Solang es Träume gibt - Maja Schulze-Lackner - E-Book

Solang es Träume gibt E-Book

Maja Schulze-Lackner

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Beschreibung

Vom kleinen Mädchen zur starken Frau - Das Schicksal der ostpreußischen Gräfin Feodora

Ostpreußen, Ende des 19. Jahrhunderts: Leopold von Troyenfeld heiratet überstürzt die wunderschöne, aber gefühlskalte Russin Natascha. Schon ein Jahr später kommt die kleine Feodora auf die Welt und verlebt eine zunächst unbeschwerte Kindheit. Doch in den folgenden Jahren überschlagen sich die Ereignisse, welche die von Troyenfelds für immer verändern sollen: Nachdem Leopold Hab und Gut aufs Spiel gesetzt hat, steht die Familie vor dem Ruin. Zur Rettung lässt sich Feodora auf eine Zwangsheirat mit dem wohlhabenden, aber ungeliebten Heinrich von Harden ein. Doch sie verzweifelt nicht, sondern beginnt erstmals zu kämpfen, für ihr Leben und ihre Träume ...

Weitere Ostpreußen-Romane von Maja Schulze-Lackner bei beHEARTBEAT: "Himmel über Ostpreußen" und "Was Liebe vermag".

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Inhalt

Cover

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Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

1869

1870

1873

1879

1888

1890

1900

Weitere Titel der Autorin bei beHEARTBEAT

Himmel über Ostpreußen

Was Liebe vermag

Über dieses Buch

Vom kleinen Mädchen zur starken Frau – Das Schicksal der ostpreußischen Gräfin Feodora

Ostpreußen, Ende des 19. Jahrhunderts: Leopold von Troyenfeld heiratet überstürzt die wunderschöne, aber gefühlskalte Russin Natascha. Schon ein Jahr später kommt die kleine Feodora auf die Welt und verlebt eine zunächst unbeschwerte Kindheit. Doch in den folgenden Jahren überschlagen sich die Ereignisse, welche die von Troyenfelds für immer verändern sollen: Nachdem Leopold Hab und Gut aufs Spiel gesetzt hat, steht die Familie vor dem Ruin. Zur Rettung lässt sich Feodora auf eine Zwangsheirat mit dem wohlhabenden, aber ungeliebten Heinrich von Harden ein. Doch sie verzweifelt nicht, sondern beginnt erstmals zu kämpfen, für ihr Leben und ihre Träume …

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Über die Autorin

Maja Schulze-Lackner wurde in Berlin geboren. Neben ihrer Tätigkeit als Designerin und Geschäftsfrau schrieb sie für »Bunte«, »Die Welt« und »Elle«. In ihren beliebten Ostpreußen-Romanen lässt sie die Gepflogenheiten, Sprache und Köstlichkeiten dieser besonderen Region bildhaft wieder auferstehen und schildert bewegte Zeiten vor dem Hintergrund der wunderschönen Landschaften. Maja Schulze-Lackner lebt mit ihrem Mann in München.

Mehr über die Autorin unter www.schulze-lackner.de

Maja Schulze-Lackner

Solang esTräume gibt

Das Leben der Gräfin Feodora aus Ostpreußen

Ostpreußen-Roman

beHEARTBEAT

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Copyright © 2010 by Bastei Lübbe AG, Köln

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven © Shutterstock: Gosteva | Andrej Puchta | LiliGraphie

eBook-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-7325-8771-1

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

1869

Carla von Harvich kuschelte sich, den warmen Schal fest um die schmalen Schultern gezogen, in ihren Sessel vor dem brennenden Kamin, die zierlichen Füße auf einem mit Petit-Point-Stickerei bezogenen Fußbänkchen. Ihr gegenüber saß ihr Mann Hanno in seinem Lieblingsfauteuil, in der einen Hand den Cognacschwenker und in der anderen die geliebte Havanna. Zu seinen Füßen lag Willi, sein Jagdhund. Franz, der alte Diener, hatte mehrere Petroleumlampen angezündet und sich dann leise zurückgezogen. Es war still in der behaglichen Bibliothek, nur das Knistern der trockenen Holzscheite und der pfeifende Ostwind, der an den Fensterläden rüttelte, waren zu hören. Ab und an gab Willi ein zufriedenes Schmatzen von sich.

Das Ehepaar hing seinen Gedanken nach. Hanno betrachtete seine Frau, die mit geschlossenen Augen vor sich hin träumte. Ein leises Lächeln umspielte ihre zarten blassroten Lippen. Offensichtlich waren es erfreuliche Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen. Sie sieht immer noch reizend aus, meine Carla, dachte er zufrieden. Gottlob war sie auch nach fünfundzwanzig Jahren Ehe nicht zu einer Matrone mutiert wie so viele Frauen seiner Freunde. Er hasste dicke Frauen! Carlas dunkle, zu einer Hochfrisur aufgesteckten Haare durchzogen feine graue Strähnen, und wenn sie lachte, bildeten sich um ihre veilchenblauen Augen kleine Fältchen. Ansonsten sah man ihr die dreiundvierzig Jahre nicht an.

»Würdest du Schröder bitten, die Fensterläden zu befestigen«, unterbrach Carla, ohne die Augen zu öffnen, die Stille. »Der grässliche Wind wird sie uns noch abreißen.«

Schröder war der Verwalter ihres Gutes Buchenhain, Hannos Elternhaus, auf dem sie nun seit zwei Jahren wieder lebten, nachdem er seine Diplomatenlaufbahn beendet hatte.

»Ich werde es ihm gleich morgen früh sagen, Liebes, ich habe sowieso noch einiges mit ihm zu besprechen.« Hanno nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarre. »Danach fahre ich nach Königsberg. Ich habe einen Termin bei der Bank, und anschließend treffe ich Kölichen zum Mittagessen im Berliner Hof.« Horst Kölichen war ein alter Studienfreund von Hanno und seit vielen Jahren sein Anwalt. »Möchtest du nicht mitkommen?«

»Ich weiß nicht …« Carla fröstelte. »Das Wetter ist schrecklich ungemütlich.«

Über Nacht war es Herbst geworden. Schon seit Tagen zogen die Vögel in großen Formationen gen Süden, und die riesigen alten Buchen, die dem Gut seinen Namen gegeben hatten, waren schon fast ohne Laub. Bald würden sie ganz kahl sein, und nicht lange danach der endlose ostpreußische Winter beginnen. Dann versank das Land im Schnee und das gesellschaftliche Leben in wochenlangem Tiefschlaf. Erst zu den Sau- und Hasenjagden würde es für kurze Zeit wieder erwachen.

Vielleicht sollte ich Hanno morgen doch begleiten, überlegte Carla schläfrig. Aber dann schweiften ihre Gedanken in die Vergangenheit, als ihr Mann als Diplomat des preußischen Königs in südlichen Ländern stationiert war. Rom, Madrid, Malta – herrlich war es dort gewesen, aufregend und fast immer warm. Und doch hatte sie manchmal Heimweh nach Ostpreußen verspürt, dem Land, in dem sie geboren und aufgewachsen war, vor allem nach dem Wechsel der Jahreszeiten, die nirgends so elementar und gewaltig über das Land hereinbrachen wie dort. Sie liebte das Frühjahr, das sich mit wilden Stürmen ankündigte und den Schnee in kurzer Zeit schmelzen ließ. Bald darauf kamen die Vögel aus dem Süden zurück, erst die Kiebitze und Stare, dann die Störche. Im Wald roch es nach Frühling, und das lichte Grün der Linden und Birken warf seine ersten Schatten. Wie sich die südlichen Landschaften mit ihren Zypressen, Pinien und Olivenbäumen von der endlosen ostpreußischen Weite mit den wogenden Feldern, durchsetzt mit Mohn- und Kornblumen, den Lindenalleen und Birkenhainen unterschieden! Ja, so manches Mal hatte sie sich danach gesehnt. Und doch war es ihr nicht leicht gefallen, nach den vielen Jahren im Ausland, dem abwechslungsreichen Leben an den Botschaften mit seinen Empfängen und großen Gesellschaften, nach Buchenhain zurückzukehren und fortan ein beschauliches Leben zu führen. Die Rückkehr war einfach zu plötzlich gekommen. Hannos älterer Bruder sollte das Gut übernehmen, aber er war im preußisch-österreichischen Krieg gefallen, kurz vor dem Prager Frieden im August 1866. Bald darauf war sein Vater gestorben, und so hatte Hanno überstürzt seinen Abschied genommen. »Ich muss mich um das Gut kümmern«, hatte er Carla erklärt, »sonst geht dort alles zugrunde.«

»Aber du bist doch kein Landwirt, du bist Diplomat!« Carla war fassungslos gewesen. »Wie willst du denn das riesige Gut bewirtschaften? Davon verstehst du doch gar nichts.«

»Erst mal ist es wichtig, dass ich da bin. Und dann werde ich einen fähigen Verwalter suchen. Danach sehen wir weiter.«

Mit Schröder hatte Hanno bald den richtigen Mann gefunden, und zu Carlas Enttäuschung lehnte er alle Anfragen des diplomatischen Corps, ob er nicht in seine frühere Position zurückkehren wolle, freundlich, aber bestimmt ab. »Vielleicht später einmal«, sagte er. Im Moment war er nicht gewillt, sein beschauliches Leben wieder aufzugeben. Er liebte die Jagd, das Whist-Spiel mit seinen Freunden und hin und wieder einen Theater- oder Opernbesuch in Königsberg. Carla musste sich fügen.

