So beruhige ich mein Baby - Christine Rankl - E-Book

So beruhige ich mein Baby E-Book

Christine Rankl

4,8

Beschreibung

Haben Sie gerade Ihr schreiendes Baby mehr oder minder erfolglos herumgetragen, um es zu beruhigen? Dieses Buch klärt auf und hilft, Schreiprobleme zu bewältigen. Denn wenn Babys viel schreien, liegen bei allen Anwesenden die Nerven blank. Doch vor allem Eltern zweifeln an sich selbst, wenn sie ihr Kind trotz liebevoller Bemühungen nicht beruhigen können. Die Psychotherapeutin Christine Rankl erklärt, wie Schreiprobleme entstehen, und gibt Tipps, die wirklich helfen.

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Cover

Haupttitel

Inhalt

Anhang

Über die Autorin

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Christine Rankl

So beruhige ich mein Baby

Tipps aus der Schreiambulanz

Patmos Verlag

INHALT

Einleitung oder: Wie viel Schreien ist normal?

Teil I Wie Schreiprobleme entstehen

1.Schreien – ein Schlaf- und Regulationsproblem

Babys misslungener Versuch, sich selbst zu beruhigen

Elterliche Beruhigungsversuche und die Frage des richtigen Zeitpunkts

2.Schreien – ein Kommunikationsproblem

Typische Signale der »Babysprache«

Das große Missverständnis zwischen Eltern und Baby

Teil II Schreiprobleme bewältigen

1.Ruhe und Körperkontakt – das Neugeborenenalter (0–3 Monate)

Aus »Schreifallen« herauskommen

Tipps zum Still-/Fütterrhythmus

Tipps zum Schlafrhythmus

Tipps zur Tagesgestaltung

2.Zuwendung zum richtigen Zeitpunkt – das Säuglingsalter im zweiten Trimenon (4–6 Monate)

Tipps bei Fütterproblemen

Tipps zum Aufbau längerer Schlafphasen

Tipps zur Förderung der Selbstregulation

3.Respekt vor Babys Grenzen – das Säuglingsalter im dritten Trimenon (7–9 Monate)

Tipps bei Fütterproblemen

Tipps zum Durchschlafen

Tipps zur Förderung des eigenständigen Spiels

4.Verständnis für den Autonomie- und Abhängigkeitskonflikt – das Säuglingsalter im vierten Trimenon (10–12 Monate)

Tipps bei Fütterproblemen

Tipps zum Ein- und Durchschlafen

Tipps zur Förderung des Sich-trennen-Könnens

Teil III Die Bedeutung der Eltern-Kind-Beziehung

1.Die Bedürfnisse und das Temperament des Kindes

2.Die Vorstellungen und Wünsche der Eltern

3.Das Geheimnis der ausgeglichenen Kinder

Schluss

Anhang

Tagesablaufprotokoll

Anmerkungen

Literaturtipps

Literaturverzeichnis

Beratungs- und Therapieangebote für Säuglinge und Kleinkinder

Einleitung oder: Wie viel Schreien ist normal?

Haben Sie gerade Ihr schreiendes Baby mehr oder minder erfolglos herumgetragen, um es zu beruhigen? Dann wird die Antwort, wie viele Minuten oder Stunden Babygeschrei normal sind, Sie nicht wirklich erleichtern – denn jede Minute, die man einen scheinbar unberuhigbaren, schreienden Säugling zu beruhigen versucht, ist für Eltern der pure Stress. Grundsätzlich weinen alle Babys, aber die meisten nicht mehr als etwa dreißig Minuten, die über 24 Stunden verteilt, und meist gut als Hunger- oder Müdigkeitsweinen einzuordnen sind.

Rein objektiv betrachtet ist ein Baby erst dann ein Schreikind, wenn es gemäß der »Dreierregel«, die im deutschen Sprachraum von der renommierten Kinderärztin Mechthilde Papousek eingeführt wurde, an drei Tagen der Woche mehr als drei Stunden am Tag weint (nicht im Block, sondern über 24 Stunden verteilt). Gemeint ist, dass alles, was unter dieses tägliche Schreipensum fällt, noch im Rahmen der Norm ist; das heißt, es wird in unserer Kultur als normal angesehen, dass Babys auch einmal länger weinen.

Für die einzelnen Eltern und Babys ist dies jedoch eine schier unerträglich lange Zeit, zumal sich dieser Zustand meist über viele Wochen bis zum dritten Lebensmonat des Kindes, in Einzelfällen sogar länger, hinziehen kann. Wie stark die Belastung für beide Seiten ist, zeigt sich auf elterlicher Seite in erhöhtem Blutdruck, erhöhter Herzfrequenz und erhöhter Cortisonausschüttung. Wir Erwachsenen sind in einer hoch alarmierten Stimmung, wenn wir ein Baby schreien hören. Ganz abgesehen davon übertrifft die Lautstärke eines schreienden Säuglings mit achtzig Dezibel locker den Lärm eines Staubsaugers und rangiert nur wenig hinter dem Dezibelwert eines Rasenmähers, sodass wir es auch kaum – evolutionär sehr sinnvoll – überhören können und sollen.

Aber auch der Körper des Babys ist in höchster Alarmstufe: alle Muskeln sind fest angespannt, die Lunge arbeitet auf Hochtouren und alle erwähnten Stressfaktoren machen ihm zu schaffen. Bei chronischen Schreikindern kann gerade die Muskulaturverspannung als Ausdruck von Stress so dauerhaft werden, dass diese Babys sich auch beim Trinken oder Einschlafen kaum mehr entspannen können. Alles, was ihnen als Trost und Nahrung hilfreich sein könnte, prallt dann im wahrsten Sinn des Wortes von ihnen ab.

