So klingt dein Herz - Cecelia Ahern - E-Book
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So klingt dein Herz E-Book

Cecelia Ahern

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Beschreibung

Der aktuelle SPIEGEL-Bestseller von Cecelia Ahern »Bewegend, inspirierend und einfach wunderschön.« Sunday Telegraph Die junge Laura lebt im Verborgenen im Westen Irlands. Niemand weiß, dass sie eine ganz besondere Fähigkeit besitzt: Sie kann jede menschliche Stimme, alle Tiere und jedes Geräusch der Welt nachahmen. Als der Toningenieur Solomon im Wald auf Laura trifft, fühlt er sich sofort magisch von ihr angezogen. Doch auch Solomons Lebensgefährtin, die Regisseurin Bo, ist fasziniert: Sie möchte einen Film über die geheimnisvolle Laura drehen. Über Nacht findet sich Laura in unserer lauten, modernen Welt wieder. Kann ihre Gabe ihr dabei helfen, das Glück zu finden – und die Liebe?

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Seitenzahl: 599

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Cecelia Ahern

So klingt dein Herz

Roman

Aus dem Englischen von Christine Strüh

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]PrologTeil 11234567891011121314151617181920212223Teil 22425262728293031323334Teil 33536373839404142Teil 443Dank

Für Paula Pea

Prolog

Er geht ein Stück beiseite, weg von den anderen, denn ihr ständiges Geplauder verschmilzt in seinem Kopf zu einem nervtötend monotonen Summen. Ist es nur der Jetlag, oder interessiert es ihn einfach nicht, was sie sagen? Könnte beides sein. Irgendwie hat er das Gefühl, dass er ganz woanders ist und ihn das alles nichts angeht. Und wenn er noch ein einziges Mal gähnt, wird sie ihn garantiert deswegen zur Rede stellen.

Die anderen merken gar nicht, dass er sich zurückgezogen hat, oder falls doch, sagen sie nichts dazu. Er schleppt seine ganze Tonausrüstung mit sich herum, die würde er niemals irgendwo zurücklassen – nicht nur, weil sie so teuer ist, sondern weil sie inzwischen zu ihm gehört wie ein Arm oder ein Bein. Die Geräte sind schwer, aber er ist an ihr Gewicht gewöhnt, seltsamerweise ist es ihm sogar angenehm. Ohne sie hat er immer das Gefühl, dass ihm etwas fehlt, und selbst wenn er die Audiotasche nicht dabeihat, geht er so, als würde er sie tragen, und neigt die rechte Schulter automatisch etwas zur Seite. Das könnte bedeuten, dass er seine Berufung als Tontechniker gefunden hat, aber diese unterbewusste Verknüpfung ist überhaupt nicht gut für seine Körperhaltung.

Er entfernt sich von der Lichtung, von dem Fledermaushaus, das der Anlass für das Gespräch der anderen war, und geht auf den Wald zu. Als er ihn erreicht, schlägt ihm angenehm frische, kühle Luft entgegen.

Es ist ein heißer Junitag, die Sonne brennt gnadenlos auf seinen Kopf und die ungeschützte Haut im Nacken. Der Schatten ist einladend, eine Gruppe von Mücken nutzt die einfallenden Sonnenstrahlen für einen Tanz in flirrender Geschwindigkeit. Fast wirken sie wie Fabeltiere. Unter seinen Füßen fühlt sich der mit Blättern und Rinde gepolsterte Waldboden weich und federnd an. Inzwischen kann er seine Kolleginnen nicht mehr sehen, also blendet er sie einfach aus und füllt seine Lunge mit dem erfrischenden Duft der Kiefern.

Er stellt die Audiotasche neben sich ab und lehnt das Galgenmikrophon an einen Baum. Dann streckt er sich ausgiebig und genießt es, wie die Gelenke knacken und die Muskeln sich dehnen. Als er den Pullover über den Kopf zieht, rutscht das T-Shirt mit nach oben und legt ein Stück Bauch frei. Er schlingt den Pullover um die Taille, zieht das Haargummi aus seinen langen Haaren, bindet den Knoten auf dem Kopf fester zusammen und genießt die kühle Luft an seinem verschwitzten Nacken. So lässt er aus einer Höhe von hundertzwanzig Metern den Blick über Gougane Barra schweifen – bewaldete Berge, so weit das Auge reicht, meilenweit kein Zeichen einer menschlichen Behausung. Einhundertzweiundvierzig Hektar Nationalpark. Friedlich, ruhig und heiter. Im Lauf der Zeit hat sein Ohr sich für alle Arten von Geräuschen enorm geschärft, er hat gelernt zu horchen, vor allem auf das, was man nicht auf Anhieb wahrnimmt. Er hört die Vögel zwitschern, er hört die Bewegungen der Kreaturen des Waldes in seiner Nähe, ein ununterbrochenes Rascheln und Knistern, er hört das leise Brummen eines Traktors in der Ferne, er hört, dass irgendwo im Tal, versteckt unter den Bäumen, Bauarbeiten stattfinden. Es ist still hier, aber sehr lebendig, tief atmet er die frische Luft ein. Auf einmal hört er hinter sich einen Zweig knacken und wirbelt blitzschnell herum.

Eine Gestalt saust hinter einen Baum.

»Hallo?«, ruft er und hört den Ärger in seiner Stimme, weil er unachtsam war und dabei erwischt worden ist.

Aber die Gestalt verharrt reglos in ihrem Versteck.

»Wer ist denn da?«, fragt er.

Einen kurzen Moment lugt sie hinter dem Baumstamm hervor, dann verschwindet sie sofort wieder, als spiele sie Verstecken mit ihm.

Doch dann geschieht etwas Seltsames. Zwar weiß er jetzt, dass er nicht in Gefahr ist, aber auf einmal beginnt sein Herz heftig zu pochen – wo es sich doch eigentlich beruhigen müsste.

Er lässt die Geräte stehen, geht langsam auf den Baum zu, wobei das Knirschen und Knacken des Waldbodens unter seinen Füßen jede seiner Bewegungen verrät. Weil er die Person hinter dem Baum aber auf keinen Fall bedrängen will, nähert er sich in einem großen Bogen. Dann sieht er sie. Sie duckt sich und nimmt Verteidigungshaltung an. Aber er hebt die Hände, die Handflächen flach nach vorn, eine Geste, die ihr zeigen soll, dass seine Absichten friedlich sind.

Ohne die weißblonden Haare und die grünen Augen – die durchdringendsten Augen, die er jemals gesehen hat – wäre die Gestalt im Wald unsichtbar oder zumindest gut getarnt. Er ist vollkommen bezaubert.

»Hi«, sagt er leise. Er möchte sie nicht erschrecken, sie wirkt zerbrechlich, steht sprungbereit auf den Zehenspitzen, um jederzeit weglaufen zu können, sobald er eine falsche Bewegung macht. Also bleibt er stehen, die Hände weiter in die Höhe gereckt, als wolle er die Luft aufhalten – oder vielleicht ist es ja auch die Luft, die ihn aufhält.

Sie lächelt. Und er steht unter einem Zauberbann.

Wie bei manchen Fabelwesen ist kaum zu erkennen, wo der Baum beginnt und wo sie aufhört. Die Blätter, die das Dach über ihren Köpfen bilden, wiegen sich im Wind, Licht und Schatten tanzen auf dem Feengesicht.

So sehen sie sich zum ersten Mal, zwei völlig fremde Menschen, und können die Augen nicht voneinander abwenden. In diesem einen Augenblick verändert sich sein Leben, es teilt sich. Nun gibt es den, der er war, bevor er ihr begegnet ist, und den danach.

Teil 1

Eine der schönsten und außergewöhnlichsten Kreaturen der Welt und wahrscheinlich die intelligenteste von allen ist der Lyrebird, zu Deutsch Leierschwanz, ein wahrhaft unvergleichliches Wesen, ein großer Künstler … Der Vogel ist extrem scheu, unglaublich schwer zu fassen … und gekennzeichnet durch eine außergewöhnliche Klugheit.

Zu sagen, er sei ein Wesen der Berge, erklärt ihn nur sehr unvollständig. Gewiss ist er ein Bergwesen, aber nur ein kleiner Anteil des Hochlands, in dem sich sein Revier befindet, kann ihn tatsächlich als Bewohner in Anspruch nehmen … Sein Geschmack ist so anspruchsvoll und kritisch, sein Naturell so differenziert, dass er selbst in der wunderschönen Bergwelt äußerst wählerisch bleibt, und es ist reine Zeitverschwendung, ihn irgendwo anders zu suchen als in einer einzigartig schönen und erhabenen Umgebung.

 

Ambrose Pratt, Die Kunde vom Lyrebird

1

Am selben Morgen

 

 

»Bist du sicher, dass du fahren kannst?«

»Ja«, antwortet Bo.

»Bist du sicher, dass sie fahren kann?«, wiederholt Rachel die Frage, diesmal an Solomon gewandt.

»Ja«, antwortet Bo erneut.

»Besteht die Chance, dass du mit dem SMS-Schreiben aufhörst, solange du fährst? Meine Frau ist hochschwanger, und ich möchte mein Erstgeborenes gern kennenlernen«, sagt Rachel.

»Ich schreibe nicht, ich checke nur meine Mails.«

»Na dann.« Rachel verdreht die Augen und schaut aus dem Fenster auf die vorübersausende Landschaft. »Du fährst zu schnell. Und du hörst Nachrichten. Und du hast einen Mordsjetlag.«

»Schnall dich an, wenn du dir solche Sorgen machst.«

»Na, das ist echt beruhigend«, murmelt Rachel, rückt rüber auf den Platz hinter Bo und lässt ihren Sicherheitsgurt zuschnappen. Der Platz hinter dem Beifahrersitz wäre ihr wesentlich lieber, denn von dort könnte sie Bo besser im Auge behalten, aber Solomon hat seinen Sitz so weit nach hinten geschoben, dass sie nicht bequem hinpasst.