»Hast du etwas von Leopold gehört?«, fragte Hanno.

»Er ist schon wieder in St. Petersburg.« Carla war aufgestanden, um ein Holzscheit nachzulegen. »Keine Ahnung, was er da dauernd macht. Wenn ich ihn frage, tut er schrecklich geheimnisvoll.«

Leopold Graf von Troyenfeld war Carlas jüngerer Bruder. Schloss Troyenfeld lag unweit von Buchenhain, mit einem schnellen Pferd war es einen zwanzigminütigen Ritt entfernt. Hier waren sie und Leopold aufgewachsen. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter hatte Carla deren Stelle eingenommen. Obwohl nur fünf Jahre älter als ihr Bruder, fühlte sie sich seitdem für ihn verantwortlich.

»Dein Bruder ist achtunddreißig, er muss dir ja nun wirklich nicht alles erzählen.« Hanno lachte.

»Ich finde, er sollte endlich heiraten«, sagte Carla. »Troyenfeld braucht einen Erben, und überhaupt …« Sie machte eine nachdenkliche Pause. »Er sitzt da so allein in dem großen Schloss …«

»Allein! Dass ich nicht lache. Soweit ich weiß, hat er ständig Gäste, das Schloss ist voll mit Freunden und schönen Frauen. Er genießt sein Leben.« Hanno goss sich noch einen Cognac ein. »Du solltest aufhören, dich ständig um ihn zu sorgen. Du bist wirklich wie eine Glucke.«

»Ich weiß, du hast ja recht.« Carla seufzte tief. »Aber ich kann einfach nicht anders.«

Hanno lächelte milde. Sie waren kinderlos geblieben, zu Carlas großem Kummer, und nun lebte sie ihren ganzen Mutterinstinkt an ihrem kleinen Bruder aus.

»Ich finde wirklich, Leopold sollte langsam zur Vernunft kommen. Was sind denn das überhaupt für Frauen, die sich da bei ihm herumtreiben? Zur Ehefrau taugt doch da garantiert keine.« Carla verzog das Gesicht.

Hanno antwortete nicht darauf. Er wusste, diese Diskussionen führten zu nichts. Natürlich hatte er von den wilden Festen gehört, die sein Schwager in seinem Schloss feierte. Das Personal redete, und Franz war sein verlässlichster Informant. Aber er hütete sich, seiner Frau davon zu erzählen. Sollte Leopold doch sein Leben genießen! Er, Hanno, hatte vollstes Verständnis dafür. Um das Thema zu beenden, sagte er: »Nun lass ihn, deinen Bruder. Irgendwann wird er schon die Richtige finden.«

Dabei war sich Hanno gar nicht so sicher. Vor Kurzem erst hatte Leopold mit ihm gesprochen. »Warum soll ich heiraten. Die Welt ist voll von schönen Frauen. Und um mich herum sehe ich lauter unglückliche Ehepaare. Außer euch natürlich … Also, warum soll ich mir das antun? Nur um einen Erben zu produzieren? Das hat ja wirklich noch Zeit.« Damit war die Angelegenheit für ihn erledigt gewesen.

Carla hatte zu lesen begonnen, und Hanno war froh, dass das leidige Thema »Leopold« an diesem Tag so schnell beendet war. Er zündete sich erneut seine Zigarre an, die ausgegangen war, als es leise klopfte und Franz die Bibliothek betrat. »Eine Depesche, Exzellenz«, sagte Franz leise. »Ich dachte, es könnte wichtig sein.« Franz war schon mehr als dreißig Jahre in Hannos Diensten, hatte die Harvichs auf allen Auslandsreisen begleitet und war nicht davon abzubringen, seinen Herrn Exzellenz zu nennen.

Hanno nahm das Kuvert von dem silbernen Tablett. »Danke, Franz. Sie können dann zu Bett gehen. Wir brauchen Sie nicht mehr.«

»Gute Nacht, Frau Baronin, Exzellenz.« Mit einer Verbeugung zog der Diener die Tür hinter sich zu.

Hanno war sich sicher, dass er noch lauschen würde. Bei all seiner Treue unterschied Franz sich nicht von den anderen Dienstboten, die immer alles über ihre Herrschaft wissen wollten.

Carla ließ ihr Buch sinken. »Was ist, wer hat depeschiert?«, fragte sie neugierig.

Hanno überflog die Zeilen, dann brach er in schallendes Gelächter aus.

»Nun sag schon, was ist denn so lustig?«

»Ich glaube es nicht! Dein Bruder will heiraten.« Er musste schon wieder lachen.

Carla war aufgesprungen, das Buch fiel zu Boden. »Das ist ja wunderbar, endlich! Schreibt er, wer es ist?« Sie zögerte. »Was ist denn daran eigentlich so komisch?«

Hanno hatte seine Fassung wiedergefunden. »Die Braut wird dir nicht besonders gefallen …«

»Um Gottes willen, nun sag schon, wer ist es?«

»Natascha Orlowski aus St. Petersburg, die Tochter des Fürsten Orlowski. Du weißt doch, Kölichen hat uns erst kürzlich von ihm erzählt. Er hat einen ziemlich zweifelhaften Ruf.«

Aus Carlas Gesicht war alle Farbe gewichen. »Ihr Ruf ist auch nicht viel besser.« Aufgeregt lief sie im Zimmer auf und ab. »Was Irina mir alles über die erzählt hat!« Irina war Carlas beste Freundin.

»Woher weiß denn Irina etwas über Natascha Orlowski?«, fragte Hanno.

»Ihr Mann ist doch ständig in St. Petersburg. Diese Person ist dort Tagesgespräch! Sie soll ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann haben, einem Verwandten des Zaren, sagt man. Ein Skandal ist das.«

Hanno erinnerte sich dunkel, davon gehört zu haben, hatte es aber als Weibergewäsch abgetan. »Aber sie soll sehr schön sein …«, warf er zaghaft ein.

»Schön, was heißt das schon!« In Carlas blassem Gesicht hatten sich rote Flecken gebildet. »Wir müssen das verhindern, Hanno«, sagte sie laut und stampfte mit dem Fuß auf. »Leopold darf diese Frau nicht heiraten. Sie wird ihn unglücklich machen.« Sie war den Tränen nahe.

»Nun beruhige dich erst mal«, sagte Hanno und nahm seine aufgebrachte Frau in den Arm. »Leopold schreibt, dass er zurück auf Troyenfeld ist und uns morgen zum Mittagessen erwartet. Dann wird er uns alles erzählen.«

»Musst du morgen nicht nach Königsberg?«

»Ach Gott, ja, ich kann unmöglich den Termin bei der Bank ausfallen und Kölichen im Berliner Hof sitzen lassen. Er kommt extra aus Insterburg.«

»Dann reite ich allein. Mit Mandy bin ich in fünfzehn Minuten dort. Ich muss so schnell wie möglich mit Leopold reden. Am besten sofort! Natascha Orlowski, das ist ein Albtraum.«

»Bei dem Wetter? Bist du noch bei Trost?« Hanno wurde energisch. »Das erlaube ich nicht. Du wirst dir den Tod holen.«

Es hatte zu regnen begonnen, und jetzt erst bemerkte Carla das klatschende Geräusch des gegen die Fensterscheiben prasselnden Wassers.

»Wenn du darauf bestehst, allein zu gehen, nimmst du die Kutsche. Auf keinen Fall wirst du reiten, und schon gar nicht heute.« Hanno goss seiner Frau einen Cognac ein. »Trink das«, sagte er. »Einen guten Rat möchte ich dir mitgeben. Dein Bruder ist erwachsen. Überleg dir genau, was du über seine Braut sagst. Was du über sie weißt, ist nichts als Klatsch. Also sei vorsichtig.« Er erhob sich. »Lass uns zu Bett gehen.« Der Cognac und die Aufregung hatten ihn schläfrig gemacht. »Etwas Schlaf wird uns guttun.«

Während sie sich auskleideten und auch als die Lampen längst gelöscht waren, hörte Carla nicht auf, über das in ihren Augen Entsetzliche zu lamentieren.