Das Ausmaß an oft nicht artikulierbarer Verzweiflung, aber auch Aggression, die naheliegenderweise entsteht, ist in Familien mit Schreikindern meist groß, was nicht umsonst in den siebziger Jahren von Schweden ausgehend zur immer weiter boomenden Gründung von Schreiambulanzen in Europa führte. Und Sie als Elternteil sehen sich einer Unzahl von Ratgebern gegenüber, die ihnen, wie nicht zuletzt auch dieses Buch, Hilfe anbieten wollen.

Mit der Hilfe und den Ratgebern ist es jedoch so ein Sache. Schon von der Wochenbettstation an sehen sich junge Eltern mit einer Vielzahl von Informationen und Ratschlägen bedacht, vervollständigt noch von mehr oder weniger erbetenen Tipps aus dem Familien- und Freundeskreis. Und sie werden hier meist mit dem gesamten Spektrum widersprüchlicher Informationen konfrontiert: Von der Gefahr des Verwöhnens durch zuviel Körperkontakt angefangen – dass Schreien gut für die Lunge ist, glaubte Gott sei Dank nicht einmal mehr die Urgroßelterngeneration – bis zu dem Tipp, Babys ständig am Körper zu tragen, reicht der Bogen der guten Ratschläge. Dies gilt für jeden Lebensbereich des Säuglings – Stillen: nur nach fixem Plan oder wann immer möglich; Schlafen: nur im Bettchen, regelmäßig und in Ruhe oder immer und überall, wann es sich eben ergibt etc. Schreiende Babys sollten gefüttert, getragen, schlafen gelegt werden, oder eben genau das Gegenteil.

Gemäß dem Sprichwort von den vielen Köchen, die den Brei verderben, ist es mit dem Anhören von vielen Expertenmeinungen nicht unähnlich: Jeder weiß die ultimative »Zutat« zum »Babyberuhigungscocktail«. Und am Ende kommen meist eine Menge, zum Teil einander widersprechende Informationen und noch stärker verunsicherte Betroffene heraus.

In der Ratgeberliteratur sieht es nicht unähnlich aus: Empfiehlt Harvey Karp, ein amerikanischer Kinderarzt, der sich eingehend mit dem Phänomen der Drei-Monatskoliken beschäftigt, u. a. das stramme Wickeln als Beruhigungsmethode, raten hierzulande die meisten Kinderärzte, die vor allem die Hüftentwicklung im Auge haben, genau davon ab. Sehen Autoren wie Paula Diedrichs und Vera Olbricht vor allem psychologische Faktoren auf Seiten der Eltern als Auslöser, weist Fries stark auf reife- und persönlichkeitsbedingte Faktoren auf Seiten des Babys als Schreiursache hin. Die meisten Ratgeber beschäftigen sich vor allem mit Erklärungstheorien, um diesem eigenartigen Phänomen gerecht zu werden, das doch nicht jedes Baby im gleichen Ausmaß betrifft. Ratschläge zur Lösung reichen von esoterisch-energetischen Betrachtungen über Babymassage, Tagesstrukturierung, Reizreduktion und eben die traditionelle Art des Babywickelns (Wickelungskonzept) sowie Schaukeln.

Ich denke, dass jeder einzelne Ratschlag grundsätzlich richtig ist. Was in den meisten Fällen jedoch nicht stimmt, ist der Zeitpunkt, ihn anzuwenden. Auch jede einzelne Erklärungstheorie, warum Babys weinen, ist richtig, verkehrt ist jedoch, dass sie oft nur einen Aspekt eines recht komplexen Geschehens berücksichtigen. Es ist ein bisschen so wie mit den drei blinden Weisen und dem Elefanten. Jeder berührt einen einzelnen Körperteil des Tieres, meint aber zu wissen, was der ganze Elefant ist. Warum alle diese Ratschläge dann oft gar nichts helfen, liegt meiner Ansicht nach am falschen Zeitpunkt – sowohl was den Tagesablauf als auch das Alter des Säuglings betrifft – und an der falschen Dosierung aller Aktivitäten. Wie bei einem gelungenen Gericht sind die Dosierung und der Zeitpunkt, wann welche Zutaten zusammengerührt werden, ausschlaggebend.

Mit genau dieser Dosierung und den Missverständnissen, die zwischen Eltern und Babys bei unkoordiniertem »Loslegen« entstehen können, beschäftigt sich dieses Buch in seinem ersten Teil. Sie erfahren Grundlegendes über die oft noch sehr undeutlichen Signale Ihres Kindes, um eine sinnvolle Basis für Ihre Interventionen zu haben, d. h. um gut unterscheiden zu können, wann Ihr Baby was als hilfreich empfindet. Ebenso werden Sie lesen, warum manche Kinder von Natur aus relativ problemlos sind, andere wiederum sehr irritierbar, weshalb sie schnell und viel weinen. Und was all dies mit den berühmt-berüchtigten Drei-Monatskoliken zu tun hat, über deren Existenz bis heute die Meinungen auseinandergehen, wird auch an dieser Stelle beleuchtet.

Wirklich spannend wird für Sie als stressgeplagten Elternteil wohl der zweite Teil des Buches, in dem es um ganz konkrete Ratschläge für jedes Alter und die zentralen Lebensbereiche Ihres Babys geht. Hier erfahren Sie alles über die klassischen »Schreifallen«, deren Vermeidung und wie Sie, wenn Sie hineingekommen sind, diese schnell wieder verlassen können. Doch was unseren »Babyberuhigungscocktail« betrifft, werden Sie merken, dass die Handlungsebene (»Was kann ich tun?«) auch nur ein Teil der Lösung ist. Da weder Sie noch Ihr Baby Automaten sind, die ein Programm abspulen, sondern zwei Menschen, die in einer Beziehung zueinander stehen, kommt es genau auf diese Beziehungsebene zwischen Eltern und Kind an, um zu einem dauerhaft zufriedenen Kind zu kommen. Was hierfür notwendig ist, steht in Teil III.