»Außerdem hab ich überhaupt keinen Jetlag«, verkündet Bo, legt aber zu Rachels Erleichterung wenigstens das Smartphone weg. Doch noch während Rachel darauf wartet, dass Bos Hände wieder zum Steuer greifen, wendet Bo sich stattdessen dem Radio zu und klickt sich durch die Sender. »Musik, Musik, Musik, warum redet denn keiner mehr?«, brummt sie.

»Weil die Welt manchmal den Mund halten muss«, antwortet Rachel. »Aber egal, was mit dir ist – er hat eindeutig Jetlag. Und vermutlich keine Ahnung, wo er ist.«

Verschlafen öffnet Solomon die Augen, um zu zeigen, dass er mitgehört hat. »Ich bin wach«, verkündet er träge. »Ich bin bloß, na ja, ihr wisst schon …« Dann fallen ihm die Augen wieder zu.

»Ja, ich weiß, ich weiß, du willst nicht sehen, wie Bo fährt. Klar«, sagt Rachel.

Nach dem Sechsstundenflug von Boston nach Dublin, der um halb sechs heute früh gelandet ist, haben Solomon und Bo schnell am Flughafen Zähne geputzt, ihr Auto und dann Rachel abgeholt, und jetzt sind sie unterwegs ins County Cork, dreihundert Kilometer von Dublin entfernt im Südwesten Irlands. Zwar hat Solomon im Flieger die meiste Zeit geschlafen und ist trotzdem noch müde. Aber Bo war jedes Mal hellwach, wenn er im Flugzeug kurz einmal die Augen öffnete, um zu ihr zu schauen – sie hat buchstäblich jede Sekunde des Fluges genutzt, um sich sämtliche in der Bordauswahl vorhandenen Dokumentarfilme anzusehen.

Manche Menschen machen Witze darüber, dass man von Luft und Liebe leben kann. Solomon ist überzeugt, dass Bo von Information leben könnte, wenn sie wollte. Informationen nimmt sie mit astronomischer Geschwindigkeit auf, sie ist immer hungrig auf Nachschub, sie liest, hört zu, fragt und sucht überall nach Wissenswertem, bis kaum noch Platz für andere Nahrung übrig ist. Daher isst Bo auch kaum einmal in Ruhe, und die Information treibt sie zwar vorwärts, macht sie jedoch nie satt – ihr Hunger nach Wissen ist unstillbar.

Solomon und Bo wohnen in Dublin und sind von dort nach Boston geflogen, um eine Auszeichnung für Bos Dokumentation The Toolin Twins entgegenzunehmen, die bei der jährlichen Preisverleihung eines Monatsmagazins als Outstanding Contribution to Film and Television ausgezeichnet worden ist. Es war die zwölfte Auszeichnung, die sie in diesem Jahr entgegengenommen haben, und es gab sogar noch einige mehr, bei deren Verleihung sie nicht zugegen sein konnten.

Vor drei Jahren sind sie dem Zwillingspaar Joe und Tom Toolin, die damals siebenundsiebzig waren, ein Jahr lang mit der Filmkamera gefolgt. Die beiden lebten als Farmer in einem abgeschiedenen ländlichen Teil von County Cork, westlich von Macroom. Bo war auf der Suche nach einem Projekt auf die Geschichte der beiden Männer gestoßen, und sie hatten im Handumdrehen ihr Herz, ihre Gedanken und in der Folge ihr ganzes Leben erobert. Die Brüder wohnten und arbeiteten schon ihr ganzes Leben zusammen, keiner von beiden hatte je eine Beziehung mit einer Frau oder sonst jemandem gehabt. Von Geburt an bewirtschafteten sie dieselbe Farm, zunächst mit ihrem Vater, nach seinem Tod zu zweit. Sie arbeiteten unter harten Bedingungen, bewohnten ein sehr einfach ausgestattetes Farmhaus mit Steinboden, schliefen im selben Zimmer, und zur Unterhaltung gab es lediglich ein altes Radio. Kaum einmal verließen die Toolins ihr Land; ihr bescheidener Wocheneinkauf wurde von einer Frau aus dem nächsten Dorf angeliefert, die auch die nötigsten Haushaltsarbeiten erledigte. Die Beziehung der Brüder zueinander und auch ihre Lebensauffassung hatte nicht nur die Filmcrew, sondern auch das Publikum zu Tränen gerührt, denn unter ihrer Einfachheit war stets ein tiefes und klares Weltverständnis spürbar.

Bo produzierte den Film mit ihrer Produktionsfirma Mouth to Mouth Productions und führte Regie, Solomon war für den Sound zuständig, Rachel für die Kamera. Schon seit fünf Jahren arbeiten sie als Team, und seit der inoffiziellen Abschlussparty der Toolin-Dokumentation vor zwei Jahren sind Bo und Solomon auch als Paar liiert. The Toolin Twins war ihre fünfte gemeinsame Arbeit und ihr erster großer Erfolg. In diesem Jahr sind sie um die halbe Welt gereist, von einem Filmfestival und einer Preisverleihung zur nächsten, wo Bo Auszeichnungen entgegengenommen und fleißig an ihrer Dankesrede gefeilt hat.

Nun sind sie auf dem Weg zurück zur ihnen so vertrauten Farm der Toolin-Zwillinge. Aber nicht etwa, um dort ihre Erfolge zu feiern, sondern vielmehr, um dem Begräbnis von Tom Toolin beizuwohnen – dem um zwei Minuten jüngeren Zwillingsbruder.

»Können wir vielleicht mal eine Pause machen und irgendwo eine Kleinigkeit essen?«, fragt Rachel.

»Nicht nötig.« Eine Hand am Steuer, beugt Bo sich zum Beifahrersitz und fängt an, auf dem Boden zu kramen – eine gefährliche Aktion, bei der das Auto mitten auf der Autobahn ins Schlingern gerät.

»O Mann«, stöhnt Rachel und möchte sich am liebsten die Augen zuhalten.

Aber Bo kommt mit drei Energieriegeln wieder hoch und wirft Rachel einen davon zu. »Lunch, bitte schön!«, ruft sie, reißt die Verpackung mit den Zähnen auf und beißt herzhaft in ihren Riegel. Dann kaut sie aggressiv darauf herum, als wäre der Riegel eine Pille, die sie schlucken muss, notwendige Energiezufuhr, um weitermachen zu können, weiter nichts. Von Genuss keine Spur.

»Du bist kein menschliches Wesen, weißt du«, sagt Rachel, öffnet ihren Energieriegel und starrt frustriert darauf. »Du bist ein Monster.«

»Aber sie ist mein kleines unmenschliches Monster«, mischt Solomon sich mit verschlafener Stimme ein, streckt die Hand aus und drückt zärtlich Bos Oberschenkel.

Bo grinst.

»Mir war es lieber, als ihr beiden noch keinen Sex miteinander hattet«, sagt Rachel und schaut weg. »Da warst du immer auf meiner Seite, Solomon.«

»Das ist er doch immer noch«, erwidert Bo in scherzhaftem Ton, obwohl sie es ernst meint.

Solomon ignoriert den Seitenhieb.

»Wenn wir dem armen Joe nur unseren Respekt erweisen wollen, warum habt ihr mich dann eigentlich gezwungen, mein ganzes Arbeitszeug einzupacken?«, fragt Rachel, den Mund voller Nüsse und Rosinen. Eigentlich kennt sie die Antwort genau, aber sie hat Lust, ein bisschen Unruhe zu stiften. Mit Bo und Solomon kann man viel Spaß haben, es ist ganz einfach, sie auf hundertachtzig zu bringen.

Langsam öffnen sich Solomons Augen, und er mustert seine Freundin prüfend. Seit zwei Jahren sind sie liiert, seit fünf Jahren professionell verbunden, und er kann in ihr lesen wie in einem Buch.

»Du glaubst doch nicht etwa, dass Bo aus reiner Herzensgüte zu dieser Beerdigung geht, oder?«, stichelt er. »Preisgekrönte, international renommierte Regisseurinnen müssen jederzeit offen sein, um neue Geschichten aufzunehmen.«

»Das klingt schon wesentlich nachvollziehbarer«, meint Rachel.

»Mein Herz ist nicht aus Stein«, verteidigt sich Bo. »Ich habe unsere Doku auf dem Rückflug noch mal angeschaut. Erinnert ihr euch, wer das letzte Wort hatte? Tom. ›Jeder Tag, den du aus deinem Bett aufstehen und rumlaufen kannst, ist ein guter Tag‹, hat er gesagt. Joe tut mir unendlich leid, von ganzem Herzen.«

»Na ja, zumindest von einem Teil deines ganzen Herzens«, neckt Rachel sie freundlich.

»Was soll Joe denn jetzt machen?«, fährt Bo fort, ohne auf den Spott einzugehen. »Mit wem kann er sich unterhalten? Wird er überhaupt daran denken, dass er essen muss? Tom war doch immer derjenige, der die Lebensmittel organisiert und der auch gekocht hat.«

»Dosensuppe, Baked Beans auf Toast oder Tee und Toast – das würde ich nicht gerade kochen nennen. Ich denke, Joe wird diese Herausforderung bewältigen«, meint Rachel lächelnd und erinnert sich daran, wie die beiden Männer an Winternachmittagen, wenn es schon dunkel geworden war, zusammen am Tisch saßen und hartes, trockenes Brot in ihre wässrige Suppe tunkten.