»Gute Nacht, Liebes, schlaf gut«, sagte Hanno nur, und an seinen gleichmäßigen Atemzügen merkte sie kurz darauf, dass er tief und fest schlief.

»Wie soll ich eine gute Nacht haben und auch noch gut schlafen«, dachte sie wütend, »der Mann hat vielleicht Nerven!«

Sie wälzte sich hin und her, ihre Gedanken kreisten um die bevorstehende Hochzeit. Wie konnte sie Leopold nur diese Frau ausreden? Als die Glocke an ihrer Hauskapelle zwölf schlug, nahm sie einen Löffel Baldriantropfen und fiel in einen unruhigen Schlaf.

Als Carla erwachte, fühlte sie sich wie gerädert. Natascha Orlowski, war ihr erster Gedanke, eine Frau mit Vergangenheit. Einfach grauenhaft! Sie konnte nicht glauben, dass ihr Bruder nichts davon wusste. Sie musste ihm die Augen öffnen. Hastig kleidete sie sich an. Es war noch dunkel, und sie versuchte, so wenige Geräusche wie möglich zu machen. Hannos leises Schnarchen verriet ihr, dass er noch fest schlief. Bevor er aufwachte, musste sie mit Elfriede sprechen.

»Du willst doch wohl deinen Bruder nicht zu nachtschlafender Zeit überfallen!« Hanno war hochgeschreckt. Das Geräusch ihres zu Boden gefallenen Kammes musste ihn geweckt haben.

»Nein, nein.« Carla lächelte. »Ich werde noch zusammen mit dir frühstücken. Ich erwarte dich dann in der Veranda. Und lass dir Zeit, es ist ja noch früh.«

»Das kann man wohl sagen …«, knurrte Hanno und ließ sich in die Kissen zurückfallen.

Die Veranda war ein großer Wintergarten, in dem sie ihre Mahlzeiten einnahmen – ein heller, freundlicher Raum mit großen Sprossenfenstern und voll mit Pflanzen, die von Carla liebevoll gepflegt wurden. In dem mannshohen offenen Kamin an der Stirnseite des Zimmers loderte bereits ein helles Feuer. Bis zum Frühjahr würde es nicht mehr ausgehen, genauso wie jenes in der Bibliothek. Das waren die beiden Räume, die sie ihr Winterquartier nannten. Eine Dienstmagd würde dafür sorgen, dass die beiden Feuer Tag und Nacht brannten. Nur wenn sie Gäste hatten, wurden auch die übrigen Räume beheizt und die Mahlzeiten im großen Speisesaal eingenommen.

Auf Carlas Läuten erschien Franz, in den Händen ein großes Tablett mit Kaffee, Aufschnitt, einer Schüssel mit weich gekochten Eiern und herrlich duftendem frisch gebackenem Brot. In Ostpreußen wurde viel gegessen. Und Hanno war ein besonders guter Esser, fand Carla. Zehn Eier zum Frühstück, zahlreiche Brote mit Butter, Wurst und Schinken und mindestens eine Kanne Kaffee waren seine erste Mahlzeit. Carla wunderte sich schon seit Jahren, wie Hanno seine Figur behielt. Er war ein großer, stattlicher Mann. Auch jetzt, mit Mitte fünfzig, sah er noch blendend aus. Sein Gesicht war vom vielen Ausreiten immer leicht gebräunt, und unter den buschigen Augenbrauen leuchteten stahlblaue Augen. Ein kurzer Bart bedeckte sein kantiges Kinn, was ihm, wie Carla fand, besonders gut stand.

»Frau Baronin sind früh auf«, bemerkte Franz. »Brot und Eier sind gerade erst fertig geworden.«

»Ist schon gut.« Carla gähnte herzhaft. »Es ist ja noch nicht einmal richtig hell.« Sie trank einen Schluck Kaffee. »Schicken Sie mir bitte die Mamsell und lassen Sie den Landauer anspannen. Nach dem Frühstück …«

»Ist bereits veranlasst–«

Carlas Blick sprach Bände. »Äh … ik schick Ihnen dann man jleich Elfriede«, stotterte Franz. Es war ihm peinlich, beim Lauschen erwischt worden zu sein, und deshalb vergaß er für einen Moment sein vornehmes Hochdeutsch und verfiel in den ostpreußischen Dialekt. Eilig verließ er den Raum.

Carla war wütend. Vielleicht sollte sie Hanno bitten, wenigstens die Tür vor der Bibliothek polstern zu lassen.

Es klopfte, und Elfriede, die Mamsell, kam herein.

»Guten Morgen, Elfriedchen.« Carla bediente sich des in Ostpreußen häufig gebrauchten Diminutivs –- an alles wurde ein »chen« angehängt.

Elfriede hatte sich vor Carla aufgebaut, die kräftigen Arme unter dem üppigen Busen verschränkt. »Du siehst aber jar nich jut aus.«

»Danke, Elfriede, nett von dir. Du baust mich ja richtig auf.« So vertraulich gingen sie nur miteinander um, wenn sie allein waren. In Gegenwart anderer, auch von Hanno, war Carla die Frau Baronin. Das war ein ungeschriebenes Gesetz.

Elfriede war im selben Monat auf Troyenfeld geboren wie Carla, nur nicht als Komtesschen, sondern als Tochter der dortigen Mamsell, Emma Jankuhn. Den beiden kleinen Mädchen aber war das egal. Als die Gräfin im Kindbett starb, galt die ganze Aufmerksamkeit Leopold, dem männlichen Erben. Carla, gerade mal fünf Jahre alt und ein kleines, unglückliches Wesen, war mehr in der Küche als in den herrschaftlichen Räumen des Schlosses zu finden. Wenn sie traurig war und weinte, drückte die rundliche Mamsell sie an ihren üppigen Busen und tröstete sie, und die kleine Elfriede hatte Mitleid mit dem Kind, das keine Mutter mehr hatte. Sie wurden Freundinnen, bis Carla heiratete und jahrelang im Ausland war. Nach ihrer Rückkehr nach Buchenhain holte sie Elfriede, die von ihrer Mutter hervorragend kochen gelernt hatte, als Mamsell zu sich auf das Gut. Elfriede war ihre Vertraute.

»Du hast es ja sicher schon gehört«, sagte Carla.

»Du weißt doch, der Franz hat zu jute Ohren …« Elfriede grinste.

»Was sagst du denn dazu? Der Leopold will endlich heiraten, und nun ist es ausgerechnet eine Frau mit einem schlechten Ruf. Ich bin verzweifelt!«

»Nu lass et man jut sein.« Elfriede schenkte Carla Kaffee nach. »Vielleicht stimmt dat ja allet jar nich, wat da über die Dame jeredet wird. Vielleicht lieben se sich ja. Ik kann mir keenen anderen Jrund vorstellen bei dem Leopold.«

»Ich glaube eher, mein Bruder hat den Verstand verloren«, seufzte Carla. Auf ihrem blassen Gesicht waren schon wieder rote Flecken erschienen. »Und was heißt hier Liebe! Ehen werden nicht im Himmel geschlossen. Das weißt du doch.«

Als sie vor fünfundzwanzig Jahren Hanno heiratete, war von Liebe nicht die Rede gewesen. Er hatte ihr für kurze Zeit den Hof gemacht und dann bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten. »Du solltest akzeptieren. Harvich ist eine gute Partie«, sagte ihr Vater, und dieser Satz ließ keinen Widerspruch zu. Sie kam auch gar nicht auf die Idee abzulehnen. Mädchen hatten zu gehorchen, sittsam zu sein und ihrem Mann zu dienen. So war sie erzogen worden. Und sie hatte diese Ehe nie bereut. Hanno war ein guter Ehemann, nicht besonders zärtlich und manchmal etwas cholerisch, aber er war großzügig, und ihr luxuriöses Leben im Ausland und auch jetzt in Ostpreußen gefiel ihr. Außerdem betrog er sie nicht, so wie Irinas Mann, der ständig Affären hatte, über die ganz Königsberg Bescheid wusste.

»Nu reg dir man nich so uff«, flüsterte Elfriede, die Hanno vor der Tür mit Franz reden hörte. »Wird schon allet nich so schlimm werden.«

Aber es sollte noch viel schlimmer kommen, als Carla befürchtete.

