Sommergarben - Ines Ebert - E-Book

Sommergarben E-Book

Ines Ebert

4,7

Beschreibung

Im Jahr 1637 beschließt der junge Allgäuer Melchior Riedmüller, die Schrecken der Pest und des Dreißigjährigen Krieges hinter sich zu lassen und sein Glück in der Schweiz zu suchen. Im aufstrebenden Rorschach gründet er mit der Schweizerin Johanna Stübi eine Familie. Doch als der Krieg sich dem Ende zuneigt, entschließt sich Melchior, mit seiner Familie ins Allgäu zurückzukehren. Ihr Weg durch das entvölkerte und verwüstete Land führt sie auf den verlassenen Unterburkhartshof nahe der Reichsstadt Leutkirch. Schon bald müssen sie feststellen, dass der Hof ein düsteres Geheimnis birgt. Doch Melchior und seine Nachkommen führen mit Zähigkeit und Fleiß das Anwesen zu neuer Blüte - bis sich 1841 für Mathias Riedmüller und seine Familie das Blatt erneut auf dramatische Weise wendet. Eine bewegende Familiensaga aus dem Allgäu, die sich über zwei Jahrhunderte spannt und auf historischen Begebenheiten beruht.

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Ines EbertSommergarben

Ines Ebert

Sommergarben

Historischer Romanaus dem Allgäu

Ines Ebert, geboren 1949 in Heubach im Ostalbkreis, ist Diplom-Museologin (FH) im Ruhestand und arbeitete freiberuflich für Städte und Gemeinden in den Bereichen Museum und Archiv. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer Katze Lilli in Wangen im Allgäu.

2. Auflage 2012

© 2011/2016 by Silberburg-Verlag GmbH,Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.Alle Rechte vorbehalten.Umschlaggestaltung: Anette Wenzel, Tübingen,unter Verwendung des Gemäldes »Ruhende Schnitter«von Albert Ritzberger (1853–1915).Lektorat: Bettina Kimpel, Tübingen.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1706-6E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1707-3Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1152-1

Besuchen Sie uns im Internetund entdecken Sie die Vielfalt unseres Verlagsprogramms:www.silberburg.de

Inhalt

Martin, 1637

Melchior, 1637

Melchior, 1646

Melchior, 1647

Melchior, 1649

Carl, 1843

Carl, 1825

Ignaz, 1772

Franziska, 1772

Carl, 1825

Johanna, Anno Domini 1649

Anno Domini 1650

Anno Domini 1651

Anno Domini 1652

Carl, 1825

Johanna, Anno Domini 1656

Anno Domini 1657

Anno Domini 1658

Anno Domini 1659

Anno Domini 1660

Anno Domini 1661

Anno Domini 1662

Anno Domini 1663

Anno Domini 1664

Anno Domini 1665

Carl, 1825

Anno Domini 1666

Carl, 1825

Jacob, Anno Domini 1673

Anno Domini 1674

Anno Domini 1675

Anno Domini 1677

Anno Domini 1678

Anno Domini 1680

Anno Domini 1681

Anno Domini 1683

Anno Domini 1684

Anno Domini 1685

Anno Domini 1686

Anno Domini 1688

Anno Domini 1689

Anno Domini 1690

Anno Domini 1693

Anno Domini 1694

Anno Domini 1695

Anno Domini 1696

Anno Domini 1697

Anno Domini 1698

Anno Domini 1699

Anno Domini 1700

Anno Domini 1701

Anno Domini 1706

Carl, 1825

Jacob junior, Anno Domini 1707

Anno Domini 1709

Anno Domini 1710

Anno Domini 1712

Anno Domini 1713

Anno Domini 1715

Anno Domini 1716

Anno Domini 1717

Anno Domini 1719

Anno Domini 1724

Anno Domini 1728

Anno Domini 1734

Anno Domini 1742

Anno Domini 1743

Carl, 1825

Carl, 1772–1825

Mathias, 1827–1831

Theresia, 1831–1833

Mathias, 1832–1833

Franziska, 1832–1833

Mathias, 1834–1837

Mathias 1838–1842

Epilog

Glossar

Stammbaum

Anmerkungen

Quellen

Literaturauswahl

Danksagung

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Martin, 1637

Wie konnte der Himmel nur einen so grandiosen Anblick bieten, nach allem, was geschehen war? Einer riesigen Schafherde gleich, verteilten sich auf einem strahlenden Hellblau unzählige weiße Wölkchen, so weit das Auge reichte. Noch nie habe ich so einen Himmel gesehen, dachte Martin Riedmüller, der mit dem Rücken an den Stamm der großen Linde im Hofraum gelehnt saß und seinen Gedanken nachhing. Einzelne Sonnenstrahlen zeichneten eigenwillige Muster von Licht und Schatten auf das langgestreckte Bauernhaus. Es war ein warmer Junitag.

Nüchtern – gerade so, als ob es sich um eine Bestandsaufnahme handle – umfasste Martins Blick das langgestreckte Haus. Das massiv aus Stein gebaute untere Stockwerk. Das darüberliegende Geschoss, mit seiner vom Wetter hellgrau verfärbten Bretterverkleidung, die das darunterliegende Fachwerk verbarg. Das in der Gegend übliche, flach geneigte und mit Landern gedeckte Dach, das das Wohnhaus mitsamt der angebauten Scheuer und dem Stall überspannte. Die quer darauf liegenden Holzstangen und die großen Steine aus dem nahen Rotbach, die, zum Schutz gegen den Wind, die hölzernen Dachschindeln in Abständen beschwerten. Den Brunnen vor dem Haus, auf der Höhe des Stalles, dessen Wasser aus einem hölzernen Rohr in den gemauerten Trog plätscherte. Den Überlauf, der das Wasser weiter in einen kleinen Wiesengraben leitete, von wo es in den nahen Bach abfloss. Martins Blick blieb kurz an dem ein gutes Stück entfernt stehenden, fast quadratischen Speicher mit der angebauten Wagenremise hängen, als er tief aufseufzte. Mit leerem Herzen betrachtete er das Anwesen, das er seit 14 Jahren bewirtschaftete.

Im Jahre 1580 hatte ein Blitzschlag den vorderösterreichischen Falllehenhof in Schutt und Asche gelegt. Martin Riedmüllers Vater und Großvater hatten ihn nach dem Unglück eigenhändig wieder aufgebaut. Sämtliche Baumaterialien wie Holz, Steine, Kalk und Sand stellte ihnen damals die Lehensherrschaft, in deren Interesse es lag, bald wieder Zins für das Anwesen einzunehmen. Das neue Haus war größer und ansehnlicher als das alte, und sie mussten eine Zeit lang, quasi als Belohnung für die Neuerstellung, nur die Hälfte der Abgaben zahlen.

Martin hatte die rund um den Hof liegenden Äcker und Wiesen so erfolgreich bewirtschaftet, dass die Familie immer ausreichend versorgt war und er pünktlich zum Zinstag die Abgaben erbringen konnte. Darüber hinaus gelang es ihm sogar, in manchem Jahr noch den einen oder anderen Gulden zurückzulegen.

Aber was für Zeiten waren dann gekommen! Vom großen Krieg, der seit 1618 vorgeblich im Namen Gottes geführt wurde, hatte man hier im Umland der Freien Reichsstadt Leutkirch zunächst kaum etwas bemerkt. Nur, als nicht weit entfernt kaiserliche Truppen durchzogen und Soldaten anwarben, verschwand über Nacht und ohne Vorankündigung der Knecht Bene. Ihn lockte wohl der Sold und das Abenteuer des Krieges mehr als die tägliche schwere Landarbeit.

Im Frühjahr 1632 änderte sich alles. Leutkirch geriet zwischen die Fronten der Schweden und der Kaiserlichen. Ein Jahr später, bei ihrem Rückzug an die Donau, plünderten die Schweden die Stadt auf das Unmenschlichste aus. Wer sich wehrte, wurde kurzerhand erschossen. Von Mord und Brandschatzungen auch außerhalb der Stadtmauern war zu hören. Hilflos fragte sich Martin damals, wie er sich und seine Familie vor den herumziehenden und plündernden Soldaten schützen konnte, falls sie den abgelegenen Hof doch irgendwann einmal entdecken sollten.

Im Februar 1633 dann erspähte er gerade noch rechtzeitig die aus Richtung Diepoldshofen am Horizont auftauchenden fünf Reiter. Obwohl die Gruppe noch weit entfernt war, konnte er erkennen, dass sie drei Packpferde mit sich führten. In Windeseile alarmierte er seinen Vater, seine Frau und die Kinder.

»Ich glaube, die Schweden kommen!«, rief er seinem Vater aufgeregt zu.

Noch heute sah er die vor Schreck geweiteten Augen seiner Frau Marianna vor sich. Zusammen trieben sie das Hornvieh und die beiden Rösser in den Wald und versteckten sich ebenfalls dort, in der Hoffnung, dass die Landsknechte den unvermeidlichen Spuren im Schnee nicht folgen würden. Die Sau und das Hühnervolk mussten sie in der Eile zurücklassen. Sie suchten, so gut es ging, Deckung hinter Bäumen und schneebedecktem Buschwerk.

Martin hatte nicht vergessen, wie ihm damals das Herz bis zum Halse schlug. Würden die Tiere und vor allem die beiden kleinsten Kinder sich still verhalten? Marianna hatte den erst fünf Monate alten Säugling mit den Enden ihres wollenen Schultertuches bedeckt und wiegte ihn beruhigend. Die dreizehnjährige Agnes hielt ihren zweijährigen Bruder Franz an sich gedrückt, die größeren Buben Joseph und Anton und ihre Schwester Elisabeth drängten sich dicht aneinander. Jedem war der Schrecken und die Angst ins Gesicht geschrieben. Martins alter Vater versteckte sich, mit einem besorgten Blick auf das Vieh, das sich bisher friedlich verhielt, hinter einem dicken Fichtenstamm.

