Sommerprickeln - Mary Kay Andrews - E-Book

Sommerprickeln E-Book

Mary Kay Andrews

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Beschreibung

Der neue Roman von der Autorin des Bestsellers ›Die Sommerfrauen‹: Drei Frauen, zwei Familien und ein Sommer voller Geheimnisse: die perfekte Ferienlektüre – Herzklopfen inklusive Annajane und Pauline sind beste Freundinnen seit ihrer Kindheit. Nun sind sie zu Gast auf einer Hochzeit – der Hochzeit von Annajanes Exmann Mason und der reizenden Celia. Annajane redet sich ein, dass ihr das überhaupt nichts ausmacht. Schließlich ist sie über Mason hinweg und hat neue Pläne: Gemeinsam mit ihrem neuen Verlobten Shane will sie sich ein Leben weit weg von der beschaulichen Kleinstadt am See aufbauen, in der sie aufgewachsen ist. Doch ihre beste Freundin Pauline kennt Annajane besser. Sie weiß, dass ihre Freundin immer noch an ihren Bruder Mason denkt und Celia nicht die Richtige für ihn ist. Verbirgt Celia etwas vor den anderen? Warum wollte sie Mason so überstürzt heiraten? Als sich dann die Ereignisse überschlagen und die Gerüchteküche brodelt, wird den drei Frauen klar, dass dieser Sommer ihr ganzes Leben verändern wird … »Einfach blättern, schmökern und genießen« WDR 1 zu ›Die Sommerfrauen‹

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Seitenzahl: 647

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Mary Kay Andrews

Sommerprickeln

Roman

Übersetzt von Andrea Fischer

FISCHER E-Books

Inhalt

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1

Annajane Hudgens saß in der Kirche Zum guten Hirten und überlegte, ob es einen perfekteren Tag zum Heiraten geben könne.

Der Frühling hatte besonders früh Einzug gehalten in Passcoe, North Carolina. Obwohl es erst Anfang April war, waren Hartriegel und Azaleen bereits ausgeschlagen, und die Kirschbäume entlang dem Pfad zur Kirche ließen blassrosa Blüten auf die Teppiche aus blauen Veilchen und weißem Steinkraut rieseln.

Es schien, als hätte die Braut, die ebenso perfekte Celia Wakefield, das herrliche Wetter irgendwie herbeigezaubert. Oder aber sie hatte bei Petrus blauen Himmel und farblich passende Frühlingsblüten in einem ihrer Schreiben bestellt, die berühmt-berüchtigt für ihre Liebe zum Detail waren. Wenn irgendjemand das konnte, dann Celia, dachte Annajane.

Konnte es eine schönere Kulisse geben? Seit fast zweihundert Jahren ließen sich die Mitglieder der Bayless-Familie in der Kirche Zum guten Hirten trauen, wenn auch nicht in diesem großen Gotteshaus. Die frühere Kapelle war ein uriger, gedrungener Bau aus grauem Granit und schiefen Eichenbohlen mit einem einzigen gotischen Bleiglasfenster über dem Altar und zehn Reihen schlichter Kiefernbänke.

Als Kind hatte Annajane, damals noch mit Zöpfen, sonntags oft mit ihrer besten Freundin Pokey in der Familienbank der Bayless’ gesessen. Immer dann, wenn sie bei Pokey übernachtet hatte. Schon damals wurde Pokeys Großmutter langsam senil, auch wenn Annajane das nicht klar gewesen war. Miss Pauline, nach der Pokey benannt worden war, sprach nur wenig, saß aber gerne am Sonntagmorgen in der Kirche, nickte lächelnd zu den Liedern, betupfte ihre vom grauen Star getrübten blauen Augen mit dem allgegenwärtigen Taschentuch und tätschelte Annajanes Hand. »Sie glaubt, du wärst ich«, flüsterte Pokey dann und kicherte über die verwirrte Oma. Sie zog eine Grimasse und hielt sich die Nase zu, wenn Miss Pauline einen fahren ließ, was ziemlich häufig vorkam.

Als Anfang der Neunziger die »neue« Kirche Zum guten Hirten mit Fenster aus Tiffanyglas, soliden Kirschholzbänken und einer speziell angefertigten deutschen Orgel gebaut wurde, erhielt das alte Gotteshaus den Namen Woodrow-Gedenkkapelle in Erinnerung an Pauline Woodrow, die in jenem Jahr im Schlaf gestorben war, als Pokey und Annajane vierzehn wurden.

Annajanes eigene Hochzeit hatte in der Kapelle stattgefunden, das einzige Zugeständnis, das ihre neuen Schwiegereltern gegenüber Annajanes »Spleens« bereit waren zu machen. Da sie selbst die Kosten der Feier getragen hatte, bestand sie darauf, sie im kleinen Rahmen zu halten und nur Verwandte und enge Freunde einzuladen, knapp vierzig Gäste, und Pokey sollte ihre einzige Trauzeugin sein. Am Tag ihrer Eheschließung im November regnete es unablässig, und damals fand Annajane es wildromantisch, dass das laute Trommeln des Regens auf dem Zinkdach den auf dem alten Harmonium gespielten Hochzeitsmarsch zu übertönen drohte.

War das erst fünf Jahre her? Manchmal zweifelte sie sogar, dass irgendetwas davon tatsächlich passiert war und es nicht einfach eine Erinnerung an einen längst vergangenen Traum war.

Die Veranstaltung an diesem Frühlingstag war etwas ganz anderes als Annajanes bescheidene Hochzeit. Die Kirche war bis zum letzten Platz gefüllt. Eigentlich sogar überfüllt, wenn es nach den Brandvorschriften ging, denen zufolge nur fünfhundert Personen in der Kirche Platz fanden. Annajane kam es vor, als hätte sich jeder, der die Bayless’ auch nur im Entferntesten kannte, je geschäftlich mit ihnen zu tun gehabt hatte oder auch nur mal eine Flasche ihres Softgetränks namens Quixie getrunken hatte, in die hochglänzenden Holzbänke unter den freiliegenden Dachbalken der eindrucksvollen Episkopalkirche gequetscht.

Sie spürte, wie ihr die Augen zufielen. Es war zu warm in der Kirche, und der betäubende Duft der Lilien und Rosen, die Altarraum und Bänke in üppigen Mengen schmückten, war überwältigend. In der vergangenen Nacht hatte Annajane kaum geschlafen, auch in den Nächten davor nicht sehr viel mehr. Und ja, sie hatte sich zu Hause einen ordentlichen Drink genehmigt, Quixie mit Bourbon auf Eis, bevor sie zur Kirche aufgebrochen war. Einen Moment lang schloss sie die Augen, und ihr Kinn sackte auf die Brust, als ihr plötzlich ein spitzer Ellenbogen in die Rippen gestoßen wurde.

Pokey quetschte sich neben sie in die Bank. »Wach auf, und rutsch rüber!«, befahl sie.

Annajane riss die Augen auf, schaute hoch und bekam gerade noch mit, wie Sallie Bayless in der ersten Reihe, zwei Bänke vor ihnen, sich umdrehte und Pokey einen missbilligenden Blick zuwarf. Sallies kastanienbraunes Haar schimmerte im Kerzenlicht. Sie war vierundsechzig, aber hatte immer noch ein waches Gesicht, funkelnde braune Augen und die schlanke Figur einer zwanzig Jahre jüngeren Frau. Angesichts Pokeys verspätetem, ungepflegtem Auftritt kniff sie die Augen zusammen.

Pokey grinste und winkte ihrer Mutter vorsichtig zu. Sallie drehte sich wieder um, Augen nach vorn, Kinn erhoben. Um den Hals trug sie in einem engen Doppelstrang die Bayless-Perlen.

Annajane lächelte die ältere Dame zu ihrer Rechten entschuldigend an. Die Frau runzelte die Stirn, aber rutschte dann widerwillig beiseite, um Platz für die Nachzüglerin zu machen.

Wie immer merkte Pokey Bayless Riggs überhaupt nicht, welches Aufsehen sie erregte. In den letzten fünfunddreißig Jahren hatte sie täglich Aufsehen erregt, und das war heute nicht anders, da ihr Bruder heiratete.

Pokeys teurer roter Seidenblazer war ihr rechts von der Schulter gerutscht und gab den Blick auf einen BH-Träger im Wildkatzenlook und einen unangemessen tiefen Ausschnitt frei. Der kleine Clayton war inzwischen zwei Jahre alt, aber Pokey kämpfte immer noch mit den Schwangerschaftspfunden. Ein Strassknopf des Blazers war offenbar abgesprungen, und der enge Seidenrock hatte sich irgendwie gedreht, so dass der Reißverschluss jetzt vorne war statt an der Seite. Pokey trug keine Strumpfhose, was an sich schon ein Skandal war, aber dann stellte Annajane fest, dass ihre beste Freundin die von Sallie verordneten langweiligen Seidenpumps auch noch zugunsten von strassbesetzten silbernen Sandalen hatte stehen lassen.

Ihr dünnes blondes Haar hatte bereits den frischen Schwung verloren, und ihr Lippenstift war verschmiert. Aber Pokeys Augen, ihre unglaublichen kornblumenblauen Augen, blitzten vor Schalk.

»Zu spät!«, flüsterte Annajane, traute sich aber nicht, ihre beste Freundin anzusehen.