»Für Bo ist das eine Mahlzeit mit drei Gängen«, witzelt Solomon weiter.

»Stellt euch vor, wie einsam das Leben jetzt für ihn sein wird, da oben auf dem Berg, vor allem im Winter, wenn er eine Woche oder noch länger keinen Menschen zu Gesicht bekommt«, sagt Bo.

Einen Augenblick herrscht Schweigen, während alle drei über Joes zukünftiges Leben sinnieren. Sie kennen ihn besser als die meisten anderen Menschen. Bei den Dreharbeiten haben die beiden Brüder sie an ihrem Leben teilhaben lassen und waren offen für jede Frage.

Während des Filmens hat Solomon oft überlegt, wie die Brüder einzeln funktionieren würden. Tom und Joe verließen die Farm fast nur, um zum Markt zu fahren oder auf der Weide nach den Schafen zu sehen. Um den Haushalt kümmerte sich die Haushälterin, den Brüdern war dieser Bereich immer eher lästig. Mahlzeiten wurden schweigend eingenommen, hastig schaufelten die beiden ihr Essen in den Mund, bevor sie sich wieder an die Arbeit machten. Sie waren einander so ähnlich, so nah, dass der eine die Sätze des anderen vollendete. Jeder ging seinen Erledigungen nach, ohne den anderen zu behindern, es war fast eine Art Tanz, wenn auch nicht unbedingt ein sehr eleganter, sondern eher einer, der sich im Lauf der Zeit eingeschliffen hatte, ohne ausdrückliche Absicht, unbemerkt. Trotz des Mangels an Anmut – oder vielleicht sogar deswegen –, war es schön, ja faszinierend, den beiden bei ihrer Arbeit, ihrem Leben zuzusehen.

Es hieß immer »Joe und Tom«, nie »Tom und Joe«. Joe war zwei Minuten älter. Äußerlich waren die beiden eineiigen Zwillinge vollkommen gleich, und trotz ihrer unterschiedlichen Persönlichkeit verstanden sie sich ausgezeichnet. Obwohl ihr unkonventionelles Arrangement sicher nicht jedem einleuchtete, wirkte es dennoch eigentümlich sinnvoll.

Sie wechselten nie viele Worte, Erklärungen oder Beschreibungen waren unnötig. Stattdessen beruhte ihre Kommunikation oft ausschließlich auf Gesten und Geräuschen, die für sie eine Bedeutung hatten: Kopfnicken, Achselzucken, Handbewegungen, die nötigsten Worte hie und da. Es dauerte eine Weile, bis die Filmcrew die Botschaften verstand, die zwischen den Zwillingen ausgetauscht wurden. Die beiden Brüder waren so aufeinander eingespielt, dass sie die Stimmungen, die Sorgen und Ängste des anderen problemlos erspüren konnten. Sie wussten in jedem Augenblick, was der andere gerade dachte, aber sie verschwendeten keinen Gedanken an die Schönheit ihrer außergewöhnlichen Beziehung. Bos tiefschürfende Analysen ihrer Persönlichkeit brachte sie oft völlig aus dem Konzept. Das Leben ist, was es ist; die Dinge sind, wie sie sind; es hat keinen Sinn, sie zu ergründen, keinen Sinn, etwas verändern zu wollen, was nicht verändert werden kann, oder verstehen zu wollen, was man nicht verstehen kann.

»Sie wollten keinen Kontakt zu anderen Menschen, weil sie einander hatten. Das hat ihnen vollständig genügt«, sagt Bo und wiederholt damit einen Satz, den sie bei Promotionveranstaltungen ihres Films sicher tausendmal gesagt hat. Aber noch immer meint sie jedes Wort davon ernst. »Du meinst also, ich jage nur hinter einer interessanten Geschichte her?«, fragt Bo. »Ach, du kannst mich mal.«

Rachel wirft ihre leere Verpackung über Bos Schulter.

Solomon kichert und schließt wieder die Augen. »Da geht es schon wieder los.«

2

»Wow«, sagt Bo, als das Auto langsam auf die wunderschön gelegene Kirche zufährt. »Wir sind früh dran. Rachel, kannst du deine Kamera aufbauen?«

Jetzt ist Solomon auf einmal hellwach und setzt sich auf. »Bo, wir filmen doch die Beerdigung nicht. Das können wir nicht machen.«

»Warum denn nicht?«, fragt sie, und ihre braunen Augen starren in seine.

»Weil du keine Genehmigung hast.«

Sie blickt sich um. »Von wem brauchen wir eine Genehmigung? Wir befinden uns nicht auf Privatbesitz.«

»Okay, ich bin dann mal draußen«, sagt Rachel und steigt aus, um nicht schon wieder in einen Streit zwischen den beiden verwickelt zu werden. Die Turbulenzen beschränken sich nicht auf Solomon, sie treffen jeden, der mit Bo zu tun hat. Sie ist so stur, dass sie den friedlichsten Menschen auf die Palme bringt, als ob die einzige ihr bekannte Art, zu kommunizieren oder etwas in Erfahrung zu bringen, darin besteht, die Dinge so auf die Spitze zu treiben, dass eine Debatte ausbricht. Natürlich tut sie das nicht, weil ihr Streitereien so viel Spaß machen; sie braucht Diskussionen, um zu begreifen, wie andere Leute denken. Sie tickt anders als die meisten, und obwohl sie sensibel ist, bezieht sich diese Sensibilität mehr auf die Geschichten der Menschen und nicht so sehr auf die Methoden, mit denen sie ihnen diese Geschichten entlockt. Damit liegt sie durchaus nicht immer falsch, und im Lauf der Zeit hat Solomon eine Menge von ihr gelernt. Manchmal muss man bei peinlichen oder unbehaglichen Momenten einfach nachbohren, manchmal braucht die Welt Menschen wie Bo, um Grenzen zu überschreiten und die Leute dazu zu bringen, dass sie sich öffnen und ihre Geschichte erzählen – aber es geht eben auch darum, den richtigen Augenblick dafür zu finden, und das schafft Bo nicht immer.

»Du hast Joe nicht gefragt, ob du filmen darfst«, erklärt Solomon.

»Dann frage ich ihn eben, wenn er kommt.«

»So etwas kannst du nicht direkt vor dem Begräbnis seines Bruders ansprechen. Das ist taktlos.«

Bo schaut sich um, und Solomon merkt, dass ihr Gehirn fieberhaft arbeitet.

»Aber vielleicht sind ein paar von den Trauergästen nach der Beerdigung bereit, uns ein Interview zu geben. Vielleicht erzählt uns jemand ein paar Anekdoten über Tom, die wir noch nicht kennen. Oder sagt uns, was er darüber denkt, wie es mit Joe nach Toms Tod wohl weitergeht. Wer weiß, womöglich will Joe dann ja doch mit uns sprechen. Ich möchte gern ein Gefühl dafür kriegen, wie sein Leben jetzt läuft und wie er sich die Zukunft vorstellt.« Während ihrer ganzen Erklärung wendet sie sich nebenbei hierhin und dorthin, um die Perspektive auszuloten.

»Momentan ist sein Leben wahrscheinlich verdammt einsam und traurig, würde ich sagen«, faucht Solomon, der dabei ist, die Beherrschung zu verlieren, und lieber schnell aussteigt.

Bo schaut ihm verdattert nach und ruft: »Nachher kaufen wir gleich was zu essen, damit du mir nicht den Kopf abbeißt.«

»Ein bisschen Einfühlungsvermögen wäre wirklich angebracht, Bo.«

»Ich wäre doch gar nicht hier, wenn mir Toms Tod egal wäre.«

Solomon mustert sie wütend, aber dann verliert er die Lust zu streiten und ahnt außerdem, dass er verlieren würde. Also entspannt er sich etwas, vertritt sich die Beine und schaut sich ebenfalls um.

Gougane Barra liegt westlich von Macroom im County Cork. Der irische Name Guagán Barra, »Der Fels von Barra«, geht auf den Heiligen Finbar zurück, der im sechsten Jahrhundert auf einer Insel in einem nahe gelegenen See ein Kloster gebaut hat. Dank der einsamen Lage war St. Finbar’s Oratory in der Zeit um 1700 sehr populär, denn dort konnte einigermaßen ungestört die von der englisch-protestantischen Herrschaft für illegal erklärte katholische Messe gefeiert werden. Heutzutage ist die Kapelle aufgrund ihrer atemberaubend schönen Umgebung für Hochzeiten sehr beliebt. Solomon fragt sich, warum Joe sie ausgewählt hat; er ist überzeugt, dass Joe nicht irgendwelchen Trends folgt, und auch an der romantischen Kulisse hat er bestimmt kein Interesse. Die Toolin-Farm ist total abgelegen, und obwohl sie ja zu irgendeiner Kirchengemeinde gehören muss, ist Solomon nicht sicher, zu welcher. Er weiß, dass die Toolin-Zwillinge nicht religiös waren; zwar ist das für ihre Generation ungewöhnlich, aber sie sind eben ungewöhnliche Menschen.

Er ist überzeugt, dass es nicht richtig ist, Joe am Tag der Beerdigung seines Bruders zu interviewen, aber er hat selbst eine ganze Menge Fragen an ihn, und obwohl er so frustriert war, dass Bo wieder einmal eine Grenze überschritten hat, weiß er auch, dass er jedes Mal auch davon profitiert.