Was dann geschah, konnten sie nur hören. Bruchstückhaft wehten Wortfetzen durch den Wald zu ihnen herüber: »… aus dem Staub gemacht …« – »… oder verreckt …« Eine Stimme im Befehlston war deutlich zu vernehmen: »Lasst uns nachsehen, was zu holen ist.«

Dann hörten sie geraume Zeit gar nichts. Die Kälte kroch ihnen unerbittlich in die Glieder. Martin legte gerade seinen Zeigefinger auf den Mund, um den Kindern zu bedeuten, sich ruhig zu verhalten, als ein schrilles »Iih, iih« der Sau zu ihnen herüberhallte. Dann folgte das aufgeregte Gegacker der Hühner.

Die Befehlsstimme erklang: »Steckt sie in einen Sack!«

Geschäftiges Hin und Her war zu hören, Türen schlugen. Dann endlich zeigte lautes Hufgetrappel und das Wiehern der Pferde an, dass sich die Plünderer in Richtung des Weilers Stegroth entfernten. Martin wagte es, auf der Stelle zu treten und die Arme um sich zu schlagen, um seine durchgefrorenen Glieder zu erwärmen. Die Kinder, seine Frau und sein Vater bewegten sich nun ebenfalls. Bevor Martin sich vorsichtig auf den Rückweg machte, bedeutete er den anderen, vorerst an Ort und Stelle zu bleiben. Er näherte sich in einem kleinen Bogen aus östlicher Richtung dem Hof. Hier war offenes Feld und er konnte in der Ferne noch das Reitergrüppchen erkennen, das auf den ein gutes Stück entfernten Nachbarhof zuhielt.

»Großer Gott«, stieß Martin hervor, als er an seine Nachbarn dachte – da nahm er den Brandgeruch wahr. Er stürzte zum Haus und gelangte fast gleichzeitig mit seinem Vater dort an. Aus der Scheuer drang Rauch.

»Die elenden Brandschatzer haben Feuer gelegt«, rief Martin.

Kleine Flammen fraßen sich durch am Boden liegende Heu- und Strohreste und züngelten ihnen entgegen. Martin ergriff einen Reisigbesen und schlug auf die Flammen ein. Sein Vater riss eine der Pferdedecken, die sie in der Scheuer aufbewahrten, vom Haken, warf sie auf den Brandherd und trampelte darauf herum. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, das Feuer zu ersticken. Sie hatten Glück, denn der Boden der Scheuer war nass vom Schnee, den die Plünderer an ihren Schuhen hereingetragen hatten. Das Heu hatte sich daher nur zögernd entzündet.

Später versammelten sie sich alle in der warmen Küche, erleichtert, dass sie mit dem Leben davongekommen waren. Eine Blutlache im Stall zeugte davon, dass die Sau noch an Ort und Stelle abgestochen worden war. Alle zwölf Hennen und der Hahn fehlten, ebenso wie ein großer Teil des Hafers und des Dinkels. Aus der Speisekammer waren die wenigen Würste und ein halber Schinken ebenso verschwunden wie die restlichen zwei Brote, die vom Backtag noch übrig geblieben waren. Die Schnüre, an denen noch einige Säckchen mit Dörrobst aufgereiht waren, baumelten leer von der Decke herunter. Nur das halb volle Fass mit eingesalzenem Kraut für die winterliche Kohlsuppe stand noch einsam in der Ecke …

1635 war der Schwarze Tod über das Land gekommen. Im Juli war im nahen Leutkirch die Pest ausgebrochen und streckte ihre todbringenden Arme in kürzester Zeit auch nach den Dörfern und Gehöften der Umgebung aus. Die Seuche raffte die Menschen so schnell dahin, dass die Totengräber die vielen entseelten Leiber gar nicht mehr einzeln begraben konnten. Die Pfarrer hielten sich ein mit Kräutersud getränktes Tüchlein vor Mund und Nase und beschränkten sich darauf, bei den Leichenbegräbnissen über den übel riechenden Gruben, in denen an manchen Tagen oft zwanzig Tote und mehr zusammen beerdigt wurden, das Segenszeichen zu spenden.

Die noch Lebenden suchten nach Schuldigen und Erklärungen: »Die Soldaten der Kriegsheere haben die Krankheit eingeschleppt«, mutmaßten die einen, »es ist eine Strafe Gottes«, die anderen. Die gelehrten Herren disputierten darüber, ob eine aus dem Inneren der Erde entwichene schlechte Luft den Pesthauch verursache oder eine ungewöhnliche Konstellation der Gestirne zu einer Verunreinigung der Atmosphäre geführt hatte.

Auch Tiere blieben nicht verschont. Auffallend viele Ratten verendeten und so manche Katze quälte sich zu Tode.

Das Große Sterben war grausam. Der Tod riss unerbittlich Jung und Alt, Arm und Reich mit sich. Pfarrer Hepp von Diepoldshofen, der auf seine alten Tage mit dem Dahinschwinden der Dorfbewohner auch seine Pfründe und damit nach und nach seine Lebensgrundlage verlor, versuchte dennoch mit den wenigen von der Seuche verschont Gebliebenen diese neue Heimsuchung zu bewältigen. Die Bestattung der Toten, unter denen oft genug die nächsten Angehörigen waren, und die beständige Angst, als Nächster in der Grube zu landen, verlangte ihnen alles ab. Für die Arbeit auf den Feldern reichten die Kräfte nicht mehr aus, und so forderte bald eine unvermeidliche Hungersnot weitere Opfer.

Einige Einwohner hatten sich in den letzten Jahren voller Verzweiflung und doch mit einem letzten Rest Hoffnung auf bessere Zeiten in die benachbarte Schweiz und nach Österreich geflüchtet. Bevor die Pest zuschlug, war das Dorf schon während der lange andauernden Kriegsjahre wiederholten Plünderungen und den damit einhergehenden Gewalttaten ausgesetzt gewesen. Wie anderenorts mussten auch hier die Bewohner Quartier- und Naturalleistungen an die durchziehenden Kriegsheere leisten, obwohl sie bald selbst nicht mehr wussten, wovon sie sich ernähren sollten. Zu alledem war 1630 auch noch die zweihundert Jahre alte Kirche abgebrannt. Nur der mächtige viereckige Turm mit seinem Satteldach blieb vom Feuer verschont und überragte, rußgeschwärzt, als unheilvolles Zeichen das Dorf, das immer weiter in Verfall geriet.

Auf dem Unterburkhartshof stand Marianna eines Nachmittags Ende Juli in der Küche am Herd und erhitzte mit Essig versetztes Wasser. Ihr Gesicht war gerötet und der Schweiß rann ihr in Bächen den Rücken hinunter, als sie die dampfende, scharf riechende Brühe in einen Eimer goss. Sie wies Agnes an, damit alle Fußböden des Hauses aufzuwischen.

»Fang oben in der Bubenkammer an. Wenn das Wasser schmutzig ist, bereite neues zu und gib wieder einen ordentlichen Schuss Essig hinein, damit sich auf den sauberen Böden der Pesthauch gar nicht erst festsetzen kann.«

Marianna tauchte ein großes leinenes Tuch in kaltes Wasser, wrang es hastig aus und folgte Agnes rasch nach oben. In der Kammer standen insgesamt vier Betten, rechts und links vom Fenster jeweils zwei an den Längsseiten. Der zweijährige Johannes und der vierjährige Franz teilten sich eine Bettstatt. Schon nach dem Mittagessen hatten sie sich freiwillig hingelegt. In dem Bett rechts vom Fenster lag der elfjährige Jörg mit hohem Fieber.

Agnes hatte bereits die Hälfte des Raumes gewischt, als ihre Mutter, mit einem besorgten Blick auf die beiden Kleinen, an Jörgs Bett eilte. Das Fieber schien in der letzten halben Stunde weiter angestiegen zu sein.

»Mutter! Johannes und Franz sind auch ganz heiß.«

Marianna wandte sich um und sah, wie Agnes den Brüdern über Stirn und Wangen strich.

»Ich sehe gleich nach ihnen. Mach du mit den Fußböden weiter.«

Jörg warf sich unruhig hin und her und stöhnte: »Mein Kopf tut weh und mir ist so schwindelig.«

Marianna entkleidete den mageren, vor Fieber glühenden Körper und wickelte ihn in das kühlende Leintuch. Als sie dann an das Bett der beiden jüngeren Kinder trat, stieg eine eisige Angst in ihr auf.

»Es ist die Pest«, dachte sie, »wir haben die Pest im Haus. Vater im Himmel, bitte sei uns gnädig, bitte verschone uns.«

Und als ob sie mit ihren Befürchtungen das Stichwort gegeben hätte, erfasste die beiden Buben fast gleichzeitig ein heftiger Schüttelfrost. Marianna deckte die beiden zu und sprach beruhigend auf sie ein: »Gleich wird es besser. Ich muss nur in die Küche, dann komme ich wieder zu euch.«

Marianna rannte die Treppe hinunter. Auf der Suche nach den anderen Kindern warf sie einen Blick in die Küche und die Stube. Beide Räume waren leer. Sie hetzte den Hausgang entlang bis ins Freie. In einiger Entfernung sah sie auf der Wiese vor dem Hofplatz die Kinder, ihren Mann und Großvater Gabriel, wie sie das gestern geschnittene Öhmd zusammenrechten. Ross und Wagen standen schon zum Aufladen bereit.