»Mannomann«, murmelte Pokey. »Das ist echt nicht meine Schuld. Ich hab keine Parklücke gefunden! Der Parkplatz ist dicht, beide Straßenseiten sind zugeparkt. Ich musste den Landrover einen ganzen Block weiter an der Tankstelle stehen lassen und zu Fuß rüberkommen.«

»Müsstest du nicht eigentlich da vorn bei deiner Mutter und den ganzen anderen Verwandten sitzen?«, fragte Annajane. »Ich meine, du bist schließlich die einzige Schwester des Bräutigams.«

»Scheiß drauf«, gab Pokey zurück. »Ich weigere mich, mit dieser Frau einen auf beste Freundin zu machen. Mason weiß, dass ich sie nicht mag. Mama auch. Ich stehe zu meiner Überzeugung.«

»Was sind das überhaupt alles für Leute?«, fragte sie dann mit Blick über die vollen Reihen und spähte angestrengt hinüber zur Seite der Braut. »Doch keine Verwandten, oder? Die arme kleine Celia ist doch ein Waisenkind, sie hat keine anderen Verwandten aufstöbern können als die alte Großtante, die bei Mama übernachtet. Hat Celia einen Bus gemietet, oder was?«

Annajane zuckte mit den Schultern. »Du bist offenbar der einzige Mensch in Passcoe, der nicht der Meinung ist, dass Celia Wakefield die beste Erfindung seit Toilettenspülungen und Glühbirnen ist.«

»Komm mir nicht so! Du kannst sie genauso wenig leiden wie ich«, raunte Pokey.

»Stimmt ja gar nicht«, entgegnete Annajane. »Ich freue mich für die beiden.«

»Yippie yippie yeah«, sagte Pokey. »Friede, Freude, Eierkuchen. Dir kann es ja egal sein. In weniger als einer Woche packst du deine Umzugskartons, und ab geht es nach Atlanta, in dein schönes neues Leben, ohne einen Blick in den Rückspiegel. Neuer Mann, neue Arbeit, neue Wohnung. Und was ist mit mir? Ich hocke hier in diesem ätzenden Passcoe mit Mama, meinem bösen Bruder Davis, dem guten alten Mason und seiner neuen Frau Cruella de Vil.«

»Du arme, arme Pokey«, foppte Annajane zurück. »Das reichste Mädchen der Stadt, verheiratet mit dem zweitreichsten Mann.«

»Drittreichsten«, berichtigte Pokey. »Oder vielleicht viertreichsten. Davis und Mason haben deutlich mehr Geld als Pete.«

»Apropos, wo ist Pete eigentlich?«, fragte Annajane und reckte den Hals, um nach Pokeys Gatten Ausschau zu halten. Doch sie erblickte nicht den großgewachsenen rothaarigen Pete, sondern ein weiteres verspätetes Pärchen, Bonnie und Matthew Kelsey, die den rechten Gang entlangeilten.

Bonnie Kelsey erhaschte Annajanes Blick. Ihr gebräuntes Gesicht lief rot an, schnell sah sie beiseite, umklammerte Matthews Arm und führte ihn zu einer Bank so weit weg von Annajane, wie es in der überfüllten Kirche nur möglich war.

Pokey durchschaute das Manöver. »Zicke«, sagte sie.

»Schon gut«, sagte Annajane gutmütig. »Ich meine, was willst du erwarten? Matt und Mason spielen jede Woche zusammen Golf. So wie ich gehört habe, kommen Bonnie und Celia prächtig miteinander aus. Beste Freundinnen! Und Bonnie ist nicht die Einzige, die so auf Celia abfährt. Alle Frauen in diesem Raum durchbohren mich mit Blicken, seit ich die Kirche betreten habe. Als ich zugesagt habe wusste ich schon, dass es unangenehm werden würde.«

»Unangenehm?« Pokey lachte verbittert. »Es ist krank, ganz ehrlich. Wer außer dir wäre bereit, auf der Hochzeit ihres Exmannes aufzutauchen?«

2

Aus dem Augenwinkel bemerkte Annajane, dass noch mehr Gäste sie mit unverhohlener Neugier musterten. Sie lächelte angestrengt und wandte den Blick ab.

»Ich musste heute kommen«, erinnerte Annajane ihre Freundin. »Für Sophie. Musste ich ihr versprechen. Nur unter dieser Bedingung wollte sie dabei sein. Außerdem ist das mein letzter offizieller Auftritt für die Firma.«

»Ich fasse es immer noch nicht, dass du Quixie den Rücken kehrst«, sagte Pokey. »Wie viele Jahre warst du jetzt dabei?«

»Zu viele«, murmelte Annajane. »Ich hätte nach der Scheidung nicht bleiben dürfen. Ich hatte einfach nicht den Mumm, es selbst zu versuchen und ein neues Leben anzufangen. Und es gab natürlich noch Sophie.«

»Du verwöhnst das Kind unglaublich«, sagte Pokey kopfschüttelnd. »Und Mason ist noch schlimmer.«

Doch bevor sie zu einem Vortrag über die strenge Erziehung anheben konnte, die ihre Nichte ihrer Meinung nach dringend brauchte, ging die sanfte Melodie der Orgel, die das Eintreffen der Gäste begleitet hatte, in Harfenmusik über.

»Eine Harfe?« Pokey drehte sich um und reckte den Hals, um zum Orgelboden hochzuschauen. »Wie zum Teufel hat sie in Passcoe eine Harfe aufgetrieben?«

Annajane zuckte leicht mit den Schultern. »Die Harfe hatte ihren ersten Auftritt beim Probeessen gestern Abend – das du irgendwie geschafft hast zu verpassen.«

»Ich hatte Migräne«, sagte Pokey schnell. »Ich war schon fix und fertig angezogen, als es auf einmal losging. Pete hat mir noch eine Tablette gegeben, aber um acht lag ich im Bett.«

»Migräne hin oder her, heute stehst du offiziell auf der Beobachtungsliste deiner Mutter, falls du das noch nicht gemerkt haben solltest«, erklärte Annajane.

»Ich verstehe nicht, warum Mama und meine Brüder Celia plötzlich freie Hand bei den Firmenkonten gegeben haben«, sagte Pokey. »Daddy würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, wie die mit dem Geld um sich werfen. Pete gefällt das auch nicht. Er meint …«

Jetzt gesellten sich eine Geige und eine Querflöte zu der Harfe, das Tempo zog an.

»Psst«, machte Annajane. »Es geht los.«

Neben dem Altar öffnete sich eine Tür, und hinter Vater Jolly, einem sympathischen jungen Priester aus Boston, der erst seit wenigen Monaten in der Gemeinde war, kamen drei Männer in schwarzen Smokings heraus. Vater Jolly sah wirklich wie ein Seelsorger aus, fand Annajane: klein und untersetzt, dunkle Haare mit Pony und das runde Gesicht eines strahlenden Chorknaben. Perfekt.

Aber es war nicht der Pastor, der Annajane faszinierte. Ungewollt hielt sie beim Anblick von Mason Bayless in seinem tadellos sitzenden anthrazitgrauen Smoking die Luft an. Mit seinen neununddreißig Jahren hatte er immer noch die Statur eines Athleten, breite Schultern, schmale Hüften und muskulöse Beine. Er sah immer noch aus wie der Baseballspieler, der er am College gewesen war. Sein dunkelblondes Haar war modisch aus der hohen Stirn gekämmt und mit Gel fixiert, eine Frisur, die er erst seit kurzem trug – seit Celia in sein Leben getreten war. Er war blasser als sonst, und seine kornblumenblauen Augen mit den unverschämt langen Wimpern schienen auf den Boden zu blicken statt auf die Gemeinde, die die bevorstehende Zeremonie gespannt erwartete.

Als Mason seinen Platz rechts neben Vater Jolly einnahm, schob sich sein jüngerer Bruder Davis an ihm vorbei. Pokey mochte das jüngste der drei Bayless-Kinder sein, aber Davis war für alle Zeit das Nesthäkchen der Familie.

Zwanzig Monate jünger als Mason, war Davis zwar nur einen halben Kopf kleiner, aber hatte ohne weiteres zwanzig Kilo mehr auf den Rippen. Während Mason und Pokey die blauen Augen und das dunkelblonde Haar der Bayless’ hatten, schlug Davis als einziges der Kinder nach der Seite von Sallie. Er hatte die blitzenden dunklen Augen der Woodrows, das volle, gewellte dunkle Haar und die hohen Wangenknochen, von denen Miss Pauline immer behauptet hatte, sie seien das Erbe ihrer Cherokee-Vorfahren. Erwartungsvoll sah sich Davis in der Kirche um, zupfte am Kragen seines gestärkten weißen Hemds, grüßte nickend Freunde und Bekannte und zwinkerte verstohlen jemandem auf der linken Seite zu, zweifellos einer Frau.

Pokey bemerkte das Zwinkern und machte ein missbilligendes Geräusch. »Ich hätte nicht gedacht, dass sie die Nerven hat, hier heute aufzutauchen. Anscheinend habe ich mal wieder den niedrigen moralischen Standard von Davis’ Damenbekanntschaften unterschätzt.«

»Wer ist es denn?«, fragte Annajane interessiert und spähte zur linken Seite der Kirche hinüber.

»Sie heißt Dreama, es ist nicht zu fassen. Arbeitet in der Abfüllanlage in Fayetteville. Noch keine zweiundzwanzig. Natürlich verheiratet.«

»Natürlich«, wiederholte Annajane. »Weiß deine Mutter Bescheid?«

»Gibt es irgendwas, das Sallie entgeht? Sie weiß Bescheid, aber sie tut lieber so, als merke sie nichts. Das Verdrängen von Tatsachen ist ihre Lieblingsbeschäftigung. Sie hat Davis gezwungen, Linda Balez zu fragen, ob sie an diesem Wochenende seine offizielle Begleitung sein will. Du kennst Linda doch noch, oder? Sie ist mit mir zusammen zum Debütantenball gegangen, ging dann zum Studieren nach Sweet Briar. Wohnt jetzt drüben in Pinehurst und arbeitet bei einem Steuerberater oder so.«

»So eine große Brünette? Mit leichtem Überbiss? Ich glaube, mit der habe ich gestern Abend gesprochen.«

»Genau die«, sagte Pokey und nickte. »Eigentlich ein liebes Mädchen. Mama hat darauf bestanden, dass sie im Gästezimmer bei uns zu Hause in Cherry Hill übernachtet, aber Davis hatte die gute alte Dreama natürlich in seiner persönlichen Flitterwochensuite drüben im Motel untergebracht.«

»Ach, deshalb ist er gestern Abend so früh abgehauen«, sagte Annajane. »Ich bin um halb zehn nach draußen zum Auto gegangen, da flitzte er in seinem Boxter an mir vorbei. Auf dem Beifahrersitz saß eine Frau, aber es war zu dunkel, ich dachte, das wäre seine Begleitung.«

»Aber nicht Linda«, gab Pokey zurück. »Die war heute Morgen nämlich beim Brunch im Haus, nur von Davis war nichts zu sehen, dem kleinen Schweinchen. Ich weiß ehrlich nicht, warum wir so was bei ihm durchgehen lassen, du?«

»Das weiß ich auch nicht«, sagte Annajane leise.