Er macht sich allein auf den Weg. Hin und wieder bestimmt Bo einen Bereich, eine Perspektive oder ein Objekt, auf das Rachel die Kamera richten soll, aber meistens überlässt sie ihre Mitarbeiter sich selbst. Genau das gefällt Solomon an ihrer Zusammenarbeit so gut. Ganz ähnlich wie die beiden Toolins verstehen auch Bo, Solomon und Rachel genau, wie die jeweils anderen Mitglieder des Teams am liebsten arbeiten, und lassen einander den dafür notwendigen Raum. Dieses Gefühl von Freiheit vermisst Solomon bei den anderen Aufträgen, die er annimmt, um seine Rechnungen bezahlen zu können. Der Winter, den er damit verbracht hat, für eine Fernsehsendung mit dem Titel Grotesque Bodies Menschen mit ungewöhnlich geformten Körperteilen aufzunehmen, und der darauffolgende Sommer bei einem Realityformat, bei dem extrem Übergewichtige fitgemacht werden sollten, haben ihm jede Menge Energie geraubt. Er ist dankbar für die Dokumentationen mit Bo, für Bos Neugier. Was ihn an ihr irritiert, ist genau das Gleiche, was ihm andererseits dabei hilft, sich von den Aufträgen zu befreien, die er nur macht, um Geld zu verdienen.

Eine Stunde, nachdem sie begonnen haben zu filmen, trifft der Leichenwagen ein, dicht gefolgt vom inzwischen achtzigjährigen Joe Toolin am Steuer seines Land Rovers. Er steigt aus dem Jeep, in dunkelbraunem Anzug, Pullover und Hemd – dieselben Sachen, in denen sie ihn schon hundertmal gesehen haben, mit Ausnahme der Halbschuhe, die er heute anstelle seiner sonst üblichen Gummistiefel trägt. An diesem sonnigen Sommertag ist er genauso gekleidet wie mitten im Winter, vielleicht mit einer Schicht weniger darunter. Auf dem Kopf hat er eine Tweedkappe.

Bo geht sofort zu ihm, Rachel und Solomon folgen.

»Joe«, sagt Bo und schüttelt ihm die Hand. Umarmen lässt er sich nicht gern, Körperkontakt ist ihm unbehaglich. »Es tut mir so leid.«

»Ihr hättet nicht kommen müssen«, sagt er und schaut die drei überrascht an. »Wart ihr nicht in Amerika, als ich angerufen habe?«, fragt er, und es klingt, als wären sie auf einem anderen Planeten gewesen.

»Ja, aber wir sind sofort nach Hause gekommen, um bei dir sein zu können. Ist es in Ordnung, wenn wir heute filmen, Joe? Wäre das okay? Die Menschen, die eure Geschichte gesehen haben, würden bestimmt gerne wissen, wie es dir jetzt geht.«

Bei Bos Direktheit verkrampft sich Solomon zwar sofort, aber sie amüsiert ihn gleichzeitig, er findet ihren Mumm und ihre Ehrlichkeit bemerkenswert.

»Na klar«, antwortet Joe mit einer wegwerfenden Handbewegung, als sei es ihm vollkommen gleichgültig.

»Können wir uns vielleicht nachher ein bisschen mit dir unterhalten, Joe? Ist ein kleines Zusammensein geplant? Tee, Sandwiches, so was in der Art?«

»Nein, nein, nur der Friedhof, nichts weiter. Kein Rummel, bloß kein Rummel. Zurück an die Arbeit, ich muss ja jetzt für zwei schuften, richtig?«

Joes Augen sind traurig und müde, umgeben von dunklen Ringen. Der Sarg wird aus dem Wagen geholt und von den Sargträgern auf einen Rollwagen geladen. Einschließlich der Filmcrew sind neun Leute in der Kirche.

Die Trauerfeier ist kurz und sachlich, in der Grabrede erwähnt der Priester Toms Arbeitsmoral, seine Liebe zum Land, seine längst verstorbenen Eltern und die enge Beziehung zu seinem Bruder. Als Toms Sarg in die Erde hinuntergelassen wird, bewegt Joe sich das einzige Mal während der ganzen Zeremonie und nimmt seine Kappe ab. Danach setzt er sie wieder auf und geht zurück zu seinem Jeep. In Gedanken hört Solomon ihn sagen: »Das war’s dann wohl.«

Nach dem Begräbnis interviewt Bo Bridget, die Haushälterin, obwohl dieser Titel nicht ganz zutreffend ist, da sie nur Lebensmittel bringt und in dem feuchten Farmhaus die Spinnweben entfernt. Sie möchte nicht in die Kamera schauen, denn sie hat Angst, das Ding könnte explodieren, und sie wirkt so defensiv, als enthielte jede Frage einen versteckten Vorwurf. Der Ortspolizist Garda Jimmy, der Tierfutterlieferant der Toolins und auch ein Nachbarfarmer, dessen Schafe gemeinsam mit denen der Brüder auf den hügeligen Weiden grasen, weigern sich allesamt, ein Interview zu geben.

Die Fahrt zur Toolin-Farm dauert dreißig Minuten, das Haus liegt einsam im Herzen des Hügellands.

»Gibt es hier eigentlich Bücher?«, fragt Bo unterwegs plötzlich. Sie platzt des Öfteren mit scheinbar willkürlichen Fragen heraus, während sie in Gedanken dabei ist, die aus verschiedenen Informationsquellen stammenden Schnipsel zu einer erzählbaren Geschichte zusammenzufügen.

»Keine Ahnung«, antwortet Solomon und blickt zu Rachel. Sie hat von ihnen das beste räumliche und visuelle Gedächtnis.

Rachel denkt nach und folgt dabei im Kopf ihrem damaligen Drehplan. »In der Küche bestimmt nicht.« Während sie in Gedanken weiter durchs Haus geht, schweigt sie konzentriert. »Im Schlafzimmer auch nicht«, fährt sie schließlich fort. »Jedenfalls nicht auf offenen Regalen. Aber da stehen zwei Nachtschränkchen, da könnten welche drin sein.«

»Aber sonst nirgends?«

»Nein«, antwortet Rachel überzeugt.

»Warum willst du das eigentlich wissen, Bo?«, fragt Solomon.

»Weil Bridget behauptet hat, Tom sei eine ›richtige Leseratte‹ gewesen.« Bo legt die Stirn in Falten. »Und ich persönlich hätte ihn niemals in diese Schublade gepackt.«

»Ich glaube nicht, dass man einem Menschen ansieht, ob er gerne liest oder nicht.«

»Leseratten tragen doch immer Brille«, scherzt Rachel.

»Aber Tom hat in der ganzen Zeit kein einziges Mal ein Buch erwähnt. Ein ganzes Jahr lang sind wir ihrem Alltag von früh bis spät gefolgt, und ich habe ihn nie beim Lesen erwischt, nicht mal mit einem Buch in der Hand. Auch nicht beim Zeitunglesen. Die beiden haben Radio gehört. Wetterbericht, Sport und gelegentlich auch mal die Nachrichten. Dann sind sie ins Bett gegangen. Von Lesen keine Spur.«

»Vielleicht hat Bridge das nur erfunden. Sie war total nervös vor der Kamera«, gibt Solomon zu bedenken.

»Aber sie hat mir in allen Einzelheiten davon erzählt, wie sie in Secondhandläden und auf Flohmärkten nach Büchern für ihn gesucht hat, und ich komme einfach nicht dahinter, warum dann nie eines im Haus herumlag und warum wir weder Tom noch Joe je beim Lesen ertappt haben. Ich würde gern mehr darüber erfahren. Was hat Tom wohl gern gelesen? Und warum? Und wenn er gelesen hat, wieso war es ein Geheimnis?«

»Ich weiß es nicht«, erwidert Solomon gähnend. Er war nie besessen von den Einzelheiten, die Bo so gründlich analysiert, und jetzt, hungrig und müde wie er ist, schon gar nicht. »Vor der Kamera sagen die Leute oft seltsame Dinge. Was meinst du, Rachel?«

Rachel schweigt einen Moment, sie misst der Sache offensichtlich eine größere Bedeutung zu als Solomon. »Na ja, jetzt liest er jedenfalls nichts mehr«, stellt sie dann nüchtern fest.

 

 

Kurz darauf erreichen sie das Farmhaus der Toolins, mitten in der ihnen so vertrauten Umgebung – wie oft sind sie morgens und abends in der Dunkelheit im strömenden Regen über diese unwegsamen Wiesen und Felder getrottet! Die beiden Brüder haben die auf der Schaffarm anfallenden Arbeiten und die damit einhergehende Verantwortung von Anfang an genau aufgeteilt und sich ihr Leben lang daran gehalten. Es war eine Menge Schufterei für einen äußerst geringen Ertrag, aber seit dem Tod ihres Vaters hielt sich jeder zuverlässig an seine Rolle.

»Sag uns, was passiert ist, Joe«, fordert Bo den alten Mann freundlich auf.

Sie und Joe sitzen in der Küche des Farmhauses auf den einzigen beiden Stühlen an dem alten Plastiktisch. Die Küche ist der zentrale Raum des Hauses und enthält einen alten Elektroherd, von dem nur die vier Kochplatten benutzt werden. Es ist kalt und feucht, selbst jetzt im Sommer. An der Wand ist ein einziger Stecker, an dem ein altes Verlängerungskabel mit Mehrfachstecker hängt und alle Geräte in der Küche versorgt: den Herd, das Radio, den Wasserkocher und die Elektroheizung. Ein Desaster ist im Grunde vorprogrammiert. Das Summen des Heizgeräts ist Solomons größter Tonfeind. Im Raum – genau genommen im ganzen Haus – riecht es nach Hund, denn hier leben auch noch zwei Border Collies, Mossie und Ring, benannt nach Mossie O’Riordan und Christy Ring, die im All-Ireland-Hurling-Endspiel von 1952 entscheidend zum Sieg von Cork beigetragen haben. Dieses Spiel war eine der seltenen Gelegenheiten, zu denen die Zwillinge mit ihrem Vater nach Dublin reisten, und auch weiterhin zählt Hurling zu ihren wenigen Interessen außerhalb der Landwirtschaft.