Falls all die erwähnten Ausführungen für Sie und Ihr Kind letztlich nicht hilfreich sein sollten, erfahren Sie abschließend, welche Art der Hilfestellung Sie in einer der vielen Säuglingsberatungsstellen und Schreiambulanzen erwartet. Adressen solcher Einrichtungen finden Sie im Anhang dieses Buches.

Auch dieses Buch ist nicht zuletzt Produkt der so zentralen Beziehungsebene zwischen Menschen. Und darum möchte ich es in Dankbarkeit, u. a. für viele wertvolle Anregungen, meinem Mann Christian und meinen beiden Söhnen Bernhard und Matthias widmen.

Wien, im August 2009

Teil I Wie Schreiprobleme entstehen

Schreien – ein Schlaf- und Regulationsproblem

Interessanterweise fällt bei fast allen Babys mit einem Schreiproblem auf, dass sie tagsüber, vor allem in den Nachmittags- und Abendstunden, kaum längere Schlafphasen haben. Und dass sie, je weniger sie schlafen, umso mehr schreien.

Nun könnte man meinen, dass dies schon die Lösung ist: Schreibabys schlafen einfach zu wenig. Grundsätzlich würden wir damit auch sehr richtig liegen und hätten einen wichtigen Faktor, der ihr Weinen verursacht, gefunden. So meint auch die bekannte deutsche Kinderärztin Mechthild Papousek, die sich eingehend mit dem Phänomen des Schreibabys beschäftigt hat, dass Kinder in den ersten drei Lebensmonaten längstens nach einer Wachphase von anderthalb Stunden wieder schlafen sollten. Aber genau das ist es, was Babys, die viel schreien, schlecht können: sich beruhigen und einschlafen bzw. die einzelnen Schlafphasen zu einem längeren Tagesschlafblock verbinden. Wo andere Säuglinge scheinbar mühelos und von selbst selig einnicken, berichten Eltern von Schreibabys von einer enormen Einschlafprozedur mit Herumtragen, Singen, Wiegen, ja gar Autofahren – nur damit endlich Frieden einkehrt. Wir sehen also:

Babys, die viel weinen, schlafen zu wenig und können schwer von selbst einschlafen.

Als wäre das nicht schon Problem genug, finden wir bei vielen Schreibabys, dass sie anscheinend unter schlimmem Bauchweh leiden müssen. Sehr oft verwandelt sich pünktlich im Alter von zwei Wochen ein früher friedliches Kind auf einmal in ein scheinbar grundlos schreiendes Häufchen Elend. Vor allem während oder kurz nach den Mahlzeiten beginnen sie entsetzlich zu brüllen, laufen rot an, verzerren das Gesicht und strampeln heftig mit den Beinen. Genau diese Art zu weinen beginnt sich dann auch vornehmlich in die späten Nachmittags- und Abendstunden zu ziehen. Willkommen im Reich der Drei-Monatskoliken.

Was vielfach bis heute die kinderärztliche Standarddiagnose und Erklärung für oft schreiende Babys in den ersten drei Lebensmonaten war (»Haben eben Bauchweh, dauert drei Monate, geben Sie Fencheltee. Auf Wiedersehen!«), hat folgende Merkmale:1

Die Koliken beginnen meist im Alter von zwei Wochen, erreichen mit sechs Wochen ihren Höhepunkt und verschwinden mit drei bis vier Monaten.

Das Schreien beginnt oft beim oder nach dem Füttern.

Die Babys krümmen sich, haben ein verzerrtes, rot anlaufendes Gesicht und schreien durchdringend. Oft verlaufen die Schreianfälle in Wellen wie bei Krämpfen.

Abgehende Winde oder Stuhlaustritt verschafft Erleichterung.

Die Koliken sind in den Abendstunden schlimmer.

Sie sind durch Wärme, Herumtragen, leichten Druck auf den Bauch zu lindern.

Zwischen den Kolikanfällen sind die Kinder gesund und fröhlich.

Nun finden sich diese unerfreulichen und schmerzhaften Symptome tatsächlich bei einer Vielzahl von Schreikindern. Sind sie deswegen die ausschlaggebende Erklärungsursache?

Nein, ich denke, es ist wie in unserem eingangs erwähnten Beispiel von dem Elefanten und den drei blinden Weisen: Die Symptome sind Teil eines komplexen Geschehens. Warum? Würden Koliken nicht – abgesehen von den dürftigen Therapiemöglichkeiten – als Ursache für so herzzerreißendes Weinen völlig ausreichen?

Drei Punkte sprechen dagegen:

In vielen Kulturen bekommen Babys nie Koliken!

Röntgenaufnahmen der Mägen »normaler« Babys und Kolikbabys zeigen

keinen

Unterschied hinsichtlich der Gasmenge bei einem Schreianfall.

Die Koliken von Frühgeborenen (wenn sie welche bekommen) beginnen erst zwei Wochen nach ihrem

errechneten

, nicht tatsächlichen Geburtstermin.

Diese drei Punkte scheinen mir hochinteressant für das Verständnis von Schreikindern mit Koliken. Wenn nur Babys in unserem Kulturkreis – denn dieses Phänomen ist bei den Naturvölkern unbekannt – exzessiv schreien, dann muss hier ein Schlüssel zur erfolgreichen Behandlung liegen.

Wichtig ist auch das Wissen, dass Babys mit Koliken in Wirklichkeit nicht mehr Blähungen haben (entsprechend der Gasmenge im Bauch, siehe Punkt 2) als solche, die offensichtlich nicht an diesen Schmerzen leiden.