Sie schaute wieder zu den Trauzeugen hinüber. Pokeys Mann Pete hatte seinen Platz links von Vater Jolly eingenommen. Sein leuchtend rotes Haar wurde langsam grau an den Schläfen, sein Bart war sauber gestutzt. Der Smoking saß ihm wie angegossen, und sein breites Lächeln schien alle Gäste im Gotteshaus einzuschließen.

»Ooooh«, stöhnte Pokey beim Anblick ihres Mannes. »Sieh dir dieses Prachstück an! Kann man den nicht auf der Stelle vernaschen? Das ist echt gemein. Ich schwöre dir, selbst wenn er mich nach so vielen Jahren, nach allem, was er mir schon angetan hat, fragen würde, ob ich jetzt mit ihm abhauen würde, würde ich sofort seine Hand nehmen, auf der Stelle mit ihm die Kirche verlassen, zum Wagen gehen und hätte in weniger als zehn Sekunden den Slip aus.«

Die Matrone mit den violetten Haaren neben Annajane hielt die Luft an, griff an ihre vergilbten Perlen und rutschte noch einmal zehn Zentimeter nach rechts.

»Nette Vorstellung«, flüsterte Annajane mit den Lippen an Pokeys Ohr. »Aber könntest du bitte etwas leiser sein? Ich glaube, eine der Bridge-Partnerinnen deiner Mutter hat gerade Herzrasen bekommen.«

»Geschieht ihr ganz recht, wenn sie lauscht«, sagte Pokey. Sie lehnte sich zurück und betrachtete Annajane zum ersten Mal ausgiebig.

»Du siehst superschick aus«, sagte sie und strich über den Ärmel von Annajanes Kleid. »Ist das neu?«

Annajane schaute an ihrem Cocktailkleid hinab. Der Satinstoff hatte die Farbe jungen Farnkrauts und war körperbetont geschnitten: ein tiefer, viereckiger Ausschnitt, kleine stoffüberzogene Knöpfe, eine abgenähte Taille und ein breiter pinker Satingürtel mit großer strassbesetzter Schnalle rundeten das Bild ab.

Sie lachte. »Nein, das ist echt Vintage, also nicht gerade neu. Obwohl ich nicht glaube, dass das schon mal getragen wurde. Hab ich letztes Jahr auf dem Basar der Junior League entdeckt. Es hat ein Original-Etikett von Bonwit-Teller.«

»Das Armband ist auch total schön«, sagte Pokey. »Erzähl mir nicht, das hast du in Passcoe gefunden.«

Annajane winkelte die Hand an, damit ihre Freundin den Schmuck begutachten konnte. Es war ein breites Antikarmband, besetzt mit Strasssteinen und Perlen. »Das hat mir Sallie im ersten Jahr zu Weihnachten geschenkt, nachdem Mason und ich geheiratet hatten. Ich glaube, es ist von deiner Großmutter.«

»Kann mich nicht erinnern, das schon mal gesehen zu haben«, meinte Pokey.

Annajane runzelte die Stirn. »Oh, Mist.« Sie nestelte an der Schließe des Armbands. »Schlechter Stil, auf der Hochzeit des Ex die Kronjuwelen der Bayless-Familie zu tragen. Ehrlich, das fällt mir jetzt erst auf. Gib es einfach Sallie zurück, wenn ich weg bin.«

»Hör auf«, sagte Pokey und schloss die Hand um die von Annajane. »Wenn Mama dir das Armband geschenkt hat, dann will sie auch bestimmt, dass du es behältst. Außerdem hat sie es dir wahrscheinlich nur gegeben, weil es Modeschmuck ist.«

»Ich wette, im Hinterkopf hatte Sallie die guten Sachen schon für ihre nächste Schwiegertochter aufgehoben«, sagte Annajane. »Ach, tut mir leid. Das sollte nicht verbittert klingen.«

Pokey klopfte auf den schweren Silberring an Annajanes linkem Ringfinger und drehte dann ihren eigenen zweikarätigen Verlobungsring. »Ich find’s immer noch unglaublich, dass du den Ring von Großmutter Bayless zurückgegeben hast.«

»Ich liebe diesen Ring«, sagte Annajane mit trotzig vorgerecktem Kinn. »Shane hat ihn selbst entworfen.«

»Süß«, sagte Pokey und schnaubte abschätzig. »Auch wenn ich noch nie von einem Verlobungsring ohne Edelstein gehört habe. Und ich finde, du hättest Masons Ring trotzdem behalten sollen. Könntest ihn doch einfach rechts tragen.«

»Er ist ein Familienerbstück«, sagte Annajane leise. »Ich bin keine Bayless mehr. Ich weiß nicht mal, ob ich je eine war. Er sollte an dich gehen oder an einen deiner Jungs. Oder an Sophie.«

»Daddy hätte gewollt, dass du ihn behältst«, sagte Pokey. »Er hat darauf bestanden, dass Mason dir den alten Ring schenkte statt eines neuen. Er meinte, du hättest ihn verdient. Und das hast du wirklich. Egal, was Mama oder sonst wer denkt.«

Pokey hob die Hand, den linken kleinen Finger abgespreizt. Annajane seufzte und hakte ihren eigenen kleinen Finger um den ihrer besten Freundin, so wie sie es seit ihrem sechsten Lebensjahr machten.

»Mir ist aufgefallen, dass Celia nicht den Ring von Oma Bayless bekommen hat«, bemerkte Pokey.

»Nein, aber sie hat einen viiiiel größeren Diamanten, den sie selbst ausgesucht hat, wie ich gehört habe«, sagte Annajane. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Frau wie Celia Wakefield so etwas Altmodisches wie den Verlobungsring deiner Oma haben will.«

»Ich hoffe, sie erstickt daran«, sagte Pokey fröhlich.

Ohne jede Vorwarnung füllten sich Annajanes Augen plötzlich mit Tränen.

»Stimmt was nicht?«, fragte Pokey und suchte in ihrem Handtäschchen nach einem Taschentuch. »Süße, ich glaube wirklich nicht, dass es gut für dich ist, dir diesen ganzen Affenzirkus anzutun.«

»Mir geht’s gut«, versicherte Annajane und lehnte das Taschentuch ab. »Wirklich. Hoch und heilig versprochen. Das ist alles richtig so. Für Mason, für Sophie, für die Familie. Für mich ist das eine Art Abschluss. Ehrlich. Erster Schritt: Mason heiratet Celia. Zweiter Schritt: Annajane heiratet Shane. Ende, aus. Und alle leben glücklich bis an ihr Lebensende.«

»Du bist bescheuert«, sagte Pokey. Sie schaute hinüber zum Altar, wo ihr großer Bruder Mason stand, die Hände auf dem Rücken verschränkt, Beine leicht gespreizt, und auf den Absätzen vor und zurück wippte.

»Er ist auch bescheuert«, fuhr Pokey fort. »Und er ist kein bisschen über dich hinweg.«

»Stimmt nicht«, gab Annajane zurück. »Er ist seit Jahren über mich hinweg. Und ich über ihn. Endgültig. Absolut. Voll und ganz.«

3

Über Mason Bayless hinwegzukommen, war leichter gesagt als getan. Wie hört man auf, an jemanden zu denken, den man sein ganzes Leben lang geliebt hat? Als Annajane sich nach ihrer Trennung vor fünf Jahren monatelang jeden Abend in den Schlaf weinte, kam sie zu dem Schluss, die Liebe zu Mason sei so etwas wie ein heimtückischer Virus. Tagelang schaffte sie es, keinen Gedanken an ihn zu verschwenden, seine Anrufe und E-Mails zu ignorieren oder kühl und distanziert mit ihm in der Firma zu sprechen. Aber dann kam wieder ohne jede Vorwarnung das, was sie als »letztes Aufflackern« bezeichnete.

Beispielsweise ging Mason mit seinem beschwingten Schritt durchs Büro, ließ vielleicht bei einer Mitarbeiterin sein Lächeln aufblitzen. Ach, dieses Lächeln … Sein lässiges Grinsen, bei dem man den linken Eckzahn sehen konnte, von dem in jungen Jahren bei einem Ringkampf mit Davis eine Ecke abgebrochen war – Annajane brauchte es nur zu sehen und verlor die Kontrolle. Sie musste aufstehen und zur Toilette laufen, schloss sich dort ein und heulte wie ein Baby.

Manchmal flackerte es auch im Auto auf. Sie fuhr durch die Gegend, und plötzlich erklang ihr gemeinsames Lied. Don’t Stop Believin’. Dann war es vorbei. Einmal hätte sie fast einen Motorradfahrer von der Straße gedrängt, als sie spätabends von der Firma nach Hause fuhr und das Lied im Radio lief. Sie hatte auf den Standstreifen fahren, die Fenster runterlassen und sich zwingen müssen, ihre brennenden Wangen mit der feuchten Februarluft zu kühlen, um wieder in der Realität anzukommen.

Sie hatte sogar ihre eigene Form von Exorzismus angewandt, um über Mason hinwegzukommen. Vor drei Jahren war sie am zweiten Jahrestag ihrer Scheidung in das Cottage am See geschlichen, das so eng mit ihrer gemeinsamen Geschichte verbunden war.