Joe sitzt still auf einem Holzstuhl, die Ellbogen auf den Armlehnen, die Hände vor dem Bauch gefaltet. »Es war Montag. Bridget hatte gerade die Lebensmittel gebracht. Tom sollte sie auspacken und einräumen. Ich bin weggegangen. Als ich zum Tee wiederkam, habe ich Tom hier gefunden, er lag auf dem Boden. Da wusste ich sofort, dass er tot war.«

»Was hast du da gemacht?«

»Ich hab für ihn die Lebensmittel aufgeräumt. Das hatte er nämlich noch nicht erledigt, also muss er, kurz nachdem ich weg bin, gestorben sein. Herzinfarkt. Dann hab ich angerufen …« Er nickt in Richtung des Telefons, das an der Wand hängt.

»Aber zuerst hast du die Lebensmittel weggeräumt?«, hakt Bo nach.

»Ja.«

»Wen hast du angerufen?«

»Jimmy. Auf dem Polizeirevier.«

»Weißt du noch, was du ihm gesagt hast?«

»Nicht mehr so genau. Vermutlich ›Tom ist tot‹ oder irgendwas in der Art.«

Schweigen.

Dann fällt ihm anscheinend wieder ein, dass Bo ihm damals vor drei Jahren geraten hat weiterzureden, damit er selbst es ist, der seine Geschichte erzählt. »Jimmy hat gesagt, er muss auf alle Fälle den Krankenwagen rufen. Obwohl ich wusste, dass man Tom nicht mehr zurückholen kann. Das hat er getan, und dann ist er vorbeigekommen. Während wir auf den Krankenwagen gewartet haben, hab ich uns eine Tasse Tee gemacht.«

»Und Tom lag die ganze Zeit hier auf dem Boden?«

»Klar, wo hätte ich ihn denn sonst hintun sollen?«

»Nirgends vermutlich«, erwidert Bo mit einem kleinen Lächeln. »Hast du irgendwas zu Tom gesagt? Während du mit Jimmy auf den Krankenwagen gewartet hast?«

»Ob ich was zu Tom gesagt habe?«, wiederholt er, als sei das eine von Bos verrückten Ideen. »Aber er war doch tot! Mausetot. Warum sollte ich da noch was zu ihm sagen?«

»Vielleicht zum Abschied oder so. Manchmal machen die Leute das doch.«

»Ach«, meint Joe wegwerfend und schaut weg. Woran er wohl denkt? Vielleicht an den Abschied, den er hätte haben können, vielleicht an die Abschiede, die er bereits erlebt hat, vielleicht an die Schafe, die gemolken werden müssen, oder an den Papierkram, der jetzt ansteht.

»Warum hast du für Toms Beerdigung ausgerechnet diese Kirche ausgesucht?«

»Weil Mammy und Daddy da geheiratet haben«, antwortet er.

»Hat Tom sich gewünscht, dass er dort begraben wird?«

»Hat er nie was davon gesagt.«

»Habt ihr nicht über so was gesprochen? Was nach eurem Tod passieren soll, was ihr euch da wünscht?«

»Nein. Wir wussten ja, dass wir auf der Grabstelle bei Mammy und Daddy beigesetzt werden. Bridget hat die Kapelle erwähnt. Das war eine gute Idee.«

»Wirst du zurechtkommen, Joe?«, fragt Bo mit aufrichtiger Sorge.

»Werd ich wohl müssen. Oder vielleicht nicht?« Ein seltenes Lächeln erscheint auf seinem Gesicht, schüchtern, und auf einmal sieht er aus wie ein kleiner Junge.

»Glaubst du, dass du hier in der Gegend jemanden findest, der dir mit der Arbeit hilft?«

»Ja, das ist schon abgesprochen. Jimmys Sohn hilft mir, wenn ich ihn brauche. Wenn was Schweres gehoben werden muss und so, mit den anstrengenden Sachen eben. Und an den Markttagen.«

»Und was ist mit den Arbeiten, die Tom bisher erledigt hat?«

»Die muss ich jetzt eben übernehmen, richtig?« Er rutscht auf seinem Stuhl herum. »Ist ja sonst niemand mehr da.«

Joe und Tom haben sich beide oft sehr über Bos Fragen amüsiert. Sie stellte Fragen, deren Antwort für die Toolins überdeutlich auf der Hand lag, sie konnten absolut nicht verstehen, warum Bo alles hinterfragte, alles analysierte, wenn es doch war, wie es eben war, und das die ganze Zeit. Warum etwas kompliziert machen, was so einfach ist? Warum nach einer anderen Lösung suchen, wenn es schon eine gibt? Das genügt doch.

»Zum Beispiel bist du jetzt derjenige, der mit Bridget die Einkäufe besprechen und dafür eine Liste zusammenstellen muss. Und kochen natürlich«, erinnert ihn Bo.

Joe macht ein ärgerliches Gesicht. Hausarbeit war noch nie seine Sache, das war immer Toms Bereich. Nicht dass es Tom so viel Spaß gemacht hätte, aber er wusste, wenn er darauf wartete, dass sein Bruder etwas zu essen machte, würde er verhungern.

»Hat Tom eigentlich gern gelesen?«, fragt Bo.

»Hä?«, fragt Joe nach, offensichtlich verwirrt. »Ich glaube nicht, dass Tom in seinem Leben jemals ein Buch gelesen hat. Jedenfalls seit der Schule nicht mehr. Vielleicht den Sportteil in der Zeitung, wenn Bridget sie vorbeigebracht hat.«

Solomon spürt Bos Spannung fast körperlich, sie strafft den Rücken, und gleich wird sie das Thema anschneiden, das ihr so offensichtlich auf den Nägeln brennt.

»Als du am Montag die Einkäufe eingeräumt hast, war da irgendetwas Ungewöhnliches in den Tüten?«

»Nein.«

Da sie Joes Verständnis der englischen Sprache kennt, formuliert sie ihre Frage noch einmal um. »War irgendetwas anders als sonst?«

Jetzt schaut er sie an, als hätte er einen Entschluss gefasst. »Zunächst mal waren da zu viele Lebensmittel.«

»Zu viele?«

»Zum Beispiel zwei Brotlaibe, nicht bloß einer. Und auch zweimal Schinken und Käse. Aber an mehr kann ich mich nicht erinnern.«

»Waren da vielleicht auch Bücher?«

Wieder schaut er sie an. Er starrt, offensichtlich hat etwas sein Interesse geweckt. »Ja. Ein Buch.«

»Darf ich es sehen?«

Er steht auf und holt ein Taschenbuch aus der Küchenschublade. »Hier. Ich wollte es Bridget geben – weil ich dachte, es gehört ihr, und die ganzen überflüssigen Extrasachen wahrscheinlich auch.«

Bo studiert das Buch. Ein zerlesener Krimi, den Bridget irgendwo gebraucht gefunden hat. Sie schlägt ihn auf, in der Hoffnung, eine Widmung oder etwas Ähnliches zu finden, aber da ist nichts. »Du glaubst also nicht, dass Tom sie darum gebeten hat?«

»Also, warum sollte er? Und wenn er es getan hat, dann hat nicht nur mit seinem Herz was nicht mehr ganz gestimmt.« Das sagt er direkt in die Kamera und lacht leise dazu.

Bo lässt das Buch nicht aus den Fingern. »Noch mal zurück zu Toms Aufgaben. Welche Pflichten hast du jetzt auf der Farm?«

»Na, das Übliche eben.« Joe sieht aus, als mache er sich zum ersten Mal richtig klar, womit Tom eigentlich Tag für Tag seine Zeit verbracht hat und was er nun zusätzlich übernehmen muss. Wahrscheinlich hat er nie darüber nachgedacht – höchstens vielleicht, wenn sie abends einmal etwas Konkretes zu besprechen hatten. »Er hat sich zum Beispiel um den Brunnen beim Fledermaushaus gekümmert. Da war ich schon seit Jahren nicht mehr. Vermutlich sollte ich den jetzt im Auge behalten.«

»Das Fledermaushaus hast du noch nie erwähnt«, sagt Bo. »Kannst du uns hinbringen?«

 

 

Begleitet von einem der beiden treuen Hütehunde steigen die vier in den Jeep, und Joe fährt sie über sein Land, auf Feldwegen, die schon jetzt nicht ganz ungefährlich wirken, so dass man sich gut vorstellen kann, wie es im Winter hier aussieht, an stürmischen Tagen oder wenn morgens alles gefroren ist. Ein Achtzigjähriger kann die ganze Arbeit unter diesen Bedingungen unmöglich allein schaffen, das haben die Brüder ja zu zweit nur mit Mühe bewältigt. Bo hofft, dass Jimmys Sohn ein fitter junger Mann ist, der mehr erledigt, als Joe von ihm verlangt – denn Joe ist kein Mensch, der andere gern um Hilfe bittet.

Vor einer rostigen Schranke müssen sie anhalten. Solomon ist schneller als Joe, springt aus dem Jeep und öffnet sie. Dann rennt er dem Jeep nach, holt die anderen ein, als Joe auf einer Lichtung am Waldrand parkt, und lädt seine Geräte aus. Gemeinsam gehen sie los, Mossie, der Hund, flitzt vor ihnen her.

