Sommer in Villefranche - Birgit Hasselbusch - E-Book
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Sommer in Villefranche E-Book

Birgit Hasselbusch

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Beschreibung

»Dieses Buch duftet nach Lavendel und Meer!« Andrea Schumacher in ›Gala‹   Insa Nicolaisen befindet sich gerade in einer Phase im Leben, in der man sich für a) Durchhalten oder b) die Flucht nach vorn entscheiden kann. Insa entscheidet sich für Variante b) und flüchtet kurzerhand dorthin, wo das Meer blauer leuchtet als irgendwo sonst: an die Côte d'Azur. Der Neustart gestaltet sich jedoch wesentlich turbulenter als gedacht – und wird auch zur Reise in die Vergangenheit: Hier hat Insa einst die glücklichste Zeit ihres Lebens mit Mathieu verbracht. Und hier wartet seit 16 Jahren ein Brief auf sie, der ihre Welt komplett aus den Angeln hebt.

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Birgit Hasselbusch

Sommer in Villefranche

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

»Villefranche-sur-Mer – die beste Zeit meines Lebens.«

Jean Cocteau[1]

 

 

 

 

1.

Er machte Nägel mit meinem Kopf. Nach weniger als einem Tag. Nicht, dass mich das prinzipiell gestört hätte. Aber so schnell? Wir kannten uns seit knapp zwölf Stunden, und schon wollte er, dass ich von Hamburg zu ihm nach Frankreich ziehe. Dabei wusste er noch nicht einmal, wie ich aussah. Geschweige denn andersherum. Wir siezten uns sogar noch.

»Chère Madame Insa …«, so begann seine E-Mail an mich.

Er musste noch in der Nacht geantwortet haben. Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet, als ich am Morgen auf meinem Smartphone die eingegangenen Nachrichten checkte. Außer den üblichen Verdächtigen wie »Insa, garantierter Erfolg bei Penisverlängerung«, »E.Harmony.com – Partnervermittlung auch in schwierigen Fällen« und der Nachricht von einem gewissen Lewis Baach, der als Rechtsanwalt offenbar den Nachlass eines verstorbenen Mannes in Afrika verwaltete, der mir eine siebenstellige Summe vermachen wollte, für die ich nur ein paar Vorabtransfers tätigen müsste, erwartete ich nichts Großartiges in meinem Mail-Postfach.

Aber ich hatte die Rechnung ohne Daniel Richez gemacht.

»Rufen Sie mich möglichst schnell an, denn ich glaube, Sie sind genau die Richtige«, las ich und bekam Schnappatmung.

»Mon Dieu!«, sagte ich lachend und nickte, obwohl außer mir niemand im Raum war. Wie auch? Ich war ja komplett allein gelassen worden, was unter Umständen der Grund dafür gewesen sein könnte, dass ich mich mitten in der Nacht mit Google angefreundet und eine Suche gestartet hatte. Nach einem Job in Frankreich. Von mir aus wäre auch Timbuktu gegangen. Hauptsache, möglichst weit weg von diesem einen, der mir so den Tag vermiest hatte. Ach, was sage ich? Mein ganzes Leben hatte er verdorben. Vielleicht hätte ich über all das trotzdem noch mal eine Nacht schlafen sollen, aber so war noch vor dem Morgengrauen das Angebot da, nach Frankreich zu ziehen. Was mir am Abend zuvor als die einzig wahre Möglichkeit erschienen war, bereitete mir nun doch ein wenig Magengrummeln. Ich bekam Angst vor meiner eigenen Courage. Und vor allem holten mich alte Erinnerungen ein. An Villefranche. An ihn. An einen anderen Maler.

»Cher Monsieur Richez«, begann ich zu schreiben, nachdem ich auf »Antworten« geklickt hatte.

»Je regrette de vous informer que …«, fuhr ich fort. Es tat mir leid, ihm mitteilen zu müssen, dass ich am Abend zuvor offenbar unter geistiger Umnachtung gelitten hatte. Ich würde mir die Sache noch mal ein bis zwei Jährchen durch den Kopf gehen lassen, formulierte ich weiter, und würde darum die Gardiennage-Stelle, also die Betreuung seines Hauses an der Côte d’Azur, vorerst nicht antreten können. Zudem entschuldigte ich mich für meine Übersprungshandlung und dafür, ihm so viel Mühe bereitet zu haben.

So eine schwachsinnige Idee, Insa Nicolaisen, wies ich mich zurecht. »Für spontane Entscheidungen hast du bisher doch immer eins auf den Deckel bekommen«, flüsterte mir meine innere, sehr kritische Stimme zu. »Also, lass es bleiben.«

 

So sehr konnte der andere Kerl mich gar nicht verletzt haben, dass ich in meiner Heimatstadt alles über Bord werfen und meinen Job kündigen würde, nur um ihm zu entkommen.

Gerade als ich die Absage-Mail an Monsieur Richez abschicken wollte, klingelte mein Handy.

Der Name auf dem Display hatte drei Buchstaben. Drei zu viel für meinen Geschmack. Max.

»Ja!?«, meldete ich mich so emotionslos wie möglich, während in mir ein Orkan tobte.

»Insa, Liebes. Die Vernissage ist super gelaufen. Wo warst du denn?!« Er klang so normal, als würde er mich fragen, ob wir noch Milch im Kühlschrank hätten. »Auf einmal warst du wohl weg.«

»Und das fällt dir jetzt auf?«, gab ich zurück. Okay, unbeteiligt klang anders. Ich war total außer mir. Und das zu Recht.

»Na ja, gestern war so viel zu tun!«, sagte er.

»Ganz genau. Bestimmt hattest du so viel damit zu tun, den anderen deine Frau vorzustellen.«

»Nein!«, entgegnete er tatsächlich, weil er die Schärfe in meiner Stimme offenbar ignorierte. »Die meisten kannten sie schon.«

Ich musste mich verhört haben.

»Aha. Die kannten sie also schon?« Vorsicht, Insa. Nicht, dass sich deine Stimme wieder so überschlägt wie bei deinem allerersten Chorauftritt. Ich atmete tief durch und packte eine große Portion triefende Süffisanz in meinen Tonfall.