Es war ein leichter Winterregen gefallen, als sie sich mit dem Wagen über den unbefestigten Weg getastet hatte, der durch den dichten Wald zum See führte. Offiziell hieß der See nach einem hochdekorierten örtlichen Helden aus dem Ersten Weltkrieg, Lake Wesley Forlines Jr., doch jeder in Passcoe nannte ihn nur den »geheimen See«, weil der einzige öffentliche Strand und die Bootsrampe aufgrund von Haushaltskürzungen im Landkreis längst geschlossen worden waren. Man gelangte nur noch über das Anwesen der Bayless’ zum See. Über das Privatgrundstück.

Unkraut und Baumschößlinge wucherten auf dem schmalen Pfad, und Annajane vermutete, dass der Rest der Familie das Häuschen wahrscheinlich vergessen hatte, seit Mason und sie ausgezogen waren. Vielleicht, dachte sie in einem Moment der Panik, hatte das Cottage sich schließlich dem Unausweichlichen gebeugt und war schlichtweg eingestürzt.

Doch das kleine Steinhäuschen war immer noch da, kauerte sich unter die nackten Zweige einer großen alten Schwarzeiche. Eicheln knirschten unter ihren Reifen, als sie wenige Meter vom Haus entfernt anhielt. Beim Aussteigen erhaschte Annajane durch die wild wuchernde Ligusterhecke, die den von Mason so sorgfältig gepflegten Rasen verdrängt hatte, einen graugrünen Blick auf den See.

Dornen fingen sich in ihrer Jeans, als sie das klapprige Tor aus Zedernholz aufschob. Annajane pflückte eine getrocknete Hagebutte der New-Dawn-Rose, die sich durch die Latten des Zauns wand. Die beiden Rosenbüsche waren ein Hochzeitsgeschenk ihres Stiefvaters gewesen, der sie selbst mit dem Versprechen gepflanzt hatte, die schnell wachsenden Kletterrosen würden den Zaun innerhalb eines Jahres mit hübschen rosa Blüten überziehen. Was sie auch taten. Die Rosen hatten überlebt, während ihre Ehe verblüht war.

Mit einem Stirnrunzeln stand Annajane vor dem Cottage. Die lavendelblaue Farbe, mit der sie die alte Tür noch vor drei Jahren gestrichen hatte, war gerissen und blätterte ab. Schlimmer noch: eine rostende Eisenschließe und ein glänzendes neues Schloss waren am Holz befestigt. Als Mason und Annajane hier lebten, hatten sie nicht einmal einen Schlüssel für das Haus gehabt. Aber nun, da es verlassen war, hatte es jemand für angebracht gehalten, es ordentlich zu verschließen. Sie versuchte, durch das Vorderfenster zu spähen, doch die billigen Bambusjalousien waren heruntergezogen, außerdem starrten die Scheiben vor Schmutz.

Annajane ging um das Haus herum nach hinten und versuchte, die Tür dort zu öffnen, die in eine kleine Abstellkammer führte. Die Holztür war völlig vergammelt, aber offensichtlich von innen verriegelt, und Annajane hatte Angst, wenn sie zu heftig daran rüttelte, würde sie sie aus den Angeln reißen. Und das ginge nicht. Annajane wollte nicht, dass ihr Besuch im Cottage bekannt wurde. Deshalb ging sie links weiter, zu der breiten Fensterfront, von der aus man auf den See blickte. Zumindest hatte man das früher gekonnt, als dort das Schlafzimmer untergebracht war. Jetzt schaute man hauptsächlich auf totes Unkraut. Eine schmächtige Kamelie stand vor dem mittleren Fenster, doch es gelang Annajane, an ihr vorbeizuschlüpfen. Sie betete, dass sich keine Schlangen in dem dicken Laubteppich unter ihren Füßen versteckten. Mit beiden Händen umklammerte sie die Fensterbank und schob stöhnend das Fenster hoch. Dann kletterte sie hinein.

Sofort ärgerte sie sich, es getan zu haben. Ihre schmutzigen Schuhe hinterließen Abdrücke in der dicken Staubschicht auf dem Holzboden. Spinnenweben schmückten den Deckenventilator über ihr. Die Möbel – ein alter Toilettentisch und ein Himmelbett aus Mahagoni mit passender Kommode ohne besonderen Wert – stammten vom Dachboden in Cherry Hill. Mason hatte sich nicht die Mühe gemacht, irgendwelche Möbelstücke wegzuräumen, als er ausgezogen war. Jetzt zierte ein blassgrüner Schimmelüberzug das dunkel lackierte Holz. Irgendein Tier hatte an den Matratzen genagt.

Annajane lief mit hängenden Schultern durchs Zimmer, fuhr mit den Fingern an den Wänden entlang, die sie an einem verrückten Wochenende dreimal gestrichen hatte, ehe sie den genau richtigen Farbton hatten: ein strahlendes Morgenhimmelblau.

Sie hätte nicht herkommen sollen. Annajane öffnete den Wandschrank, der so klein war, dass sie mal gescherzt hatten, darin sei nicht mal Platz für eines der vielen Familiengeheimnisse der Bayless’. Er war so gut wie leer. Ein paar verrostete Kleiderbügel, eine gefaltete grüne Wolldecke. An einem Haken hinter der Tür entdeckte Annajane ein verblichenes kariertes Flanellhemd von Mason, das er immer zur Gartenarbeit angezogen hatte. In der Ecke standen seine mit Erde überzogenen Arbeitsstiefel ohne Schnürsenkel, die kameradschaftlich neben ihren ausgetretenen alten Tennisschuhen ausharrten. Ohne nachzudenken, zog Annajane das Flanellhemd über. Sie versenkte die Nase im Stoff, suchte nach einer Erinnerung an ihren ehemaligen Mann, an jene glückliche Zeit, die sie bei der Einrichtung dieses Cottage gehabt hatten. Stattdessen musste sie heftig niesen, und eine winzige tote Spinne wurde in die schimmelig riechende Luft geschleudert.

Annajanes Schritte hallten in dem Haus wider, während sie von Zimmer zu Zimmer ging. Genaugenommen, besaß das Haus nur drei Räume: das Schlafzimmer, ein L-förmiges Wohn-Esszimmer und die Küche, dazu natürlich ein Badezimmer, das nicht viel größer als der Wandschrank war.

Sie öffnete einen Küchenschrank nach dem anderen. In dem Fach neben dem Herd fand sie eine vergilbte Packung Pfannkuchenteig und ein offenes Päckchen Backpulver. Aus einem Säckchen quollen Reiskörner, eine Maus hatte ein Loch hinein genagt. In dem Schrank neben dem Kühlschrank standen zwei nicht zueinander passende Kaffeebecher und grüne Werbegläser von Quixie. Der Kühlschrank selbst war mit Rostflecken übersät.

Annajane blieb vor der Spüle stehen und schaute durch das Fenster auf den See. Von hier aus konnte sie den verwitterten Anlegesteg sehen, der ins Wasser ragte. Darauf hatten sie sich früher gesonnt, waren in mondhellen Sommernächten nackt in das überraschend kalte Wasser gesprungen, in einer anderen Nacht einmal hinaus auf den See gepaddelt, um sich betrunken auf dem Boden eines alten hölzernen Ruderbootes zu lieben, ein Versuch, bei dem sie schließlich beide in den See gefallen waren.

Einst hatten sie große Pläne gehabt. Am Ende des Anlegers wollten sie ein zweistöckiges Bootshaus mit einer Terrasse und einer windgeschützten Veranda bauen, oben ein gemauerter Kamin für Grillabende und Partys, unten ein Davit für die Sallieforth, ein heruntergekommenes, knapp sechs Meter langes Motorboot, das Mason hoffte, irgendwann wieder zum Fahren zu bringen.

So viele Pläne. Damals war der See von einem klaren Blaugrün gewesen, und kleine Wellen plätscherten ans Ufer, das von blauen Hortensien, roten Geranien und Margeriten gesäumt wurde, gepflanzt von der Frau des alten Hausmeisters. Jetzt erstickte Unkraut das Ufer und versperrte den Blick aufs Wasser. Annajane spürte, wie eine Melancholie, so kalt und grau wie der Wintersee, in ihre Seele kroch.

Sie wandte sich vom Fenster ab und schlenderte ins Wohnzimmer, wo nur noch ein klobiges braunes Ausziehsofa stand, geerbt von einem Zimmergenossen Masons am College. Gegenüber vom Sofa war der Kamin, wo sich halb verbrannte Scheite auf einem kleinen Haufen Asche türmten. In der alten Kupferschale daneben hatte früher Material zum Anzünden gelegen, Streichhölzer und zerknüllte Zeitungen. Annajane griff hinein, fand zwei brauchbare Zweige, ein langes Küchenstreichholz und vergilbte Zeitungsblätter.

Das Papier und den Reisig legte sie auf die halb verbrannten Scheite, entzündete das Streichholz und hielt es an die Zeitung, bis sie Feuer fing. Nach kurzer Zeit brannten auch die trockenen Zweige fröhlich. Annajane setzte sich auf die Sofakante, schaute zu und wartete, dass das Feuer größer wurde. Als es zu erlöschen drohte, suchte sie im Haus herum, bis sie ein altes Telefonbuch fand. Sie riss die Seiten heraus, knüllte sie zusammen und warf sie in den Kamin, hockte sich davor, um noch mehr Papier nachzuwerfen, falls das Feuer wieder an Kraft verlor.

Schließlich fingen auch die Scheite an zu brennen. Annajane spürte, wie die Wärme sich zögernd in der feuchtkühlen Luft ausbreitete. Sie lehnte sich auf dem Sofa zurück, schaute zu und wartete. Worauf eigentlich?, fragte sie sich. Auf eine Art Läuterung? Eine Reinigung? Heilung? Hierherzukommen war ein Fehler gewesen. Sie stand auf, zog Masons Flanellhemd aus und warf es in die Flammen, die mit aufflackernden orangeroten Zungen darüber herfielen. Annajane stieg aus dem Fenster und zog es zu.

