krieg verantwortlich war. Von so jemandem konnte sie bestimmt noch das eine oder andere lernen, dachte Razzia.
Abyssinia seufzte. „Was meinst du?“
Razzia blinzelte sie im Spiegel an. Abyssinia befragte sie bestimmt nicht zu ihren Haaren, denn die waren so wie immer – lang und silbern. Vielleicht der rote Body? Abyssinias kürzlich nachgewachsener Körper war noch immer recht neu, und der Body tat einiges dafür, ihn in Form zu halten. Aber sie hatte monatelang verschiedene Versionen davon getragen, und Razzia glaubte nicht, dass sie ausgerechnet jetzt danach fragte, wie sie aussah.
Bestimmt ging es wieder um Caisson.
„Na ja, Abyssinia“, antwortete Razzia, „die eigentliche Frage ist doch: Was meinst du?“
Abyssinia atmete aus. „Ich meine, wir ziehen das jetzt durch.“
„Genau“, sagte Razzia. „Ich auch.“
„Darauf haben wir hingearbeitet, und ich werde es nicht zulassen, dass wir unsere Ziele wegen neuer Entwicklungen aus den Augen verlieren. Seit Jahren verspreche ich dir eine neue Welt, und ich werde dich nicht im Stich lassen – schon gar nicht, wenn das Ende endlich in Sicht ist.“
„Gut zu hören.“
„Aber ich weiß einfach nicht, wie wir mit der Darkly-Geschichte verfahren sollen.“
Razzia tat ihr Bestes, eine besorgte Miene zu ziehen. Dazu schürzte sie die Lippen und schaute mit zusammengezogenen Augenbrauen zu Boden. Sie begriff nicht, worin das Problem bestand. Die Darkly-Prophezeiung sagte eine Schlacht zwischen dem König der Nachtländer und dem Auserwählten Auger Darkly voraus, wenn der Junge das siebzehnte Lebensjahr erreichte. Bis dahin dauerte es noch ungefähr zwei Jahre. Also blieb reichlich Zeit, den Knaben zu töten, bevor er Caisson töten konnte. Für Razzia war die Sache ziemlich klar.
Aber wie die meisten Leute neigte Abyssinia dazu, zu viel zu grübeln.
„Prophezeiungen sind vertrackt“, meinte Razzia und trug ein wenig dunkelroten Lippenstift auf. „Wenn eine Prophezeiung voraussagt, was in der Zukunft passiert, falls sich ab einem bestimmten Punkt nichts ändert, dann musst du nur etwas tun, was du sonst nicht getan hättest, um diese Prophezeiung zu verhindern. Bamm. Andererseits: Wie kannst du sicher sein, dass das, was du nicht tust, letztlich genau dazu führt, dass sich die Prophezeiung erfüllt? Echt, das ist eine komplizierte Angelegenheit, aber wie die meisten komplizierten Angelegenheiten ist sie auch täuschend simpel.“
„Ich glaube, das stimmt nicht so ganz“, meinte Abyssinia skeptisch.
„Aber was weiß ich denn schon.“ Razzia zuckte mit den Schultern. Dann verschmierte sie mit dem Handrücken den gerade aufgetragenen Lippenstift bis hinunter zum Kinn. Perfekt. „Ich bin schließlich plemplem.“
WALKÜRE SCHLOSS die Tür zum Haus ihrer Eltern auf und ging direkt in die Küche, wo sie ihre Mutter lesend am Tisch vorfand.
„Gute Güte!“, rief Melissa Edgley und fuhr hoch.