»Ach, ist das schön, Max. Dann war ich also die Einzige, die sie noch nicht kannte.«

Auch wenn es mir schwerfiel, ließ ich vor meinem inneren Auge die Bilder des gestrigen Abends wieder auftauchen. Für meinen Liebhaber Max, von und zu Künstler mit Anspruch, aber ohne größere Verkaufserfolge, hatte ich in meiner grenzenlosen Leidenschaft eine Ausstellung auf die Beine gestellt. Um ihm Geld in die Kasse zu spülen. Wieso hatte ich es eigentlich so mit Künstlern? Ob es an damals lag? Den Gedanken wischte ich schnell wieder beiseite. Von A wie Alkohol über E wie Einladungen, L wie Loft bis Z wie Zeichnungen hatte ich alles für Max geplant und durchgeführt. Für meinen Bohemien, der mir in seiner kleinen Galerie im Karolinenviertel zwar zeigte, dass er sich mit dem Anmischen von Farben und dem Anmachen von Frauen bestens auskannte, in Sachen Organisation aber zwei linke Hände hatte.

Leider hatte ich die Rechnung ohne C wie Catarina gemacht. Das war seine Frau, die auf einmal im eleganten Abendkleid vor mir gestanden hatte, während ich noch in farbverklecksten Jeans rumgelaufen war, um die Schnittchen gut zu platzieren. Eine optimale Platzierungsfläche wäre Max’ Gesicht gewesen.

»Aber ich hab sie dir doch vorgestellt! Was stört dich denn so?«

»Was mich stört?«, schleuderte ich ihm verletzt entgegen. »Dass du sie mir ein ganzes Jahr lang eben NICHT vorgestellt hast. Ich wusste überhaupt nicht, dass du verheiratet bist.«

Hatte ich bis vorhin noch einen winzigen Hoffnungsschimmer gehabt, Max könne nach dem gestrigen Desaster auf den Knien bei mir angekrochen kommen, mich um Vergebung anbetteln, die Scheidung auf Pergamentpapier einreichen und meinen nackten Körper in Öl abbilden oder mir wenigstens plausibel klarmachen, dass das alles nur ein ganz großes Missverständnis gewesen und die Frau gar nicht seine Frau, sondern seine Schwester, Schwippschwägerin, Grundschullehrerin oder Wurstfachthekenverkäuferin war, so starb diese Hoffnung just in dem Moment, als ich seine Antwort hörte.

»Du hast ja auch nie gefragt. Dachtest du, es sei was Ernstes zwischen dir und mir?«

Nicht gleich brüllen. Nicht das Handy würgen. Nicht den Schreibtisch malträtieren. Ganz die Ruhe selbst bleiben.

Natürlich hatte ich angenommen, dass es was Ernstes war. Immerhin hatte ich ihm auch von seinen Vorgängern erzählt. Und zwar alles, was es darüber zu wissen gab. Der Altersunterschied von gut fünfzehn Jahren zwischen Max und mir war mir egal gewesen. Max kratzte bereits an der Mitte-fünfzig-Grenze. Ich hatte mich Hals über Kopf in ihn verliebt, als ich vor dem Regen Schutz suchend in seine Galerie gestolpert war, wo sich in einem Nebenzimmer Bett, Bad und Kochplatte befanden. Mehr brauchten wir gar nicht. Wir hatten über Kubismus, Impressionismus und Moderne Kunst gefachsimpelt. Auch wenn seine Werke eher nach einem Mix aus Nihilismus und Infantilismus aussahen. Aber das hatte ich dem sensiblen Künstler natürlich nie gesagt. Es war nicht wichtig. Ich hätte ihm auch ein Bild mit einem weißen Motiv auf weißem Grund abgekauft. So sehr war ich ihm verfallen. Ich hätte mir nichts Schöneres vorstellen können, als ein Leben zwischen Farbtuben, Pinseln und Leinwänden zu verbringen. Als Muse oder etwas ähnlich geheimnisvoll Klingendes. Inzwischen kam ich mir nur leider eher wie Terpentinersatz vor.

»Was Ernstes?«, gab ich zurück. »Pfff, nicht unbedingt. Aber ich finde schon, du hättest mir sagen können, dass …«

»Nun reg dich doch nicht so auf, Süße!«, unterbrach er mich.

»Ich bin nicht deine Süße!«, schrie ich – mittlerweile hemmungslos.

»Warum bist du denn so hysterisch? Es war doch alles klasse zwischen uns. Was hast du dir denn nur gedacht?«

»Du trägst keinen Ehering!« Ich ging gar nicht auf seine unverschämte Zwischenbemerkung ein.

»Stört beim Malen«, merkte er ohne die Spur eines schlechten Gewissens an.

»Weißt du, was mich stört?«, schleuderte ich ihm durchs Telefon entgegen.

»Ich vermutlich. Richtig?« Er klang ironisch. Das war so typisch für ihn. Wir hatten oft zusammen gelacht, ich hatte ihm aber auch gesagt, dass es Momente gab, in denen man mit Ironie ungefähr so viel anfangen konnte wie mit Ostereiern zu Weihnachten.

»Punktlandung. Und weißt du, was ich jetzt mit dir mache?«, schob ich ihn verbal und mit einer gefährlichen Mischung aus Rage und Verwundbarkeit in Richtung meines Abschlussplädoyers. »Etwas, was als Künstler und Maler eigentlich deine Spezialität ist. Ich streiche dich!«

»Ach so. Dabei wollte ich dich fragen, ob du vielleicht Lust hättest, noch so eine Vernissage für mich zu organisieren. Das wäre …«

Was das wäre, hörte ich nicht mehr. Es interessierte mich auch nicht. Ich hatte dem Mann, der dreizehn Monate lang der Farbtupfer meines Lebens gewesen war, den Hahn abgedreht.

 

Wie etwas Hochansteckendes warf ich mein Handy weit weg von mir aufs Sofa. Ich versuchte, meine Atmung wieder zu beruhigen und mein hochrotes Gesicht einige Stufen herunterzudimmen. Ich musste mich und meinen rasenden Puls wieder unter Kontrolle bekommen. Von 100 auf 0 herunterbremsen sozusagen. Keine übereilten Entscheidungen jetzt. Ich hob den Kopf, streckte die Arme und tippte beherzt los, um kurz darauf folgende Mail auf den 1600 Kilometer langen Weg von Hamburg nach Villefranche an der Côte d’Azur zu schicken:

»Monsieur. Ich freue mich auf den Job bei Ihnen. Wann soll ich anfangen?«

2.

Ich roch den Braten schon eine Meile gegen den Wind. Meine Mutter hatte wieder Rouladen gemacht. In der Küche schnappte ich mir einen Schokokeks vom Teller, den meine Mutter auf ein Tablett gestellt hatte.