Besonders spannend ist die im dritten Punkt angeführte Tatsache, dass auch Frühgeborene erst ab dem Zeitpunkt vermehrt zu weinen beginnen, wo sie primär nicht nur mehr schlafen. Wenn die Konfrontation mit allen Umwelteindrücken anscheinend so stresserzeugend ist, dann muss auch hier ein Hinweis darauf zu finden sein, was kleine Babys brauchen, um sich wohl zu fühlen.

Schauen wir uns diese drei Aspekte noch einmal an. Was unterscheidet beispielsweise balinesische Betreuende von uns Müttern und Vätern? Ganz einfach, sie tragen das Baby den ganzen Tag mit sich herum, ganze für uns unvorstellbare 105 Tage ab der Geburt. Dass dies nie nur eine Mutter allein macht, sondern Kinder hier in der Großgruppe aufgezogen werden und somit von Arm zu Arm wandern, ist mit ein Grund für diesen tollen »Babyservice«. Am 105. Tag nach ihrer Geburt (das wäre umgerechnet mit gut drei Monaten) werden die balinesischen Babys mittels eines Rituals – sie bekommen ihren ersten Schluck Wasser und ein Ei wird über ihre Arme und Beine gerieben – auf den Erdboden gesetzt und gelten nun als neue Mitglieder des Stammes. Bis dahin sind sie wie kleine Kängurubabys noch nicht ganz ausgeschlüpfte Wesen – quasi ein »Anhängsel« der Mutter. Dass in vergleichbaren Kulturen Babys auch nie allein schlafen, versteht sich von selbst.

Genau das brauchen Babys in den ersten drei Monaten, also in der Phase, in der sie häufig und viel weinen: nahezu ständigen Körperkontakt.

Viele Autoren wie auch Karp sprechen heute vom fehlenden Trimester als Ursache für diese anfänglichen Anpassungsprobleme von Babys. Gemeint ist, dass der menschliche Säugling im Vergleich zu den meisten Tieren noch unreif auf die Welt kommt. Eine längere Schwangerschaftsdauer, d. h. insgesamt zwölf Monate, würden ihm und seinen Eltern all diese Probleme ersparen. Ein drei Monate altes Kind ist genau in dem Kommunikations- und Belastbarkeitszustand, den wir von einem Baby insgeheim erwarten. Aber wenn wir uns nun dieses drei Monate alte Kind vor allem was die Ausmaße des Kopfes betrifft genauer ansehen, dann wissen wir, warum die menschliche Evolution nach neun Monaten Schwangerschaftsdauer »Stop« sagte. Reifemäßig hätten unsere Babys – im Unterschied zu vierbeinigen Säugetieren, die allein schon durch ihre Körperhaltung bestimmte Schwangerschaftsprobleme gar nicht bekommen – jedoch noch drei Monate »Mutterbauch-Feeling« gut gebrauchen können, um in Ruhe »auszubacken«.

Nochmals zu Punkt 2: Warum leiden manche Babys so unter Bauchschmerzen, obwohl doch anscheinend alle im gleichen Ausmaß Gase im Bauch haben? Die Erfahrung zeigt, dass Schreibabys besonders sensible oder temperamentvolle Kinder sind, die offensichtlich auch der ganz normale gastrokolische Reflex zu Beginn einer Mahlzeit aus der Fassung bringt. Gastrokolischer Reflex bedeutet übersetzt Magen-Dickdarmreflex, und er bewirkt, dass der Magen, sobald Nahrung einfließt, dem Darm mittels einer leichten Kontraktion zu verstehen gibt, dass es bald Arbeit für ihn gibt. Viele Babys registrieren dieses Ziehen im Bauch gar nicht besonders, bei manchen Schreibabys hingegen löst es wildes Winden, Ächzen und Weinen aus.

Schreibabys sind meist besonders sensible oder temperamentvolle Kinder, was sich nicht nur an ihrer Überreaktion auf den ganz normalen Magen-Dickdarmreflex zeigt.

Aber was hat es mit der Geschichte auf sich, dass Babys erst ab der zweiten Lebenswoche (bei einer normalen Schwangerschaftsdauer) vermehrt zu weinen beginnen? Ab diesem Zeitpunkt beginnen sie in der Regel, einfach wacher zu sein. Sie werden zunehmend mit dem Problem konfrontiert, alle Eindrücke von außen, aber auch von innen (siehe Verdauung) verarbeiten zu müssen. Und an beiden Fronten gibt es im wahrsten Sinn des Wortes einiges zu verdauen.

Schützte man früher – intuitiv richtig – diese kleinen Kinder vor zu vielen Eindrücken, die sie einfach noch nicht verarbeiten konnten und können, schon allein dadurch, dass man sie in Wiegen mit Baldachin legte, werden Säuglinge heutzutage überallhin mitgenommen. So wird ihnen quasi ab Stunde Null der Alltagsstress eines Erwachsenen oder größeren Kindes zugemutet. Sie können jetzt argumentieren, dass Nomaden oder andere Naturvölker ihre Babys auch überallhin mitnehmen. Richtig, aber erstens geschieht dies reizgeschützt am Körper der Mutter in ein Tragetuch oder einen Tragebeutel eingehüllt und zweitens werden sie nicht ins neonlichtdurchflutete, musikberieselte und Sonderangebote anpreisende Shoppingcenter mitgenommen (was, nebenbei gesagt, auch manchen Erwachsenen verrückt macht).

Doch warum halten manche Babys, so vielleicht auch gerade das der besten Freundin, diesen unseren Lebensstil tadellos aus, und warum weint gerade das eigene oft so herzzerreißend?

Schreibabys können sich anfangs schlecht selbst regulieren (d. h. im Gleichgewicht bleiben) und sind somit schnell von Außenreizen überfordert.