Walküre lachte. „Tut mir leid. Ich dachte, du hättest mich gehört.“
Melissa stand auf und umarmte sie. „Du bewegst dich vollkommen lautlos. Das muss wohl an dem ganzen Ninja-Training liegen.“
„Ich mache kein Ninja-Training.“
„Entschuldige“, sagte ihre Mutter. „An dem geheimen Ninja-Training.“
Walküre grinste und schaute auf das Heft, das auf dem Tisch lag. „Was liest du denn da so Faszinierendes?“
„Das ist das Tagebuch deines Urgroßvaters. Eines von mehreren. Dein Vater hat sie auf dem Dachboden gefunden, versteckt unter irgendwelchem Krempel.“
„Ah, Tagebücher“, sagte Walküre. „Die Selfies vergangener Zeiten. Wie sind sie denn so?“
„Sie sind wirklich schön. Schön geschrieben, in einer schönen Handschrift.“
„Dann stammt Gordons Talent also daher.“
„Na ja – der Apfel ist nicht weit vom Stamm gefallen.“ Melissa zögerte und schaute dann auf. „Dein Dad ist nebenan. Er ist, äh … er hat nicht gerade die beste Laune.“
„Was ist los?“
Melissa wedelte mit dem Tagebuch. „Er hat ein paar von den Heften durchgeblättert. Dein Urgroßvater hat fest an die Legende geglaubt, dass die Edgleys von den Urvätern abstammen.“
„Von den Letzten der Urväter“, stellte Walküre richtig. „Aber warum ist er deswegen schlecht gelaunt? Er weiß doch jetzt, dass das alles stimmt.“
„Genau das ist ja das Problem.“
Walküre brauchte einen Moment, um zu kapieren. „Ah“, sagte sie schließlich. „Vielleicht sollte ich mal mit ihm reden.“
„Das könnte helfen.“
Walküre ging ins Wohnzimmer, wo Desmond in seinem angestammten Sessel saß. Im Fernsehen lief ein Kricket-Spiel.
„Hallo, Vater“, begrüßte sie ihn.
„Hallo, Tochter“, antwortete er, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden.
Sie setzte sich auf die Couch. „Gefällt dir, wie?“
„Ja, eigentlich schon.“
„Wer spielt denn?“
Desmond deutete mit dem Kopf auf den Fernseher. „Die da.“
„Gutes Spiel?“
„Kann sein.“
„Wer gewinnt?“
„Weiß nicht.“
„Wie sind die Regeln?“
„Keine Ahnung.“
„Ich wusste gar nicht, dass du Kricket magst.“
Er setzte sich in seinem Sessel auf. „Ist das Kricket?“
Sie lehnte sich zurück. „Mom hat mir von den Tagebüchern erzählt.“
Desmond stellte den Ton des Fernsehers ab. „Mein Großvater kannte die besten Geschichten“, setzte er an. „Wir drei haben uns immer um seinen Lehnstuhl herum gehockt, und er … wie soll ich sagen, er hat uns einfach unterhalten. Er unterhielt uns mit Familienlegenden über magische Männer und Frauen, die all diese verrückten Dinge taten, denn schließlich stammten wir von den Letzten der Urväter ab. Aber mein Vater, na ja … er war mit diesen Geschichten aufgewachsen und konnte sie nicht mehr hören. Ich glaube, er litt unter etwas, das man ‚mangelnde Vorstellungskraft‘ nennt. Und er machte sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit über den alten Mann lustig. In unserer Gegenwart. Das hat mir nicht gefallen.“
„Das glaube ich“, sagte Walküre.
„Und Fergus hat genau das Gleiche getan und Großvater und seinen Geschichten den Rücken zugekehrt. Er war auf die Anerkennung unseres Vaters immer viel stärker angewiesen als Gordon und ich. Indem er sich auf seine Seite stellte und das alles als Unsinn und Märchen abtat, versuchte Fergus, eine Bindung zu Vater herzustellen, die er insgeheim vermisste. Ich frage mich, wie er heute reagieren würde, wenn wir ihm die Wahrheit sagten. Aber ich glaube, das könnte ich ihm nicht antun.“
Walküre sagte dazu nichts. Es stand ihr nicht zu.
„Ich habe die Geschichten geliebt“, fuhr Desmond fort. „Sie bedeuteten mir etwas. Sie bedeuteten, dass es mehr im Leben gab als das, was ich um mich herum sehen konnte. Dass ich mehr sein konnte als das, was ich war. Wegen meines Großvaters war ich nicht so beschränkt wie meine Freunde. Die Geschichten zeigten mir, dass ich eine Bestimmung hatte – wenn ich sie annehmen wollte.“
„Dann hast du an ihn geglaubt“, folgerte Walküre.