»Schlechter Boden hier, wir konnten nie was damit anfangen, aber wir haben ihn trotzdem behalten«, erzählt Joe unterwegs. »In den dreißiger Jahren hat Dad Sitka-Fichten und Drehkiefern gepflanzt. Die kommen auch auf schlechten Böden zurecht und halten starkem Wind stand. Ungefähr dreizehn Hektar. Von da oben hat man einen guten Blick auf den Gougane Barra Forest Park.«

Sie gehen den Pfad entlang und kommen zu einer Lichtung mit einem Schuppen, der wohl einmal weiß gestrichen war, dessen Farbe aber verblasst ist und abblättert, so dass darunter trister Beton zum Vorschein kommt. Die Fenster sind mit Brettern vernagelt. Im Kontrast zu der herrlichen Umgebung wirkt die Hütte trostlos und karg, selbst an einem schönen sonnigen Tag wie heute.

»Das ist das Fledermaushaus«, erklärt Joe. »Hunderte von den Viechern hausen da drin. Als Kinder haben wir oft hier gespielt.« Er lacht leise. »Als Mutprobe ist einer von uns reingegangen, und der andere hat gezählt, wie lange er es aushält. Und wer am längsten drin war, hat gewonnen.«

»Wann warst du zum letzten Mal hier?«, fragt Bo.

»Hm. Vor zwanzig Jahren. Vielleicht ist es auch länger her.«

»Und wie oft war Tom hier?«, fragt Bo weiter.

»Ein-, zweimal die Woche. Um nachzuschauen, dass der Brunnen nicht verunreinigt ist. Der ist übrigens da drüben, hinter dem Schuppen.«

»Wenn ihr kein Geld mit dem Land verdienen konntet, warum habt ihr es dann nicht verkauft?«

»Nach Dads Tod haben wir es versucht. Irgend so ein Knabe aus Dublin wollte sich hier ein Haus bauen, aber das Fledermaushaus kam dazwischen. Waren umweltbewusste Leute.« Er reckt verächtlich das Kinn in die Luft und erklärt: »Die meinten, die Fledermäuse sind eine bedrohte Spezies, deshalb wollten sie den Schuppen nicht abreißen, und nebendran wollten sie auch nicht bauen, weil das die Flugbahn der Viecher gestört hätte. Damit war die Sache dann vom Tisch, und wir haben das Land wieder vom Markt genommen. Mossie!«, ruft Joe den Hund, der sich selbständig gemacht hat und außer Sicht ist.

Seit sie ausgestiegen sind, hat Rachel eifrig gefilmt, aber jetzt macht sie Pause. Sie geht zum Fledermaushaus, drückt das Gesicht an eins der Fenster und versucht, durch die Ritzen in den Bretterverschlägen zu spähen. Bo bemerkt, dass Solomon sich mit seiner Ausrüstung in Richtung Wald entfernt, aber da sie hofft, dass er unterwegs ist, weil er etwas Interessantes gehört hat, lässt sie ihn gehen. Und selbst wenn das nicht der Fall gewesen ist, weiß sie doch, dass sie ihn und Rachel heute Morgen in aller Herrgottsfrühe ohne Frühstück hierhergeschleppt hat und dass die beiden im Gegensatz zu ihr ohne regelmäßige Nahrungszufuhr nicht gut funktionieren. Allmählich werden sie gereizt, also ist es vielleicht gar nicht schlecht, wenn Solomon eine Weile allein ist.

»Wo ist denn der Brunnen?«

»Dort drüben, gleich hinter dem Fledermaushaus.«

»Würde es dich stören, wenn wir dich filmen, wie du den Brunnen kontrollierst?«

Joe beantwortet ihre zweite Frage nur mit dem typischen Grunzlaut, der signalisieren soll, dass er ganz entspannt und bereit ist, alles zu tun, was Bo von ihm möchte – ganz gleich, für wie seltsam er ihr Ansinnen hält.

Während Rachel, die über jedes Thema Konversation machen kann, mit Joe über Fledermäuse plaudert, wandert Bo zur Rückseite des Fledermaushauses. Hier steht eine baufällige Hütte, äußerlich im gleichen Zustand wie das Fledermaushaus, der weiße Anstrich fast völlig abgeblättert, der graue Beton öde zwischen dem ganzen Grün der Landschaft. Mossie schnüffelt vor der Hütte auf dem Boden herum.

»Wer hat hier gewohnt?«, fragt Bo.

»Hä?«, ruft Joe zurück, der sie nicht verstanden hat.

Sie betrachtet die Hütte genauer. Anders als im Fledermaushaus gibt es hier Fenster. Saubere Fenster.

Inzwischen sind Joe und Rachel ihr gefolgt und biegen gerade auf den Weg zu der Hütte ein.

»Wer hat hier gewohnt?«, wiederholt Bo ihre Frage.

»Die Tante meines Vaters. Ist lange her. Sie ist ausgezogen, und die Fledermäuse sind eingezogen.« Wieder lacht er leise. Dann schließt er die Augen und versucht, sich an ihren Namen zu erinnern. »Kitty. Wir haben die arme Frau nach Strich und Faden gequält. Und sie hat uns mit ihrem Kochlöffel verhauen.«

Bo geht ein Stück weiter, weg von den beiden anderen, näher zu der Hütte, und schaut sich weiter um. Direkt neben dem Cottage entdeckt sie ein Gemüsebeet und ein paar Beerensträucher. In einem der Fenster steht ein großes Glas mit Blumen.

»Und wer wohnt jetzt hier, Joe?«, fragt sie schließlich noch einmal.

»Niemand. Vielleicht Fledermäuse«, scherzt er.

»Aber schau doch mal.«

Joe betrachtet all das, was Bo bereits entdeckt hat. Den Gemüsegarten, die Beerensträucher, die Hütte, die blitzsauberen Fenster, die grüngestrichene Tür – frischere Farbe als irgendwo sonst in der Nähe. Aber er macht einen ehrlich verwirrten Eindruck. Bo geht nach hinten und findet eine Ziege und zwei Hühner, die dort herumwandern.

Mit klopfendem Herzen ruft sie: »Hier wohnt jemand, Joe, ganz bestimmt.«

»Eindringlinge? Auf meinem Land?«, brummt er wütend – ein Gefühlszustand, den Bo weder bei Joe Toolin noch bei seinem Bruder in all der langen Zeit, die sie mit ihnen verbracht hat, jemals wahrgenommen hat.

Mit geballten Fäusten läuft er auf das Cottage zu, dicht gefolgt von Mossie. Aber Bo versucht, ihn aufzuhalten.

»Warte, Joe, warte! Lass mich Solomon holen. Solomon!«, ruft sie. Eigentlich möchte sie die Person, die in der Hütte wohnt, nicht auf sich aufmerksam machen, aber sie hat keine andere Wahl. »Rachel, film das bitte.« Rachel ist bereits in Aktion.

Joe kümmert sich nicht mehr um ihre Dokumentation und hat bereits die Hand auf dem Türgriff. Doch dann hält er plötzlich inne – als wäre ihm eingefallen, dass er eigentlich ein Gentleman ist – und klopft stattdessen an.

Bo blickt zum Wald hinüber, zu der Stelle, wo Solomon verschwunden ist, und wieder zurück zum Cottage. In diesem Moment möchte sie ihrem Freund den Hals umdrehen. Sie hätte ihn nicht gehen lassen dürfen, es war unprofessionell von ihm, einfach wegzulaufen. Sie hat nicht eingegriffen, weil sie gemerkt hat, dass er hungrig ist, und weil sie weiß, wie unleidlich er dann wird. Mürrisch, unkonzentriert, gereizt. Zu den frustrierenden Aspekten einer Beziehung mit einem Kollegen gehört auch, dass es einen tatsächlich kümmert, wenn man eine Entscheidung fällen muss, die daran schuld ist, dass der Betreffende nicht regelmäßig zu essen bekommt. Die Qualität des Sounds gerät in Gefahr. Aber wenigstens haben sie die Bilder, den Ton können sie zur Not auch noch später einfügen.

»Sei vorsichtig, Joe«, mahnt Rachel. »Wir wissen nicht, wer uns da drin erwartet.«

Da aus dem Cottage keine Antwort kommt, öffnet Joe schließlich doch die Tür und geht hinein. Rachel ist mit der Kamera direkt hinter ihm, Bo folgt den beiden.

»Was zum …« Joe steht in der Mitte des Zimmers, schaut sich um und kratzt sich am Kopf.

Schnell zeigt Bo auf bestimmte Gegenstände, die Rachel filmen soll.

Die Hütte besteht aus einem einzigen Raum. Unter einem der kleinen Fenster mit Blick auf das Gemüsebeet steht ein schmales Bett. Auf der anderen Seite ist eine Feuerstelle, ein Herd, nicht unähnlich dem in Joes Farmhaus, und ein Bücherregal mit einem Sessel davor. Die vier Fächer sind vollgestopft mit Büchern, auf dem Boden daneben sind ordentlich weitere Bücher aufgestapelt.

»Bücher!«, staunt Bo.

Auf dem Boden liegen mehrere Teppiche aus Schaffell, zweifellos, um dem kalten Steinboden in den Wintermonaten etwas Wärme zu verleihen, denn außer dem offenen Kamin scheint es in der Hütte keine Heizung zu geben. Auch über Bett und Sessel sind Schaffelle gebreitet, auf einem Seitentischchen steht einsam ein kleines Radio.