In welch hohem Ausmaß Säuglinge quasi von Geburt an unterschiedlich sind, hat mich sowohl beruflich als auch bei den eigenen Kindern immer wieder verblüfft. Wir werden auf diesen Punkt im Kapitel über die Bedürfnisse und das Temperament des Kindes näher eingehen. Schauen wir uns an dieser Stelle konkret an, wie es kleine Babys allgemein schaffen, im wahrsten Sinn des Wortes nicht ständig »aus der Fassung« zu fallen, und warum dies manchen Säuglingen nicht gelingt.

Babys misslungener Versuch, sich selbst zu beruhigen

Die meisten Babys sind trotz ihrer anfangs geringeren Belastbarkeit gut in der Lage, sich ausreichend im Gleichgewicht zu halten, um alle Innen- und Außenreize weitgehend zu verarbeiten. Und das ist eine nicht zu unterschätzende Leistung.

Machen wir uns bewusst, wie unfertig sie im Grunde auf die Welt kommen: Arme, Beine noch gar nicht unter Kontrolle, Kopf und Augen mäßig im Griff – keine besonders stabile Basis. Der bekannte Schweizer Kinderpsychiater Bürgin hat in diesem Zusammenhang den schönen und plastischen Vergleich eines kleinen Ruderbootes auf offener See gebracht.

Bei ruhiger See, sprich keinem Bauchweh und beschaulichem Alltag zu Hause, kann auch so ein kleines, instabiles Boot das Meer kreuzen. Aber wehe, der Wind weht rauer, sprich irgendeine zusätzliche Belastung – und kleine Babys haben da einen anderen Maßstab – und los geht’s mit dem Schreien. Dass Lärm, Hektik oder Streit natürlich Belastungen für ein Kind sind, ist Eltern mit gesundem Menschenverstand sowieso klar. Dass jedoch – nehmen wir ein völlig harmloses Beispiel – eine Einladung bei Freunden oder ein Familientreffen genau das gleiche Schreien bewirken kann, mag auf den ersten Blick unverständlich erscheinen.

Aber sehen wir das Ganze aus Babys Sicht: Plötzlich wird man hochgenommen und gleich wieder niedergelegt, um die kleinen Arme und Beine umständlich in mehrere Schichten Stoff eingewickelt zu bekommen. Am Ende hat man vielleicht gerade vorher ein Nickerchen gemacht, aus dem man nun so unsanft geweckt wurde. Vielleicht wird einem, damit das Baby auch für den Ausgang »vollgetankt« ist, noch etwas unerwartet die Brust/ein Fläschchen in den Mund geschoben.

Dann wird man in den Kindersitz gestopft und darin wild baumelnd zum Auto getragen; die Anschnallprozedur kann beginnen, bevor endlich das friedliche Motorgetucker des fahrenden Autos ertönt. Unser Baby wird wahrscheinlich irgendwann einschlafen, um für dieselbe Aktion in umgekehrter Reihenfolge wieder aufgeweckt zu werden. Am Ort des Geschehens: viele laute Menschen (völlig normal bei einer Ansammlung von mehr als drei Personen), statt des vertrauten Bettchens ein Wandern von Arm zu Arm. Fütterung in der Lärmkulisse, Einschlafversuche schlagen meist fehl. Als wäre das nicht genug, folgt am Ende das gleiche Spiel: Anziehen, Kindersitz, Auto, Einschlafen, Wieder-rausgenommen-Werden, Ausziehen – und spätestens dann wird unser Baby herzzerreißend und oft unberuhigbar weinen. Seine Mama und sein Papa werden sich anschauen und vielleicht meinen, dass diese Blähungen nun wirklich schlimm (und so unvorhersehbar) sind.

Denken wir an den so treffenden Vergleich mit dem Ruderboot: Ist es schon von Haus aus nicht gerade das geeignetste Gefährt, um sich aufs Meer, sprich unseren Alltag, hinauszubegeben, so gibt es unter diesen entweder breitere, stabil gebaute Boote oder eben kleine, kippelige Nussschalen. Unsere armen Schreibabys sitzen grundsätzlich in diesen Nussschalen, ständig bedroht, ihr inneres Gleichgewicht zu verlieren. Die stabilen Ruderboote wirft auch eine größere Welle in einem unruhigen Meer nicht so leicht um. Überflüssig zu sagen, was mit unserem kleinen Wackelboot an dieser Stelle passiert.

Nun schauen wir uns einmal an, welche Strategien denn ein Baby in den ersten Lebenswochen hat, sein im wahrsten Sinn des Wortes kippeliges Gleichgewicht zu halten. Erinnern wir uns an dieser Stelle auch an die eigenartige Tatsache, dass die meisten Säuglinge etwa erst nach der zweiten Lebenswoche vermehrt zu schreien beginnen.

Die erfolgreichste Strategie eines so kleinen Kindes besteht in der anfangs stark ausgeprägten Fähigkeit, abschalten zu können, und zwar indem es einfach fast dauernd schläft. Von diesem Zustand sind eben genau die ersten beiden Lebenswochen fast noch ausschließlich beherrscht. So sind die Babys automatisch von all den noch überfordernden akustischen und optischen Eindrücken geschützt. Mutter Natur hat ihren Kindern dafür auch ein spezielles »Hilfsmittel« mitgegeben: Sie sind noch stark kurz- und weitsichtig und unterscheiden anfangs nur Hell-Dunkel-Kontraste. Gut sieht ein Baby nur in einem Abstand von etwa 25 cm, also genau in der Entfernung, die es – im Arm der Eltern gehalten – zu deren Gesicht hat.

Dieses Programm reicht einem Baby anfangs aber auch völlig zu seinem Glück aus, und es wird bis in den vierten, fünften Monat hinein seine »Lieblingssendung« sein. Alle Mobile-Hersteller werden sich an dieser Stelle nicht freuen, aber es ist erwiesen, dass Säuglinge bis zu diesem Alter menschliche Gesichter eindeutig allen anderen Betrachtungsobjekten vorziehen. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht auch zum richtigen Zeitpunkt gerne Mobiles anschauen. Diese spezielle Vorliebe für das Gesicht der Eltern hat evolutionär durchaus Sinn. Ohne den engen emotionalen und realen Kontakt zu Menschen können sich Babys im wahrsten Sinn des Wortes nicht entwickeln.2 Diese liebevolle Bindung ist genau die Art »Nahrung«, die für sie lebensnotwendig ist.