„Ja“, bestätigte Desmond. „Ein paar Jahre lang. Als ich ein Kind war. Aber ich muss ungefähr zehn gewesen sein, als mein Dad sich mit mir hingesetzt hat und mir verkündete, es gäbe gar keine Zauberer und Monster. Tja, da hat er sich gründlich geirrt, was?“, meinte Desmond und lächelte. „Gordon war der Schwierige. Schon immer. Sogar sein Name ärgerte Dad. Fergus und ich hatten gute, starke irische Namen – aber Gordon … ha. Meine Mutter bestand darauf, ihn nach dem Arzt zu nennen, der ihn auf die Welt geholt hatte. Es war ihre erste Schwangerschaft, und es war zu Komplikationen gekommen. Aber dieser Doktor bewirkte ein Wunder, und so erblickte der zukünftige Bestsellerautor das Licht der Welt und beglückte uns mit jedem Moment, den er auf dieser Erde weilte. Unser Großvater gab all diese Geschichten, all diese Wunder an Gordon weiter, und der sog sie förmlich in sich auf. Er glaubte daran, genau wie ich. Und im Gegensatz zu mir hat er nie zugelassen, dass unser Vater auf diesem Glauben herumtrampelte. Das war eine Stärke, die ich nicht besaß, nehme ich an.“ Desmond rutschte unruhig in seinem Sessel hin und her. „All diese Geschichten stehen in den Tagebüchern. Du solltest sie lesen.“
„Mach ich“, versicherte Walküre.
Desmond atmete zittrig ein und dann langsam wieder aus, bevor er sie ansah. „Ich bin froh, dass wir über die Magie Bescheid wissen“, fuhr er fort. „Es ist schrecklich zu wissen, dass du da draußen dein Leben aufs Spiel setzt, und es macht die Welt noch beängstigender, als sie ohnehin schon ist – aber ich bin trotzdem froh darüber. Ich wünschte, ich hätte nicht aufgehört zu glauben, als ich jünger war, wirklich. Zum Glück hat Gordon zu ihm gehalten. Unser Großvater brauchte einfach jemanden, der an ihn glaubte.“
Walküre wusste nicht, was sie sagen sollte, also stand sie auf und umarmte ihren Dad. Er drückte sie an sich, schüttelte seine schlechte Laune ab und schaltete den Fernseher aus.
„Kricket ist ein bescheuertes Spiel“, meinte er, „und das alles ergibt überhaupt keinen Sinn. Wo ist deine Mom?“
„In der Küche“, antwortete Walküre und folgte ihm aus dem Wohnzimmer.
„Hast du jetzt bessere Laune?“, erkundigte sich Melissa, als die beiden in die Küche kamen.
„Ja“, sagte Desmond und küsste sie auf die Stirn. „Tut mir leid, wenn ich dich vorhin angefahren habe.“
Sie schaute überrascht auf. „Du hast mich angefahren?“
„Habe ich nicht?“
„Wann?“
„Vorhin.“
„Ich kann mich nicht erinnern.“
„Okay, vielleicht habe ich dich nicht direkt angefahren, aber ich war barsch, und dafür möchte ich mich aufrichtig …“
„Wann warst du barsch?“
Er runzelte die Stirn. „Vorhin“, wiederholte er. „Als wir geredet haben. Über die Tagebücher. Ich war barsch, als wir über die Tagebücher geredet haben. Ist dir das nicht aufgefallen?“
„Mir ist aufgefallen, dass du ein wenig missmutig warst.“
Er schaute gekränkt. „Das war nicht mein missmutiges Ich. Das war mein barsches Ich, meine innere Düsterkeit, die durchgeschimmert ist. Hat dich der Anblick des Monsters, das unter der Oberfläche lauert, nicht erschreckt?“
„Nein, nicht wirklich.“
„Ach.“
„Sorry, mein Lieber – du bist einfach zu knuddelig, um erschreckend zu sein.“
„Ich bin erschreckend knuddelig“, räumte er ein. „Aber ich bin sicher, dass auch ich düster gewesen bin, irgendwann einmal.“
„Du warst ziemlich düster an jenem Tag, als du diesen Typ durch das Fenster geworfen hast“, fand Walküre.
„Das meinte ich“, sagte Desmond und schnippte mit den Fingern. „Ich wusste doch, dass ich etwas Cooles getan habe.“
„Mein cooler Dad“, sagte Walküre wehmütig. „Dann wirst du die Tagebücher also lesen?“
„Ja. Das bin ich meinem Großvater schuldig. Vielleicht bekomme ich dadurch auch einen Einblick in das, was du so treibst, wenn du jeden Tag die Welt rettest.“
„Ich rette die Welt nicht jeden Tag“, stellte Walküre klar. „Ich nehme mir auch mal frei. Gehe spazieren. Oder ins Studio zum Trainieren.“
„Moment mal“, mischte ihre Mom sich ein. „Und wann ist in diesem Programm vorgesehen, dass du Spaß hast?“
„Ich habe jede Menge Spaß.“
„Hast du Freunde? Gehst du ins Kino? Triffst du dich auf eine Pizza? Was ist mit Jungs?“
Walküre machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber es kam nichts heraus.