Ohne einen weiteren Blick zurück war sie davongefahren.

Nun, drei Jahre später, zwang sich Annajane, ihren Exmann zu betrachten, wie er dort am Altar stand und auf seine neue Braut wartete. Bei Masons und Celias Hochzeit dabei zu sein, war der letzte Schritt ihrer sich selbst verordneten Therapie. Es war die einzige Lösung. Und sobald das erledigt war, sobald sie hörte, wie Vater Jolly das glückliche Paar zu Mr und Mrs Mason Sheppard Bayless erklärte, konnte Annajane mit ihrem eigenen Leben weitermachen. Weit weg von Passcoe, der Bayless-Familie und dem guten alten Quixie, dem erfrischenden Durstlöscher.

In Passcoe, North Carolina, gab es eine Redewendung: Wenn man in diesem Ort geboren war, der seit 1922 die Heimat von Quixie und dem gleichnamigen Getränkeproduzenten war, dann hatte man dieses Cola-Kirsch-Soda im Blut. Auf Annajane Hudgens traf das allerdings nicht so recht zu.

Ihre Mutter Ruth behauptete immer, sie könne den Geschmack dieses Gebräus nicht ausstehen, aber Annajane wusste, dass es in Wirklichkeit die Bayless-Familie war, die einen schlechten Geschmack bei Ruth Hudgens hinterließ.

Insgeheim fragte sich Annajane immer, ob ihre Mutter die Bayless’ so hasste, weil ihr Vater, Ruths erster Ehemann Bobby Mayes, von dem betrunkenen Fahrer eines Quixie-Lasters getötet worden war. Damals war Annajane noch keine zwei Jahre alt gewesen. Ein Jahr später hatte Ruth Leonard Hudgens geheiratet, der das kleine Mädchen in aller Stille adoptierte, als es vier war. Obwohl auch Leonard in der Firma arbeitete, erlaubte Ruth keine Quixie-Flaschen im Haus, und auf gar keinen Fall erlaubte sie ihrem einzigen Kind, diesen Mist zu trinken. Nein, für Annjane gab es Milch, Apfelsaft oder Wasser, aber kein Quixie.

Daher konnte sie sich noch sehr gut an das erste Mal erinnern, als sie Quixie getrunken hatte. Es war im Kindergarten gewesen, als sie zum fünften Geburtstag von Pokey Bayless eingeladen worden war.

Ihre Mutter hatte die in rosa Schrift verfasste Einladung direkt in den Müll geworfen. »Die halten sich für was Besseres als alle anderen«, hatte Ruth zu Leonard gesagt, und Annajane hatte es gehört. »Wahrscheinlich haben die unsere Kleine nur eingeladen, um uns rumkommandieren zu können.«

»Verdammt, Ruth, die Mädchen gehen zusammen in den Kindergarten. Sie sind Freundinnen«, hatte Leonard erwidert. »Nur weil du die Eltern nicht leiden kannst, heißt das noch lange nicht, dass die Kinder nicht zusammen spielen dürfen.« Annajane hatte geweint und gebettelt, bis Leonard ihre Mutter am Ende überredet hatte und sie Pokeys Feier besuchen durfte.

Es war eine richtige Kinder-Teeparty, und für diese Feier hatte ein Veranstalter einen großen runden Tisch auf der vorderen Veranda von Cherry Hill, dem weitläufigen alten Anwesen der Bayless’, in Tüll gehüllt.

Der Tisch war gedeckt mit einem Kinder-Teeservice aus Porzellan, eines von Pokeys Geburtstagsgeschenken. Daneben lagen Stoffservietten und Gabeln aus echtem Sterlingsilber. Jeder der sechs Gäste – sämtlich Mädchen – bekam ein paillettenbesetztes silbernes Diadem und eine rosa Federboa. Und an jedem Platz auf dem Tisch stand eine eisgekühlte kleine Flasche Quixie mit einem rosa-weiß gestreiften Strohhalm in der Öffnung.

Annajane konnte sich bis heute an den ersten kalten Schluck erinnern. Nie zuvor hatte sie ein Getränk mit Kohlensäure probiert, und die Blasen kitzelten ihr in der Nase, so dass sie einen Schluckauf bekam.

Quixie schmeckte nicht wie Getränkepulver mit Kirschgeschmack oder wie Kirschbonbons, nicht einmal wie Kirscheis. Der Fruchtgeschmack war gleichzeitig würzig und gewagt, süß und säuerlich, wie eine Explosion von Sauerkirschen mit kribbelndem Nachgeschmack im Mund. Annajane hatte in ihrem gesamten Leben noch nichts derart Leckeres probiert.

Außer den Quixie-Flaschen wurden auf der Party Tabletts mit winzig kleinen Sandwiches ohne Kruste, mit Plätzchen und Petits Fours serviert, außerdem gab es eine dreistöckige Geburtstagstorte mit bunter Dekoration, die Mrs Bayless bei einer Bäckerei in Charlotte bestellt hatte. Doch für Annajane reichte nichts an den Geschmack von Quixie heran.

Pokeys Vater hatte auf der Party den Butler und Oberkellner gespielt und freute sich über Annajanes Begeisterung für das Produkt der Familienfirma. Nur zu gerne hatte er die erste leere Flasche durch zwei weitere ersetzt.

Als die Feier vorbei war, bekam jedes Mädchen eine große Tüte mit einer echten American-Girl-Puppe, einem Haarreifen mit eigenem Monogramm und noch eine Flasche Quixie, die einen besonderen Aufkleber zur Erinnerung hatte:

ZUR FEIER DES5. GEBURTSTAGS

VON POKEY BAYLESS,

EIN GANZ BESONDERER TAG

Schon mit fünf Jahren war Annajane klug genug gewesen, um ihrer Mutter nicht alle Details der Bewirtung zu verraten. Sie versteckte die Quixie-Flasche tief unten in ihrer Spielzeugkiste und verzog sich zwei Stunden nach der Rückkehr, immer noch mit dem geliebten silbernen Diadem auf dem Kopf und der Federboa um den Hals, gekrümmt zur Toilette, wo sie lautlos das heimlich genossene Getränk hervorwürgte.

Doch der verdorbene Magen konnte Annajanes Begeisterung für Quixie und ihre neue beste Freundin Pokey nicht mindern.

Pokey war so blond, hellhäutig und rund, wie Annajane dunkel und dünn war. Zu Ruth Hudgens’ Missfallen wurden die beiden Mädchen unzertrennlich, übernachteten fast jedes Wochenende abwechselnd beieinander. Gegenüber Annajane verlor Ruth nie ein Wort über Pokey – wie konnte sie auch? Die liebenswerte Pokey mit dem sonnigen Gemüt war ein Kind, das alle liebten, selbst Ruth, wenn auch wider Willen.

Sallie Bayless ihrerseits war immer freundlich zu Pokeys bester Freundin, doch als Annajane älter wurde, merkte sie, dass sie Sallies Ansprüchen niemals gerecht werden würde. Nicht als Freundin und ganz bestimmt niemals als Schwiegertochter.

Im Haus der Bayless’ war Pokeys zwei Jahre älterer Bruder Davis eine unangenehme Begleiterscheinung im Leben der Mädchen. Er kommandierte sie herum, hänselte und quälte sie, bis sie sich in Tränen aufgelöst zu Annajane nach Hause verzogen. Annajane hörte viel über Mason, den angebeteten großen Bruder, vier Jahre älter als Pokey, doch sie sah ihn nur selten. Mason besuchte ein Internat in Virginia und ging in den Sommerferien Segeln oder Wasserskifahren in Camp Seagull an der Küste. Glaubte man Pokey, war Mason so etwas wie ein Heiliger. Er war der Held, der sie gegen Davis verteidigte, in jeder Sportart alle anderen schlug, und in den Sommerferien, wenn die Familie einen Monat Urlaub in ihrem Haus in Wrightsville Beach machte, mit ihr zum Angeln ging oder ihr das Kartenspielen beibrachte.

Bei den wenigen Gelegenheiten als Kind, wenn Annajane in Masons Nähe gewesen war, hatte sie kein Wort herausgebracht, so dass sie überzeugt war, mit ihm nie mehr als ein »Wie geht’s?« gewechselt zu haben.

Jeden Sommer luden die Bayless’ Annajane ein, mit ihnen ans Meer zu fahren, und jeden Sommer weigerte sich Ruth, ihrer Tochter die Erlaubnis zu geben. Sallie Bayless schrieb Ruth Hudgens eine höfliche Nachricht auf ihrem blassblauen Briefpapier, und als das nicht fruchtete, suchte Pokeys Vater, Mr Glenn Bayless, Annajanes Stiefvater Leonard in der Fabrik auf, klopfte ihm auf den Rücken und verkündete für alle hörbar: »Hören Sie, Leonard, meine Tochter Pokey macht mir die Hölle heiß, weil ihr eure kleine Annajane nicht mit uns ans Meer fahren lasst. Ich hätte bestimmt mehr Ruhe, wenn ihr zumindest eine Woche auf sie verzichten könntet.«

Doch Leonard hatte seine Anweisungen. »Tut mir leid, Mr Bayless«, sagte er bestimmt. »Aber im August treffen wir uns immer mit Annajanes Großmutter, ihren Tanten und Onkeln in den Bergen. Ich hätte die ganze Familie im Nacken, wenn es mit diesem Treffen nicht klappen würde.«

Und so begab sich Annajane jeden Sommer brav zu den Verwandten ihrer Mutter in eine überfüllte, feuchte Berghütte an einer unbefestigten Straße, wo die Erwachsenen Karten spielten und Gospel hörten, während die Cousinen und Cousins auf Holzpaletten auf der Veranda schliefen, endlos Cluedo spielten und jammerten, dass kein Fernseher da war.