Ab etwa sechs Wochen – also nicht zufällig auch dann, wenn das erste bewusste Lächeln auftritt und die ärgsten motorischen Unruhen (in Form des reflexartigen »Auseinanderfallens« beim Ablegen) vorbei sind – sehen Babys auch weiter entfernte Gegenstände. Dies ist interessanterweise auch genau der Zeitpunkt, an dem die täglichen Schreiphasen statistisch ihren Höhepunkt erreichen. Warum? Eigentlich logisch: Plötzlich hebt sich ein Vorhang, und unser kleines Baby wird mit einer Flut von Eindrücken überrollt, die es einfach noch nicht verarbeiten kann.

Babys Schutzstrategie ist das Wegschauen und Abwenden. Nicht mehr mit den »Segnungen« der Schlechtsichtigkeit und des generellen Reizschutzes der ersten Lebenswochen geschützt, muss es nun selbst aktiv versuchen, sich Ruhepausen zu organisieren.

Ganz ähnlich verhält es sich mit den akustischen Reizen. Anfangs ist ein Kind noch wie in eine Art Wattenebel gehüllt und erlebt dann nach und nach laute Geräusche als immer unangenehmer. So sehr es die Stimme seiner Mutter oder seines Vaters – speziell wenn sie ein Lied singen – liebt, so sehr wird es erschrecken, wenn die beiden plötzlich zu schreien beginnen.

Auch hier ist Babys Strategie dieselbe: sich abwenden. Hört jedoch das laute Geräusch, der auf es einredende Mensch, das drehende Mobile oder die geschüttelte Rassel nicht auf, »in es einzudringen« (denn genau so invasiv erlebt es ein Säugling), wird es auf Stufe zwei der Abwehr schalten. Es wird zu zappeln beginnen, wie um die unangenehmen Reize abzuschütteln. Sein Blick wird sich verändern, die Augen werden starr und glasig, als wenn es sich einfach tot stellen möchte. Sie sehen, unser Kind mobilisiert bereits sein im Grunde nur kleines Schutzrepertoire. Weglaufen oder Nein sagen beispielsweise kann es ja noch nicht, um eine massive Überforderung und somit drohende Kenterung abzuwenden. Hört in diesem Moment nicht sofort das Reizbombardement auf, wird unser Baby in die Stufe drei, seine höchste Abwehrmöglichkeit, das Schreien kippen. Körperlich und seelisch ganz gefangen vom eigenen Weinen, dringt alles nun mehr viel schwerer zu ihm vor – leider oft auch unsere Beruhigungsversuche.

Elterliche Beruhigungsversuche und die Frage des richtigen Zeitpunkts

Als wäre das Verstehen eines kleinen Babys nicht manchmal schon schwer genug, gilt es, innerhalb der Beruhigungsstrategien – denken wir an das Beispiel des gelungenen Kochens – auch noch die Frage der Dosierung und der Zeit zu berücksichtigen.

Es kommt auf die richtige Zeit, d. h. das Alter eines Babys, und innerhalb dieser Kategorie, auf den jeweils richtigen Moment einer Beruhigungsstrategie an.

Zur richtigen Zeit: Gehen wir einmal von dem typischen »Schreibabyalter« aus, also einem Zeitpunkt innerhalb der ersten drei Monate. Dann schauen wir uns entweder selbst über die Schulter oder jemand anderem zu, der gerade unser weinendes oder quengelndes Baby beruhigen möchte. Das folgende, völlig undramatische Beispiel ist typisch für eine so genannte Beruhigung, die wir in der Klinik oft beobachten können.

Das Baby liegt im Bett und weint, es wird von der Mutter (steht hier für eine tröstende Person, nicht für einen Menschen, der irrt) hochgenommen, und sie beginnt es zu fragen: »Ja was hast du denn?« Tatsächlich beruhigt sich das Kind in ihrem Arm, beginnt jedoch nach wenigen Minuten wieder zu weinen. Wieder die Frage der Mutter, was es denn habe, die diesmal jedoch mit unvermindertem Weinen ignoriert wird. Also nimmt die Mutter das Baby an ihre Schulter, worauf es sich wieder beruhigt, diesmal aber nur kurz. Mittlerweile bringt sich auch der Vater ein, der dem weinenden Kind eine Rassel vor das Gesicht hält. Unser Baby schaut kurz auf die Rassel – Erleichterung bei den Eltern, gefolgt von wildem Gerassel und Kommentaren, um das Baby bei Laune zu halten. Und plötzlich: ein erneuter Schreianfall, lauter und fast noch zorniger als bisher. Die Mutter übergibt an den Vater, der mit dem Kind zum Spiegel geht und fragt, wer denn da so weine. Unserem Baby ist sein Spiegelbild reichlich egal, es plärrt. Leicht frustriert beginnt der Vater eine kleine Zimmerführung, um dem »undankbaren« Kind, nach wie vor an der Schulter, andere Attraktionen vorzuführen. Bei einer angeschalteten Lampe landet er einen einminütigen Treffer, was wieder mit vermehrten Kommentaren und Näherherangehen ans Licht verbunden ist – bis unser Baby, welch große Überraschung, sich völlig in einem Schreianfall verliert. Jetzt greift wieder die Mutter ein, nimmt es diesmal in den Arm, schaukelt es und versucht, beruhigend auf es einzureden, was alles nichts fruchtet. Als letzter Rettungsanker die hoffnungsvolle, väterliche Frage: »Wann hat es das letzte Mal gegessen?« Die Mutter, zwar im Bewusstsein, dass die letzte Mahlzeit erst eine Stunde her ist, legt es also an. Unser Baby macht auch tatsächlich zwei Schlucke – allgemeines Aufatmen – und plärrt wieder los, windet sich und wird immer röter. Der Vater meint: »Diese verflixten Blähungen«, und nimmt sein Kind wieder hoch, geschultert, damit es auch etwas sehen kann, und eine erneute Herumtragrunde beginnt.