»Martin«, rief Marianna aufgeregt und rannte so schnell sie konnte auf die Gruppe zu. »Martin«, keuchte sie außer Atem, »die Kinder, sie haben die Seuche!«

Martin sah seine Frau erschrocken an, als sie mit hochrotem Gesicht und schweißnass vor ihm stand. Eine Strähne ihres hellbraunen Haares hatte sich aus der Haube gelöst und hing ihr wirr ins Gesicht. Er wusste sofort, dass etwas Schlimmes passiert war, denn Marianna war eine ruhige und umsichtige Person, die nicht so schnell aus der Ruhe kam.

»Mir tut der Kopf weh«, meldete sich da die neunjährige Elisabeth.

Innerhalb von sechs Tagen verlor Martin seine Frau, seine Söhne Joseph, Anton, Jörg, Franz und Johannes und auch seine Tochter Elisabeth. Es war grauenvoll, sie unter rasenden Schmerzen sterben zu sehen. Die Krankheitsanzeichen waren bei allen ähnlich. Nach Kopfweh, Fieber und Schüttelfrost bildeten sich am Hals, in den Achselhöhlen und in der Leistengegend hühnereigroße, bläuliche Beulen. Es folgten krampfhafter Husten mit blutigem Auswurf, Brustschmerzen, Leibschmerzen und Durchfall. Kurz vor dem Tod fing die Haut an zu bluten und es breiteten sich auf dem ganzen Körper dunkelrote Flecken aus. Auch Martin, Großvater Gabriel und Agnes wurden krank. Agnes hatte allerdings nur eine Beule in der rechten Achselhöhle, die innerhalb von Tagen kleiner wurde und schließlich ganz verschwand. Einige der blauschwarzen Beulen von Martin und seinem Vater verschwanden ebenso, aber ein paar brachen auf und gaben eine stinkende eitrige Flüssigkeit frei.

Das ganze Haus war erfüllt vom fürchterlichen Gestank nach Eiter und Fäulnis. Marianna und die drei kleineren Buben konnten sie noch am Waldrand hinter dem Hof begraben, bevor sie selbst ebenfalls auf das Krankenlager geworfen wurden. Agnes, die als Erste wieder halbwegs zu Kräften kam, begann damit, eine weitere Grube auszuheben. Als Martin und Gabriel ihre Schwäche überwinden konnten, halfen sie ihr. Zusammen trugen sie die bereits in Verwesung übergegangenen Leichen von Joseph, Anton und Elisabeth aus dem Haus und legten sie zusammen in das Grab.

Die Zeit, die folgte, war schwer. Wie durch eine geheime Übereinkunft sprachen sie nicht über den schmerzhaften Verlust. Manchmal erschien es Martin ganz unwirklich, dass sie drei noch lebten. In der folgenden Zeit wuchsen sie zu einer eingeschworenen kleinen Gemeinschaft zusammen, die sich in die Aufgabe stürzte, den Hof so gut es ging zu bewirtschaften, um in diesen unsicheren Zeiten zu überleben.

Martin lehnte noch immer am Stamm der Hoflinde und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Es war niemand mehr da, vor dem er sich seiner Tränen hätte schämen müssen. Ein Schauer erfasste ihn, ließ ihn erzittern, als er an die Ereignisse des gestrigen Tages dachte. In seinem unbeschreiblichen Schmerz warf er sich in das Gras unter dem Baum und schluchzte hemmungslos.

Es ging alles so schnell und traf sie völlig unvorbereitet. Als sie das Hufgetrappel der Pferde und Männerstimmen hörten, war der verwahrloste Trupp vagabundierender Landsknechte bereits auf dem Hof. Drei der Kerle drangen sogleich ins Haus ein. Sie zerrten Agnes heraus, rissen ihr die Kleider vom Leib und warfen sie zu Boden. Während schon der Erste über sie kam, öffneten zwei andere hastig ihre ausgebeulten Hosenlätze, legten Hand an sich selbst und ergossen sich über Gesicht und Oberkörper des Mädchens.

»Lasst sie in Ruhe, ihr elenden Schandbuben!«, schrie Großvater Gabriel, der aus dem Stall herausstürzte und mit Fäusten auf den Nächstbesten der Männer einschlug.

»Ach Alter, hau ab«, rief der mit einem rohen Lachen und versetzte Gabriel einen kräftigen Stoß vor die Brust, so dass der alte Mann unsanft auf dem Boden landete.

Martin sah, wie sich sein Vater schwerfällig erhob und auf die ihm am nächsten stehenden Männer wild einzuschlagen begann. Wie eine lästige Fliege suchten sie ihn abzuschütteln, aber Gabriel ließ nicht von ihnen ab. Plötzlich zog einer der Männer ein Messer und stieß es Gabriel in den Hals. Einer Fontäne gleich spritzte das Blut, und noch als Gabriel zusammenbrach, versetzte ihm der Messerstecher einen Tritt, so dass der unliebsame Störenfried aus dem Weg war. Unter johlendem Beifall und unter den Anfeuerungsrufen der umstehenden Männer verging sich einer nach dem anderen weiter an Agnes.

Die durchdringenden von Angst und Ekel erfüllten Schreie des Mädchens gingen nach einiger Zeit in ein schmerzvolles Wimmern über. Als der Schmerz sie fast zerriss, entlud sich in ihrem Kopf ein verzweifelter, stummer Schrei: »Gevatter Tod, nimm mich mit!« Fast im selben Augenblick verschwanden die Schmerzen. Frieden und eine nie gekannte Leichtigkeit erfüllten Agnes. Bereitwillig ließ sie sich in die wohlige Dunkelheit sinken, die sie sanft in eine andere Welt davontrug.

Martin war fassungslos, als er das schreckliche Treiben beobachtete. Dennoch begriff er, dass sie ihn ebenfalls umbringen würden, wenn er seiner Tochter zu Hilfe kam. In ohnmächtiger Wut wandte er sich ab, wollte das Elend seines Kindes nicht mehr sehen, ihre Schreie nicht mehr hören, und rannte in den Wald.

Die ganze Nacht hörte Martin aus der Entfernung den Radau aus Richtung des Hofes. Bei Anbruch der Dunkelheit sah er den Schein eines Feuers, das sie wohl im Hofraum entzündet hatten. Aus dem gleichmäßig flackernden Feuerschein schloss er jedoch, dass sie nicht das ganze Anwesen, sondern nur ein Lagerfeuer angezündet hatten.

Am nächsten Tag stand die Sonne schon hoch am Himmel, als es Martin endlich gelang, sich aus seiner inneren und äußeren Starre zu befreien. Bis auf den Gesang der Vögel war alles still. Vorsichtig und darauf bedacht, möglichst wenig Geräusche zu machen, ging Martin zurück. Der Hof lag verlassen da. Keine Menschenseele war zu sehen und auch die Tiere schienen nicht mehr da zu sein. Mit wild klopfendem Herzen und der plötzlichen Hoffnung, dass Agnes noch lebte, wagte er, sich dem Haus zu nähern. Aber Agnes lebte nicht mehr. Ihr schmaler, bloßer und zerschundener Körper lag im Hof noch an der gleichen Stelle, wo der Überfall auf sie stattgefunden hatte. Nicht weit entfernt lag die Leiche seines Vaters. Die Erde um den Körper herum war vom Blut braunrot verfärbt.

Martin fühlte nichts. Nur den Drang, die beiden letzten Menschen, die ihm von seiner Familie geblieben waren, zu begraben. Und so machte er sich daran, zwei Gruben auszuheben. Er arbeitete langsam und stetig, bis die Gräber eine ordentliche Tiefe hatten. Er zog Agnes Rock und Bluse an, die zerrissen ein Stück von ihr entfernt lagen, trug sie zum Grab und ließ sie sanft hineingleiten. Dann hob er den nicht sehr schweren Körper seines Vaters auf seine Arme und ging mit ihm seinen letzten Weg bis zum Grab.

Martin warf einen letzten Blick auf die Toten. Dann begann er die Gräber zuzuschaufeln, ohne die Leiber noch einmal anzusehen. Und als ob die Anstrengung noch nicht genug gewesen wäre, holte er vom Rotbach mit einem Handkarren eine um die andere Fuhre Steine und bedeckte die frischen Grabhügel damit. Fünf mit Steinen bedeckte Hügel, die für neun Menschen die letzte Ruhestätte waren, lagen nun nebeneinander am Waldrand.

Erst jetzt, nachdem die Arbeit getan war, spürte er die bleierne Müdigkeit, die ihn ganz und gar ausfüllte, und so setzte er sich unter die Linde. Nach einiger Zeit ließ die körperliche Erschöpfung etwas nach – und die Erinnerung kam zurück. Nach einer langen Weile erhob sich Martin, ging zum Brunnen und stillte ausgiebig seinen Durst. Dann holte er aus der Scheuer die alte, noch immer gute Leiter, die schon sein Großvater aus den leicht gekrümmten, aber stabilen Ästen eines Apfelbaumes gefertigt hatte. Als er am leeren Stall vorbeikam, nahm er einen der Kälberstricke mit.

Melchior, 1637

Melchior Riedmüller war ein tatendurstiger junger Mann. Erst achtzehn Jahre alt, hatte er sich im Laufe seines noch jungen Lebens bereits eine feste Sicht der Dinge zu eigen gemacht. Als der große Krieg ausbrach, war er gerade ein Jahr alt gewesen. Er war das jüngste von elf Kindern. Sein ältester Bruder Dietrich war bei seiner Geburt schon einundzwanzig Jahre alt und frisch verheiratet. Vor der Hochzeit hatte er den Lehenhof im Weiler Haselburg, der an der Straße zwischen den beiden Freien Reichsstädten Leutkirch und Isny auf einer Anhöhe über dem Flüsschen Eschach lag, vom Vater übernommen.