In dem Sommer, als Annajane fünfzehn war, verkündete Ruth jedoch wie durch ein Wunder, sie würden nicht in die Berge fahren. Ihre Schwester und ihr Schwager hätten die Hütte verkauft, zögen jetzt nach Florida und nähmen Annajanes Großmutter mit.

Postwendend rief Annajane Pokey an. »Rat mal!«, sagte sie atemlos. »Es ist endlich Schluss mit den scheiß Bergen! Ich kann den ganzen Sommer tun, was ich will!«

»Rat mal, was noch!«, gab Pokey zurück. »Daddy hat gesagt, wir können in diesem Sommer in der Firma arbeiten, wenn wir Lust haben. Richtige Arbeit! Mit Namensschild, Bezahlung und allem Pipapo.«

»Was?!« Annajane kreischte vor Freude. »Unser eigenes Geld? Dann brauch ich nicht mehr Babysitten.«

An dem Montag nach Ferienanfang stellte sich Annajane am Empfang von Quixie vor, wo Voncile, die Assistentin von Glenn Bayless, überrascht wirkte, sie zu sehen.

»Mr Bayless hat Arbeit für mich«, sagte Annajane leise. »Hat Pokey gesagt.«

»Natürlich«, hatte Voncile geantwortet und lächelnd in den Papieren auf ihrem Schreibtisch geblättert. Als Kinder und Jugendliche hatten Annajane und Pokey immer Zugang zu allen Bereichen der Firma gehabt. Voncile schaute Annajane in ihrem adrett gebügelten karierten Kleid an, das Ruth extra für diesen Anlass genäht hatte. »Wo ist denn Miss Pokey?«

»Ach, ich dachte, sie wäre schon hier«, sagte Annajane und verlor den Mut. Pokey hatte versprochen, sich um Punkt neun Uhr mit ihr in der Firma zu treffen.

»Hm. Kannst du Schreibmaschine?«

»Ja, Ma’am«, sagte Annajane stolz. »Fünfundvierzig Wörter pro Minute.«

»Sehr gut«, lobte Voncile. Sie führte Annajane in ein kleines fensterloses Büro unweit des Empfangs. Ein langer Tisch mit einem Computer darauf und zwei Klappstühle aus Metall standen darin, neben dem Tisch war ein riesiger Postsack. In einer großen Plastikwanne lagen weiße Briefumschläge, in einer kleineren schimmernde Quixie-Gutscheine.

»So«, sagte Voncile und wies auf den Postsack. »Kennst du unsere ›Quixie-Sommeraktion‹?«

»Ich glaube nicht«, erwiderte Annajane.

Voncile griff zu einem gepolsterten Umschlag und riss ihn auf. Fünf rotgrüne Verschlusskappen von Quixie-Flaschen purzelten heraus. Mit einer Hand fegte Voncile sie in den Müll und zog ein Blatt Papier aus dem Umschlag.

»Der hier«, sagte sie und wedelte mit dem Zettel, »der ist wichtig. Wir haben Quixie-Kunden gebeten, uns fünf Verschlüsse zusammen mit ihrem Namen und ihrer Adresse zu schicken. Dann können sie etwas hiervon gewinnen.« Sie zeigte auf eine Reihe nagelneuer Kühlboxen vor der hinteren Wand. Jede Kühlbox trug das ovale Quixie-Logo mit dem gegen die Flasche gelehnten Quixie-Pixie, eine Art Kobold, der lächelte und schelmisch zwinkerte.

Annajane zählte zwei Dutzend Kühlboxen.

»So«, sagte Voncile und reichte Annajane den Zettel. »Du gibst Namen und Adressen in unsere Datenbank ein. In Ordnung?« Sie beugte sich über den Computer, drückte auf verschiedene Tasten und öffnete eine leere Tabelle. »Schreib sie einfach in eine Zeile und springe dann in die nächste, wenn du fertig bist. Das schaffst du doch, oder?«

»Ja, Ma’am«, sagte Annajane.

»Wenn du fertig bist«, fuhr Voncile fort, »kommst du in mein Büro und sagst mir Bescheid. Ich drucke die Adressen auf Aufkleber, die kannst du dann auf diese Umschläge kleben.« Sie nahm einen Umschlag aus der Kiste und zeigte ihn Annajane. Das Quixie-Logo prangte oben links in der Ecke. »In jeden Umschlag steckst du einen Gutschein für eine kleine Flasche Quixie, klebst ihn zu und legst ihn in den anderen Postsack. Wie hört sich das an?«

»Gut«, war alles, was Annajane dazu einfiel.

»Gut.« Voncile blickte auf die Uhr. »Ich habe jetzt eine Besprechung, aber setz dich einfach hin und fang an. Ich komme später zurück und sehe nach, wie du dich zurechtfindest. In Ordnung?«

»Ja, Ma’am.« Annajane setzte sich an den Computer, dehnte die Finger und legte los. Anfangs ging es nur langsam voran: Umschläge aufreißen, Adressen herausholen, Verschlüsse zählen. Sie war entsetzt, als sie feststellte, dass in manchen Umschlägen gar keine fünf Kronkorken waren. In anderen waren drei oder vier Quixie-Verschlüsse und noch ein anderer, um die fünf voll zu machen. Annajane fand Colakorken, Pepsikorken, selbst von Kräuterbrause und Bier. Voller Verachtung warf sie sie in den Müll, zusammen mit der Anschrift des Absenders. Was glaubten diese Leute eigentlich, wen sie vor sich hatten?

Nach ungefähr einer Stunde hatte sie ein System entwickelt. Sie öffnete fünfundzwanzig Umschläge am Stück, prüfte die Kronkorken und tippte die Namen in den Computer. Von Zeit zu Zeit stand sie auf, ging im Raum umher und spähte durch die Tür nach draußen. Sie fragte sich, wo Pokey blieb. Hatten sie nicht beschlossen, heute gemeinsam anzufangen?

Mittags begann Annajanes Magen zu knurren. Ihr taten die Schultern weh, sie bekam langsam Kopfschmerzen vom starren Blick auf den flackernden Bildschirm. Sie ärgerte sich, nichts zu essen mitgenommen zu haben. Um eins ging sie hinüber in Vonciles Büro, um sich nach einer Pause zu erkundigen. Aber das Zimmer war leer, und die Tür zu Mr Bayless’ Büro war verschlossen.

Schließlich fiel ihr der Pausenraum ein, wo sie früher mit Pokey Restaurant gespielt hatte; sie hatten den Arbeitern Pappbecher mit Quixie vom Getränkespender serviert und dafür gesalzene Erdnüsse oder Käseringe aus dem Snackautomaten geschenkt bekommen.

Als die Tür schließlich aufging, saß Annajane schon wieder am Computer, trank einen Becher Quixie und knabberte an einem Schokoriegel.

»Hey, Kleine!«, rief eine tiefe Männerstimme. »Mama sagt, ich soll dich mitnehmen zum Essen.« Ein Mann kam ins Zimmer, und Annajane erschrak sich derart, Mason Bayless zu erblicken, dass sie ihren Becher umstieß.

Sprachlos beobachtete sie, wie ein Schwall roten Sodas über den Stapel von Zusendungen schwappte, die sie gerade neben dem Computer aufgetürmt hatte.

»O nein!«, rief sie und sprang auf. Sie holte einen alten Umschlag aus dem Mülleimer und betupfte damit hektisch die Flüssigkeit. Aber es war zu spät. Gierig hatte sie sich einen großen Becher Quixie geholt, und jetzt war der gesamte Tisch überflutet.

»Verdammt …«, fluchte sie und versuchte schwer atmend, sauberzumachen und dabei nicht den großen Bruder ihrer besten Freundin anzusehen. Als ihr klar wurde, dass sie laut gesprochen hatte, wurde sie noch roter.

Mason Bayless war sonnengebräunt, was seine blauen Augen noch blauer wirken ließ; sein dunkelblondes Haar musste dringend geschnitten werden, es fiel ihm bis zu den dunklen Augenbrauen in die Stirn. Masons Nase war etwas schief, aber er besaß strahlend weiße Zähne, abgesehen von dem einen angestoßenen Eckzahn. Er trug eine ausgeblichene Jeans und ausgetretene hohe Arbeitsstiefel aus Leder, dazu das Uniformhemd der Quixie-Abfüllgesellschaft mit den roten Nadelstreifen und einem bestickten Namensschild auf der Brust, das ihn als Mason auswies.

Nicht dass er ein Namensschild gebraucht hätte. Jeder der dreihundert Arbeiter der Quixie-Abfüllgesellschaft kannte Glenn Bayless’ ältesten Sohn, so wie fast jeder Einwohner der Gemeinde. Passcoe war eine Company Town; Quixie und Passcoe waren seit über achtzig Jahren miteinander verbunden.

Masons Hemd hing aus der Hose, die obersten drei Knöpfe waren offen. Nach einer Weile griff er ebenfalls zu einem Umschlag und fegte die vollgesogenen Zettel in den Müll.

»Sorry«, murmelte er. »Wollte dir keinen Schreck einjagen. Hab eigentlich meine Schwester gesucht.«

»Oh, warte«, sagte Annajane und griff in den Mülleimer. »Die dürfen nicht … ich meine … das sind Einsendungen zur Sommeraktion. Ich muss die Adressen in den Computer eingeben. Vielleicht kann ich sie irgendwie trocknen …«

»Vergiss es«, sagte Mason. »Die sind hin.«

»Aber ich muss sie alle eintippen. Das ist eine Aktion, und einige Gewinner bekommen eine Kühlbox, die anderen einen Gutschein für eine Flasche Quxie, sonst ist das nicht gerecht …« Annajane seufzte. »Ich muss es wohl Voncile erzählen. Ich weiß nicht, was sie dazu sagt.«

»Voncile ist das scheißegal«, erwiderte Mason und lächelte. »Ich sag ihr einfach, dass ich es war. Stimmt ja auch irgendwie. War meine Schuld.«

Er legte den Kopf schräg und betrachtete Annajane. »He. Du hast da was auf dem Oberteil.« Er streckte die Hand aus, und seine Fingerspitzen streiften den Ärmel ihrer Bluse.