»Insa, doch nicht vor dem Essen! Komm, bring die Schüssel bitte rein.«

»Mama, ich mag keine Rouladen. Weißt du doch.«

»Früher hast du immer Rollläden dazu gesagt«, bemerkte meine Mutter schmunzelnd, ohne meinen Einwand zu beachten.

»Kann sein. Und Rollläden schmecken mir hundertpro besser als Rouladen.«

»Du immer!«

Ich ging ins Wohnzimmer und begrüßte meinen Vater mit einem Kuss auf die Stirn. Er saß in seinem Sessel und las den Sportteil der Zeitung. Meine Schwester Jana lächelte mir zu, stand aber nicht auf, weil sie ihre zweijährige Tochter Mia auf dem Schoß hatte.

»Ao, IA!«, rief diese fröhlich. IA war ich, Insa, weil sie es noch nicht so mit Konsonanten hatte.

»Wie nennt sie dich eigentlich, wenn sie nur Vokale kann?«, wollte ich von meiner sieben Jahre jüngeren Schwester Jana wissen.

»Sehr witzig!«, gab diese pikiert zurück. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte Jana die Bemerkung sehr lustig gefunden. Was war passiert? Ich sah, wie mein Vater hinter seiner Zeitung grinste, bis meine Mutter uns an den Esstisch scheuchte.

»Nimm dir ordentlich, Insa!«, forderte sie mich auf.

»Wie gesagt. Ich mag Rouladen ja nicht so gern«, antwortete ich zögerlich und nahm mir ein paar Kartoffeln und Bohnen.

»Papperlapapp. Du hast früher immer sehr gerne Rouladen gegessen.«

»Habe ich nicht. Hühnerfrikassee ist mein Lieblingsgericht. Eigentlich mag ich nur helles Fleisch. Weißt du doch. Du hast nur nie richtig zugehört.«

»Ich höre immer zu. Was sagst du dazu, Jana? Du liebst Rouladen. Stimmt’s, Mäuschen?« Meine Schwester nickte, verdrehte aber die Augen.

»Überhaupt, es ist gar nicht gut, Vegetarier zu sein. Da fehlen dir Vitamine, Insa.«

Mein Vater stupste seine Frau an und gab ihr mit einem Zeichen zu verstehen, doch bitte das Thema zu wechseln.

»Ich bin überhaupt keine Vegetarierin. Ich esse nur gerne Geflügel. Das dunkle Fleisch ist nichts für mich. Und es stimmt nicht, dass einem Vegetarier Vitamine fehlen.«

»Siehst du!«, rief meine Mutter. »Doch Vegetarierin. Die Cousine von der Schwester meiner Gymnastiklehrerin, die, die immer diese viel zu jugendlichen Röcke für ihr Alter trägt, die hat große Probleme mit dem Herzen. Und die isst auch nur Gemüse.«

»Das hat doch überhaupt nichts miteinander zu tun. Sie hat doch einen Bypass gelegt bekommen, oder?«

»Kann sein. Sie ist aber genauso blass wie du. Und hat auch keinen Mann.«

»Evelyn, nun lass doch.« Mein Vater konnte sein Essen nicht richtig genießen, weil er seine Frau unter Kontrolle bekommen musste.

»Ich mein ja nur! Man kann doch nicht immer nur Grünzeug essen«, sagte sie und klang etwas beleidigt.

Kurz darauf sah sie ihren Mann an.

»Ich würde auch gerne mal deine Meinung hören.«

»Wozu?«, fragte mein Vater nach.

»Auch wieder wahr!«, sagte Mama. »Schmeckt’s dir, Miachen?«

Papa schüttelte resigniert den Kopf, während sich Mama genüsslich und demonstrativ einen Bissen zum Mund führte und ihre Enkelin so aufforderte, ein wenig von dem Fleisch zu probieren.

»Ag nich!«, sagte Mia, rümpfte die Nase und mopste sich einen Keks vom Tablett.

»Macht ja nichts. Musst du ja nicht, Mäuselein. Und was gibt’s sonst so bei euch?«

Es war anstrengend, nach Hause zu kommen. Mami forderte jedes Mal Resultate ein, zumindest kam es mir so vor. Wie ein Chef zum Monatsende positive Bilanzen sehen wollte, so hoffte unsere Mutter auf ansprechende Ergebnisse und Fakten. Am glücklichsten würde ich sie vermutlich damit machen können, wenn ich so etwas sagte wie: »Hab ’nen Mann gefunden, bin befördert worden oder schwanger und esse nur noch halbe Schweine.«

Nichts dergleichen aber stimmte. Am ehesten würde noch das mit dem Schwein klappen. Mir war klar, dass das, was ich mitzuteilen hatte, nicht in die Mama-Kategorie von guten Nachrichten passte.

»Ich ziehe wieder nach Frankreich!«

»Du fährst schon wieder in den Urlaub?« Meine Mutter war damit beschäftigt, ihrem Mann Soße nachzufüllen, und hörte nur mit einem Ohr hin.

»Nein, keine Ferien. Die sind übrigens ein Jahr her. Ich werde dort arbeiten. In Villefranche.«

»Da, wo du früher studiert hast?« Jana sah mich interessiert an. Nur allzu gut hatte sie vermutlich noch die Zeit vor sechzehn Jahren im Gedächtnis, als ihre große Schwester ins Ausland gegangen war und sie von da an viel mehr Platz für sich und ihre Freundinnen hatte. Außerdem erinnerte sie sich bestimmt daran, welch schwerwiegende Vernunftentscheidung ich damals gefällt, was für einen Fehler ich gemacht hatte, als ich wieder nach Hamburg zurückgekehrt war und die Liebe meines Lebens zurückgelassen hatte. Womöglich konnte sie mir sogar an der Nasenspitze ablesen, dass ich gelegentlich immer noch an ihn dachte, auch wenn ich das vehement abstritt.

»Das war in Nizza. Ungefähr zwanzig Minuten entfernt. Ich mache eine Gardiennage in einem Haus. Also, der Besitzer hat sich gerade von seiner Frau getrennt und zieht in seine Zweitimmobilie.«

Papi kaute noch an der ersten Info, dass seine älteste Tochter Hamburg verlassen würde.

»Siehst du, Olaf. Ich habe doch gesagt, dass wir uns das Wochenendhaus an der Schley hätten kaufen sollen. Das wäre auch schön für Jana, Markus und Mia gewesen.«

»Wo ist Markus eigentlich?«, erkundigte ich mich bei meiner Schwester, die versuchte, ihrer Tochter die Schokofinger abzuwischen, wogegen Mia sich lautstark wehrte.