Auch in Haselburg griff der Krieg immer wieder in das Alltagsleben ein. Die Pestseuche und die darauf folgende Hungersnot hatten auch hier ihre Opfer gefordert. Vater, Mutter und acht seiner Geschwister waren umgekommen. Melchior und seine ein Jahr ältere Schwester Elisabeth hatten überlebt. Ebenso Dietrich, seine Frau und drei ihrer acht Kinder. Der Hof ernährte sie schlecht. Kaum dachten sie, die Zeiten würden wieder besser werden, kam die nächste Teuerung, war die nächste Naturalleistung fällig oder sie wurden erneut von Soldaten überfallen und ausgeplündert.

Wie die meisten Bauern hier bestellten sie ihre Felder nur noch mit Mühe und Not. Neben Getreide bauten sie Flachs an, der im Winter von der ganzen Familie zu Garn gesponnen wurde und ihnen ein dringend gebrauchtes Zubrot verschaffte. Es war eine mühselige Arbeit, denn zuerst mussten die krautartigen Pflanzen mit ihren hohen Stängeln und den wunderschön anzusehenden blauen, fünfblättrigen Blüten in vielfältigen, meist von den Frauen verrichteten Arbeitsgängen aufbereitet werden. Das daraus gesponnene Garn brachten sie während des Frühjahres auf den Markt nach Leutkirch. Dort kauften die Leinenweber der Stadt. Den Bauern selbst war es verboten, Garn direkt an die Weber zu verkaufen, da der Markt die Kontrolle über Güte und Preis der Ware gewährleisten sollte.

Seit ein paar Jahren hatte das Weberhandwerk allerdings einen fortschreitenden Niedergang zu verzeichnen. Der Leinwandhandel war infolge des Krieges stark zurückgegangen, und die Pest hatte auch vor Bauern und Webern nicht haltgemacht. So kam es, dass sich der Markt in der stark entvölkerten und heruntergekommenen Stadt enorm verkleinert hatte.

Melchior liebte die Marktgänge und die damit verbundene Abwechslung trotzdem. Der Weg in die Stadt war nicht ungefährlich und ein Abenteuer, da man immer mit Gruppen von herumvagabundierenden Landsknechten und Wegelagerern rechnen musste.

So schulterte Melchior eines Tages im Mai wieder einmal sein mit Garnspulen voll beladenes hölzernes Tragegestell, und machte sich auf den Weg. Die Zeiten, als sein Bruder und er noch mit dem Fuhrwerk zum Markt fuhren, waren lange vorbei. Die Rösser und nach und nach auch das restliche Vieh hatten die Soldaten mitgenommen und dabei immer wieder aufs Neue die Felder verwüstet.

Bei diesem Marktgang hatte Melchior aber noch etwas anderes im Sinn. Während er kräftig ausschritt, versuchte er, sich die passenden Worte zurechtzulegen, mit denen er dem Herrn Gabriel Zollikofer sein Anliegen vortragen wollte.

Melchior kam das Leben auf Dietrichs Hof mit jedem Tag schwerer vor. Nie konnten sie sich satt essen und der tägliche Kampf ums Überleben schien kein Ende zu nehmen. Brot aus gutem Roggenmehl gab es gar nicht mehr. Das wenige verbliebene Korn hatten sie als Saatgut ausgebracht, in der Hoffnung auf Ernte. Dietrichs Frau Trude schnitt Baumrinde und sammelte Eicheln, die sie vor dem Mahlen in einer großen eisernen Pfanne röstete. Aus dem so gewonnenen Mehl buk sie dünne Brotfladen, die sie jetzt im Frühjahr zu einer Art Gemüse aus gekochten Wurzeln, Gras und Kräutern aßen. Mäuse, Schnecken, Würmer, alles, was kreuchte und fleuchte, wurde gekocht und gegessen, um die knurrenden Mägen zu füllen. Sogar die Katzen und zuletzt der treue Hofhund Rasso waren im Kochtopf gelandet.

Der Hunger und all die merkwürdigen Speisen verursachten Melchior ein beständiges Magendrücken und saures Aufstoßen. Beides wollte er ebenso gerne loswerden wie die Aussichtslosigkeit, mit der nie enden wollenden Arbeit jemals etwas zu erreichen.

Auf der Suche nach einem Ausweg zermarterte er sich das Gehirn. Eine Zeitlang überlegte er sich, in den Kriegsdienst einzutreten. Der damit verbundene Sold war verlockend. Allerdings schien der Krieg die niedrigsten Instinkte der Menschen wachzurufen. In den Kriegsheeren versammelten sich die verschiedensten menschlichen Charaktere und Melchior schreckte vor deren geballter Gesellschaft zurück. All die Plünderungen und Brandschatzungen ließen ihn vermuten, dass die Heere sich nicht besser benahmen als Räuberbanden, die vor keinem Frevel zurückschreckten. Da unterschieden sich auch die kaiserlichen Truppen in nichts von den Schweden. Dazu kam, dass der Sinn dieses fürchterlichen Krieges Melchior mehr als fadenscheinig erschien. Ein Glaubenskrieg, bei dem es letzten Endes doch nur darum ging, Macht und Besitzstände zu vergrößern. Nein, für eine solche Sache wollte er dann doch nicht kämpfen, geschweige denn sein Leben riskieren.

Eine andere Möglichkeit, die Melchior in Erwägung zog, war auszuwandern. Einige der vor den Kriegsnöten geflohenen Bauern waren inzwischen wieder aus Österreich und der Schweiz in ihre Heimatdörfer zurückgekehrt. Sie hofften, dass der Krieg dem Ende zuging, und versuchten, die wüst und öd liegenden Felder ihrer Höfe zu beackern. Da niemand mehr Ochsen oder gar ein Pferd besaß, spannten sie sich selbst vor den Pflug. Auch Dietrich und er mussten dieses Frühjahr zu dieser verzweifelten Maßnahme greifen. Ob der Krieg wirklich dem Ende zuging? Melchior hegte Zweifel.

Gabriel Zollikofer war Schweizer aus St. Gallen und in Leutkirch als Leinwandaufkäufer eines großen St. Gallener Handelshauses tätig. Schon vor dem Krieg war er Bürger von Leutkirch geworden, besaß ein stattliches Haus beim Rathaus und betrieb sein Geschäft selbst in diesen schweren Zeiten mit gutem Erfolg. Melchior war beeindruckt von dem Mann und dessen ausgeprägtem Geschäftssinn und Unternehmungsgeist.

Vor Kriegsausbruch hatte Zollikofer fremde Leinwand eingeführt. Die städtischen Weber waren darüber so erbost gewesen, dass sie das Rathaus stürmten und so ein Einfuhrverbot erreichten. Nur die Durchfuhr der Leinwand wurde Zollikofer danach noch gestattet. Seine späteren Versuche, die Seidenweberei einzuführen, wurden von der Zunft sogleich mit dem Hinweis auf den Wert der traditionellen Weberei unterbunden. Zwar sorgte der Versuch erneut für Unmut und Unverständnis in der Stadt, die erfolgreiche Tätigkeit Zollikofers als Faktor konnte dieser neuerliche Vorfall aber nicht schmälern.

Melchior konnte die engstirnigen Ansichten der Räte nicht verstehen. Kamen nicht mit jedem Tag neue Zeiten, die auch ebenso gut neue Ideen mit sich bringen konnten? Er war sich sicher, wenn ihm überhaupt jemand weiterhelfen konnte, so war das Zollikofer.

Unbehelligt war Melchior inzwischen fast in der Stadt angekommen. Die Martinskirche, auf halber Höhe des sogenannten »Hohen Berges«, erhob sich wuchtig hinter der Stadtmauer. Melchior durchschritt die Obere Vorstadt mit ihren niedrigen Bauernhäusern und hielt an der Stadtmauer entlang auf das Obere Tor zu. Ein Ochsenfuhrwerk wartete dort, um beim Torwart das Pflastergeld zu entrichten. Beim Anblick des Ochsen fing Melchiors Magen heftig an zu knurren, und als er sich das Tier an einem Spieß über dem Feuer vorstellte, lief ihm gar das Wasser im Munde zusammen. Melchior riss sich aus seinen Gedanken und passierte das Tor. Er ging mit zügigem Schritt am mächtigen Zehntstadel des Spitals vorbei und die Marktstraße hinauf bis zum Marktplatz. Im Erdgeschoss des Rathauses befand sich die offene Markthalle. Dort und in einigen Laubengängen der umliegenden Häuser waren schon die Verkaufsstände aufgeschlagen. Melchior genoss das geschäftige Treiben, das den trostlosen heimischen Alltag für eine Weile vergessen machte. Die meisten Händler hatten bereits ihre Waren ausgebreitet und suchten sie aufs Vorteilhafteste zu präsentieren.

An dem Stand, den ihm der Marktmeister zuwies, stellte Melchior sein Tragegestell ab. Die ersten kauflustigen Weber waren schon zugange. Und noch bevor Melchior seine Ware gefällig auslegen konnte, hatte er bereits die ersten Garnspulen verkauft. Bald entdeckte Melchior auch Gabriel Zollikofer, der sich dem Marktplatz näherte. Zwischen seinen Verkaufsgesprächen versuchte er, den Herrn nicht aus den Augen zu verlieren, denn er wollte sein Anliegen unbedingt noch heute vorbringen. Zollikofer ließ sich Zeit. Hielt mit diesem und jenem Weber ein Schwätzchen und betrachtete ebenfalls ausgiebig die feilgebotenen Waren.

