Sörensen sieht Land - Sven Stricker - E-Book
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Sven Stricker

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Beschreibung

In Katenbüll gibt es nicht viel zu feiern. Umso schlimmer, als eine der seltenen Festlichkeiten ein jähes, gewaltsames Ende nimmt: Während der Jubiläumsfeier des Einkaufszentrums rast ein Auto in die Menschenmenge. Es gehört einem alten Bekannten von Sörensen – ausgerechnet dem Ex-Praktikanten Malte Schuster. Doch der saß nicht am Steuer, denn wenig später findet man den Wagen an einem Baum inmitten der tristen nordfriesischen Einöde. Am Steuer eine weibliche Leiche. Sörensen hat Zweifel, und die führen ihn wieder einmal in düstere Gefilde …

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Seitenzahl: 580

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Sven Stricker

Sörensen sieht Land

Kriminalroman

 

 

 

Über dieses Buch

Licht am Ende des Koogs?

 

In Katenbüll gibt es nicht viel zu feiern. Umso schlimmer, als eine der seltenen Festlichkeiten ein jähes, gewaltsames Ende nimmt: Während der Jubiläumsfeier des Einkaufszentrums rast ein Auto in die Menschenmenge. Es gehört einem alten Bekannten von Sörensen – ausgerechnet dem Ex-Praktikanten Malte Schuster. Sörensen hat Zweifel an der vermeintlich klaren Lage des Falls – und viele Fragen. Wieder einmal begibt er sich in düstere Gefilde …

 

«Eine Reihe, die man gelesen haben muss. Für mich ist Sörensen längst Kult!» – Romy Fölck

 

«Sprachlich, atmosphärisch und überhaupt ist ‹Sörensen› wohl das Beste, was der deutschsprachige Krimi derzeit zu bieten hat.» – Ursula Poznanski

Vita

Sven Stricker wurde 1970 in Tönning geboren und wuchs in Mülheim an der Ruhr auf. Er studierte Komparatistik, Anglistik und Neuere Geschichte. Seit 2001 arbeitet er als freier Wortregisseur, Bearbeiter und Autor und gewann in dieser Funktion mehrmals den Deutschen Hörbuchpreis. Mit «Sörensen hat Angst» war Sven Stricker für den Glauser-Preis 2017 nominiert, die gleichnamige Verfilmung gewann 2021 den Deutschen Fernsehkrimipreis sowie den österreichischen Fernsehpreis Romy. 2022 wurde Stricker für das Drehbuch mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Er lebt in Potsdam und hat eine Tochter.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Tobias Schumacher-Hernández

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Cordula Schmidt Design, Hamburg

Coverabbildung Michael Ihle

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01380-3

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für Juli

(wie immer)

Prolog

Stell dir vor, du bist einundzwanzig.

 

Du bist einundzwanzig und ein Mädchen. Oder doch schon eine Frau, du bist dir nicht sicher. Du bist irgendwas dazwischen. Du lebst in Katenbüll, weil man dich da hineingeboren hat. Die dänische Grenze ist nah. Sonst ist alles fern.

Es gibt Felder und endlose Straßen, die nirgendwo anfangen und nirgendwo enden. Wenn es nicht wolkenverhangen ist, regnet es, wenn es nicht windig ist, stürmt es, und alles, was du von der Welt siehst, sind Kühe, Schafe, Windräder und ein Deich, der die noch größere Ödnis dahinter verbirgt. Alles scheint zu stehen. Vor allem die Zeit. Du interessierst dich nicht für Schafe. Die Schafe interessieren sich nicht für dich.

 

Du warst nie besonders beliebt: zu breit, zu klein, zu unsportlich, zu langsam in Kopf und Körper. Dumm bist du nicht, das weißt du, aber die anderen wissen es nicht. Wollen es nicht wissen. Kinder sind grausam, so heißt es, und es ist wahr. Kinder und Jugendliche riechen Schwäche, sie suchen sich Opfer, und das bist nun einmal du, das ist deine Rolle, immer schon gewesen. Du bist nicht hübsch, du bist nicht schlagfertig, und du bist nicht witzig. Du hattest nie eine Chance, dich zu wehren. Du leidest darunter, denn sensibel, das bist du. Alle denken, weil du dick bist, bist du stumpf. Doch auch das bist du nicht. Du weinst sehr oft, abends, in deinem Zimmer, denn deine Eltern dürfen nicht wissen, wie es dir geht. Ja, du wohnst immer noch bei deinen Eltern. Deine Eltern haben kein Verständnis. Deine Eltern haben einen Bauernhof. Sie haben einen Tagesablauf. Und die Viehwirtschaft läuft schlecht.

 

Der Hof ist falsch, deine Gefühle sind falsch, der ganze Planet ist falsch, und du bist verloren in deinen Ängsten, der ganzen Verwirrung, du hast das Internet, in dem du viel zu viel Zeit verbringst, das Internet und deine Träume, aber keine Hoffnung auf Besserung. Du bist alt genug, enttäuscht zu sein, aber zu jung, um zu verstehen, dass es nicht an dir liegt. Du hilfst auf dem Hof, das musst du, es ist ein Leben in Gummistiefeln, du mistest aus und fütterst und melkst und schwitzt und kannst dich selbst nicht riechen, aber niemand sagt ein nettes Wort zu dir. Du bist einundzwanzig und sehnst dir das Ende dieses Lebens herbei.