Die regennasse Straße wand sich den Hügel hinauf. Die ganze Fahrt über blies ein eiskalter Ostwind und schob tief liegende schwarze Wolken vor sich her. Gott sei Dank hatte es aufgehört zu regnen. Carla trieb das Pferd zur Eile an. Ihr war mulmig zumute. Einerseits konnte sie es kaum erwarten, ihren geliebten Bruder in die Arme zu schließen, andererseits fürchtete sie, dass er ihre Bedenken nicht hören wollte. »Nimm dir bloß zusammen«, hatte Elfriede ihr noch beim Hinausgehen zugezischt, und auch Hanno hatte versucht, ihr ins Gewissen zu reden. »Ich bitte dich, sei diplomatisch. Wenn Leopold sich entschlossen hat, diese Frau zu heiraten, wirst du ihn mit Sicherheit nicht davon abhalten können.«

Endlich tauchte vor ihr Schloss Troyenfeld auf. Als sie in die große Auffahrt einbog, brach die Sonne durch die Wolkendecke und ließ den nicht weit entfernt fließenden Pregel wie ein silbernes Band glitzern. Sie liebte diesen weiten Blick hinab in das Pregel-Tal, hinweg über den gepflegten Park mit seinen gewundenen Kieswegen und den unzähligen, zu verschiedenen Formen geschnittenen Buchsbäumchen, mit deren Pflege das ganze Jahr über ein Heer von Gärtnern beschäftigt war. Noch zogen die weißen Schwäne ihre Bahnen auf dem Schlossteich. Aber bald würden sie in ihr Winterquartier umziehen müssen.

Von der nahen Remise eilte ein Knecht herbei, um das schweißnasse, dampfende Pferd zu versorgen. Carla lief, ihren Rock unschicklich gerafft, die breite Freitreppe hinauf. Bevor sie den eisernen Türklopfer betätigen konnte, öffnete bereits ein livrierter Diener die schwere Eingangstür.

»Wo finde ich meinen Bruder, Alfons?«, fragte Carla.

»Die Herrschaften sind im kleinen Salon.«

Carla blieb wie angewurzelt stehen. »Welche Herrschaften …?«

»Der Herr Graf und die Frau Gräfin.« Das Gesicht des Dieners zeigte keinerlei Regung. »Das junge Paar ist gestern aus St. Petersburg angereist.«

Carla wich alle Farbe aus dem Gesicht. Ihr war, als täte sich der Boden unter ihren Füßen auf.

»Fühlen Sie sich nicht wohl, Frau Baronin?«, fragte der Diener besorgt. »Möchten Sie sich einen Moment setzen, während ich Sie anmelde?«

»Danke, Alfons.« Carla hatte ihre Fassung wiedergewonnen. »Sie müssen mich nicht anmelden. Wie Sie wissen, kenne ich den Weg.«

Langsam ging sie den endlosen Korridor hinunter, an dessen Ende sich der kleine Salon befand. Sie zitterte am ganzen Körper. Wie konnte Leopold ihr das antun? Heiraten, ohne sie zu informieren, und so überstürzt! Alles, was sie ihm sagen wollte, ihre Bedenken gegen diese Verbindung und all die Sorgen, die sie sich deswegen gemacht hatte, war mit einem Schlag bedeutungslos geworden.

»Carla, geliebtes Schwesterchen, du bist ja schon da.« Mit ausgebreiteten Armen kam Leopold auf sie zu und drückte sie fest an sich. »Wir haben euch erst später erwartet. Wo ist überhaupt Hanno?«

»Er musste nach Königsberg. Die Depesche kam erst gestern Abend, und da konnte er seine Verabredungen nicht mehr absagen.« Ihre Stimme klang kühl. »Aber wenn er gewusst hätte …« Ihr Blick streifte die große, schlanke Gestalt, die regungslos vor dem hohen Fenster stand.

»Natascha, Liebling, komm her. Ich möchte dir meine Schwester vorstellen. Der Mensch, den ich außer dir am meisten liebe«, rief Leopold. Carlas offensichtliche Verstimmung ignorierte er geflissentlich.

Langsam kam Natascha Orlowski näher, und nun verstand Carla, was Hanno damit meinte, wenn er sagte, sie müsse sehr schön sein. Sie war wirklich außergewöhnlich schön. Ihre schwarzen, zu einer Hochfrisur aufgesteckten Locken umrahmten ein porzellanfarbenes Gesicht mit hohen Wangenknochen, die ihre slawische Herkunft verrieten. Eine einzige Locke fiel ihr in die hohe Stirn. Die schrägen grünen Augen, umrahmt von dichten schwarzen Wimpern, blickten geheimnisvoll, und unter der geraden, kurzen Nase leuchteten volle rote Lippen. Um den schlanken Hals trug sie ein prachtvolles Smaragdcollier, passend zu dem dunkelgrünen Samtkleid.

»Das ist Natascha, meine Frau.« Leopold strahlte.

»Ich weiß, Alfons erwähnte es bereits«, sagte Carla und zu Natascha: »Willkommen in Ostpreußen.«

Sie bemühte sich verzweifelt um ein freundliches Lächeln. Ihre Schwägerin reichte ihr die Hand. Sie war eiskalt. »Ich freue mich, dich kennenzulernen«, sagte sie mit einem harten, rollenden R.

»Ist es nicht fantastisch? Natascha spricht fließend Deutsch und natürlich auch Französisch«, versuchte Leopold die angespannte Stimmung aufzuhellen. »Ihre Mutter war Deutsche, musst du wissen.«

»War?« Carla blickte ihre Schwägerin fragend an.

»Sie ist schon lange tot«, antwortete Natascha.

Fast unbemerkt hatte Alfons Tee serviert, und Leopold, froh über diese Unterbrechung, führte die beiden Damen zu der Sitzgruppe vor dem lodernden Kaminfeuer. Carla liebte den kleinen Salon mit seinen Möbeln aus dunkel geflammtem Nussbaumholz, den weinroten Samtportieren, den aus demselben Stoff bezogenen Schabracken und den schweren Smyrnateppichen. Für sie war es der einzige gemütliche Raum in dem großen Schloss. Dort hatte sie sich in ihrer Kindheit oft verkrochen, wenn sie sich nicht gerade in den Gesinderäumen herumtrieb.

Natascha nippte nur kurz an ihrem Tee, dann erhob sie sich. »Ich werde mich bis zum Mittagessen zurückziehen. Die Reise war anstrengend, und ihr habt sicher viel zu besprechen.«

»Natürlich, Liebste.« Leopold sprang auf und küsste ihr die Hand. »Ruh dich ein wenig aus.«

Als die Tür hinter Natascha zufiel, brach es aus Carla heraus. »Wie konntest du nur, Leopold! Eine dermaßen überstürzte Heirat. Ihr kennt euch doch kaum.« Sie war den Tränen nahe. »Und dann auch noch eine Frau aus einer Familie mit zweifelhaftem Ruf.«

»Moment mal, Carla.« Leopold war aufgesprungen und ging erregt auf und ab. »Erst einmal kenne ich Natascha bereits seit einem halben Jahr. Als ich sie das erste Mal sah, wusste ich, dass ich sie und keine andere heiraten würde. Und was soll das heißen: eine Familie mit zweifelhaftem Ruf?« Seine Stimme war jetzt schneidend. »Wie kommst du darauf? Ich verbitte mir solche Äußerungen. Meine Frau ist die Tochter des Fürsten Orlowski. Ich werbe seit Monaten um sie, weil ich sie liebe.« Er schwieg einen Moment. »Als sie endlich ja gesagt hat, wollte ich keine Zeit verlieren, und wir haben uns sofort nach orthodoxem Ritus trauen lassen.«

»Hattest du Angst, sie könnte es sich noch einmal überlegen?« Carla lachte unfroh.

»Ja, geliebtes Schwesterherz, das hatte ich. Ganz St. Petersburg liegt Natascha zu Füßen. Es blieb mir gar nichts anderes übrig, als mich zu beeilen.« Seine Stimme hatte nun alle Schärfe verloren. »Bitte sei mir nicht mehr böse. Glaub mir, ich bin überglücklich. Demnächst werden wir hier auf Troyenfeld noch einmal kirchlich heiraten und unsere Hochzeit mit einem großen Ball feiern, damit alle meine schöne Frau kennenlernen.« Er nahm Carla in den Arm. »Ich bin sicher, auch du wirst meine Frau lieben. Ihr müsst euch nur erst einmal näherkommen.«

Er weiß nichts über sie, dachte Carla, welchen Ruf sie hat. Hoffentlich würde er es nie erfahren.

Das Mittagessen verlief recht einsilbig. Die meiste Zeit redete Leopold, erzählte von St. Petersburg, dem prachtvollen Stadtpalais der Orlowskis, den rauschenden Festen, die dort gefeiert wurden, und davon, wie glücklich er sei, eine so wundervolle Frau gefunden zu haben. »Du wolltest doch immer, dass ich heirate, Schwesterchen. Nun ist es nur etwas schneller passiert als erwartet«, sagte er fröhlich.