»Mami ist aber ganz traurig, wenn sie nicht deine kleinen Finger abwischen darf. Ganz traurig. Darf Mami?«

»Ö!« Was wohl so viel wie Nö bedeuten sollte.

»Ach, bitte, Schatz. Mami würde es ganz toll finden, wenn Mia ihre Fingerchen mal hochhält. So, und alle Finger zappeln.«

Mia riss sich von ihrer Mutter los, rannte zum Sessel meines Vaters und wischte ihre Hände dort ab.

»Schahatz. Das geht aber eigentlich nicht.« Die Stimme meiner Schwester klang in etwa so drohend wie eine Schnecke, die einen Elefanten beschimpfen wollte, dessen Fuß über ihr schwebte.

»Wenn du das noch mal machst, dann …« Die Sätze meiner Schwester wurden nach dem »dann« nie beendet, weil sie niemals in der Lage gewesen wäre, die »wenn, dann«-Konsequenz zu ziehen. Wenn sie früher damit gedroht hatte, mir eine zu verpassen, sollte ich ihre Barbiepuppe nicht sofort loslassen, dann hatte es wirklich geschallert. Als Kind war sie konsequenter gewesen.

»Jetzt reicht’s!« Mein Vater stand auf, schnappte sich seine Enkelin und brachte sie unter lautem Gejaule ins Gästebad, wo er ihr Hände und Gesicht wusch.

»Alles okay?«, fragte Jana, als die beiden zurückkamen und Mia heulte.

»Ja, mit mir ist alles okay«, merkte unser Vater an. »Aber mich meintest du ja wahrscheinlich gar nicht.« Jana strich ihrer Tochter übers Haar und reichte ihr zu meinem Entsetzen zum Trost einen weiteren Schokokeks.

»Und, wo ist Markus?«, hakte ich nach.

»Bei der Arbeit!«

Ich hätte wetten können, dass er es sich im Einfamilienhaus in Hamburgs Westen gerade vor dem Fernseher gemütlich machte, während wir uns in Hummelsbüttel über Rouladen und Kekse in die Haare bekamen.

Gegen Markus war gar nichts einzuwenden. Er tat das einzig Richtige, und er hatte mir bei der Suche nach dem Loft für die Vernissage geholfen. Ach, daran wollte ich ja eigentlich gar nicht mehr denken. Ich wollte nur nach vorne schauen.

 

»Also, dieser Monsieur Richez ist dann nicht mehr in dem Haus«, griff ich den vernachlässigten und geradezu schändlich übergangenen Faden wieder auf.

»Wer? Und was für ein Haus?« Meine Mutter, die, die immer so gut zuhörte, wusste überhaupt nicht, um was es gerade ging.

»Mein Arbeitgeber in Frankreich. Der zieht woandershin, hat da andere Verpflichtungen. Und ich vermute, diese Verpflichtungen haben lange Beine und einen Schmollmund.«

Mein Vater entspannte sich sichtlich. Solche Geschichten gefielen ihm weitaus besser als zu blasse Gymnastikcousinen mit Bypässen.

»Und die Frau?« Jana war wieder bei der Sache.

»Die zieht bestimmt in die Drittimmobilie!«, scherzte mein Vater. Ich zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Die ist aber nicht mehr da. Ich wohne in einem annexe, also so einem Nebenhäuschen auf dem Grundstück.«

»Du ziehst weg?« Meine Mutter klang entsetzt und vergaß, sich Kartoffeln nachzunehmen.

»Wie ich schon gesagt habe, ja genau. Ich soll das Haus an Urlauber vermieten.«

»Das kannst du doch gar nicht. Wieso du?«

»Weil ich so gut Französisch kann zum Beispiel. Und gut im Organisieren bin!«

Meine Mutter schnaubte abfällig auf. »Der hätte mal dein Zimmer sehen sollen! Du konntest früher nicht mal deinen Schreibtisch organisieren. Wisst ihr noch, wie lange wir nach dem Konfirmationskleid gesucht haben?«

»Das in Janas Schrank hing«, fügte ich an. Meine Mutter winkte ab.

Sie kramte gerne alte Geschichten aus, vernachlässigte dabei aber wesentliche Fakten. Meine Schwester hätte eingreifen können, saß jedoch eher apathisch auf ihrem Stuhl.

»Und was ist mit deinem Job hier?« Mein Vater war der Einzige, der die richtigen Fragen stellte, auch wenn er den »Job« mit einem J wie in Joghurt aussprach.

»Ich kündige!«

Endlich wachten die weiblichen Beteiligten am Tisch auf.

»Was machst du?« Meine Mutter wollte gerade die Schüsselchen mit Vanillepudding verteilen, hielt aber in der Bewegung inne.

»Mein Chef hatte mir versprochen, mich zu befördern. Stattdessen hat Sybille den Zuschlag bekommen.« Ich arbeitete seit etlichen Jahren in einer Firma als Fremdsprachensekretärin und hatte von meinem Boss schon mehrfach die Zusage bekommen, bei der nächstbesten Gelegenheit eine Gehaltsstufe höher zu klettern. Was nicht geschehen war. Kommentarlos war ich übergangen worden.

 

»Könnte es sein, dass es daran liegt, weil du dich so viel um die Vernissage für diesen Künstler gekümmert hast?« Jana meinte es wahrscheinlich gar nicht böse, sie hatte über Markus ja mitbekommen, dass ich auf der Suche nach einem Loft gewesen war. Nur in diesem Moment wollte ich überhaupt nicht daran erinnert werden, dass ich viel zu viel Zeit in ein Projekt ohne Zukunftschancen investiert hatte.

»Was für ein Künstler?« War ja klar, dass meine Mutter hellhörig wurde.

»Ach nix. War so ein soziales Ding. Ehrenamtlich. Ist schon wieder vorbei!« Und zwar im doppelten Sinne.

»Was ist eigentlich mit dir und Thomas?« Mami löffelte ihren Vanillepudding, nachdem sie vorher penibelst darauf geachtet hatte, dass jeder die Ration bekam, die ihm zustand.

»Mit welchem Thomas?« In meinem Hirn war ein Fragezeichen. Hatten wir nicht gerade noch über meine Kündigung gesprochen?