Ihr Dad kniff die Augen zusammen. „Du zögerst. Warum zögerst du? Weil wir nicht begeistert sein werden, stimmt’s? Was ist er? Ein Werwolf? Oder eine Mumie?“
„Dad …“
„Ist er ein Kannibale?“
„Gott, nein. Warum sollte ich mit einem Kannibalen ausgehen?“
„Liebe macht blind, Stephanie. Wenn du jemanden liebst, dann übersiehst du Charakterfehler, wie Kannibalismus oder zu gutes Aussehen. Deine Mutter hat einen dieser Fehler. Du darfst selbst herausfinden, um welchen es sich dabei handelt.“
„Was für ein Charmeur“, meinte Melissa.
„Ich gehe nicht mit Kannibalen aus.“
„Gehst du überhaupt mit jemandem aus?“, hakte ihre Mom nach.
Walküre nickte.
„Und? Wann lernen wir ihn kennen?“
Es lag ihr auf der Zunge. Es ist kein Er. So einfach. Ein Satz, der so leicht auszusprechen war. Sie brauchte nur den Mund zu öffnen und ihn über die Lippen zu bringen.
Aber sie wartete zu lange, und jetzt stupste Dad ihre Mutter an. „Das ist deine Schuld“, sagte er. „Sie will ihn nicht mit nach Hause bringen, weil sie Angst hat, du könntest sie blamieren. Das ist immer ein Problem, wenn man einen richtig coolen und einen lahmen Elternteil hat.“
Melissa schüttelte den Kopf. „Du warst mir lieber, als du missmutig warst.“
„Ich war nicht missmutig, ich war düster.“
„Ich geh kurz nach oben, um Alison Hallo zu sagen“, verkündete Walküre und machte auf dem Absatz kehrt.
„Wir sind noch nicht durch mit dem Thema ‚fester Freund‘!“, rief ihre Mom ihr nach.
Walküre trat den Rückzug an, wich der Möglichkeit aus, ihre Eltern zu enttäuschen. Auch wenn sie wusste, dass sie Verständnis haben würden. Schließlich waren sie liberale und aufgeschlossene Menschen. Sie hatten die Wahrheit über Magie verkraftet, ohne übermäßig auszuflippen – also war sie sich ziemlich sicher, dass sie auch mit der Freundin-Situation kein Problem haben würden.
Trotzdem ballte sich ihr Magen zusammen, als sie die Treppe hinaufstieg.
DIE TÜR zum Zimmer ihrer Schwester stand offen. Alison saß in einer Ecke und schaute in den Hamsterkäfig.
„Hey, du“, begrüßte Walküre sie.
„Stephanie!“, rief Alison, sprang auf und stürmte auf sie zu.
Walküre lachte, fing sie auf und drückte sie an sich. „Hey, Süße.“
„Bleibst du zum Abendessen?“, fragte Alison, das Gesicht an Walküres Hüfte gedrückt.
„Ich kann nicht“, antwortete Walküre und hielt sie von sich. „Ich muss zur Arbeit.“
„Mit Skulduggery?“
„Ja. Aber ich konnte nicht einfach hier vorbeischauen, ohne der besten kleinen Schwester der Welt Hallo zu sagen.“
„Willst du sehen, wie ich tanze?“
„Das würde ich liebend gern, aber ich habe wirklich keine Zeit. Hast du noch mehr Schritte gelernt?“
„Ja, ein paar. Willst du sie sehen?“
„Morgen oder übermorgen. Und, hast du schlecht geträumt?“
Alison lachte. „Das fragst du mich jedes Mal!“
„Ich weiß. Es interessiert mich eben.“
„Ich träume nie schlecht.“
„Nicht einmal von dem schrecklichen Mann?“
„Iiihh“, machte Alison und verzog das Gesicht. „Nein. An den denke ich gar nicht. Er hat schlecht gerochen. Ich habe Mom und Dad noch immer nichts von ihm erzählt. Das bleibt unser kleines Geheimnis.“
Walküre zwang sich zu einem Lächeln. „Danke“, sagte sie und spürte, wie die Schuld auf ihr lastete. Rasch ging sie hinüber zum Hamsterkäfig, um das Thema zu wechseln. „Wie geht es SpongeBob?“
Alison lachte. „So heißt er nicht.“
„Nein? Bist du sicher?“
„Er heißt Starlight.“
„Starlight, der Hamster … ja, ich glaube, jetzt erinnere ich mich. Wo ist er? Versteckt er sich?“
„Da ist er“, antwortete Alison und zeigte auf ein Fellknäuel in der Ecke des Käfigs.