Natascha sprach kaum. »Nur ab und zu hat sie gelächelt«, erzählte Carla Hanno später. »Aber es war nur ihr Mund. Ihre Katzenaugen waren kalt.«

»Hoffentlich wird es dir hier in Ostpreußen nicht zu langweilig«, sagte Carla.

»Dann kann ich für einige Zeit nach Hause reisen. Das hat Leopold mir versprochen.«

»Sooft du willst, meine Liebste.« Leopold strahlte.

Das sind ja heitere Aussichten, dachte Carla. Wenn das man gut geht.

Bald nach dem Essen verabschiedete sie sich. »Es sieht schon wieder nach Regen aus. Ich möchte einigermaßen trocken nach Hause kommen. Hanno und ich hoffen sehr, euch in den nächsten Tagen bei uns zu sehen. Er wird es kaum erwarten können, dich kennenzulernen, Natascha.« Zum Abschied hauchte sie ihrer Schwägerin einen Kuss auf die Wange. Zu weiteren Liebenswürdigkeiten konnte sie sich nicht überwinden.

Leopold begleitete sie noch zu ihrer Kutsche. Sie nahm ihn fest in den Arm. »Ich wünsche dir alles Glück dieser Welt, mein geliebter Bruder. Das musst du wissen.«

Er winkte ihr nach, bis sie in die große Lindenallee einbog und seinen Blicken entschwunden war.

Es war schon dunkel, als Hanno, völlig durchgefroren von der fast einstündigen Kutschfahrt, aus Königsberg zurückkam. Er war bester Laune. Die von der Bank empfohlenen Beteiligungen erwiesen sich als äußerst gewinnbringend, und das Mittagessen mit seinem Freund Kölichen war wie immer amüsant und unterhaltsam gewesen.

Carla erwartete ihn in der Bibliothek. Diener Franz servierte gerade heißen Grog und auf einer silbernen Platte belegte Brote, als Hanno hereinkam und rief: »Na, wie war es auf Troyenfeld. Was hat dein Bruder denn über seine Braut erzählt?«

Carla antwortete nicht. Mit finsterer Miene beobachtete sie den Diener, der noch einmal die Gläser zurechtrückte, die Servietten neu faltete und keinerlei Anstalten machte zu gehen. Mit schneidender Stimme sagte sie: »Es ist gut, Franz. Sie können sich entfernen. Und mit ›entfernen‹ meine ich nicht nur bis hinter die Tür!«

Mit beleidigter Miene und durchgedrücktem Kreuz schritt Franz hinaus.

Carla wartete einen Moment, dann öffnete sie leise die Tür. Franz war nicht zu sehen. »Er ist weg, Gott sei Dank. Sonst hätte es aber auch ein Donnerwetter gegeben.«

»Nun sei doch nicht so streng mit dem Armen.« Hanno lachte. »Die Dienerschaft weiß sowieso immer alles. Du weißt doch: Hier haben die Wände Ohren.« Er biss genussvoll in ein Leberwurstbrot. »Aber nun sag mal: Was für eine Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«, fragte er amüsiert. »Hattest du Streit mit Leopold? Wollte er deine Einwände gegen seine Hochzeit nicht hören?«

»Leopold ist bereits verheiratet!«, sagte Carla aufgebracht.

»Waaaas? Ich fasse es nicht. Wieso denn so überstürzt?«

»Das habe ich ihn auch gefragt. Übrigens, seine Frau ist bereits bei ihm auf Troyenfeld.«

»Ich dachte immer, so schnell schießen die Preußen nicht.« Hanno war sprachlos. Er nahm einen großen Schluck von seinem Grog. »Ist sie wirklich so schön, wie man sagt?«

»Ja«, seufzte Carla. »Sie sieht unglaublich gut aus. Aber neben Leopold, der sich wie ein liebestrunkener Gockel aufführt, wirkt sie nicht sehr glücklich.« Sie schwieg einen Moment. »Stell dir vor, er hat ihr erlaubt, sooft sie will, allein nach St. Petersburg zu reisen. Hast du so etwas schon mal gehört? Das ist doch wohl der Gipfel! Ich fürchte, mein Bruder hat den Verstand verloren.«

Bis spät in die Nacht saßen sie zusammen und sprachen über die plötzliche und so überraschende Wendung in Leopolds Leben, und Carla ließ sich nicht von ihrer Überzeugung abbringen, dass ihr Bruder geradewegs in sein Unglück renne.

Die Vorbereitungen zur Hochzeit auf Troyenfeld dauerten einige Wochen. In der zum Schloss gehörenden Landwirtschaft wurde geschlachtet, geselcht und geräuchert und hektoliterweise Schnaps gebrannt. Die Mamsell und eine Schar von Küchenmädchen waren damit beschäftigt, die Kühlkammern mit kalten Braten, Sülzen, Pasteten und Würsten zu füllen, und der Weinkeller wurde mit teuerstem Champagner und edelsten Weinen aufgefüllt. Alles musste im Überfluss vorhanden sein. In Ostpreußen wurde gefressen und gesoffen, auch in den höchsten Kreisen. Silber wurde geputzt, Tischdecken und Servietten gebleicht und gebügelt. Zahlreiche Schlafräume mussten gelüftet, entstaubt, die Betten frisch bezogen und alle Kamine im Schloss angeheizt werden. Es war Spätherbst und bereits empfindlich kalt. Man erwartete unzählige Hausgäste aus Königsberg, Insterburg und Umgebung, nur die nächsten Nachbarn würden noch in der Nacht nach Hause fahren. Und natürlich würde Fürst Orlowski mit seiner Entourage aus St. Petersburg anreisen.

»Was meinst du, mit wie viel Begleitung dein Vater wohl kommen wird?«, fragte Leopold Natascha.

»Keine Ahnung«, sagte diese lachend, »vielleicht mit zehn, vielleicht mit zwanzig Leuten. Und wenn ihm unterwegs jemand gefällt, bringt er den auch noch mit. Du kennst ihn doch.«

Also wurden noch mehr Zimmer hergerichtet. Scheunen mussten für die Kutschen und Pferde der Gäste geräumt und Schlafmöglichkeiten für das begleitende Personal bereitgestellt werden. Um all das kümmerte sich der Haushofmeister Kochta zusammen mit der Hausdame Frau Steinle. Aber natürlich wurde auch Leopold zu diesem und jenem befragt.

Hanno und Carla saßen beim Frühstück auf der Veranda, als Leopold hereinplatzte. »Ich musste dem Chaos im Schloss mal für eine Weile entkommen«, stöhnte er. »Und da das Wetter so herrlich ist, bin ich schnell herübergeritten.«

»Wunderbar!« Carla strahlte. »Erzähl, wie geht es voran?«

»Bei uns herrscht das totale Chaos. Kochta und Steinle führen ein strenges Regiment. Ohne sie wäre ich total aufgeschmissen.«

»Und wie geht es deiner schönen Frau?« Hanno fand Natascha hinreißend und konnte Carlas Bedenken überhaupt nicht verstehen.

»Sie ist mit der Dekoration der Halle und der Empfangsräume voll beschäftigt. Darin ist sie unübertroffen«, sagte Leopold stolz. »Aus St. Petersburg kamen bereits riesige künstliche Blumenarrangements, und die Gärtner raufen sich die Haare, weil sie wohl die Treibhäuser am Tag vor der Hochzeit vollständig plündern wird.«

»Wollte sie nicht nach St. Petersburg reisen, um ihr Brautkleid abzuholen?« Carlas Stimme klang unbefangen.

»Nein, sie hat sich entschlossen, ihre Couturiere aus St. Petersburg anreisen zu lassen. Sie wird heute auf Troyenfeld erwartet. Ein weiterer Grund für mich zu fliehen. Ich habe strengste Anweisung, mich von ihren Räumen fernzuhalten. Ich darf das Kleid auf keinen Fall vor der Hochzeit sehen.« Er rollte die Augen. »Hab ich euch überhaupt erzählt, dass Natascha mit ihrem Vater in Paris war, um bei Charles Worth das Brautkleid zu bestellen? Er ist der berühmteste Modeschöpfer der Welt. Sogar Kaiserin Eugénie soll eine Kundin von ihm sein.«

»Das ist mir bekannt«, bemerkte Carla kühl. Was dachte ihr Bruder eigentlich, sie lebte hier schließlich nicht auf dem Mond!

»Worth hat eine Büste von Natascha anfertigen lassen und das fertige Kleid nach St. Petersburg geliefert«, fuhr Leopold fort.

»Und warum nicht gleich hierher?«, fragte Carla.

»Ursprünglich wollte Natascha ja noch einmal nach St. Petersburg fahren und es bei der Gelegenheit abholen. Auch um es von ihrer Couturiere, falls nötig, noch ein wenig ändern zu lassen.«

»Pah, als hätten wir hier keine Schneiderinnen.«

»Ich habe mir sagen lassen, das Kleid hat fünfzehntausend Franc gekostet, und Natascha befürchtete …«

»… dass die hiesigen Schneiderinnen es ruinieren würden.« Auf Carlas Gesicht erschienen schon wieder rote Flecken.