»Dein Freund, mit dem du mal zusammen warst.«

»Ach so, Thomas!« Ich lachte. »Du meinst den aus der Schule? Vor fast zwanzig Jahren.«

»Macht doch nichts. Ihr habt so gut zusammengepasst.«

»Der hat bestimmt Frau und Kinder.«

»Siehst du!« Die Stimme meiner Mutter klang eine Spur zu anklagend. »Und er hat doch das Geschäft seines Vaters übernommen. Ich meine doch nur, weil du jetzt arbeitslos bist.«

»Mann, Mama, ich bin nicht arbeitslos. Ich habe einen Job in Frankreich!«

Meine Mutter rümpfte die Nase, so als verstoße ein Arbeitsverhältnis in einem fremden Land bei Temperaturen über fünfundzwanzig Grad gegen die Genfer Konventionen.

»Ich fasse jetzt noch mal zusammen!«, meldete sich mein Vater zu Wort. »Bevor das Wichtigste untergeht.« In dem Moment ging eine Sirene los. Eine menschliche.

»Ahhhh!« Mia schrie wie am Spieß, woraufhin meine phlegmatische Schwester wie von der Tarantel gestochen aufsprang und in den Flur raste. Meine Mutter ihr dicht auf den Fersen.

»Schätzchen, was ist denn?«

»Oh, du blutest ja!«, rief meine Mutter panisch.

Nun standen auch mein Vater und ich auf, um uns ein Bild von dem Blutbad zu machen.

»Auuuuuuu!« Mia hatte sich den Finger in einer Schublade im Gästebad eingeklemmt. Der Finger war aber noch dran und von Blut keine Spur. Höchstens eine stecknadelkopfgroße leicht gerötete Stelle.

»Papa, hast du die Tür vorhin nicht richtig zugemacht?«, fragte Jana.

»Was, doch. Glaub schon.«

Der dritte Trostpflasterkeks verschwand im Mund meiner Nichte, der man gar keinen Vorwurf machen konnte. Sie wusste, wie man die Truppe bei Laune hielt.

»Also, jetzt kommt mal alle wieder zurück. Insa kündigt und geht nach Frankreich. Das ist doch toll. Abenteuer! Auch wenn wir dich natürlich vermissen werden. Aber darauf trinken wir mal einen Schluck.«

Papi holte aus der Hausbar ein paar Gläser und schenkte uns ein Gesöff ein, das dort meines Wissens schon bei meiner Einschulung gestanden hatte. Die Geste zählte. Er reichte allen ein Glas und hielt auch Mia eins hin.

»Papa!«, schimpfte meine Schwester.

»Also, Olaf!« Auch Mami zischte ihn an.

»Ich dachte, damit könne sie vielleicht die klaffende Fleischwunde am Finger desinfizieren!«, sagte Papi, nahm seine Enkelin auf den Arm und gab ihr einen Kuss auf den verwundeten Körperteil.

»Mann, Papa! Sehr lustig!«

»Santé!«, rief dieser und prostete mir zu. Er war früher häufiger geschäftlich im Ausland unterwegs gewesen und konnte mein Reisefieber wahrscheinlich nur allzu gut verstehen. Vielleicht hatte er sich auch das eine oder andere Mal eine »Strafversetzung« in ein Land gewünscht, in das seiner Ehefrau kein Einlass gewährt wurde.

»Wann geht’s denn los?« Jana sah mich an. In diesem Moment wirkte sie völlig normal und freundlich, so wie ich sie in Erinnerung hatte. Als kleines Mädchen. Als sie noch nicht die Sorte Mutter war, die alles rechts und links um sich herum vergaß, sobald die Tochter einmal Pieps sagte.

»Am Sonnabend!«, antwortete ich.

»Was. Schon in sechs Tagen? Was passiert denn mit deiner Wohnung?« Mama bemerkte auf einmal, dass es sich offenbar um etwas Aktuelles, nein Akutes, handelte und nicht um einen Plan für die Zeit meiner Rente.

»Er wollte, dass seine Sekretärin mir für morgen einen Flug bucht«, erklärte ich.

 

»Morgen?«, hatte ich am Telefon eine Spur zu schnell und zu laut gefragt. Dieses konkrete Datum hatte mir die Schweißperlen auf die Stirn getrieben.

»Ich weiß nicht, ob wir für heute noch einen Flug bekommen!«, hatte Monsieur Richez daraufhin erwidert. Offenbar wollte er mich falsch verstehen.

»Sagen wir samedi, Sonnabend!?«, hatte ich angeboten. Die Tickets, die Adresse und den Arbeitsvertrag wollte er mir zumailen. Ich könne mir ein Taxi vom Flughafen nehmen.

»Also ein Flug von Frankfurt nach Nizza!«, hatte er gemurmelt und sich offenbar eine Notiz gemacht.

»Nein, ich wohne in Hamburg«, hatte ich ihn korrigiert.

»Ah, ’amburg! Ich war mal in ’eidelberg!«, hatte er gesagt und zum ersten Mal gelacht.

Keine Ahnung, wieso das immer so war, aber verriet man einem Franzosen, dass man aus Deutschland kam, strahlten sie wissend, kannten dann aber doch immer alle nur ’eidelberg, Mann’eim oder Saarbrück.

 

»Es gibt so eine Mitwohnzentrale. Die vermieten möblierte Wohnungen monatsweise an Geschäftsleute«, beschwichtigte ich meine Familie.

»Nicht, dass wir da ständig hinmüssen, um nach dem Rechten zu sehen«, nörgelte meine Mutter.

»Och, ist doch nicht schlimm, Evelyn. Ich kümmere mich schon. Kannst denen meine Nummer geben.«

Papi war froh, eine Aufgabe zu haben, wenn er schon nicht mitkommen durfte.

»Das ist nett. Ich ruf die morgen gleich an. Im Internet steht, dass das alles kein Problem ist.«

»Wie lange willst du denn eigentlich wegbleiben? Ist der Job sicher?« Meine Mutter klang leidend. Vermutlich wurde ihr gerade erst bewusst, dass ich Hamburg schon ganz bald den Rücken kehrte. In ihren Augen glitzerte es. Das war typisch für meine Mutter. Die ganze Zeit über gedanklich abdriften und jetzt weinen.

»Mal sehen. Ich weiß es nicht genau, Mami. Aber sei froh, dass ich so was Zivilisiertes mache wie diese Gardiennage. Im Internet auf der Seite gab’s noch zwei durchgeknallte Angebote. Ich hätte zum Beispiel Schäferin in der Auvergne werden können.«

»Aaaf! Määääääh«, meldete sich Mia zu Wort und wir lachten.