Gut, fragen Sie vielleicht leicht gereizt, was war denn bitte an dem, was dieses Elternpaar unternahm, so falsch? Paradoxerweise war nichts – isoliert betrachtet – wirklich falsch, außer der Zeitpunkt der jeweiligen Beruhigungsstrategie.

Es ist interessant zu beobachten, dass die meisten Leute, wenn sie ein Baby beruhigen wollen, auf Tricks aus der »Großbabykiste« zurückgreifen. Gemeint sind Strategien, die ein älteres, nicht aus Müdigkeit unruhiges Kind etwa ab dem vierten, fünften Monat durchaus zu schätzen weiß. Einen so kleinen Säugling wie im Beispiel überfordern sie jedoch noch zusätzlich, denken Sie an unser Nussschalenbeispiel. Dazu zählt vor allem, ein Baby an die Schulter zu nehmen, um ihm noch mehr zu zeigen, sowie der Versuch, es mit Spielzeug oder zusätzlichen akustischen Reizen, z. B. auf es einzureden und Fragen zu stellen, abzulenken.

Eltern mit Schreibabys tun nicht zu wenig für ihr Kind, im Gegenteil, sie machen meist zu viel.

In ihrem Bemühen, das kindliche Schreien abzuwenden bzw. gar nicht erst aufkommen zu lassen, entsteht eine gespannt-hektische Stimmung der Dauerstimulation, die ein Baby schnell und über kurz oder lang auch seine Eltern völlig überfordert. Vielfach nähern sie sich ihrem Kind wie einem rohen Ei – man kann es schon an ihrer angespannten Körperhaltung beobachten – um es ja nicht wieder in einen Schreianfall kippen zu lassen. Dass schließlich, vor allem wenn das Baby auch in der Nacht Schreiphasen hat, das gesamte Familienklima ebenfalls in Hilflosigkeit, Verzweiflung, aber auch Aggression umschlägt, ist leicht nachvollziehbar. Mütter zweifeln im Allgemeinen dann sehr schnell an ihrer Fähigkeit, überhaupt eine gute Mutter sein zu können, und die meisten Väter kämpfen mit zunehmenden Aggressionen.

Wie sehr ein Baby, das viel weint, die Beziehung zu ihm und auch die Beziehung der Eltern zueinander massiv belasten kann und welche Folgewirkungen hieraus wieder entstehen können, wird im zweiten Teil des Buches noch näher ausgeführt. Vorab nur eines:

Kein Elternteil ist »schuldig« am vermehrten Schreien seines Kindes.

Vor allem in den ersten drei Monaten weinen Babys primär aus einer gewissen Unreife heraus, der man als Eltern nun mehr oder weniger hilfreich gegenüber steht. Dass neben dieser Tatsache inoch Elemente eines Eltern-Kind-Beziehungsproblems hinzukommen, das durch das vermehrte und über den dritten Lebensmonat hinaus andauernde Schreien verstärkt werden kann, steht ebenso außer Frage. Um jedoch den verwirrenden Gefühlen dem eigenen Kind gegenüber Herr zu werden, werden die Anstrengungen an Beruhigungs- d. h. meist Ablenkungsversuchen dann verdoppelt.

Sie sehen den Teufelskreis? Belohnt wird diese Verdoppelung nämlich gerade nicht mit einem ruhigeren Baby, das all diesen Einsatz zu schätzen weiß. Wir werden uns im zweiten Teil genau ansehen, wann welche Beruhigungsstrategie auch erfolgreich ist, aber ein kleines Beispiel vorab:

Herumtragen gilt schlechthin als das Babyberuhigungsmittel Nummer 1. Es ist auch dann richtig, wenn Sie ein müde werdendes Baby – welche Anzeichen das genau sind, erfahren Sie im nächsten Kapitel – in der Stillhaltung im Arm tragen und die Augen am besten mit einer Stoffwindel abdecken. So ist es zudem noch vor weiteren Eindrücken reizgeschützt. Hierfür legen Sie die gefaltete Windel über Kopf und Stirn Ihres Babys sodass gerade auch noch die Augen bedeckt sind. Der Großteil der Windel wird somit auf ihrem Arm liegen, bzw. von dort noch ein Stückchen hinunterhängen. Falsch bzw. wenig erfolgreich kann Herumtragen bei einem völlig übermüdeten, bereits schreienden Baby sein, vor allem, wenn man es außerdem noch aufrecht geschultert hält. So wird es zum einen von weiteren Eindrücken »erschlagen«, zum anderen kann man in dieser Position auch nicht besonders gut einschlafen.

Nun meinen Sie zu Recht: Alles völlig logisch, aber Eltern sind doch nicht so unbeleckt, um nicht mal unterscheiden zu können, wann ihr Kind müde ist. Es stimmt auch, die Natur hat hier schon mit einer Reihe von intuitiven elterlichen Verhaltensweisen vorgesorgt, dass sich auch frisch gebackene Eltern, selbst wenn sie sich oft nicht so fühlen, instinktiv richtig gegenüber ihrem Baby verhalten.