»Ach, Schwesterchen, nun sei doch nicht beleidigt.« Leopold sah Carla versöhnlich an.

»Ist die Gästeliste schon komplett, wen erwartest du denn?«, fragte Hanno, um das Thema zu wechseln.

Leopold zog einen Zettel aus seiner Tasche und begann vorzulesen. Als die Namen Gustav und Agathe Goelder fielen, rief Hanno begeistert: »Wie schön, Agathe einmal wiederzusehen!«

»Na, vielleicht verliebst du dich ja wieder in sie«, bemerkte Carla süffisant. Zu Beginn seiner diplomatischen Karriere war Hanno, noch unverheiratet, für kurze Zeit in Riga stationiert gewesen. Dort hatte er Agathe, Tochter eines anderen Diplomaten, kennengelernt und sich in sie verliebt. Sie war sehr jung, wild und unkonventionell gewesen und absolut nicht daran interessiert, jemanden aus Ostpreußen zu heiraten und mit ihm in die Provinz zu gehen. Erst viel später, als sie Gustav Goelder auf der Hochzeit eines gemeinsamen Freundes traf, gab sie ihre Vorsätze auf und lebte nun auf Weischkehmen, wo die Goelders eine berühmte Pferdezucht betrieben.

»Ist das nicht süß, meine kleine Frau ist eifersüchtig«, schmunzelte Hanno.

»Was ist denn mit deiner russischen Verwandtschaft, kommt die nicht?« Nun versuchte Carla, das Thema zu wechseln.

Leopold rang in komischer Verzweiflung die Hände. »Natürlich. Vorweg mit den Blumen kamen schon unzählige Fässer mit Wodka und Kaviar, und niemand weiß, wie groß die Entourage meines Schwiegervaters sein wird. Natascha meint, danach könne man nicht fragen, das sei ungehörig.« Er musste lachen. »Wir sind auf jeden Fall auf eine Invasion vorbereitet. Alle verfügbaren Räume sind beheizt. Und eines weiß ich bestimmt: Noch einmal heiraten werde ich ganz sicher nicht. Das ist mir zu anstrengend.«

Das wollen wir auch nicht hoffen, dachte Carla. Aber sie hütete sich, es laut auszusprechen.

Am Tag vor der Hochzeit trafen die ersten Gäste ein. Lakaien wiesen ihnen die Zimmer zu, und die Stubenmädchen bekamen den Auftrag, die Kleider der Damen aufzubügeln. Am frühen Abend, Natascha war gerade damit fertig geworden, die Empfangshalle und die ineinander übergehenden Salons und Festsäle in ein Blumenmeer zu verwandeln, fuhren mehrere sechs- und achtspännige Kutschen vor. Ihr Vater war angekommen. Er sah furchterregend aus: ein Riese von fast zwei Metern, das Gesicht vollständig bedeckt mit einem wallenden feuerroten Bart, und unter seiner hohen Pelzmütze quollen lange Locken in derselben Farbe hervor. Er trug einen bodenlangen Zobelmantel und darunter ein besticktes Hemd mit Stehkragen, das sich über seinem mächtigen Bauch spannte. Die engen Hosen steckten in hohen Lederstiefeln. Ungeachtet seiner Leibesfülle stürmte er, vorbei an den sprachlosen Dienern und Lakaien, die Freitreppe hinauf in die Halle und rief mit dröhnender Stimme: »Töchterrrchen, Natascha, mein Täubchen, wo bist du? Dein Väterrchen ist da!«

Mit gerafften Röcken rannte Natascha auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. »Väterchen, du bist da, endlich!« Es folgten schmatzende Küsse und ein Schwall russischer Begrüßungsworte, durchsetzt mit deutschen Brocken.

Angelockt von dem Lärm erschien Leopold, der ebenfalls mit Umarmungen, Küssen und heftigem Schulterklopfen begrüßt wurde. »Kochta, kümmern Sie sich bitte um die Begleitung des Fürsten«, flüsterte er seinem Haushofmeister zu.

»Ich werde die Herrschaften im linken Seitenflügel unterbringen.« Kochta warf einen bedeutungsvollen Blick auf den Fürsten und eilte, gefolgt von einem Schwarm Lakaien, hinaus zu den Kutschen, aus denen bereits ein buntes Völkchen herausquoll: drei junge, üppige Frauen in teuren Pelzen, die Carla später als Kokotten bezeichnete, womit sie zweifellos recht hatte, einige finster aussehende Männer in Orlowskis Alter, Weggefährten aus seiner Kosakenzeit, und eine Truppe Musiker, das Orlowski’sche Balalaikaorchester, das auf keinem seiner Feste fehlen durfte. Außerdem hatte Orlowski Diener, Kutscher und Zofen mitgebracht sowie Gepäckstücke von riesigen Ausmaßen, in denen die Krinolinenkleider der weiblichen Begleitung verstaut waren.

Während die Truppe lärmend den Seitenflügel besetzte, durchschritt der Fürst am Arm seiner Tochter die prachtvollen Räume des Schlosses. Durch die breite Flügeltür an der Stirnseite der Halle, die normalerweise geschlossen war, betraten sie den ersten der drei großen Salons. Wie die anderen beiden war er mit diversen Sitzgruppen und dicken Orientteppichen ausgestattet. An den Wänden hingen Gemälde alter Meister oder handgeknüpfte Gobelins. Die hohen Sprossenfenster, die auf den weitläufigen Park hinausgingen, waren mit üppigen Vorhängen und Schabracken aus kostbarem Seidenmoiré behangen. Überall standen Stechpalmen und riesige Blumenarrangements, die einen betörenden Duft verströmten. Der anschließende große Speisesaal war verschlossen. »Dort wird gerade eingedeckt«, sagte Natascha, »da wollen wir lieber nicht stören. Komm, Väterchen, ich zeige dir jetzt meine Gemächer.«

Ihr Boudoir war ganz in Taubenblau gehalten. Die Vorhänge und die Bezüge der zierlichen Sitzmöbel waren aus schwerer Seide. Auf Säulen aus Onyxmarmor standen Fayencevasen mit frischen Lilien und Orchideen, und überall auf Beistelltischchen befanden sich kostbarer Nippes und Schmuckschatullen aus Ebenholz mit Intarsien aus Elfenbein. Wie in allen Räumen des Schlosses gab es an den Decken üppigen Stuck. Das Badezimmer hatte eine silberne Badewanne – eine ausgesprochene Seltenheit in Ostpreußen –, die zwischen hohen Spiegeln auf einem Marmorboden stand und täglich zweimal von den Stubenmädchen mit heißem Wasser gefüllt werden musste.

»Schönn, serr schönn.« Der Fürst war beeindruckt. »Firr deitsche Verrhälnisse serr gutt.« Das war das höchste Lob, das er aussprechen konnte, das wusste Natascha.

Im kleinen Salon erwartete Leopold seine Frau und seinen Schwiegervater mit einem kleinen Imbiss und eisgekühltem Wodka. Nachdem der Fürst Leopold Komplimente für sein prachtvolles Schloss gemacht, eine Flasche Wodka getrunken und diverse Blinis mit Kaviar hinuntergeschlungen hatte, sagte er: »Ich bin serr müde, Reise war serr anstrrengend. Ich werrde mich jetzt zurrrückziehen. Bis morrgen, mein Täubchen.« Nach mehreren schmatzenden Küssen und zahlreichen heftigen Umarmungen ließ er sich von Alfons in den Seitenflügel geleiten. Allzu müde schien er nicht gewesen zu sein. Bis Mitternacht schallten lautes Lachen, russische Trinksprüche und Balalaikamusik aus seinen Räumen, was Elfriede Carla bereits am nächsten Morgen berichtete.

»Die Buschtrommel funktioniert ja mal wieder blitzschnell«, sagte Hanno lachend beim Frühstück.

Die Trauung fand am späten Nachmittag des folgenden Tages in der geräumigen Schlosskapelle statt. Die Bankreihen waren mit frischen Maiglöckchenbouquets geschmückt, und über dem Altar hing ein Meer von Orchideen. Blumenkinder hatten den Gang durch das Kirchenschiff mit weißen Rosenblättern bestreut. Alle Gäste waren in »großer Toilette«: die Damen in Abendkleidern, die Herren in Cut, Frack oder Uniform.