»Oder ich hätte bei einem älteren Nudisten in Toulon einziehen können, der Gesellschaft sucht.«

»Na, dann hättest du auch hierbleiben und dir morgens das Bad mit deinem Vater teilen können.« Meine Mutter überraschte gelegentlich mit einer durchaus gesunden Portion Humor. Das war vermutlich auch der Grund, weswegen mein Vater sie niemals verlassen würde. Auch wenn solche Momente rar waren und die Witze immer auf seine Kosten gingen.

»Kennst du in Nizza denn noch jemanden von früher?«

Ich lächelte, weil ich mich freute, dass meine Schwester doch manchmal wieder ganz die Alte zu sein schien. Und die Dinge aus meinem Leben wusste, die sonst keiner mehr auf der Rechnung hatte.

»Na ja, ist lange her«, antwortete ich vage. »Ich weiß ja nicht mal, ob er sich überhaupt noch an mich erinnert.«

3.

Nein, wir würden nicht im Wasser landen. Auch wenn man es jedes Mal dachte. Der Flughafen von Nizza lag direkt an der Côte d’Azur, und beim Landeanflug überkam einen dieses Kribbeln im Bauch und die Frage: »Der wird doch nicht etwa mitten im Meer …!?«

Nein, tat er nicht. Als wir festen Boden unter den Füßen hatten, rief ich die Wetter-App auf. Ich rief weder meine Mutter, meine Schwester, meinen mich betrügenden Ex-Liebhaber noch meinen Ex-Chef an, ich rief die Wetterdaten für Nizza ab. Mehr als fünfundzwanzig Grad würden mich draußen gleich erwarten.

Auf meinem iPod tippte ich das Lied »Je veux« von ZAZ an. Die Sängerin hatte damals vor sechzehn Jahren, als ich in Nizza studierte, noch den Kindergarten besucht. Und damals war mein Französisch auch noch nicht ansatzweise so gut gewesen wie heute.

 

»Tu veux dire quoi?«, hatte Matthieu damals gefragt, weil er mich einfach nicht hatte verstehen wollen.

»Je joue au hand!«, hatte ich meinen neuen Freunden versucht zu erklären. Wir hatten über unsere Hobbys gesprochen, und ich hatte erzählt, dass ich Handball spielte. Damals. Mit meinem Schulfranzösisch war ich eigentlich immer gut über die Runden gekommen. Hier aber war ich kläglich gescheitert. Obwohl ich meiner Meinung nach alles korrekt ausgesprochen und auch das H bei »hand« verschluckt hatte. Alle hatten mit den Schultern gezuckt, so als hätte ich eine Sportart genannt, die kein Mensch kannte, so etwas wie Zwergenweitwurf oder Unterwasserfederball.

»C’est quoi?«, hatte Sandrine gefragt, die gemeinsam mit Matthieu, Olivier und mir in dem kleinen Restaurant in der Altstadt von Nizza gesessen hatte, um unseren ersten Uni-Tag zu feiern.

Ich war aufgestanden und hatte in dem engen Gang zwischen den voll besetzten Tischen eine typische Pose gemacht – mit einer Hand in der Luft, die einen imaginären Ball wirft.

»Ahhh!«, hatten alle gerufen. »Le hand. Tu joues au hand!« Ich hatte sie mit zusammengekniffenen Augen angesehen und mich gefragt, ob sie mich auf den Arm nehmen wollten.

»Das habe ich doch gesagt. Ganz genau so!?«, hatte ich mich beschwert und an mir selbst gezweifelt.

»Nein, du hast es ganz anders ausgesprochen«, hatte Matthieu neckisch geantwortet und mir ein weiteres Stück pissaladière, einen Zwiebelkuchen, auf den Teller gelegt und Wein nachgeschenkt.

Die Franzosen verstanden offenbar nur die Worte, die aus ihrem Mund kamen, hatte ich damals festgestellt.

 

So ähnlich war es auch jetzt, als ich aus dem Flughafengebäude ins Warme trat und mir das erstbeste Taxi schnappte.

»Ällo!«, begrüßte mich der Fahrer, ein älterer Herr, der bei offenem Fenster rauchte.

»Bonjour«, lautete meine Antwort. Dieses Wort schien er allerdings nicht als zur französischen Sprache zugehörig auszumachen und blieb beim Englischen.

»Where go you?«

»À Villefranche, s’il vous plaît!«

»No. Bye-bye«, antwortete er und fuhr weiter zu einem Mann mit Aktenkoffer, von dem er sich vielleicht mehr Trinkgeld versprach.

Es war zum Heulen. Wenn ich diese Prozedur nicht bereits von früheren Besuchen gekannt hätte, wäre mein Selbstwertkonto schon in den ersten fünf Minuten auf französischem Boden geleert worden.

Ein Franzose, dessen Englisch in etwa so schlecht war wie mein Suaheli, schaffte es in einer Penetranz, die ihresgleichen suchte, mein Französisch zu ignorieren. In Paris waren sie noch schlimmer. Da wurden Touristen sogar beschimpft, wenn sie außer Deutsch gar keine Sprache konnten.

 

»Allô!«, sagte ich zum nächsten Taxifahrer, den ich herangewunken hatte. Er sah aus wie ein Student, der sich etwas dazuverdiente.

»Bonjour!«

Ich gab ihm die Adresse und bat ihn, an der Basse Corniche entlangzufahren, der Küstenstraße, die nach Villefranche führte. Er warf mir im Rückspiegel einen Blick zu. Eine Deutsche, die Französisch sprach und die Basse Corniche kannte. Das bedeutete, dass er nicht wie sonst den Umweg über Marseille nehmen konnte, um das Taxameter hochzutreiben.

»Kommen Sie von hier?«

»Ich habe hier mal gewohnt!«, beantwortete ich die Frage des Taxifahrers und setzte mir die Sonnenbrille auf. »Das ist aber schon lange her.«

»Hatten Sie Sehnsucht?«, wollte er wissen.

»Und wie. Das war mir aber bis vor kurzem nicht bewusst!« In diesem Moment entdeckte ich die erste Palme. Ich begrüßte sie wie eine alte Freundin. Der Taxifahrer grinste angesichts meiner Wiedersehensfreude.