Gabriel Zollikofer war in fortgeschrittenem Alter und von stattlicher, nicht besonders hoher Statur. Er hielt sich gerade und seinen geschmeidigen Bewegungen nach zu urteilen hätte man ihn bei flüchtiger Betrachtung für einen weitaus jüngeren Mann halten können. Nur sein graues, leicht gewelltes halblanges Haar, das unter dem breitkrempigen schwarzen Hut hervorschaute, machte diesen Eindruck zunichte. Das volle Gesicht wurde von einem sauber gestutzten Oberlippenbart geziert, der sich bis zu einem spitz zulaufenden Kinnbart hinunterzog. Seine glatt rasierten Wangen waren von feinen roten Äderchen durchzogen. Er trug ein hochgeschlossenes schwarzes Wams mit einem feinen Spitzenkragen. Sowohl Wams als auch Ärmel waren mehrfach längs geschlitzt und mit hellgrauer Seide unterlegt. Die knapp bis zu den Waden reichende weite schwarze Hose wurde unter den Knien mit breiten, seitlich zu einer Schleife gebundenen Bändern zusammengehalten. Zu den ebenfalls schwarzen wollenen Strümpfen trug er vorne eckige, lederne Spangenschuhe mit einem kleinen Absatz.

Endlich war Zollikofer an Melchiors Stand angelangt.

»Guten Morgen, Herr«, grüßte Melchior freundlich, doch sein Herz wollte ihm fast in die Hose rutschen bei dem Gedanken an sein Vorhaben.

»Wie ich sehe, hast du ein schönes Angebot an feinem und grobem Garn zu bieten«, meinte Zollikofer anerkennend.

»Ja, Herr, es ist der Rest, den wir den Winter über gesponnen haben, und ich hoffe, heute alles verkaufen zu können.« »Erlaubt Ihr mir, Euch etwas zu fragen?«, ergänzte Melchior, seinen ganzen Mut zusammennehmend, als sich Zollikofer schon zum Weitergehen anschickte.

Der Schweizer hob leicht verwundert die rechte Augenbraue und betrachtete neugierig den jungen Bauernburschen, dem die Not deutlich anzusehen war. Um dessen mageren Körper schlotterten ein abgetragenes schlichtes ärmelloses Wams und eine wadenlange Hose aus grobem naturfarbenem Leinen. Von dem gebleichten Leinenhemd waren nur die weiten Ärmel mit den an den Handgelenken grau angeschmutzten Bündchen zu sehen. Die Hose wurde von einem schmalen Gürtel gehalten und steckte in braunen Lederstiefeln.

»Was willst du mich denn fragen?«, ermunterte Zollikofer Melchior in freundlichem Ton.

»Herr, ich lebe auf dem Hof meines Bruders in Haselburg. Wir wissen bald gar nicht mehr, wie wir noch weitermachen sollen, und sind bald am Verhungern. Jetzt habe ich mir überlegt, in die Schweiz auszuwandern und erst wiederzukommen, wenn der Krieg vorbei ist. Und da Ihr doch Schweizer seid, dachte ich, vielleicht könnt Ihr mir helfen oder einen Ratschlag geben, wie ich es anfangen soll.« Schnell sprudelten die zurechtgelegten Worte aus Melchiors Mund, gerade so, als hätte er Angst, im letzten Augenblick doch noch den Mut zu verlieren.

»So, so«, antwortete Zollikofer nachdenklich und strich sich mit der rechten Hand mehrmals über seinen Kinnbart. »Wenn du vorhast, eines Tages wiederzukommen, so würde ich dir empfehlen, dir Kenntnisse über die Viehhaltung und womöglich auch der Viehzucht zu verschaffen. Denn wenn dieser Krieg vorbei ist, wird es wichtig sein, die verwüsteten Felder neu zu bestellen. Viel Vieh wird benötigt werden, um all das brachliegende Land wieder fruchtbar zu machen. Ich rate dir, lerne alles, was ein guter Bauer wissen muss. Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich nach Appenzell gehen. Das ist gleich über dem Bodensee, also nicht allzu weit von hier entfernt und obendrein ein schöner Landstrich. Du könntest dort dein Glück versuchen. Du bist noch jung und augenscheinlich auch gewillt, etwas aus deinem Leben zu machen. Morgen schicke ich ein Fuhrwerk mit Leinwand nach St. Gallen. Wenn du willst, kannst du als Begleiter mitfahren. In diesen unsicheren Zeiten ist es sowieso besser, wenn die Waren gut bewacht werden.«

Zollikofer hatte sich fast in Begeisterung geredet. Der Mut des jungen Burschen, auch wenn es der Mut der Verzweiflung war, beeindruckte ihn. Es erinnerte ihn an den Tatendrang seiner eigenen Jugend. Warum sollte er nicht einem jungen Menschen helfen, der sein Geschick in die eigenen Hände nehmen wollte?

»Am besten wäre es«, fuhr er fort, »du begleitest das Fuhrwerk bis Rorschach. Das ist ein wichtiger Schweizer Handelsplatz am Bodensee, an dem du vielleicht vorübergehend sogar Arbeit finden und Kontakte knüpfen könntest.«

Melchior konnte sein Glück kaum fassen. Der vornehme Herr hatte ihn nicht nur angehört, sondern wollte ihm bei seinem Vorhaben auch noch ein gutes Stück weiterhelfen. Große Zuversicht erfüllte ihn.

»Oh Herr, ich danke Euch vielmals, das ist mehr, als ich zu hoffen gewagt habe.«

»Nun denn, morgen kurz nach Sonnenaufgang geht es los. Sei pünktlich zur Stelle, ich wünsche dir Glück und alles Gute auf deinem weiteren Weg. Vielleicht sehen wir uns ja in besseren Zeiten einmal wieder.«

Schon am Abend, kurz bevor die Stadttore geschlossen wurden, fand sich Melchior wieder in Leutkirch ein. Mit eisernem Willen hatte er den anstrengenden Fußmarsch zum zweiten Mal an diesem Tag hinter sich gebracht. Er wollte auf jeden Fall ausschließen, dass seine Pläne noch im letzten Augenblick durchkreuzt würden.

Im Gasthaus »Hirsch«, einem großen Eckhaus an der Marktstraße und der katholischen Kirchgasse, war das schweizerische Fuhrwerk eingestellt. Der Wirt Hans Albrecht gestattete Melchior im Stall zu schlafen. Da sei er am Morgen auch gleich zur Stelle und könne beim Einspannen der Pferde und beim Beladen des Fuhrwerks helfen. Albrecht, einem geschäftstüchtigen Menschen, war alles daran gelegen, sein Gasthaus, das gleichzeitig auch Poststation war, in diesen mageren Zeiten am Laufen zu halten. Gerne wollte er einem guten Kunden wie dem Faktor Zollikofer und den Schweizern zu Gefallen sein.

Melchior suchte sich ein Plätzchen im Stroh und streckte nach dem anstrengenden Tag genüsslich seine Glieder aus. Im Stall war es warm und der schon fast vergessene Pferdegeruch war wie eine Verheißung auf eine bessere Zukunft. Auf dem Rücken liegend, die Arme unter dem Nacken verschränkt und mit seinem Umhang bedeckt, erinnerte er sich an den Abschied von seiner Familie.

Alle waren bestürzt gewesen und hatten ihn angestarrt wie vom Donner gerührt, als er das Geld für das restlos verkaufte Garn vor Dietrich auf den Tisch gezählt und ihnen dabei seine Pläne eröffnet hatte. Seine Schwester Elisabeth war in Tränen ausgebrochen. Seine Schwägerin Trude hatte unaufhörlich den Kopf geschüttelt, bis Dietrich endlich zu bedenken gab: »Es ist schwer, dich ziehen zu lassen, Melchior, das einzig Gute daran ist, dass wir dann einen Esser weniger auf dem Hof haben. Gott schütze dich auf deinen Wegen. Ich hoffe, wir sehen dich bald wieder.«

So verließ Melchior mit leichtem und schwerem Herzen den Hof, auf dem er sein ganzes bisheriges Leben verbracht hatte. Seine wenigen Habseligkeiten band er in ein Tuch, das er an einen Haselnussstecken knüpfte, den er sich über die rechte Schulter legte. Die linke Hand in der Hosentasche, fünf Kreuzer fest umklammert, machte er sich auf den Weg.

Außer dem Kutscher Karl begleitete Gebhard, ein strammer junger Schweizer, den Transport. Im ersten Morgengrauen hatte Melchior beim Beladen des Wagens geholfen. Nachdem alles verstaut war, spannten sie eine große Plane aus gewachster Leinwand zum Schutz gegen Wind und Wetter über die Waren. Vorne rechts und links machten es sich Gebhard und Melchior unter der Plane zwischen den Leinwandballen bequem. Gebhard drückte Melchior einen Eichenprügel in die Hand, er selbst war mit einer Pistole bewaffnet.

»Kampflos werden wir uns nicht von irgendwelchen Spitzbuben überfallen lassen«, sagte er grinsend zu Melchior.

Mit einem kurzen »Hü!« des Kutschers setzten sich die beiden kräftigen braunen Rösser in Bewegung.

In Gebrazhofen, dem Hauptort der oberen Landvogtei unter österreichischer Verwaltung, mussten sie den ersten Wegezoll entrichten. Die leerstehenden Häuser und die zu Brachflächen verkommenen Wiesen und Felder waren auch hier nicht zu übersehen.

Inzwischen lachte die Sonne und es schien ein schöner Frühlingstag zu werden. Gebhard und Melchior waren beim Zollhaus vom Wagen gesprungen, um sich die Beine zu vertreten und sich ein wenig Bewegung zu verschaffen. Gebhard hängte den Pferden den Futtersack um, solange Karl beim Oberzoller, einem für diese schlechten Zeiten erstaunlich beleibten Mann, den Zoll entrichtete. Melchior sog die milde Luft tief in seine Lungen und genoss das Gefühl von Freiheit und Vorfreude. Denn dass alles nur besser werden würde, davon war er fest überzeugt. Als Gebhard ihm auch noch einen Kanten Brot und ein Stück Speck mit der Aufforderung »Lass es dir schmecken« hinhielt, fand er seine Zuversicht mehr als bestätigt.