Als die Braut am Arm ihres Vaters die Kirche betrat, ging ein Raunen durch die Reihen. Neben dem riesengroßen Fürsten in seiner mit Goldtressen verzierten Kosakenuniform wirkte die ebenfalls hochgewachsene Natascha fast zierlich. Sie war überirdisch schön. In ihrem weiß gepuderten Gesicht leuchtete ein dunkelroter Mund. Die hohen Wangenknochen waren mit einem Hauch Rouge betont und die großen, grünen Augen schwarz umrandet, was ihr eine marmorne Kühle verlieh. Auf dem Kopf – die schwarzen, in der Mitte gescheitelten Haare waren streng nach hinten frisiert – trug sie eine Tiara von Peter Carl Fabergé, dem aufsteigenden Juwelier von St. Petersburg. An der Tiara, sie war besetzt mit taubeneigroßen Rubinen und Diamanten, war der Schleier befestigt, der in einer langen Schleppe endete. In den Lockentuffs hinter den Ohren steckten frische Maiglöckchen, und das Kleid aus weißem Damast mit eingewebten Silberfäden bestand aus hundert Metern Stoff. Die enge Korsage entblößte ein üppiges Dekolleté. Am oberen Rand war sie besetzt mit einer Rüsche aus teuerster weißer Spitze, die über den Schultern in kleinen Ärmeln endete. Unter dem Mieder bauschte sich ein weiter, in schwere Falten gelegter Rock, der vorn fächerartig auseinanderfiel und einen mit unzähligen Volants aus der gleichen Spitze besetzten Unterrock zeigte. Das Ganze wurde gehalten von einer Krinoline, die am unteren Rand einen Umfang von fünf Metern hatte. Die Hochzeitsgesellschaft war sich einig: So etwas hatte sie noch nie gesehen. Und einige Damen fanden plötzlich ihre Abendgarderobe geradezu schäbig, was sie aber wohlweislich für sich behielten.

Den ganzen Abend über floss der Champagner in Strömen, und Fürst Orlowski und seine Entourage tranken reichlich Wodka. »Nastrowje«, prosteten sie jedem zu, der in ihre Nähe kam, und nötigten ihn zum Mittrinken. Trotzdem schwankte der Fürst nicht, als er mit seiner Tochter den Ball eröffnete.

Nachdem Carla und ihre Freundin Irina einige Tänze absolviert hatten, zogen sie sich auf eine Récamière am Rand der Tanzfläche zurück und beobachteten die sich im Walzer wiegenden Paare. »Die Krinolinen von Worth sind neuerdings nicht mehr aus Eisen, sondern aus einem leichten Metall«, sagte Carla. »Das hat mir Natascha erzählt. Wie angenehm muss es sein, nicht mehr die schweren Dinger mit sich herumzuschleppen.« Gerade tanzte das Brautpaar an ihnen vorbei. »Ist er nicht ein schöner Mann, mein kleiner Bruder?« Carla warf Leopold eine Kusshand zu.

»Ach ja«, seufzte Irina, deren Mann nun wirklich kein Adonis war. »Alle heiratsfähigen Frauen in und um Königsberg werden heute Trauer tragen.«

Leopold sah wirklich blendend aus. Mit seinen ein Meter achtundachtzig übertraf er selbst das preußische Gardemaß. Er war gertenschlank, und bis auf seine langen Koteletten war er glatt rasiert. Seine vollen blonden Haare hatte er mit Pomade nach hinten gekämmt, und wenn er lachte, entblößte er unter seiner leicht gebogenen aristokratischen Nase ein blendend weißes Gebiss. Und er lachte viel an diesem Abend.

»Schau mal, wie Natascha strahlt«, rief Irina.

»Ja, so glücklich habe ich sie noch nicht gesehen, seit sie auf Troyenfeld ist«, stimmte Carla zu. Sie senkte die Stimme. »Ich hatte schon Bedenken, dass ihr Vater ihren angeblichen Liebhaber mitbringt. Aber die Kerle sehen alle barbarisch aus. Von denen kann es wohl keiner sein.«

»Das wäre ja auch noch schöner bei so einem Traum von einem Ehemann.« Was hätte Irina darum gegeben, Leopold gegen ihren eigenen Mann einzutauschen. Aber solche Gedanken würden wohl für ewig ihr Geheimnis bleiben. »Das Diadem von Natascha ist ja unglaublich«, sagte sie stattdessen. »Das muss ein Vermögen gekostet haben.«

»Es ist von einem berühmten Juwelier aus St. Petersburg, Fabergé oder so ähnlich heißt er. Nataschas Mutter hat es schon bei ihrer eigenen Hochzeit getragen, und der Fürst hat es Natascha nur unter der Bedingung geschenkt, dass ihre Tochter es auch einmal zur Hochzeit trägt. Und wiederum deren Tochter. Es darf niemals verkauft werden. Es kommt morgen in eine versiegelte Schatulle und muss bei der Bank deponiert werden. Nur Nataschas und Leopolds Tochter darf es dort abholen. Wie findest du das, ist das nicht rührend?«

»Also diese Russen …«, sagte Irina lachend. »Die haben ja wirklich Ideen! Und was passiert, wenn sie einen Sohn bekommen?«

»Keine Ahnung, und es ist mir auch ziemlich egal.«

Die Stimmung wurde immer ausgelassener, und als das Balalaikaorchester zu spielen begann und die Kosaken anfingen, Kasatschok zu tanzen, tobte der Saal, und die verknöchertsten alten Damen und Herren feierten und tranken bis in die frühen Morgenstunden. Am Tag darauf fiel der erste Schnee.

Leopold und Natascha gingen auf Hochzeitsreise. »Weihnachten werden wir zurück sein und gemeinsam mit euch feiern«, sagte Leopold, als er sich von seiner Schwester verabschiedete.

Die Reise führte sie zunächst nach Paris, wo sie als Erstes zu Charles Worth in die Rue de la Paix gingen. Natascha hatte ihren Besuch schriftlich angekündigt mit der Bitte, sie möglichst bald zu empfangen, da sie in einigen Tagen nach Rom weiterreisen würden. Sie wusste, er konnte launisch sein, der Herr Worth. »Vor allem bei Vollmond«, erklärte sie Leopold, »dann soll er Depressionen haben und seine Kundinnen stundenlang warten lassen.«

Leopold war sprachlos. »Und so etwas würdest du dir gefallen lassen, von einem Schneidermeister?« Er erkannte seine Frau kaum wieder. Sie, die besonders bei Bediensteten oft blasiert und arrogant war, vor allem, wenn man sie warten ließ. Dann konnte sie sehr unangenehm werden.

»Herr Worth ist weltberühmt, das weißt du doch. Er macht einfach die schönsten Kleider, alle Welt lässt bei ihm arbeiten.«

»Ja, ich weiß«, seufzte Leopold, »und das für ein Schweinegeld!«

Es war offensichtlich kein Vollmond, denn der Meister empfing sie überschwänglich. »Die schöne Gräfin Troyenfeld«, rief er, »und der Herr Gemahl ist auch dabei, quel plaisir.« Er führte sie durch seine drei ineinander übergehenden, schlossartig eingerichteten Salons, in denen Kleiderpuppen mit den neuesten Modellen standen.

Leopold traute seinen Augen nicht. Natascha hatte ihm zwar schon den Luxus des Worth’schen Hauses beschrieben, aber was er jetzt sah, übertraf seine Vorstellung bei Weitem. Während ein Mannequin weitere Modelle vorführte, servierte ein livrierter Diener auf einem goldenen Tablett Tee und Kaffee mit Gebäck und Petit Fours. Charles Worth verschlang Unmengen davon und rauchte dazu eine dicke Havanna.

»Das ist übrigens meine Idee, die Kreationen von einem lebenden Modell vorführen zu lassen«, sagte Worth stolz. »Das hat es vorher noch nie gegeben.« Er schob sich noch ein Stück Gebäck in den Mund. »Wie war das Brautkleid, hat es Monsieur gefallen?«

»Es war umwerfend«, sagte Leopold. »Ihr Ruf ist zwar schon bis in das entfernte Ostpreußen vorgedrungen, aber ein derartiges Brautkleid hat dort wohl noch niemand gesehen.«

Worth lächelte geschmeichelt. »Ich habe bereits Anfragen aus Königsberg.« Er faltete seine dick beringten Hände über seiner Brokatweste, die seinen mächtigen Bauch bedeckte. »Aber Sie werden verstehen, meine Diskretion verbietet mir …«

»Es ist mir gleichgültig, wen Sie in Königsberg beliefern«, unterbrach ihn Natascha auf ihre gewohnt arrogante Art. »Nur wäre es mir sehr angenehm, wenn keines der Kleider, die ich bestelle, dorthin geliefert würde.«

»Aber, Madame, ich bitte Sie«, schnaufte der Meister empört. »Alle meine Modelle sind Unikate!«

Die Unterhaltung wurde auf Französisch geführt, und so sagte Leopold auf Deutsch zu seiner Frau: »Bei den Preisen kann man das ja wohl auch erwarten.«

Das Mannequin erschien jetzt in einem Tageskleid aus grauem Samt, besetzt mit fliederfarbenen Taftbändern.