Wir fuhren über die Promenade des Anglais, jene Straße in Nizza, die direkt am Strand vorbeiführte. Ein so schöner und doch so trauriger Ort. Sie mündete in den Quai des États-Unis, während es zur Linken in die Altstadt und in Richtung Blumenmarkt abging. Nach einer Kurve kamen wir an einem kleinen Hafen vorbei. Kurz darauf hatte man einen sensationellen Blick auf das blaueste Blau der Côte d’Azur. Auf Jetskifahrer, auf Kreuzfahrtschiffe, auf kleine Buchten.

»Ich hatte vergessen, wie blau das Wasser hier ist«, murmelte ich.

»Das liegt an den Steinen. Ist nur hier in Nizza so.«

»Ich weiß.«

Genau das hatte Matthieu mir auch erklärt, als wir vor vielen Jahren einen Ausflug an den Strand gemacht hatten.

Insgeheim hatte ich es ihm hoch angerechnet, dass er das Blau des Meeres nicht mit meinen Augen verglich. Sehr hoch angerechnet! Das wäre mir zu kitschig und banal gewesen.

 

Wir hatten im besten Eisladen der Welt in Antibes Mirabelleneis probiert, im Picasso-Museum Ansichtskarten gekauft, auf der Promenade des Anglais den älteren Einwohnern im Winter beim Anbaden zugesehen, in Vence Boule gespielt, auf dem Weg in die Provence die Sonnenblumen beim Kopfdrehen bestaunt und das ideale Häuschen mit blauen Fensterläden gefunden, die knusprigsten Croissants in Nizza gemampft und uns auf den Treppenstufen vor der Kirche in Èze ausgemalt, wie wir den jeweils anderen kurz vor der Hochzeit mit dem oder der Falschen retten würden.

Wir waren kurz davor gewesen, uns einzugestehen, dass es ja gar nicht so weit kommen müsste. Also, dass jemand Falsches dazwischenfunkte. Doch es hatte leider nicht geklappt. Ich hatte es ihm auch nicht gerade leichtgemacht. Und war zu meiner Jugendliebe nach Hamburg zurückgekehrt.

An jenem Tag in Villefranche war darüber eine fiese Meinungsverschiedenheit entbrannt, und das hatte eindeutig nicht an Sprachschwierigkeiten gelegen. Ich war sauer gewesen, dass er meine Erklärung nicht verstehen konnte und sich so schnell getröstet hatte. Kurz darauf war mein Studienjahr vorbei, wie im Rausch verflogen, und ich machte mich auf den Weg zurück nach Hause, in den lauwarmen Alltag.

 

Später hatte ich Matthieu nur ein einziges Mal gegoogelt, war aber lediglich auf einen Uni-Abschlussbericht gestoßen. Bestimmt hatte er mich längst aus seinem Kopf gestrichen. Bei Facebook hatte ich seinen Namen nie eingegeben. Der Nachname Dupont war so wie Müller, Meier oder Schmidt, ein Allerweltsname, hinter dem man sich bestens verstecken konnte. Davon gab es bestimmt so viele wie Steine am Strand von Nizza.

 

Trotz der Erinnerungen an Matthieu genoss ich die Fahrt, versuchte mich darauf zu konzentrieren, ob ich die vielen kleinen Straßen wiedererkannte.

»Hier abbiegen!«, sagte ich automatisch. Aber der Taxifahrer hatte schon den Blinker gesetzt. Hier ging es nach Villefranche.

»Sie kennen sich ja richtig gut aus«, meinte er lachend. »Wo kommen Sie denn her?«

Die Frage war doch viel eher, wo ich hinwollte, fand ich, wollte den armen Mann aber mit meinen philosophischen Überlegungen nicht überfordern. Wir hielten vor einem Tor, das nahezu komplett von lilafarbenen Bougainvilleas überwuchert war. Ich bezahlte, ließ mir eine Quittung geben, und er wuchtete meine Gepäckstücke aus dem Kofferraum.

»Aus Hamburg komme ich, aus Deutschland.«

»Ahh«, rief er und seine Zähne leuchteten. »Mein Onkel war mal in, wie heißt es noch mal?«

»In Heidelberg?«, fragte ich.

»Genau!«, sagte er und wirkte überrascht. »Woher wissen Sie das?«

»Nur geraten!«

 

Ich drückte auf den Klingelknopf, unter dem Richez stand. Der Briefkasten daneben quoll schon über. Müsste auch mal wieder geleert werden. Ob das auch zu meinen Aufgaben gehörte? Eigentlich sollte ich ja lediglich das Haus ins Internet stellen und mich um die Vermietung an die Feriengäste kümmern.

Nach einer halben Ewigkeit ging der Summer und das Tor öffnete sich automatisch. Ich zog meine beiden etwas widerspenstigen Koffer über den Kiesweg. Die große Tasche hatte ich am Tor stehen gelassen. Das Steinhaus war zweigeschossig, so wie sie an der Küste dieser edlen Gegend häufig zu finden waren, mit einem besonderen Clou, bei dem mir jedes Mal das Herz aufging. Die Fenster waren gerahmt von grünen Fensterläden aus Holz. Und im Garten stand wirklich eine Palme.

»Allô?«

Da niemand die Tür öffnete, spähte ich um die Ecke und sah hinter dem Haus eine Terrasse, auf der eine kleine Sitzlandschaft aus Rattansofas und schicken braunen Kissen aufgebaut war. Auf dem Tisch stand ein Weinglas, in dem noch ein Rest roter Flüssigkeit schwappte. Ob Monsieur sich hier eben noch einen Schluck genehmigt hatte, bevor er das Haus an mich übergeben würde?

Ich ging zurück zur Eingangstür und strich mit der Hand über den Thymianstrauch. Der wuchs ganz natürlich und selbstverständlich hier und war nicht bei Blume 2000 zur Welt gekommen.

»Oui!?« Ich hörte die strenge Stimme, bevor ich das Gesicht dazu sah. Jemand riss die Tür auf, und dieser Jemand war schon mal ganz sicher nicht Monsieur Richez. Eine Frau, die total einschüchternd wirkte und geladen war wie zwei Kalaschnikows.

»Quoi?!?«

»Bonjour. Äh, ich suche Monsieur?!«

»Dass Sie sich das trauen!«, sagte sie nur und knallte mir die Tür vor der Nase zu.

Ich wich einen Schritt zurück und überlegte, wann ich das letzte Mal so herzlich begrüßt worden war. Und nun? Angriff nach vorne, sagte ich mir und klingelte erneut.