Der Raum hat eine eindeutig weibliche Aura, obwohl Bo nicht genau begründen kann, warum sie das so empfindet. Ihr ist klar, dass es voreingenommen wäre, es an dem Glas mit den Blumen im Fenster festzumachen, es riecht auch nicht nach einem Frauenparfüm, aber der Raum wirkt trotzdem weiblich, er strahlt etwas völlig anderes aus als das schmutzig-rustikale Farmhaus der Toolin-Zwillinge. Hier herrscht eine andere Atmosphäre. Gepflegt, wohnlich. Über einer Stuhllehne hängt ordentlich eine rosa Jacke. Bo stupst Rachel an.

»Hab ich schon«, sagt sie. Ihr steht der Schweiß auf der Stirn.

»Mach ruhig weiter, ich bin gleich wieder da«, sagt Bo und rennt aus dem Cottage, in Richtung Wald.

»Solomon!«, brüllt sie aus vollem Hals, denn sie weiß, dass es hier bestimmt keine Nachbarn gibt, die sie stören könnte. Als sie wieder auf die Lichtung vor dem Fledermaushaus kommt, entdeckt sie ihn ein Stück weiter unten zwischen den Bäumen. Er steht einfach nur da und starrt wie in Trance auf irgendetwas, was Bo nicht sehen kann. Seine Audiotasche liegt ein Stück von ihm entfernt auf dem Boden, das Galgenmikrophon lehnt an einem Baum. Die Tatsache, dass er nur rumsteht und nicht arbeitet, gibt ihr den Rest.

»Solomon!«, schreit sie noch einmal, und jetzt blickt er endlich auf. »Wir haben eine Hütte gefunden! Hier wohnt jemand! Geräte, los, Beeilung, auf geht’s!« Sie ist nicht sicher, ob ihre Anweisungen einen Sinn ergeben oder auch nur in der richtigen Reihenfolge ausgestoßen wurden, sie weiß nur, Solomon muss sich bewegen, sie braucht Ton, sie muss diese Geschichte einfangen.

Aber als Antwort hört Bo ein Geräusch, das anders ist als alles, was sie jemals zuvor gehört hat.

3

Das Geräusch ist ein Krächzen, wie von einem Vogel, jedenfalls nicht menschlich, aber es kommt von einem Menschen, nämlich von der Frau, die dort unter einem Baum steht.

Bo rennt hinunter in den Wald. Als die blonde Frau sie sieht, lässt sie vor Schreck ihren Korb fallen, der Inhalt ergießt sich auf den Waldboden, und sie reißt ängstlich die Augen auf.

»Alles gut«, sagt Solomon und streckt beschwichtigend die Hände aus. Er steht zwischen Bo und der Fremden und benimmt sich, als wolle er ein Wildpferd zähmen. »Keine Angst, wir tun dir nichts.«

»Wer ist das denn?«, fragt Bo.

»Bleib, wo du bist, Bo«, entgegnet er ärgerlich und ohne sich zu ihr umzudrehen.

Natürlich ignoriert sie ihn und kommt trotzdem näher. Wieder stößt die junge Frau einen Laut aus, diesmal eine Art Zwitschern – vorausgesetzt, man hielte es für möglich, dass ein Zwitschern wie ein Bellen klingt. Und es ist unmissverständlich an Bo gerichtet.

Zuerst ist sie fassungslos, aber dann schleicht sich ein fasziniertes Lächeln über ihr Gesicht.

»Ich glaube, sie will, dass du sie in Ruhe lässt«, sagt Solomon.

»Okay, Doktor Doolittle, aber ich hab nichts Falsches getan«, erwidert Bo und ärgert sich, weil er ihr Anweisungen gibt. »Deshalb geh ich auch nicht weg.«

»Dann komm wenigstens nicht näher«, beharrt Solomon.

»Sol!«, ruft sie empört.

»Hey, hey, alles okay«, sagt er zu der jungen Frau und bewegt sich ein Stück in ihre Richtung. Dann geht er auf Hände und Knie, hebt die Blumen und Kräuter vom Boden auf, legt sie in ihren Korb zurück und hält ihn ihr entgegen. Sie hört auf zu zwitscherbellen, schaut aber immer noch voller Angst und mit großen Augen zwischen Solomon und Bo hin und her.

»Mein Name ist Bo Healy. Ich bin Filmemacherin, und wir sind mit Joe Toolins Erlaubnis hier«, stellt Bo sich vor und streckt der blonden Frau die Hand hin.

Doch die blickt argwöhnisch darauf und stößt noch eine Reihe weiterer gequälter Laute aus, die allesamt keine Worte sind.

»O mein Gott.« Bo schaut Solomon an, holt ihr Handy heraus und ruft Rachel an. »Komm schnell auf die Lichtung, Rachel. Ich brauche die Kamera.« Dann legt sie schnell auf. »Halte das fest, Sol«, formt sie mit den Lippen und blickt vielsagend zu seiner Tonausrüstung – anscheinend hat sie Angst, sich zu bewegen.

Unterdessen feuert die junge Frau ein bizarres Geräusch nach dem anderen ab. Etwas so Seltsames ist Solomon noch nie zu Ohren gekommen, es klingt nicht, als produziere sie die Laute mit ihren eigenen Stimmbändern, es hört sich an wie eine Tonbandaufnahme. Solomon ist so überwältigt und fasziniert, dass er die Augen nicht von ihr abwenden kann, doch so genau er auch hinschaut, es sind keine Kabel an ihr zu entdecken. Es ist alles real.

Er macht ein paar Schritte auf seine Audiotasche zu.

Im selben Moment kommt Rachel mit der Kamera zwischen den Bäumen hervor, dicht gefolgt von Joe.

»Was zur Hölle geht denn da unten vor?«, ruft Rachel und bleibt wie angewurzelt stehen, als sie es mit eigenen Augen sieht.

Sofort wendet sich die junge Frau zu Rachel um und fängt an, die Geräusche einer Autoalarmanlage auszustoßen. Unwillkürlich stellt Solomon sich vor, wie die Szene aus ihrer Perspektive aussieht, umringt von drei wildfremden Menschen, die sie in diesem Wald noch nie gesehen hat – sie muss sich fühlen wie ein Tier in der Falle. Er bringt es nicht übers Herz, irgendetwas davon aufzunehmen. Es erscheint ihm nicht richtig.

Bo spürt sein Zögern und seufzt. »Ach, um Himmels willen«, faucht sie ihn an. Dann tut sie das, was sie schon von Anfang an hätte tun sollen, wenn sie nur daran gedacht hätte, und filmt die Szene mit ihrem Smartphone.

Inzwischen hat sich auch Joe zu ihnen gesellt.

Die blonde Frau schaut Joe an, und auf einmal scheint sie sich zu beruhigen, jedenfalls hört sie mit den Geräuschen auf.

»Wer sind Sie denn?«, ruft Joe, halb hinter einem Baum versteckt, und in seiner Stimme hört man, dass er Angst hat. »Was haben Sie auf meinem Land zu suchen?«

Prompt gerät die junge Frau erneut in Panik und weicht ein paar Schritte zurück.

Solomon beobachtet die anderen: Joe starrt ihn grimmig an, Bo filmt mit dem Smartphone, Rachel hat die Kamera auf sie gerichtet.

Aber Solomon selbst ist fix und fertig, er braucht dringend etwas zu essen.

»Stopp!«, ruft er laut, und tatsächlich sind alle sofort still. »Sie hat Angst vor euch, das seht ihr doch. Also zieht euch zurück und lasst sie gehen.«

Die junge Frau starrt ihn an.

»Du kannst gehen, wenn du willst«, erklärt er ihr.

Aber sie sieht ihn weiter an. Grüne Augen, die ihn unverwandt mustern.

»Ich glaube nicht, dass sie dich versteht«, meint Bo, die immer noch filmt.

»Natürlich versteht sie mich«, faucht Solomon.

»Ich glaube nicht, dass sie sprechen kann … jedenfalls nicht mit Worten. Wie heißt du?«, fragt Bo.

Die junge Frau ignoriert ihre Frage und lässt Solomon nicht aus den Augen.

»Sie heißt Laura«, erklärt er unvermittelt.

Auf einmal kommt Mossie aus Richtung Fledermaushaus in den Wald gerannt, wahrscheinlich um sein Revier vor dem Eindringling zu schützen. Aber statt neben Joe stehen zu bleiben, rennt er weiter, direkt auf Laura zu.

»Langsam, langsam, ruf ihn zurück, Joe!«, sagt Solomon besorgt, denn er macht sich Sorgen, der Hund könnte Laura beißen.

Aber Mossie hält direkt vor ihr inne, umkreist sie dann aufgeregt, hüpft an ihr hoch, damit sie sich ihm zuwendet, leckt ihre Hand.

Sie krault ihn – kein Zweifel, die beiden kennen sich –, behält die Umstehenden dabei aber nervös im Blick. Schließlich streckt sie Solomon die Hand entgegen, und er schaut sie verwirrt an, weil er denkt, sie möchte seine Hand halten. Aber als er die Hand ebenfalls ausstreckt, lächelt sie und schaut hinunter auf den Korb.

»Sie will ihren Korb zurück, Sol«, erklärt Bo.

Verlegen reicht er ihn ihr.

Laura nimmt den Korb und geht los, Mossie im Schlepptau. Um die Menschen macht sie allerdings einen großen Bogen, und als sie an Bo vorbeikommt, knurrt sie leise, genau wie ein Hund, so real, dass es genauso gut vom Tonband oder von Mossie kommen könnte. Sie betrachtet Joe eingehend, und sobald sie die Fremden hinter sich gelassen hat, rennt sie durch den Wald bergauf, vorbei am Fledermaushaus, in Richtung Cottage.