Und schon ging es wieder weiter. Kurz hinter dem Ort führte die Straße in Richtung Wangen durch einen Wald. Melchior biss genüsslich abwechselnd vom Brot und vom Speck ab und kaute gerade mit vollen Backen, als plötzlich drei zerlumpte Gestalten mit Geschrei zwischen den Bäumen hervorsprangen. Einer mit einem langen verfilzten schwarzen Zopf und einem fast ebenso langen Bart schwang sich behände auf den Kutschbock, die beiden anderen rannten neben dem Wagen her.

Geistesgegenwärtig ließ Melchior sein Vesper fallen und ergriff mit beiden Händen den neben ihm liegenden Knüppel. Bedrohlich schwang er ihn über dem Kopf des Mannes, der sich anschickte, auf den Kutschbock zu klettern.

Gebhard schrie: »Haut ab, sonst schieße ich euch über den Haufen!«

Er richtete die Pistole auf den Schwarzhaarigen neben dem Kutscher und drückte ab, als dieser Karl gerade die Zügel aus den Händen reißen wollte. Der Schuss traf seine Seite und ließ ihn laut aufheulen. Karl hatte alle Hände voll zu tun, die Pferde zu halten, die erschreckt in einen Galopp verfielen. Melchior zog dem anderen Mann derweil einen kräftigen Schlag mit dem Knüppel über den Rücken, so dass er vom Wagen abließ und auf der Straße schmerzgekrümmt in sich zusammensackte. Gebhard feuerte mit der in Windeseile nachgeladenen Waffe dem dritten Wegelagerer, der das Hasenpanier ergriff und in den Wald flüchtete, hinterher. Dann stellte er sich geschickt auf die Deichsel des inzwischen langsamer werdenden Fuhrwerks und schob mit aller Kraft den stöhnenden Schwarzhaarigen vom Kutschbock.

»Gut gemacht!«, rief Gebhard und klopfte Karl anerkennend auf den Rücken.

In der Tat war es dem erfahrenen Kutscher gelungen, die Pferde zu zügeln und wieder in eine langsamere Gangart zu bringen.

Melchior klopfte das Herz bis zum Hals und seine Armmuskeln waren von dem ungewohnten Gebrauch des Knüppels ganz verkrampft. Gebhard kramte aus dem Proviantkorb eine Flasche mit Most und nahm einen kräftigen Schluck.

»Den haben wir uns jetzt verdient«, sagte er und reichte die Flasche an seine beiden Mitstreiter weiter.

Nachdem sich ihre Aufregung gelegt hatte und sie sich nun immer mehr dem Gebirge mit seinen schneebedeckten Gipfeln näherten, verfielen alle drei in Plauderstimmung.

»Die Berge, sie sind viel größer, als wir sie von daheim aus sehen«, staunte Melchior ganz überwältigt von dem atemberaubenden Anblick, der sich ihnen bot. »Sagt, wie ist es in der Schweiz?«

Dem sonst eher wortkargen Karl sprudelten beim Gedanken an seine Heimat mit einem Mal die Worte nur so über die Lippen: »Oh, es ist schön. Die Berge sind dort ganz nahe. Eigentlich liegt das ganze Schweizerland mitten in den Bergen, deren Gipfel sogar im Sommer mit dicken Eisschichten bedeckt sind. Bis auf die Gegenden um den Rhein und am Bodensee sieht man fast kein ebenes Fleckchen. Im Landesinneren gibt es viele fischreiche Seen und Flüsse. Auf den größeren wird sogar Schifffahrt betrieben.«

»Vergiss nicht die vielen Tiere, vor allem die Kühe, die uns mit Fleisch, Milch, Butter und Käse versorgen«, fiel Gebhard, von Karls Begeisterung angesteckt, in dessen Ausführungen ein.

Melchior, der sich inzwischen an das für ihn anfänglich schwer zu verstehende Schweizerdeutsch gewöhnt hatte, blickte ungläubig von einem zum anderen: »Ja, gibt es denn dort noch so viel zu essen?«

»Ja klar, es wird auch Korn- und Rebbau betrieben, vom Obst ganz zu schweigen. Hunger müssen wir nicht mehr leiden«, meldete sich Karl wieder zu Wort. »Und aus dem Kriegsgeschehen halten wir uns heraus. Schwere Zeiten hat es aber in den letzten Jahren auch bei uns gegeben. Pest, Hungersnot und die große Teuerung letztes Jahr haben auch uns recht gebeutelt.«

Als sie das von den Schweden niedergebrannte Dorf Waltershofen passierten, erstarb die unbeschwerte Unterhaltung.

»Es ist jedes Mal aufs Neue schlimm. An den Anblick kann man sich einfach nicht gewöhnen«, brach Gebhard das bedrückende Schweigen.

Von weiteren Vorfällen unbehelligt, kamen sie durch den kleinen Weiler Oflings, der von einer quadratischen Turmburg dominiert wurde. Die Straße führte jetzt bergan und schon bald erblickten sie die mit Mauern und Türmen befestigte Freie Reichsstadt Wangen. Nun ging es wieder zügig bergab, durch die Leutkircher Vorstadt mit ihren verstreut daliegenden Wohnhäusern und den zahlreichen Scheuern und Wirtschaftsgebäuden.

Sie passierten Brücke und Vortor des Peterstors und entrichteten das Pflastergeld. Geschickt lenkte Karl das Fuhrwerk durch die belebte Schmiedstraße. In Wangen hatte es bisher kaum kriegsbedingte Verluste gegeben und so konnte Melchior die stattlichen mehrstöckigen Häuser bewundern. Manche waren hell verputzt und ließen nur an den Giebeln oder den oberen Stockwerken das Fachwerk sehen.

Vor der Wirtschaft zum »Schaf«, einem imposanten Gebäude am Ende der Straße, brachte Karl die Pferde mit einem lauten »Brr« zum Stehen.

Ein junger Bursche mit kurzen hellen Haaren, fast noch ein Kind, sprang flink herbei und nahm Karl geflissentlich die Zügel aus der Hand und fragte: »Soll ich die Pferde tränken?«

»Ja, Albert, und spann sie aus, solange wir einkehren.«

Karl, Gebhard und Melchior stiegen ab. Sie waren froh, ihre Glieder nach der langen Fahrt wieder strecken zu können. Karl warf Albert noch einen Blick hinterher, als der die Pferde in den seitlich am Haus gelegenen Stall führte.

Obwohl durch die kleinen Fenster nur wenig Tageslicht in die geräumige Gaststube fiel, machte sie mit ihren hellen, sauber gescheuerten Holztischen einen einladenden Eindruck.

»Ah, die Schweizer sind wieder da«, begrüßte sie der Wirt und führte sie an einen der freien Tische. »Ich kann euch frische Krautkrapfen und Most anbieten.«

»Oh, da sagen wir nicht nein«, antwortete Gebhard. »Den Most könnt Ihr mit Wasser verdünnen, wir müssen für den Rest der Reise noch einen kühlen Kopf bewahren.«

Nachdem sie das köstliche Mahl verzehrt hatten, setzte sich der Wirt Conrad Hütt zu ihnen. »Wie ich sehe, geht der Leinwandhandel immer noch gut«, stellte er fest und fügte dann betrübt hinzu: »Bei uns hier gehen die Geschäfte nur noch schleppend. Alles ist aus den Fugen geraten. Die Pest hat mir letzten Sommer meine Frau und meine Kinder genommen. Nur der Albert ist mir noch geblieben. Gott sei Dank habe ich eine fleißige Magd gefunden, die im Haus nach dem Rechten sieht und dazu noch gut kochen kann. Sofern wir etwas zum Kochen haben. Das ist auch nicht alle Tage gleich. Die Teuerung und die Profitgier mancher Zeitgenossen treiben die Preise in die Höhe und tragen so das Ihre dazu bei.«

»Ihr habt wenigstens noch manchmal was für den Magen«, entgegnete Melchior. »Ich komme vom Land und da wissen die Leute bald gar nicht mehr, was sie essen sollen.«

»Ja, der Krieg gibt uns noch den Rest.« Conrad Hütt nahm beharrlich den Faden wieder auf. »1632 öffnete der Wangener Rat den Schweden die Tore und vereinbarte mit ihnen eine Zahlung von 1200 Gulden, damit sie die Stadt verschonen. Genützt hat es nichts. Sie haben die Bürger entwaffnet und mit einer Brandschatzung gedroht, wenn sie nicht eine Summe von mehr als 5000 Gulden erhalten. Ein Jahr später überfielen sie die Stadt wieder, gerade so, als ob bei uns das Geld auf den Bäumen nachwachsen würde. Es gibt Tage, da weiß ich nicht, wie alles weitergehen soll. Die Wirtschaft wirft immer weniger ab, und manches Mal habe ich mir schon überlegt, sie zuzumachen und mit Albert nach Österreich oder in die Schweiz zu gehen.«

»Ich will mein Glück auch in der Schweiz versuchen«, meldete sich Melchior wieder zu Wort. »Schlimmer als zu Hause kann es bestimmt nicht werden.«

»Ja, Conrad, wer weiß, vielleicht sehen wir uns bald in der Schweiz wieder. Für heute müssen wir weiter.« Karl erhob sich und schüttelte dem Wirt zum Abschied die Hand. »Ich wünsche Euch auf jeden Fall eine gute Zeit, wie immer es auch kommen mag.«

Durch die Straße am Markt setzten sie ihre Fahrt fort. Linker Hand lag die Martinskirche, deren hoher schlanker Turm aussah, als ob er direkt zum lieben Gott in den Himmel strebte. Sie verließen die Stadt durch das Martinstor. Melchior bewunderte das mit bunten Bildern bemalte Gebäude und staunte über die kunstvollen Wasserspeier, die alle vier Ecken des Turmdaches zierten.