»Er ist nicht hier!«, rief sie mir entgegen, als sie die Tür wieder mit einem Ruck öffnete. »Und eigentlich müssten Sie ja viel besser wissen, wo er ist.«

Allmählich schwante mir, dass sie mich verwechselte.

»Ich bin Insa Nicolaisen aus Hamburg.«

»Ach so! Dann sind Sie gar nicht das kleine Flittchen«, erwiderte sie. »Was wollen Sie?«

Das konnte nur Madame Richez sein. Die Frau also, die laut Monsieur schon längst ihre Siebensachen gepackt und das Haus verlassen hatte. Sie trug ein wallendes weißes Kleid, hatte kurze blonde Haare und war bestimmt zwanzig Jahre älter als ich, also Mitte, Ende fünfzig.

»Ich soll mich, also, Monsieur hat mich …!«, stammelte ich und hatte große Schwierigkeiten, die Wörter in die richtige Reihenfolge zu bringen. »Also, ich soll das Haus hier vermieten und wahrscheinlich in dem kleinen dahinten wohnen!« Mein Zeigefinger wies über meine Schulter. Ich traute mich nicht, mich umzudrehen, weil ich eine Attacke aus dem Hinterhalt befürchtete.

»Hier wird gar nichts vermietet. Ich wohne in dem Haus.«

»Das sehe ich.« Hatte die noch alle Latten am Zaun? Oder einfach nur zu viel von der roten Flüssigkeit auf der Terrasse getrunken? Sie musste doch wissen, dass ich extra eingeflogen worden war.

»Ihr Mann …«

»Bald Ex!«, unterbrach sie mich heftig.

»Mag sein. Jedenfalls hat er mich beauftragt, mich um die Vermietungen zu kümmern.«

»Er muss sich das Hirn rausgevögelt haben«, meinte ich aus dem Schwall von Schimpfwörtern herauszuhören. »Sie können gleich wieder gehen!«

»Das dürfte etwas schwierig sein. Mein Flieger ist ja gerade erst gelandet. Und ich habe keine Unterkunft. Dafür aber ziemlich viel Gepäck.« Ich zeigte auf meine Koffer neben mir und die verwaiste Tasche, die immer noch am Tor wartete.

»Außerdem habe ich einen Vertrag.« Schüchtern wedelte ich mit dem Papier, das ich mir vorsichtshalber ausgedruckt hatte. Meine deutsche Gründlichkeit kam mir jetzt zugute. Madame »pfff«te einmal und schüttelte energisch den Kopf. Da sie den Vertrag keines Blickes würdigte, steckte ich ihn wieder ein.

»Na gut. Sie können dahinten wohnen, wie geplant. Aber Ende der Woche sind Sie hier weg. Spätestens. Dieser Bastard!«

Mit diesen Worten knallte die Tür erneut ins Schloss, und mir war klar, dass sie sich so schnell nicht wieder öffnen würde.

 

Langsam drehte ich mich um und holperte über den Kiesweg zurück, um meine Tasche zu holen. Die Tür des Häuschens ließ sich öffnen, der Schlüssel steckte von innen. Wenn Monsieur auch heute mit Abwesenheit glänzte, so hatte er sich zumindest darum gekümmert, das Bedienstetenhaus herrichten zu lassen. Ich sah mich in dem kleinen Reich um, das im Erdgeschoss aus Wohnzimmer und amerikanischer Küche bestand. Aus dem Schlafzimmerfenster im ersten Stock konnte man aufs Meer sehen. Einen schöneren Arbeitsplatz hätte ich mir gar nicht wünschen können. Um Klassen besser als der bisherige Blick aus meinem Hamburger Bürofenster auf den Hinterhof mit den Mülltonnen.

 

Was sollte ich jetzt tun? Ich war wirklich komplett verwirrt. Was für ein Desaster. Monsieur Richez hatte mich nicht, wie versprochen, empfangen. Auf dem Tisch lagen ein Schlüsselbund und ein Zettel, auf dem schlicht »Bienvenue« stand. Daneben eine Liste mit den Aufgaben, die ich hatte. Wer begutachtete seine Angestellten heutzutage schon noch von Angesicht zu Angesicht, wenn man doch auch schriftlich miteinander kommunizieren konnte? Anstatt mich häuslich einzurichten, konnte ich nur eins tun. Meinen neuen Arbeitgeber hier antanzen zu lassen.

Ich landete auf seiner Mailbox.

»Hallo, Monsieur Richez. Hier ist Insa Nicolaisen. Ich bin jetzt bei Ihnen, allerdings ist Ihre Frau auch da. Und die scheint von nichts zu wissen und ist auch nicht wirklich, nun ja, entgegenkommend und – wie soll ich sagen – gastfreundlich. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich schnell bei mir melden könnten.«

Daraufhin studierte ich den Inhalt des Kühlschranks und fand eine Karaffe Wasser, eine Flasche Wein, eine Salami, Paté, Käse und ein paar Tomaten. Auf der Seitenablage entdeckte ich ein Baguette. Der mangelnden Knusprigkeit nach zu urteilen, hatte Monsieur den Proviant bereits am Tag zuvor besorgt.

Ich brach mir ein Stück von dem Baguette ab, schnitt ein Stück Käse zurecht und biss ab. Genauso zäh wie die Hausherrin, befand ich, kaute aber tapfer weiter.

Schließlich verschickte ich zwei SMS an Jana und an meine Eltern. »Hier alles super. Später mehr.«

Die Wahrheit verschwieg ich. Vorerst. Wer wusste schon, wie sich die Lage weiterentwickelte, wenn Monsieur Richez erst einmal auftauchte und seine Frau an den blond gefärbten Haaren hinauszog.

Konnte es wirklich angehen, dass mein Abenteuer nach diesem kurzen Intermezzo bereits beendet war? Zunichtegemacht von einer betrogenen Zimtzicke? Ich stellte mir vor, wie es sich wohl anfühlen würde, wieder in meiner Firma angekrochen zu kommen, nachdem ich darauf gepocht hatte, nach den vielen Dienstjahren und mit unzähligen Überstunden sofort gehen zu dürfen.

Oder wie meine Schwester mit perfektem Mann und Kind in ihrem perfekten Heim saß und den Kopf über ihre große chaotische Schwester schüttelte.

Ich öffnete die Weinflasche und schenkte mir ein halbes Glas ein. Als ich den Wein auf der Zunge spürte und meinte, die unendlichen Weinberge der Provence herauszuschmecken, festigte sich ein Entschluss.