Sie zuckte zurück.

Er lachte. »Du bist ganz schön schreckhaft, was?« Er hielt ihr die Hand hin. »Ich bin Mason Bayless. Ich glaube, ich habe dich noch nicht hier in der Firma gesehen. Bist du neu?«

»Ich weiß«, sagte Annajane. »Ich meine, ich weiß, dass du Mason bist.« Wie dämlich sie sich anstellte! Jetzt glaubte er bestimmt, sie wäre eine Stalkerin. Annajane errötete und setzte erneut an. »Also, ich meine, wir haben uns schon kennengelernt, aber das ist lange her. Ich bin Pokeys Freundin Annajane Hudgens.« Sie lächelte nervös und schielte hinunter auf den großen roten Fleck, der vorne auf ihrem neuen Kleid prangte.

»Pokeys Freundin«, sagte er. »Die jeden August verschwindet? Ja, genau! Du arbeitest also hier?«

»Nur in den Sommerferien«, erklärte Annajane. »Dein Vater hat uns die Jobs gegeben. Heute ist mein erster Tag.«

»Und wo ist meine Schwester?«, fragte Mason. »Hat sie dich schon jetzt im Stich gelassen?«

»Hm«, machte Annajane, um ihre beste Freundin nicht in die Pfanne zu hauen.

Mason verdrehte die Augen. »Das habe ich mir gedacht. Sie ist nicht mal aufgetaucht, oder?«

»Vielleicht hat sie heute Vormittag noch diesen Ferienkurs«, log Annajane. »Sie will ihre Spanischnote auf eine Zwei verbessern.«

»Jaja«, sagte Mason. »Was wettest du darauf, dass sie mit ihrem faulen Hintern am Pool liegt, während du hier in der Firma arbeitest.«

»Vielleicht dauert der Ferienkurs heute länger.« Annajane versuchte weiterhin, loyal zu sein.

»Falls du Pokey sehen solltest, richte ihr aus, dass ich hier war«, sagte Mason. »Ich gehe bei Voncile vorbei und sag ihr, dass ich hier drinnen ein Chaos veranstaltet habe.«

»Danke«, stieß Annajane hervor.

»Und keine Sorge«, fügte Mason hinzu. »Ich werde Pokeys Ausrede nicht platzen lassen, zumindest nicht heute.«

4

Annajane hatte Mason nie erzählt, dass sie sich damals, an ihrem ersten Arbeitstag, in ihn verliebt hatte. Sie hatte es niemandem erzählt. Nicht mal Pokey. Schließlich war sie erst fünfzehn gewesen, er war neunzehn und arbeitete auf Beharren seines Vaters zum ersten Mal im Warenlager, in jenem Sommer nach seinem ersten Collegejahr. Soweit es Mason Bayless anging, war Annajane nur ein dummes Mädchen, das mit seiner kleinen Schwester spielte.

Er hatte keinen zweiten Gedanken, keinen zweiten Blick an sie verschwendet. Es sollte noch einmal drei Jahre dauern, bis sie sich zum ersten Mal küssten.

Beim Gedanken an jenes erste Mal brannten Annajanes Wangen. Heftig schüttelte sie den Kopf und versuchte, die Erinnerung zu vertreiben.

»Alles klar?«, flüsterte Pokey. »Es ist noch nicht zu spät, um abzuhauen.«

Aber es war zu spät. Die Musik wurde lauter, Geigen und Orgel spielten Pachelbels Kanon in D-Dur. Alle Köpfe drehten sich zum Eingang.

»Aah!« Ein Chor anerkennender Seufzer. Kurz darauf entdeckte Annajane Sophie.

Auf Zehenspitzen ging die Fünfjährige langsam den Gang entlang. Man hatte versucht, ihre wilde Mähne aus blonden Locken zu bändigen, aber das Kränzchen aus Schleierkraut und rosa Rosen saß etwas schief auf ihrem Kopf. Sophie sah aus wie ein Engel in ihrem knöchellangen rosa Organzakleid mit den zarten Biesen am Mieder und den glockenförmigen Ärmeln. Annajane hielt die Luft an, als Masons Tochter den Gang hinaufging und aus einem Satinkörbchen an ihrem schmalen Ärmchen Hände voller Rosenblüten auf den Boden warf. Ihre glitzernde rosa Brille rutschte ihr die Nase hinunter, und sie blieb stehen, um sie wieder hochzuschieben.

Der Anblick von Sophie rührte Annajane unerwartet zu Tränen. Sie war nicht ihr Kind, doch sie hätte nichts dagegen gehabt. Mason hatte sie bei einem One-Night-Stand kurz nach der Trennung gezeugt und die Kleine schließlich adoptiert, nachdem die Mutter das Baby noch in Windeln auf seiner Türschwelle abgelegt hatte.

Die Menschen in Passcoe hatten damit gerechnet, dass Annajane die Geburt des Kindes als Affront empfinden würde, so kurz nach der Trennung von Mason, doch sie hatte ihr Herz an Sophie verloren, als sie die Kleine das erste Mal in den Armen hielt. Wie konnte man der bezaubernden Sophie irgendetwas übelnehmen? Das Haus ihrer Tante Pokey war Sophies zweite Heimat, und da Pokeys beste Freundin Annajane immer noch fast genauso oft da war wie in ihrer Kindheit, betrachtete Sophie sie als Verwandte. Was sie ja auch war. Irgendwie. Sophie zu verlassen, sie an Celia zu verlieren – diese Aussicht war für Annajane der schwerste Schritt von allen.

Wie immer schien sich Sophie nach ihrer eigenen inneren Melodie zu bewegen, die leider überhaupt nicht zum Takt des Kanons in D-Dur passte. Bang schaute das kleine Mädchen beim Gehen in alle Bänke, hielt nach vertrauten Gesichtern Ausschau. Schließlich entdeckte sie Annajane und ihre Tante Pokey und nickte feierlich. Doch ihre sonst schelmischen grauen Augen hinter den schweren Brillengläsern hatten dunkle Ränder und schwere Lider. Sophies Wangen leuchteten rot im Gegensatz zu ihrer sonst sehr hellen Haut.

Pokey beugte sich in den Gang. »Das machst du super, Süße«, flüsterte sie aufmunternd, und Annajane nickte schweigend zur Bestätigung und blies dem Mädchen einen Kuss zu. Schließlich lächelte Sophie zögerlich und drückte eine Faust voll Rosenblüten in Pokeys ausgestreckte Hand. Annajane fiel auf, dass die Bänder an der langen Satinschärpe schief saßen und nass waren. Wahrscheinlich war der Stoff bei einem Toilettengang vor der Zeremonie irgendwie ins Wasser getaucht.

Warum, fragte sich Annajane, war niemandem die feuchte Schärpe aufgefallen? Zum Beispiel Sophies zukünftiger Stiefmutter? Das Kleid war von Celia selbst entworfen, und was auch immer Pokey oder Annajane persönlich von ihr halten mochten – es war kein Geheimnis, dass Celias erfolgreiches Geschäft für Kinderbekleidung, Gingerpeachy, vor kurzem an eine nationale Firmenkette verkauft worden war, was Celia und ihren Geldgebern angeblich zehn Millionen Dollar eingebracht hatte.

Einige Schritte weiter blieb Sophie plötzlich stehen, zwei Drittel des Wegs zum Altar lagen hinter ihr. Unsicher schaute sie nach rechts und links. Die Musik lief weiter, aber das Mädchen rührte sich nicht. Annajane hielt den Atem an.

Sie blickte hoch zum Altar. Vater Jolly schien nichts zu merken, aber Davis und Pete runzelten die Stirn und tauschten besorgte Bemerkungen aus. Mason hatte ein paar Schritte nach vorn gemacht. Er ging in die Hocke, streckte lächelnd die Arme nach seiner Tochter aus und ermutigte sie, ihren Weg zum Altar zu vollenden.

Annajane konnte es ihm von den Lippen ablesen, selbst aus der Entfernung. »Komm, Mäuschen«, sagte er zu ihr. »Du kannst das.«

Sie konnte das Gesicht des Kindes nicht sehen, nur ein angedeutetes Nicken, dann trippelte Sophie auf Zehenspitzen weiter.

Nur wenige Schritte hinter Sophie folgte eine schlanke Rothaarige in einem kirschroten knöchellangen Organzakleid, so eng geschnitten, dass die Frau gezwungen war, winzig kleine Geisha-Schritte zu machen. Sie war Ende zwanzig und sah aus, als sei sie direkt vom Laufsteg in Paris eingeflogen worden.

»Wer ist das denn?«, fragte Annajane.

Pokey zuckte mit den Schultern. »Noch nie gesehen. Wahrscheinlich eine von Celias tausend besten Freundinnen.«

Sechs weitere Frauen in Seidenkleidern derselben Farbe folgten der Trauzeugin. Annajane kannte die meisten von ihnen, manche nur flüchtig. Aber als sie eine Brünette mit langen Locken und blonden Strähnchen erblickte, spürte sie einen Stich der Eifersucht. McKenna Murphey Kelleher war ihre Freundin. Sie kannten sich seit der Junior Highschool, und Annajane hatte McKenna mit Jimmy Kelleher bekannt gemacht, den sie schließlich geheiratet hatte. Wann war McKenna zu Celia übergelaufen?

Aber jetzt war nicht der Zeitpunkt für Vorwürfe. Die Einzugsmusik verklang, und die schweren Holztüren wurden mit theatralischen Gesten geöffnet. Die Gemeinde erhob sich von den Plätzen, in der kurzen Stille hörte man lediglich das Rascheln von Satin und Seide.