Weiter ging es durch die dörfliche Siedlung der Lindauer Vorstadt, vorbei an der Rochuskapelle mit ihrem ummauerten Friedhof. Bald schon kam der Galgen in Sicht, dessen Anblick Melchior leicht erschaudern ließ. Das kurz darauf auftauchende Siechenhaus mit der Sattelkapelle, an dem die Straße unmittelbar vorbeiführte, lag wie verlassen da.

Kurz vor dem Dorf Niederwangen machte Gebhard Melchior auf ein hohes heruntergekommenes Gebäude mit einem langgestreckten hölzernen Anbau aufmerksam: »Das ist eine Papiermühle. Man erzählt sich, die Müllerin und ihr Gehilfe hätten das Wasserzeichen des Schwedenkönigs auf ihren Papieren verwendet, weil ihnen das besser gefallen habe als das Wangener Wasserzeichen. Dem Geschäftsgang war dieser Übermut aber offensichtlich nicht besonders förderlich«, grinste er.

Niederwangen selbst verdiente den Namen Dorf nicht mehr. Fast nur noch verkohlte, bereits von Buschwerk überwucherte Ruinen boten einen trostlosen Anblick. Vereinzelt war das eine oder andere Haus zwar verschont geblieben, ob noch jemand dort lebte, war nicht zu erkennen. Eine unwirkliche, bedrückende Stille lag über dem Ort.

Es war schon weit über Mittag, als die Straße sie auf eine Anhöhe über der Freien Reichsstadt Lindau führte. Der Anblick, der sich ihnen bot, war so atemberaubend, dass Melchior sogar seine drückenden Magenschmerzen vergaß – die Krautkrapfen waren wohl doch zu viel für seinen Hunger leidenden Magen gewesen. Im hellen Sonnenlicht lag die Stadt wie eine Perle im glitzernden Bodensee, hinter dessen gegenüberliegenden Ufern die schneebedeckten Berge Österreichs und der Schweiz aufragten.

»Da drüben über dem See ist die Schweiz«, rief Karl Melchior über die Schulter zu.

Melchior hatte Mühe, die Gefühle, die ihn bei diesem Anblick überwältigten, in Worte zu fassen. »So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen«, sagte er nach einer Weile leise. Dann kniff er die Augen zusammen, noch einmal und noch einmal, aber die Stadt schien nach wie vor im Wasser zu liegen.

»Lindau ist eine Inselstadt und ein bedeutender Handelsplatz«, erklärte Gebhard schmunzelnd, der den staunenden Melchior beobachtet hatte. »Man nennt es auch das Tor in die Schweiz. Von dort geht der ganze Fernhandel nach Italien und Frankreich. Karl und ich werden immer wieder von unserem St. Gallener Handelshaus aus mit Leinwandfuhren nach Italien geschickt. Auf dem Rückweg bringen wir dann Südfrüchte, buntes Geschirr, Seidengarn oder alle möglichen anderen Waren mit. Der Handelsherr klagt aber oft, dass die Kriegszeiten den Leinwandhandel erschweren und die Geschäfte nicht mehr so gut gehen wie früher.«

Auch in Lindau und in den Dörfern des Hinterlandes hatte die Pest gewütet, und wie in vielen anderen Orten litt die Bevölkerung ebenso unter den unseligen Abgaben von Naturalien und Quartierleistungen an die durchziehenden Truppen.

Karl und Gebhard planten keinen Aufenthalt in der Stadt. Über eine lange steinerne Brücke erreichten sie das Lukenhäuschen, wo Karl wieder einmal den Pflasterzoll entrichtete, damit sie in die Stadt eingelassen wurden.

Außer der Stadtmauer schützten mehrere Bastionen und Schanzen die Inselstadt. Es herrschte lebhafter Verkehr. Das Geklapper von Pferdehufen und das metallische Geräusch der mit Eisen beschlagenen Räder der Fuhrwerke hallten von den kopfsteingepflasterten Straßen wider. Rufe und lautstarke Unterhaltungen von geschäftig hin- und hereilenden Menschen erfüllten die Straßen. Der würzige Duft von frisch gebackenem Brot hing in der Luft. Links und rechts der Hauptstraße standen prächtige hohe Häuser. Manche mit Laubengängen, manche mit reich verzierten Fenstersäulen und bunten Fassaden. Vorbei am mächtigen, mit einem Treppengiebel gekrönten Rathaus schienen alle Fuhrwerke dem Hafen auf der Südseite der Insel zuzustreben.

An der mit Pfahlreihen geschützten Schiffslände setzte sich das geschäftige Treiben fort. Karl hielt Ausschau nach einem Schiff, mit dem sie möglichst heute noch nach Rorschach übersetzen konnten. Neben dem alten Leuchtturm sah er eine Lädine liegen. Der nach oben gebogene Bug des über fünfzig Fuß langen, hölzernen Lastenseglers war erst mit wenigen Säcken und Fässern beladen.

Nachdem Karl das Fuhrwerk angehalten hatte, sprang Gebhard flink vom Wagen, um mit dem Schiffer zu verhandeln. Nach einem kurzen Wortwechsel winkte Gebhard Karl heran, der zuerst die beiden Pferde ausspannte, um sie dann über die ausgelegten Bretter geschickt in den flachen bauchigen Kahn zu bugsieren. Dann schoben und zogen die Männer mit vereinten Kräften den Wagen ins Schiff. Nachdem alles gut festgezurrt war, wischte sich Melchior erschöpft den Schweiß von der Stirn.

»Der Wind könnte besser sein, aber mit etwas Glück werden wir Rorschach noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen«, rief der Schiffer seinen neuen Passagieren zu.

Melchior, 1646

Rorschach war ein kleiner aufstrebender Ort. Schon im 15. Jahrhundert hatte der Abt des Klosters St. Gallen, Ulrich Rösch, den Grundstein für die weitere wirtschaftliche Entwicklung Rorschachs gelegt, indem er die einfache Schiffslände zu einem richtigen Hafen ausbaute. Zehn alte Häuser ließ er zu diesem Zweck kurzerhand abreißen und durch eine neue Häuserzeile, die unter anderem ein Badehaus und eine Taverne beherbergte, ersetzen. Die weitläufige Fläche, die durch die Neugestaltung bis zum See hin entstand, wurde zum äbtischen Markt- und Hafenplatz. Die östliche Begrenzung des Gevierts bildeten ein verschließbares Tor und das anschließende langgestreckte Kaufhaus, in dem die Schiffsgüter eingelagert wurden. Als westliche Begrenzung fand sich ein zweites, ebenfalls verschließbares Tor, an das sich das scheunenartige Kornhaus anschloss. Zudem ließ der Abt vom Kaiser die fast in Vergessenheit geratenen Markt-, Zoll- und Münzprivilegien erneuern – die Grundlage für einen wirtschaftlichen Aufschwung.

Ulrich Rösch war ein Bäckerssohn aus der Freien Reichsstadt Wangen gewesen. Er war als Küchenjunge in das Kloster St. Gallen gekommen. Als der damalige Abt eines Tages bemerkte, was für ein gescheites und aufgewecktes Bürschlein er da in seiner Küche beschäftigte, ermöglichte er ihm den Schulbesuch. Nachdem Ulrich seine Ausbildung beendet hatte, trat er schließlich in das Kloster ein, dessen Abt er später wurde.

Das Baumaterial für die Baumaßnahmen am Rorschacher Hafen war der heimische Sandstein. Der Steinbruch lag westlich des Klosters Mariaberg, das ebenfalls von Abt Ulrich erbaut worden war, mit der Absicht, das St. Gallener Kloster nach Rorschach zu verlegen. Aufgrund politischer Wechselfälle wurde das Kloster aber kurz vor der Vollendung zerstört, danach zwar wieder aufgebaut, aber nie seiner ursprünglichen Bestimmung zugeführt – eine Zeit lang beherbergte es eine Lateinschule.

Aber auch in Rorschach selbst hatte eine rege Bautätigkeit eingesetzt. Schon vor Jahren hatte der Konstanzer Leinwandhändler Balthasar Hoffmann, in Zusammenarbeit mit dem Abt und dem Konvent, in Konkurrenz zur Stadt St. Gallen eine Zweigniederlassung des Leinwandgeschäftes in Rorschach gegründet. In kürzester Zeit wurde eine Bleiche eingerichtet und die benötigten Gebäude der Walke, der Färberei und der Leinwandbank hochgezogen. Die Geschäfte gingen anfangs schleppend, blühten dann aber nicht zuletzt deshalb auf, weil die Ware mittlerweile auch in Schwaben Interessenten fand.

Der Umsatz der Rorschacher Leinwandschau hob sich, als auch Gabriel Zollikofer von Leutkirch Interesse für die Rorschacher Leinwand zeigte und sich löblich über deren Qualität und die guten Bleiche- und Färbeeinrichtungen äußerte. Einige Familien wurden nach und nach mit dem Leinwandgeschäft sehr reich und ließen sich prächtige Häuser mit schönen, gerade in Mode gekommenen Gärten an der Hauptstraße und der Straße nach Mariaberg errichten.