»Hast du das, Rachel?«, fragt Bo.

»Jepp.« Rachel nimmt die Kamera von der Schulter und wischt sich den Schweiß von der Stirn. »Ich hab die blonde Frau, wie sie dich anknurrt.«

»Wo ist sie hingegangen?«, fragt Solomon.

»Hinter dem Fledermaushaus ist ein Cottage«, erklärt Rachel. Bo ist zu sehr damit beschäftigt, ihr Videomaterial zu sichten und sich zu vergewissern, dass sie den Augenblick auch wirklich getroffen hat.

»Kennst du sie, Joe?«, fragt Solomon. Was gerade passiert ist, verwirrt ihn, aber er spürt, wie das Adrenalin durch seine Adern rauscht, und zittert ein bisschen.

»Sie hat unerlaubt Privatgelände betreten!«, schimpft Joe, noch immer wutschnaubend.

»Glaubst du, Tom hat von ihr gewusst?«, fragt Bo.

Die Frage scheint Joe aus der Fassung zu bringen. Nacheinander erscheinen auf seinem Gesicht Gewissheit, Verwirrung, Ärger, Enttäuschung und Fassungslosigkeit. Dann wird er traurig. Wenn sein Zwillingsbruder wusste, dass diese junge Frau in dem Cottage auf ihrem Land wohnt, dann hat er es ihm gezielt verheimlicht. Also gab es zwischen den beiden Brüdern, die alles miteinander teilten, in Wirklichkeit doch ein Geheimnis – und zwar ein ziemlich großes.

4

»Es gibt nur eine Möglichkeit, die Antworten zu finden«, sagt Bo, rollt die Ärmel ihrer schwarzen Bluse hoch und lässt ihre bereits gebräunte Haut weiter von der Sonne bescheinen. »Wir müssen mit dem Mädchen reden.«

»Sie ist kein Mädchen. Sie ist eine junge Frau, und sie heißt Laura«, entgegnet Solomon scharf und weiß selbst nicht, worüber er sich eigentlich ärgert. »Und ich bezweifle ernsthaft, dass sie mit uns sprechen möchte, nachdem wir ihr einen derartigen Schreck eingejagt haben.«

»Ich wusste nicht, dass sie … ich wusste nichts von ihrer … Behinderung«, verteidigt sich Bo.

»Behinderung?«, wiederholt Solomon empört.

»Ach, komm schon – wie lautet denn der politisch korrekte Ausdruck dafür?« Bo überlegt. »Entwicklungsbeeinträchtigung, schlichtes Gemüt, wär das besser? Du weißt doch, was ich meine, es ist mir nur so rausgerutscht.«

»Na ja, normal ist sie ja wirklich nicht gerade«, stellt Rachel fest und setzt sich erschöpft und verschwitzt auf einen Felsbrocken.

»Wie auch immer man es nennt, irgendwas stimmt jedenfalls nicht mit ihr, Solomon«, sagt Bo, streicht sich die Haare aus dem Gesicht und zwirbelt ihren Dutt neu zusammen. Man sieht ihr an, dass sie vor Aufregung beinahe platzt. »Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich doch ganz anders auf sie zugegangen. Habt ihr zwei euch unterhalten? Abgesehen davon, dass sie dir ihren Namen gesagt hat? Du warst ja schon eine ganze Weile vor uns bei ihr.«

»Ich glaube, was jetzt passiert, muss in erster Linie Joe entscheiden. Schließlich gehört das Land ihm«, sagt Solomon, ohne auf Bos Fragen einzugehen. Sein Magen knurrt laut.

Bo wirft ihm einen genervten Blick zu.

Joe scharrt verlegen mit den Füßen, diese Entwicklung der Dinge ist ihm offensichtlich unangenehm. Er mag die Regelmäßigkeit, ihm ist es am liebsten, wenn alles seinen gewohnten Gang geht. Sein Tag war schon stressig und emotional genug. »Ich will Mossie zurückhaben«, sagt er schließlich. »Und diese Frau sollte nicht hier auf meinem Land wohnen.«

»Ist so ’ne Sache mit dem Siedlungsrecht«, gibt Rachel zu bedenken. »Ein Freund von mir hat das mal durchgezogen. Man braucht einen Gerichtsbeschluss, um so jemanden loszuwerden.«

»Und hat dein Freund es geschafft?«, fragt Solomon.

»Mein Freund war selbst der Landbesetzer.«

Trotz seines Frusts muss Solomon grinsen.

»Sie hat kein Recht, meinen Hund zu behalten. Ich hole Mossie«, verkündet Joe, rückt seine Kappe zurecht und marschiert zum Cottage.

»Folg ihm«, sagt Bo schnell, hebt Rachels Kamera auf und gibt sie ihr, ohne auf ihren erschöpft-wütenden Blick zu achten. Aber im selben Moment geht Joe die Puste aus.

»Vielleicht ist es besser, wenn eine Frau mit ihr spricht.«

»Du brauchst mich gar nicht so anzuschauen«, sagt Rachel warnend zu Bo.

Abgesehen von seiner Mutter, Bo, Rachel und Bridget hatte Joe so gut wie nie etwas mit Frauen zu tun. Rachel tut sich eigentlich leicht mit Menschen, aber Joe hat eine Weile gebraucht, sich mit ihr anzufreunden, vor allem, weil sie nicht die Art Frau ist, die er gewohnt ist – dass eine Frau mit einer Frau verheiratet ist, übersteigt seine Vorstellungskraft. Bridget sieht er nicht als Frau – eigentlich sieht er sie überhaupt nicht. Und Bo, die selbst nicht die sozial Kompetenteste ist, macht ihn immer noch ab und zu verlegen. Ein Gespräch mit einer Unbekannten zu führen würde Joe komplett überfordern. Vor allem, wenn sie so merkwürdig ist wie Laura und es Einfühlungsvermögen braucht. Zu viert gehen sie auf das Cottage zu, aber ihre Bewegungen sind weit weniger entschlossen und angriffslustig als vorhin.

Bo klopft an die Tür, Rachel und Solomon warten in sicherer Entfernung.

»Was meinst du, Rachel?«, fragt Solomon.

»Ich bin am Verhungern.«

»Ich auch.« Solomon reibt sich müde das Gesicht. »Ich kann nicht mehr klar denken.«

Da niemand öffnet, klopft Bo noch einmal.

»Wenn Bo eine neue Geschichte gesucht hat, dann hat sie jetzt eine gefunden, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Diese junge Frau ist ja ein Kaliber für sich, so etwas Verrücktes hatten wir noch nie«, meint Rachel.

»Aber sie wird uns bestimmt kein Interview geben«, sagt Solomon, ohne den Blick von der Tür abzuwenden.

»Du kennst doch Bo.«

Allerdings. Bo hat ihre ganz eigenen Methoden, mit denen sie Leute, die nicht vor die Kamera wollen, schließlich doch dazu kriegt, sich von ihr filmen zu lassen. Vorausgesetzt, sie hat es sich wirklich in den Kopf gesetzt – die drei Interviews auf dem Friedhof waren ihr nicht wichtig, deswegen hat sie sich nicht mit voller Kraft dafür eingesetzt. Für gewöhnlich gehen Solomon und Rachel ein Projekt auch nicht so lustlos an, aber heute hat sich Bos Stil auch grundlegend verändert. Sie ist nervös, sprunghaft und reißt die Dinge an sich, offensichtlich ohne jeden Plan.

Jetzt erscheint Laura am Fenster, weigert sich aber, die Tür zu öffnen.

»Sag ihr, dass ich Mossie wiederhaben will«, verlangt Joe laut. Die Hände tief in den Taschen vergraben, tritt er unruhig von einem Fuß auf den anderen. Er fühlt sich überhaupt nicht wohl. Der Abschied von seinem Bruder und Seelenfreund hat ihn aufgewühlt, er musste schon den ganzen Tag außerhalb seiner Komfortzone verbringen und aus seiner geliebten Routine aussteigen, die ihm seit fünfzig Jahren unverändert Sicherheit gibt. Seine Welt steht kopf. Das war sehr anstrengend für ihn, jetzt will er nur noch zurück in sein vertrautes Farmhaus, zusammen mit seinem Hund.

»Bitte mach die Tür auf, wir wollen nur reden«, bittet Bo.

Laura starrt aus dem Fenster zu Solomon hinüber.

Jetzt schauen ihn auch alle anderen an.

»Sag du es ihr«, weist Bo ihn an.

»Was?«

»Sie sieht dich an, um rauszukriegen, ob es okay ist, wenn sie die Tür aufmacht. Sag ihr, dass wir uns nur mit ihr unterhalten möchten.«

»Und Joe will seinen Hund zurück«, wendet Solomon aufrichtig ein, und Rachel kichert.

Laura verschwindet vom Fenster.

»Das ging ja glatt«, grinst Rachel. Inzwischen sind sie und Solomon halb bewusstlos vor Hunger.

Joe ist kurz davor, gegen die Tür zu hämmern, als sie sich unerwartet öffnet. Mossie kommt herausgerannt, die Tür schließt sich wieder, und von innen wird der Riegel vorgeschoben.

Joe stürmt davon, und Mossie tanzt so aufgeregt um ihn herum, dass er um ein Haar über ihn stolpert.

»Ich rufe Jimmy an«, brummt Joe. »Er soll sich um das Mädchen kümmern.«

»Warte, Joe«, ruft Bo ihm nach.