Annajane erblickte die Braut und konnte die Augen nicht von ihr abwenden, der zukünftigen Mrs Mason Bayless.

Celia Wakefield war unglaublich zierlich, hatte kurzes silberblondes Haar und riesengroße dunkle Rehaugen, die von den extravagantesten falschen Wimpern betont wurden, die Annajane je gesehen hatte. Celia wirkte noch kleiner als sonst, wie sie dort hinten selbstsicher und allein stand, eingerahmt von der hohen Eichentür.

Mason war mindestens vierzig Zentimeter größer als seine neue Braut. Er war kräftig gebaut, nicht dick, aber Annajane schätzte, dass er gute fünfzig Kilo mehr wog als Celia.

Wie sah wohl, fragte sich Annajane müßig, der Sex zwischen den beiden aus? Sie kniff die Augen zu, versuchte das Bild des nackten Paars aus ihrem Kopf zu vertreiben. Schließlich war sie in der Kirche, zwar nicht in derselben, in der Mason und sie getraut worden waren, aber es war und blieb ein Gotteshaus, und die Augen Gottes und aller Einwohner Passcoes schauten zu. Nicht in der Kirche an Sex denken, schalt sich Annajane.

Die Instrumente jubilierten, ein hübsches klassisches Stück, das ihr bekannt vorkam. »Was ist das für ein Lied?«, fragte sie und reckte den Hals, um einen besseren Blick auf die Braut werfen zu können.

Nicht in der Kirche an Sex denken. Nicht an Mason nackt denken.

Stattdessen versuchte Annajane, sich Shane nackt vorzustellen. Ihr Verlobter hatte einen perfekten Körper, groß und sehnig, dazu langgliedrige Finger, allerdings war er ein klein wenig befangen, auch im Bett, was sie ungewöhnlich fand. Waren Musiker nicht eigentlich total hemmungslos? Oh, aber Mason nackt! Bei der Erinnerung erschauderte Annajane.

Glücklicherweise bemerkte ihre beste Freundin es nicht. Leise summte sie die Einzugsmelodie mit. Auf Drängen ihrer Mutter hatte Pokey jahrelang Klavierstunden genommen und spielte tatsächlich nicht schlecht, wenn sie sich Mühe gab. Jetzt schnaubte sie missbilligend. »Händel. Die Ankunft der Königin von Saba. Von wegen.«

Die Braut machte den ersten Schritt in den Gang.

Celia war grazil und anmutig, die Königin von Saba in Miniatur, fand Annajane. Ihr Kleid, ebenfalls von ihr selbst entworfen, war streng und schlicht, ein trägerloser Schlauch aus glänzendem elfenbeinfarbenen Satin, dessen einziger Schmuck die Zieharmonikafalten an ihrem beängstigend tief ausgeschnittenen Dekolleté waren.

Beim Anblick der eindrucksvollen Braut fühlte sich Annajane automatisch fünf Kleidergrößen dicker in ihrem betulichen Secondhand-Kleid mit seiner braven Knopfreihe und der altmodischen Schnalle. Nur wenige Stunden zuvor hatte sie sich solche Mühe beim Anziehen gegeben und ihre Hemmungen mit Bourbon betäubt, aber jetzt fühlte sie sich fürchterlich falsch gekleidet und ernüchtert. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?

»Heiliger Bimbam!«, schnaufte Pokey und stieß Annajane mit dem Ellbogen in die Rippen. »Guck dir das Kleid an! Ich glaube, ich kann sogar ihre Nippel sehen!«

»Psst«, machte Annajane halbherzig und sah sich panisch nach einem Fluchtweg um. Doch ihre Bank war bis auf den letzten Platz besetzt. Es waren nur noch Stehplätze übrig, zu spät Kommende lehnten sich an die Seitenwände. Die Braut war kurz davor, den Mittelgang hinaufzuschreiten. Nein, nicht einmal Houdini hätte aus diesem überfüllten Gefängnis entkommen können. Annajane musste bleiben und ihre Therapie bis zum bitteren Ende durchstehen.

Die Braut hielt kurz inne, genoss den Augenblick, ihren Moment des Ruhms. Sie zupfte ihre Schleppe zurecht, reckte das Kinn und begann, den Gang hinaufzuschweben. Celia war die Schlichtheit in Person. Sie trug keinen Schmuck außer dem Verlobungsring und zwei bis auf die Schultern hängenden Diamantohrringen. In der verdunkelten Kirche warfen die Diamanten kaleidoskopartige Reflexe an die Decke. Celias bis zum Ellenbogen behandschuhte Hand hielt eine einzige große Calla – so lang wie ein Majorettenstock.

Auf halber Strecke verlor Celia ein wenig von ihrer Selbstsicherheit. Sie runzelte die Stirn und verlangsamte.

Die Musik lief weiter. Annajane schaute zum Altar, um herauszubekommen, warum die Braut zögerte. Vater Jolly, Pete und Davis standen erwartungsvoll da und beobachteten das Geschehen mit feierlichen Mienen.

Mason war stocksteif. Seine Lippen waren zu einem angedeuteten Lächeln gefroren, der Rest seines Gesichts glich einer Maske, in der seine Augen nervös von links nach rechts huschten.

Sophie war erneut stehen geblieben, diesmal nur wenige Meter vor dem Altar. Sie sah sich um, betrachtete die Blumen, ihre Großmutter und Cousins in der ersten Reihe und winkte schüchtern ihrer geliebten Kinderfrau Letha zu, die direkt hinter Sallie Bayless und ihrer Familie saß.

Letha beugte sich vor. »Geh weiter, Schätzchen«, flüsterte sie. »Das machst du toll!«

Und wenn der Bräutigam nervös ist?, fragte sich Annajane. Das hatte nichts zu bedeuten. Es war völlig normal. Mason war fünf Jahre lang Single gewesen. Seit der Scheidung hatte er sich ordentlich ausgetobt, war mit vielen Frauen ausgegangen, die meisten absolut unangemessen, und aus einer dieser Affären war Sophie entstanden, deren buchstäbliches Auftauchen auf der Türschwelle der Bayless’ anfangs ein Schock gewesen war, aber dann schnell einhellig als Segen betrachtet wurde.

Eines musste Annajane Mason lassen: Konfrontiert mit einem sechs Monate alten Baby und dem offenbar unanfechtbaren Beweis seiner Vaterschaft, hatte er das Richtige getan. Die Bayless’ scheuten nicht vor Verantwortung zurück. Er war gezwungen gewesen, wie Davis es zynisch ausgedrückt hatte, »seinen Mann zu stehen«. Letha war als Kindermädchen engagiert worden, und in Masons Haus, einige Grundstücke neben dem der Bayless’, wurde ein Kinderzimmer eingerichtet.

Sophie, damals ein zartes Baby mit Koliken, hatte sich mit der Zeit entwickelt. Durch die Arbeit in der Firma war Mason zuvor vier Tage pro Woche unterwegs gewesen, doch nach Sophies Ankunft hatte er seinen Aufgabenbereich umorganisiert, so dass er die meisten Abende zu Hause verbringen konnte. Und er hatte das kleine Mädchen umgehend in sein Herz geschlossen. Mason hatte es nicht leicht gehabt, dachte Annajane. Er hatte eine Exfrau, die immer noch für die Firma arbeitete, direkt vor seiner Nase, zumindestens jetzt noch, er hatte eine geschwächte Firma zu leiten und eine verrückte Familie, die er im Zaum halten musste. Und jeden Moment würde er dieser bunten Palette eine neue Ehefrau und Stiefmutter hinzufügen.

Angesichts dieses Drucks schien er sich einigermaßen gut zu halten, fand Annajane und musterte ihn erneut. Er wippte auf den Absätzen nach hinten. Vergeblich versuchten seine Lippen zu lächeln, als Celia näher kam.

Annajane starrte ihn an, ihre Wangen wurden wieder rot. Ein Muskel in Masons Kiefer zuckte. Mit dem rechten Zeigefinger fuhr er darüber, doch er zuckte erneut. Für den Bruchteil einer Sekunde spürte Annajane Masons Blick auf sich. Dann zuckte der Kiefermuskel ein paarmal schnell hintereinander, und Mason schaute beiseite.

Nicht schnell genug. Annajanes Herz schlug heftiger, ihr Hals schnürte sich zu. Ihr wurde schwindelig, sie griff nach Pokeys Arm.

Er hatte sich verraten! Wie oft hatte sie dieses unfreiwillige Zeichen bei ihm gesehen? Quer durch den Raum bei einer langweiligen Dinnerparty, in einer kontroversen Besprechung mit seiner Mutter und seinem Bruder? Und ja, auch in den schlimmsten Momenten ihrer eigenen, dem Untergang geweihten Ehe. Wenn Mason meinte, in der Falle zu sitzen, und nur noch fliehen wollte, wippte er auf den Absätzen nach hinten, und sein Kiefermuskel zuckte wie die Ohren eines ängstlichen Kaninchens.

Er will raus, dachte Annajane. Er will diese Frau nicht heiraten.

Plötzlich fühlte sie die Vergangenheit mit solcher Macht zurückkommen, dass es sie fast umgerissen hätte. Ihr war klar, dass sie gerade nicht nur ein schlichtes Aufflackern erlebte, keinen erneuten Ausbruch von Frühlingsgefühlen. Nein. Was sie spürte, war echte Leidenschaft.

Das kann nicht sein. Sie darf ihn nicht haben. Ich will ihn zurück.

Ihre Finger umklammerten Pokeys Arm.

»He«, flüsterte Pokey und warf Annajane einen besorgten Blick zu. »Was ist? Alles in Ordnung?«

Sie brachte kein Wort heraus.

Die Musik lief weiter. Celia schwebte in einer Parfümwolke an ihnen vorbei. Annajane machte einen halben Schritt nach links, so dass Pokey fast in den Gang fiel, doch Celia bekam es nicht mit.

Haltet diese Frau auf!