»Das ist meine neueste Kreation«, sagte Worth. »Wie Sie erkennen, hat es keine Krinoline mehr, sondern eine Tournüre.« Er erhob sich schwer atmend und erklärte Natascha das Besondere an seiner neuen Erfindung. »Wie Sie sehen, ist der Rock lang und vorne eng. Ich würde sagen: figurbetont.« Er drehte das Mannequin, um die Rückfront zu zeigen. »Über einem Polster wird dann der Rockstoff üppig drapiert und endet in einer Schleppe.«

Natascha war begeistert. »Es ist wundervoll! Kann ich es sofort anprobieren?«

So kannte Leopold seine Frau gar nicht. »Wenn es passt, kannst du es vielleicht mitnehmen.«

»Ist das möglich, Monsieur Worth?« Natascha war ganz aufgeregt.

»Bien sûr, Madame«, sagte Worth mit einem Lächeln. »Ich bin mir sicher, Sie werden darin Furore machen.«

Nicht alle seine Kundinnen hatten bisher so enthusiastisch auf dieses neue Modell reagiert. Kaiserin Eugénie hatte es sogar strikt abgelehnt, es zu probieren. Sie fand es vulgär! Aber das verschwieg er lieber. Erst ein paar Jahre später sollte die Krinoline vollständig von der Tournüre abgelöst werden.

Natascha bestellte noch mehrere Kleider und zu jedem Modell passende Handschuhe sowie Handtaschen von Thierry Hermès.

»Diese macht er exklusiv für mich, Madame la Comtesse», bemerkte Worth stolz. Als sie sich noch ein Reitkleid aussuchte, sagte er: »Thierry Hermès fertigt in Europa die schönsten und exklusivsten Sättel an. Sie sollten ihn unbedingt besuchen, wenn Sie schon in Paris sind.«

So gingen sie am nächsten Tag in die Rue Basse de Ramport und bestellten gleich zwei herrliche Sättel. Auch bei Cartier schauten sie vorbei, und als sie Paris verließen, hatte Leopold ein kleines Vermögen ausgegeben. Aber es war ihm egal. Seine Frau schien so glücklich wie nie zuvor, und er war unendlich stolz auf sie. Wo immer sie auftauchten, zog sie alle Blicke auf sich.

Sie nahmen in der Via Appia außerhalb von Rom Quartier. Frederico D’Alba, ein Freund Leopolds, war für ein Jahr auf Weltreise und hatte ihnen sein prachtvolles Landhaus für ihren Italienaufenthalt zur Verfügung gestellt. »Ich bin untröstlich, dass ich nicht zu Deiner Hochzeit kommen kann«, hatte er an Leopold geschrieben, »aber meine Reise ist schon seit Ewigkeiten geplant, und alles ist gebucht. Ich werde nicht einmal da sein, um Euch zu begrüßen. Aber betrachte mein Haus als Dein Haus. Die Bediensteten haben Anweisung, Dich und Deine schöne Frau (ist sie wirklich so schön, wie alle sagen?) wie Könige zu behandeln.«

Und so war es auch. Jeder Wunsch wurde ihnen von den Augen abgelesen. Die Köchin verwöhnte sie mit den köstlichsten italienischen Speisen, und jeden Morgen wartete der Kutscher mit einem Zweispänner, um ihnen die Sehenswürdigkeiten Roms und seiner Umgebung zu zeigen. Frederico hatte einen Plan mit den Dingen gemacht, die sie sich auf keinen Fall entgehen lassen durften. »Wahrscheinlich komme ich eher nach Ostpreußen, als Ihr wieder hierherkommt«, hatte er noch geschrieben.

Das Wetter war herrlich. Fast immer schien die Sonne von einem wolkenlosen Himmel. Die Temperaturen waren angenehm mild, und Ostpreußen, wo bereits tiefer Winter herrschte, war unwirklich weit entfernt.

Natascha war eine leidenschaftliche Geliebte. Es hatte lange gedauert, bis sie sich Leopold gegenüber etwas mehr öffnete. Jetzt, weit weg von ihrer alten Heimat Russland und der bald neuen Heimat Ostpreußen, war sie gelöst, lachte mehr und verlor etwas von ihrer Kühle. Nur ab und an schien sie in sich gekehrt, wirkte verschlossen und kalt. Dann wanderte sie allein durch den herrlichen Park, saß längere Zeit auf einer Bank in dem etwas entfernt liegenden Zypressenhain und erschien erst wieder, wenn der Gong für die nächste Mahlzeit ertönte. Leopold störte das nicht. Er war verrückt nach ihr. Sie liebten sich jede Nacht, und in der höchsten Erregung schrie sie auf Russisch Dinge, die Leopold nicht verstand. Immer wieder fiel das Wort Pjotr, aber da er der Sprache nicht mächtig war, maß er dem keine Bedeutung bei.

Ende November traten sie die Heimreise an. Bereits seit einiger Zeit hatte Natascha über morgendliche Übelkeit geklagt. »Wahrscheinlich bekommt dir das ungewohnte Essen nicht, das viele Öl und die süßen Kuchen«, sagte Leopold, und Natascha meinte: »Ich glaube eher, es sind die schweren Weine. Wir saufen ja schon fast wie die Kosaken.« Leopold liebte es, wenn sie sich so undamenhaft ausdrückte.

Sie reisten abwechselnd mit Pferdekutschen und der Eisenbahn. Je weiter sie nach Norden kamen, desto beschwerlicher war die Reise, und vor allem wurde es immer kälter. Die Straßen, zum Teil holprige Wege mit tiefen Schlaglöchern, waren vom Regen aufgeweicht. Nataschas Übelkeit nahm täglich zu. Ab Posen versank das Land im Schnee, und so konnten sie das letzte Stück der Reise in einem Schlitten zurücklegen, was für Natascha, der es immer schlechter ging, wesentlich angenehmer war.

Gleich nach ihrer Rückkehr schickte Leopold nach Doktor Grüben. Konrad Grüben und er hatten zusammen die Matura gemacht und waren seit ihrer Jugendzeit enge Freunde. Nachdem Grüben sich in Insterburg als Arzt niedergelassen hatte, wurde er der Hausarzt von Schloss Troyenfeld. Natürlich war auch er auf der Hochzeit gewesen und wie alle anderen Herren beeindruckt von der Schönheit der Braut.

»Na, was gibt’s, alter Lorbas«, begrüßte Grüben seinen Freund. »Wo drückt der Schuh. Seit wann seid ihr denn zurück?«

»Wir sind gestern angekommen, und Natascha ist in einem schrecklichen Zustand.«

»Um Gottes willen, was fehlt ihr denn?«

»Ihr ist ständig übel, du weißt schon: das Schaukeln der Kutschen. Die Straßen sind ja zum Teil in einem verheerenden Zustand …«

Grüben nahm seine Arzttasche. »Ich werde sofort nach ihr sehen.« Als Leopold mitkommen wollte, sagte er nur: »Bleib du man schön hier. Beruhige dich mit einem Schnaps. Ich bin gleich zurück und trinke dann einen mit.«

Schnellen Schrittes eilte er zu dem gemeinsamen Schlafzimmer von Natascha und Leopold. Er ahnte bereits die Diagnose. Nach einem leisen Klopfen trat er ein. Die Vorhänge waren zugezogen, und eine kleine Petroleumlampe spendete ein schwaches Licht. Nur an den üppigen schwarzen, auf den weißen Kissen ausgebreiteten Haaren erkannte er die schmale Gestalt, die mit einem dicken Plumeau zugedeckt war. Ihr Gesicht war kalkweiß, um die Augen hatten sich dunkle Schatten gebildet. »Natascha, ich bin es, Konrad Grüben, euer Hausarzt. Erinnerst du dich, ich war auf eurer Hochzeit?«

»Ach ja.« Sie öffnete langsam die Augen und lächelte ein wenig. »Du hast dich am nächsten Tag um Väterchen gekümmert. Er hatte wie immer zu viel gegessen und getrunken.«

Nicht nur er, der gesamte Seitenflügel war in einem üblen Zustand gewesen, dachte Grüben amüsiert. »Aber jetzt wollen wir doch mal sehen, was dir solche Beschwerden macht. Leopold ist in großer Sorge um dich.«

Nach einer kurzen Untersuchung fand er seine Vermutung bestätigt. »Wie lange geht das schon mit der Übelkeit am Morgen?«

»Ich weiß nicht so genau. Ich glaube, kurz nachdem wir in Rom angekommen sind, hat es begonnen.«