Melchior war in Rorschach hängen geblieben. Seit fast neun Jahren arbeitete er schon im Steinbruch. Abgebaut wurde der Sandstein dort vom Stock. Das heißt, der Abbau erfolgte, nachdem der Baum- und Pflanzenbewuchs erst einmal abgeräumt war, von oben nach unten. Große Blöcke wurden aus dem Felsen gelöst, indem die Steinbrecher unter enormer Kraftanstrengung mit dem Vorschlaghammer Eisenkeile in die mit dem Bohreisen vorgearbeiteten Löcher trieben. Die sogenannten Stockräumer wuchteten dann die so gewonnenen Blöcke mit Hilfe von Brechstangen zu den Arbeitsplätzen der Steinhauer, deren Aufgabe es war, den für Bauzwecke sehr begehrten Sandstein zu spalten und zu zerkleinern. Fuhrwerke mit schweren Kaltblutpferden transportierten die bearbeiteten Bausteine ab, nachdem Arbeiter sie auf hölzernen Karren bis an den Rand des Geländes gezogen hatten. Der Weitertransport der Steine, vor allem ins Ausland, erfolgte so weit wie möglich, mit Lädinen über den Bodensee und dann weiter mit Fuhrwerken.

Der Steinmeister hatte Melchior eine Stelle bei den Steinhauern zugewiesen, obwohl er anfangs seine Zweifel hatte, ob der schmächtige Bursche die Arbeit wohl bewältigen könnte. Alle Arbeiten im Steinbruch waren Schwerstarbeit.

Was Melchior anfangs noch an Kraft fehlte, machte er mit Ausdauer und Zähigkeit wieder wett. Und schon nach kurzer Zeit erkannten die Arbeiter und Vorgesetzten ihn und seine Leistung an. So unterschied er sich im wahrsten Sinne des Wortes bald nicht mehr von den andern, denn alle Beschäftigten im Steinbruch waren mit der hellgrauen bis leicht ins Grünliche spielenden Staubschicht des bearbeiteten Sandsteins bedeckt. Die schwere Arbeit mit Hammer und Meißel hatten Melchiors Körper verändert. Aus dem schmächtigen jungen Burschen war ein kräftiger und ansehnlicher Mann geworden.

Nachdem Karl und Gebhard damals nach St. Gallen weitergefahren waren, hatte sich Melchior zunächst ganz verlassen gefühlt. Obwohl sie nur einen Tag zusammen verbracht hatten, vermisste er die große Vertrautheit, die sich schnell zwischen ihnen eingestellt hatte. Bis in den Sommer hinein schlug sich Melchior mit Gelegenheitsarbeiten im Hafen und auf dem Markt durch. Auf keinen Fall wollte er sich seinen Lebensunterhalt durch Betteln verdienen, wie so mancher andere aus Gnade und Barmherzigkeit geduldete Einwanderer. Einen Platz zum Schlafen fand er anfangs im Dachgeschoss eines Turmes, der zum Kloster Mariaberg gehörte und Flüchtlingen wie ihm als Unterkunft bereitstand. Immer öfter durfte er aber auch im Pferdestall des »Goldenen Löwen« nächtigen. In dem angesehenen Gasthaus gab es Arbeit fast rund um die Uhr. Melchior machte sich dort mit allen möglichen Arbeiten nützlich. Schon bald war es seine tägliche Aufgabe, die Gasse und den Hafenplatz sauber zu halten.

Jacob Staiger, der Wirt, ein wohlbeleibter Mann jenseits der fünfzig, schätzte seinen jungen Helfer sehr, denn seine Leibesfülle und eine beginnende Gicht behinderten ihn bei körperlichen Arbeiten immer mehr. Jacob kochte gut und gerne, aber noch lieber verzehrte er die deftigen Speisen und vergaß dabei nie, alles mit einem guten Tropfen Wein aus dem Klosterkeller oder einer Kanne Bier hinunterzuspülen. Er war es auch, der Melchior den Vorschlag machte, sich um Arbeit im Steinbruch zu bewerben. In der freien Zeit und den Wintermonaten könne er ihm weiterhin zur Hand gehen. Um ihm seinen Vorschlag noch zu versüßen, bot er Melchior die kleine Kammer neben dem Pferdestall als Unterkunft an. Eine kräftige Morgensuppe und ein warmes Nachtmahl gäbe es obendrein. Melchior stimmte freudig zu und schon zwei Tage später nahm er die Arbeit im Steinbruch auf.

Melchior war froh, diese Arbeit zu haben, auch wenn sie überhaupt nichts mit Viehzucht zu tun hatte, wie vom Herrn Zollikofer empfohlen, denn sie war gut bezahlt. Er sparte eisern und hatte schon den einen um den anderen Gulden zur Seite gelegt – sicher verstaut unter einem losen Bodenbrett in seiner Kammer. Trotzdem machte er sich in letzter Zeit immer häufiger Gedanken darüber, wie es weitergehen sollte. Der Krieg in seiner Heimat war immer noch im Gange.

Erst letzte Woche hatten Handelsreisende im »Goldenen Löwen« genächtigt und berichtet, dass in Isny und in Leutkirch die Schweden eingefallen waren. Bauern der umliegenden Dörfer hätten sich vor der drohenden Gefahr noch in die Stadt Leutkirch geflüchtet, was ihnen aber nichts geholfen habe, denn die Schweden hätten sie ihrer letzten Habseligkeiten beraubt. Auch im Rathaus verstecktes Gold- und Silbergeschirr und der katholische Kirchenschatz seien ihnen in die Hände gefallen. Mehrere Männer seien bei dem Überfall erstochen worden und nach vier Tagen sei die Stadt völlig ausgeplündert gewesen.

Bei diesen niederschmetternden Nachrichten wurde es Melchior schwer ums Herz. Die Frage, ob Dietrich mit der Familie auch in die Stadt geflüchtet war, ließ ihn in dieser Nacht keinen Schlaf finden. Lebten sie überhaupt noch?

Mit den Jahren war das Verhältnis zwischen Jacob und Melchior immer familiärer geworden. Auch Jacobs Frau Lucia hatte den jungen Einwanderer bald ins Herz geschlossen. Den Wirtsleuten war keines ihrer Kinder geblieben. Zwei Mädchen waren schon im frühen Kindesalter gestorben, und ihren einzigen Sohn, einen unruhigen Geist mit dem Hang zum Abenteuer, hatte es als Söldner in die Fremde gezogen, wo er seit vielen Jahren verschollen war.

Kaum zwanzigjährig war Jacob von St. Gallen nach Rorschach gekommen, um auf Empfehlung über mehrere Ecken den zum fürstäbtischen Gebäudekomplex gehörenden »Goldenen Löwen« als Lehen zu übernehmen. Zu dem imposanten Gasthaus mit eisernem Ausleger und stirnseitigem Dachreiter gehörten ein Kraut- und Obstgarten, ein kleiner Fischweiher und eine Pfisterei, die allesamt einwandfreie Lebensmittel für die Speisenzubereitung garantierten.

Schnell war ihm klar, dass er eine tüchtige Hausfrau brauchte, um das große Gasthaus standesgemäß umtreiben und die Vorgaben des fürstäbtischen Lehenherrns erfüllen zu können. Die verehrten Gäste sollten nämlich stets durch die Wirtsleute und das Gesinde persönlich willkommen geheißen werden. Und so kam es, dass Jacob schon ein paar Wochen später, auf Vermittlung des Rorschacher Pfarrers, die Tochter des Organisten und Schulmeisters ehelichte. Lucia war zwar ein paar Jahre älter als Jacob, aber durchaus nicht unansehnlich. Sie war brav und tüchtig, jedoch so gut wie ohne Aussteuer, da der Schullohn ihres Vaters eher schlecht als recht die Familie ernährte. Jacob hatte seine Wahl nie bereut – ja mehr noch – eine bessere Frau konnte er sich auch in späteren Jahren nicht vorstellen.

Bald begann der Wirt, Melchior nach und nach in allen Bereichen seines Geschäfts zu unterweisen. Immer wieder feilte er an dessen mehr als bescheidenen Schreib- und Rechenkünsten. Genau genommen konnte Melchior nur seinen Namen schreiben und rechnen nur, indem er die Finger zu Hilfe nahm.

Jede Unterrichtsstunde leitete Jacob mit den Worten ein: »Wenn man erfolgreich sein will, muss man rechnen und schreiben können.«

Melchior lernte leicht und saugte alles auf wie ein Schwamm. Er lernte, wie man bei Speisen und Getränken mittels einer Kalkulation den besten Verkaufspreis errechnete. Er lernte, gute Qualität bei Fleisch und Gemüse zu erkennen, denn Jacob behauptete, nur aus guten Zutaten auch schmackhafte Gerichte kochen zu können. Der vorzügliche Ruf seiner Küche und die täglich gut besuchte Gaststube gaben ihm recht. Auch die Kalkulation der Übernachtungspreise für die fünf blitzsauber gehaltenen Zimmer lernte Melchior zu erstellen. Dass dabei auch vermeintliche Kleinigkeiten wie zum Beispiel Seifenflocken für die Reinigung der Fußböden und der Bettwäsche – denn selbstverständlich lagen auf den Strohsäcken der Betten Leinentücher für die Gäste bereit – mit in die Preise einflossen, erstaunte Melchior zunächst einmal. Er verinnerlichte aber alles gewissenhaft.

Karl und Gebhard kamen immer seltener und nach ein paar Jahren gar nicht mehr. Der Markt in Leutkirch läge inzwischen dermaßen darnieder, wie sie berichteten, dass sich die Fahrten für das St. Gallener Handelshaus kaum mehr rechneten. Einmal hatte Melchior ihnen eine Nachricht an seinen Bruder mitgegeben, mit der Bitte, sie bei Faktor Zollikofer zu deponieren, dem vornehmen Herrn die besten Grüße zu entbieten und ihm freundlichst nahezulegen, Dietrich irgendwie mitzuteilen, dass es ihm gutgehe und er sich in Rorschach im »Goldenen Löwen« aufhalte.

Auf dem Rückweg ließ Gebhard Melchior wissen, alles sei gut verlaufen. Der Herr Zollikofer erfreue sich guter Gesundheit und wolle die Nachricht, wenn irgend möglich, weiterleiten.