„Hallo, du“, sagte Walküre und hockte sich hin. Sie steckte einen Finger durch die Gitterstäbe und streichelte den kleinen Starlight. Er war kalt.
„Er ist tot“, erklärte Alison.
Walküre zog rasch ihren Finger zurück. „Oje.“
„Er ist irgendwann in der Nacht gestorben“, fuhr Alison fort. „Gestern Abend habe ich ihn noch gefüttert – also, Dad hat ihn gefüttert –, und ich habe seinen Käfig sauber gemacht und neues Heu und eine Zeitung reingelegt, weil er gern in Zeitungspapier rumwühlt und es manchmal zerreißt. Und dann ist er gestorben, glaube ich.“
Walküre setzte sich auf den Boden, den Rücken an die Wand gelehnt. „Und wann hast du gemerkt, dass er tot ist?“
„Vor ein paar Minuten. So vor zehn oder fünf. Ich kann dir zeigen, wie ich tanze, wenn du willst.“
„Einen Augenblick noch, Süße. Wie fühlst du dich?“
Alison zuckte mit den Schultern. „Gut.“
„Hast du Starlight lieb gehabt?“
Alison nickte.
„Hast du ihn sehr lieb gehabt?“
„Unheimlich lieb“, versicherte Alison. „Ich hab oft die Tür zu meinem Zimmer zugemacht und ihn aus dem Käfig geholt, damit er rumlaufen konnte. Dann ist er zu mir gekommen und auf meinen Schoß geklettert, und ich hab ihn gestreichelt. Okay, ich hab ihn nicht so lieb gehabt wie Mom und Dad und dich, aber ich hab ihn trotzdem lieb gehabt.“
„Wirst du ihn vermissen?“
„Äh, ja.“
„Bist du traurig?“
„Ja“. Erneut nickte Alison.
Walküre streckte die Hände aus, und als Alison sie nahm, zog sie ihre kleine Schwester sanft zu sich hinunter. „Komm mal her“, bat sie. „Setz dich.“ Als Alison sich hingesetzt hatte, schaute Walküre sie mit einem sanften Lächeln an. „Wenn du sagst, dass du traurig bist, bist du dann wirklich traurig? Oder sagst du das nur, weil ich erwarte, dass du es sagst?“
Alison antwortete nicht.
„Es ist schon in Ordnung“, flüsterte Walküre. „Du steckst nicht in Schwierigkeiten. Es interessiert mich nur.“
„Hmm“, sagte Alison, „eigentlich bin ich nicht traurig.“
Walküre nickte und nickte, während sie darauf wartete, dass sich die Panik in ihrer Brust legte. „Okay, danke, dass du es mir gesagt hast. Wirst du ihn vermissen?“
„Ja“, antwortete Alison mit absoluter Gewissheit. „Ich werde ihn wahnsinnig vermissen.“
„Und weißt du, was ‚ihn vermissen‘ bedeutet? Hast du schon mal jemanden vermisst?“
Ein scheues Lächeln zeigte sich auf Alisons Gesicht. „Nicht wirklich“, gab sie zu.
„Jemanden vermissen bedeutet, dass du traurig bist, weil die Person nicht mehr da ist. Glaubst du, du wirst traurig, weil Starlight jetzt nicht mehr da ist und du ihn nicht mehr streicheln und knuddeln kannst?“
Alison streckte die Zungenspitze aus dem Mundwinkel. „Hmm … vielleicht.“
Walküre aktivierte ihr Aura-Sehen, sodass ihre Schwester nur noch ein dunkler Umriss war, der schwach in einem blassen, fast nicht wahrnehmbaren Orange pulsierte. Es war so gestreut und diffus, dass es kaum sichtbar schien.
Rasch deaktivierte sie das Aura-Sehen wieder, bevor ihr vor lauter Schuldgefühlen schlecht wurde. Dann zog sie Alison an sich und umarmte sie fest. „Du weißt doch, was Liebe ist, nicht wahr?“
„Klar“, sagte Alison.