Es gibt hier ganz spannende Studien, die verdeutlichen, dass das Verhalten Erwachsener, ja sogar größerer Kinder ab etwa drei bis vier Jahre in allen Kulturen völlig gleich abläuft, wenn sie sich einem Baby gegenüber sehen. Selbst die coolsten Jungs und härtesten Kerle beginnen, wenn sie unbeobachtet sind, automatisch die Stimme zwei Oktaven höher zu stellen und ständig die gleichen Sätze zu wiederholen. Etwa so: »Ja wo ist denn nur das süße Baby, ja wo ist es denn. Da bist du ja. Ja, da bist du ja. Oh, so ein süßes Baby etc.« Dieser hohe Sing-Sang wird Ammensprache genannt und läuft bei Eskimoeltern im Tonfall genauso ab, wie bei einer Familie aus Norddeutschland.

Genauso haben wir im evolutionären Programm, ein Baby z. B. im Arm zu wiegen oder automatisch seinen Kopf zu stützen. Was läuft aber dann bei Schreibabys? Haben diese Kinder einfach unklarere Signale oder ist es bloß die Unerfahrenheit ihrer Eltern, die die Situation eskalieren lässt? Bevor wir uns im nächsten Kapitel mit dem Geheimnis beschäftigen, ein Baby richtig »lesen« zu können – gerade auch solche, die diesbezüglich eine eher schwierige »Handschrift« haben –, möchte ich Ihnen noch ein weiteres Kennzeichen von Kolikbabys aufzählen:

Die Wahrscheinlichkeit, dass bei einem Säugling Koliken auftreten, ist beim z. B. fünften Kind eines Paares genauso hoch wie beim ersten.

Dieser Punkt verdeutlicht: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Baby Koliken entwickelt, hängt nicht damit zusammen, ob seine Eltern besonders erfahren sind oder nicht. Eltern sind somit in keiner Weise schuld daran, dass ihr Baby unter Bauchweh leidet und daher vermehrt weint. Die Neigung zu Koliken bringen vor allem viele sensible oder temperamentvolle Babys als Gepäck mit auf die Welt. Entscheidend ist jedoch, wie man nun als Eltern mit einem bestimmten Naturell seines Kindes umgehen bzw. es verstehen kann.

Man geht heute davon aus, dass menschlichen Säuglingen – entsprechend dem Grad ihrer Entwicklung im Vergleich zu Säugetieren – noch ein Trimester, also drei Monate, Schwangerschaftsdauer fehlt. Diese Unreife des Neugeborenen zeigt sich in der fahrigen Grobmotorik, der mangelnden Koordinationsfähigkeit von Kopf, Augen, Armen und Beinen, einem noch sehr empfindlichen Verdauungssystem und der schnellen Überforderung durch zu viele Umwelteindrücke. Babys, die viel schreien, sind zudem besonders sensible oder temperamentvolle Kinder, die von diesen Anpassungsproblemen und dem »normalen« Alltag, den man ihnen abverlangt, überfordert sind. Sie können schlecht abschalten oder einschlafen und bringen sich durch einen somit fast immer vorhandenen (Tages-)Schlafmangel, noch mehr aus dem inneren Gleichgewicht. Die für ältere Säuglinge richtigen Beruhigungsversuche ihrer Eltern bestehen meist in Ablenkungsmanövern, die diese kleinen Babys noch mehr überstimulieren.

Schreien – ein Kommunikationsproblem

Grundsätzlich ist Schreien das wohl effektivste Kommunikationsmittel, über das ein Baby verfügt. Es treibt nicht nur den elterlichen Blutdruck in die Höhe, sondern auch jeden anderen Erwachsenen an, irgendetwas zu unternehmen. Diese Erfahrung machen Eltern mit einem schreienden Baby oftmals auf unliebsame Weise, wenn sich auf offener Straße sehr schnell eine Traube von vermeintlich Wissenden über ihr Kind beugt und eine mehr oder minder vorwurfsvoll vorgetragene Diagnose oder Handlungsanweisung für die Mutter von sich gibt.

Sehen Sie es positiv: Diese Menschen können gar nicht anders. Auf diese Weise hat die Natur vorgesorgt, dass der menschliche Nachwuchs maximale Aufmerksamkeit bekommt: Jeder ist in Alarmbereitschaft versetzt.

Nun ist Schreien wohl ein sehr effektives, im wahrsten Sinn des Wortes aufrüttelndes, aber gleichzeitig nicht wirklich differenziertes Kommunikationsmittel. Dazu gibt es eine interessante Untersuchung3: Man spielte Müttern jeweils das Weinen von zwei vier Wochen alten Babys vor. Das eine hatte Hunger, das andere wurde gerade beschnitten und hatte somit Schmerzen. Nur 25% der Mütter erkannten, dass das erste Baby aus Hunger schrie. Dass das zweite Baby vor Schmerzen schrie, erkannten ebenso bloß 40%. Bei diesem Versuch könnte man wohl zu Recht argumentieren, dass es sich ja nicht um die eigenen Kinder gehandelt habe. Meine Erfahrung ist jedoch, dass die allermeisten Eltern allein vom Weinen ihres Kindes ausgehend noch nicht automatisch wissen, was ihm denn gerade fehlt – und aber genau das von Umstehenden immer gefragt werden.

Wenn Sie nun denken, dass man wahrscheinlich ein Profi sein muss, um diese schwierige und gleichförmig klingende (Schrei-)Sprache eines Babys zu verstehen, dann irren Sie. Eine finnische Studie ließ achtzig erfahrene Säuglingsschwestern beurteilen, warum denn einzelne Babys weinen. Sie erhielten eine Trefferquote von rund 50%, also eigentlich dem Zufallsprinzip entsprechend.

Allein aus der Art des Schreiens zu beurteilen, was ein Baby möchte, ist selbst für Profis offensichtlich schwer möglich.

So paradox das jetzt klingen mag, es macht in Wirklichkeit nichts aus. Nicht das Schreien ist der Schlüssel zum Kommunikationsverständnis, sonders das, was vorher