„Und, liebst du mich?“
„Von ganzem Herzen.“
„Und ich liebe dich auch, von ganzem Herzen.“
Die beiden saßen da und hielten sich in den Armen.
„Ist es okay, wenn ich nicht traurig bin?“, fragte Alison vorsichtig.
Walküre gab ihr einen Kuss auf den Scheitel. „Ich werde mich darum kümmern. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich werde jemand finden, der dir helfen kann, und ich werde alles wieder in Ordnung bringen.“
Alison nickte, erwiderte aber nichts. Walküre drückte sie noch fester an sich und kämpfte mit den Tränen.
„SCHÖN HIER, oder?“, meinte Axelia Lukt.
Omen schaute auf. Er hatte davon geträumt, in irgendetwas richtig gut zu sein – so cool wie Skulduggery, so tough wie Walküre oder so fähig wie Auger. Ihm war noch nicht einmal aufgefallen, dass sich die Straßenbahn leerte, je näher sie sich den Humdrums näherten. Inzwischen saßen nur noch Axelia und er im Abteil.
Er schaute aus dem Fenster. „Ich schätze schon“, sagte er, obwohl dieser Stadtteil von Roarhaven für ihn eigentlich genauso aussah wie die meisten anderen auch – abgesehen von der Tatsache, dass er direkt neben der riesigen Mauer lag, welche die Stadt umgab. Redete Axelia darüber? Mochte sie Mauern?
„Die Mauer ist schön“, bot er an.
„Die Mauer ist hässlich“, widersprach Axelia sofort. „Sie ist schrecklich und grau und schrecklich.“
„Das hab ich gemeint.“
„Sie verdeckt morgens die Sonne, und zwar für diesen ganzen Stadtteil.“
„Sie ist echt scheußlich“, pflichtete Omen ihr bei.
„Aber der Rest ist so schön, findest du nicht auch? So ruhig.“
Omen nickte, war sich aber nicht ganz sicher, ob das zutraf. Hier in den Humdrums lebten die Sterblichen, genauer gesagt die über 18.000Flüchtlinge, die aus dem Leibniz-Universum durch das Portal gekommen waren, um ihrem ureigenen Mevolent zu entkommen. Dieser Mevolent lebte noch und terrorisierte alle, die dort drüben zurückgeblieben waren. Roarhaven hatte die Flüchtlinge hauptsächlich deshalb aufgenommen, weil sie nirgendwo anders hinkonnten, und das Oberste Sanktuarium hatte die Verantwortung dafür übernommen, aus ihnen produktive Mitglieder der Gesellschaft zu machen.
Axelia war in einer magischen Gemeinde in Island aufgewachsen, wo sie nur selten mit Sterblichen in Kontakt gekommen war. Omen hatte allmählich den Verdacht, dass sie Sterbliche – und vor allem diese hier – für seltsame, irgendwie primitive Wesen hielt. Es war ein klein wenig herablassend, dachte er, und vermutlich auch ein klein wenig rassistisch.
Die Straßenbahn hielt an, und sie stiegen aus. In den Humdrums war es definitiv ruhiger als in anderen Teilen der Stadt. Hier besaß niemand ein Auto, weil bis jetzt noch niemand fahren konnte. In ihrer eigenen Dimension waren diese Sterblichen die Sklaven der herrschenden Magierklasse gewesen. Sie hatten in Hütten gelebt und keinen Zugang zu moderner Technik gehabt.
Hier waren sie frei. Sie arbeiteten und wurden dafür bezahlt. Sie hatten die Vorzüge des Fernsehens und des Internets kennengelernt und konnten durch die Straßen gehen, ohne von Zauberern belästigt zu werden.
„Hallo“, grüßte Omen einen vorbeigehenden Sterblichen. „Möchtest du eine Broschüre?“
Der Sterbliche wich zurück, nahm aber eine Broschüre und hastete weiter.
Die Tasche, die Omen über der Schulter trug, war schwer vom Gewicht dieser Broschüren. In dieser Woche verteilten sie Infomaterial über die Erste Bank von Roarhaven, China Sorrows’ ganzer Stolz. Sogar Sterbliche konnten ihr Geld dort anlegen, so stand es in den Broschüren – es war vollkommen sicher und wirklich wunderbar. Omen bezweifelte allerdings, dass es funktionierte. Die Sterblichen neigten eher dazu, ihr Geld unter der Matratze zu verstecken, als es irgendeiner riesigen Institution anzuvertrauen, deren Regeln sie nicht kannten.