 

Und dann stell dir vor, du wirst plötzlich gefragt.

 

Zum ersten Mal. Von einem Typen. Aus deinem Ort. Von einem Typen, den du immer schon nett fandst. Heimlich. Niemals hättest du gedacht, dass er dich ebenfalls mögen könnte. Als Mädchen. Als Frau. Du wirst gefragt, ob du mitkommen willst, zu einem Fest. Der Typ lächelt. Du fragst dreimal nach. Ob er es ernst meine. Ob das ein Witz sei, auf deine Kosten. Nein, sagt er, es ist ernst. In dir erwacht etwas zum Leben. Du sagst zu. Du freust dich. Es bleibt. Es hält an. Du veränderst dich, schläfst besser, sogar deine Haut fühlt sich straffer an, deine Augen sind grün und schön, deine Körperhaltung ist aufrecht, deine Muskeln haben Kraft, die Welt ist gar nicht so schlecht, sogar die Schafe schauen zu dir auf und sehen fröhlich dabei aus. Du traust der Freude nicht. Aber sie ist da.

 

Dann kommt der Tag. Der Abend. Du bist nervös, du zitterst, du beginnst, dich zu schminken, du versuchst es, aber du magst dein Gesicht nicht, die Augenbrauen, die glänzende Stirn; das Make-up macht es nur noch schlimmer, es stellt aus, was du kaschieren willst. Die große Nase, die roten Wangen. Du wischst es weg, fängst von vorne an, hörst wieder auf. Du weinst. Du versuchst, im Kleiderschrank etwas zu finden, was deine Formen verbirgt, ziehst einen schwarzen Pullover über dein Gesäß, ganz weit, du fühlst dich unförmig, du ahnst, sie werden dich wieder ablehnen, egal, was du machst, werden dich anstarren, wenn überhaupt, werden Abstand halten, hinter deinem breiten Rücken über dich lachen. Du kannst dich nicht in einen Schwan verwandeln, ach, du solltest gar nicht erst hingehen, es wird eine Demütigung, du weißt nicht, was du sagen sollst, dir wird nichts einfallen, denn du bist nicht schlagfertig, du bist nicht witzig. Du bist verklemmt. Stocksteif. Stehst vor dem Spiegel, außer dir und zitternd wie der Koog bei Westwind. Der Schwung ist vorbei, die Energie versiegt. Du denkst, dies wird der furchtbarste Abend deines Lebens. Du denkst, dass danach alles vorbei ist. Endgültig.

 

Stell dir vor, du hast recht.

Erster Tag

Keime

Linoleum, dachte Sörensen und trat den unter ihm sachte schimmernden Belag mit Füßen. Was für ein Wort: Krankenhausflurlinoleumfußboden. Typisch deutsch war das, so ein überbordendes, zusammengezwungenes Silbenungetüm. Neunzehn Konsonanten, zwölf Vokale, so humorlos aneinandergereiht wie der Anlass, so hart wie der Grund, ihn zu betreten. Wen zu betreten? Den Krankenhausflurlinoleumfußboden. Sein Schuhwerk quietschte, er umklammerte den mit geriffeltem Plastik umhüllten Blumenstrauß fester, den er erst vor wenigen Minuten an einer Tankstelle erstanden hatte. Die ganze Fahrt über hatte er sich im Takt der Scheibenwischer den Kopf zermartert, ob es nun angebracht oder übertrieben war, seinem Vater Gebundenes mitzubringen. Ob es nicht nur eine Formalität war, eine haptische Floskel, ob es nicht vielleicht sogar besser gewesen wäre, gar nichts dabeizuhaben als etwas so offensichtlich Herbeigeschludertes. Bis ihm die Auslage der ersten Tankmöglichkeit seit Husum die Entscheidung abgenommen hatte.

Das war ja sowieso ein Skandal, dachte er mies gelaunt, dass man die ganze Strecke von Nordfriesland bis Hamburg zwar fahren, aber nirgendwo tanken konnte. Dass man eine komplette Autobahn mitten in die Landschaft gesetzt und dabei den Treibstoff vergessen hatte. Das war ja so, als würde man eine Waschmaschine bauen ohne Trommel. Eine Trommel ohne Schlagstöcke. Schlagstöcke ohne Polizisten … na ja, er schweifte ab. Schwiff? Schwofte? Man konnte ihn jedenfalls drehen und wenden, wie man wollte, den Strauß, er war hübsch, klein und bunt, aber er verriet die Tankstelle so sehr wie ein Benzinkanister. Zehn Euro hatte er gekostet, im Discounter wären es wahrscheinlich fünf gewesen. Wert war er keinen. Höchstens.

Sörensen beschleunigte seine Schritte. Er trug ein rot-weiß-blau kariertes, kurzärmeliges Hemd, knielange, kakifarbene Shorts, die weder seinem Alter noch seinem Beruf entsprachen, dazu ehemals hellblaue Turnschuhe, die sich wie jeder Lebenspartner nach der bunten Balz ins Erdfarbene weiterentwickelt hatten. Er kam an einer menschenleeren Cafeteria vorbei, aus der leise Klaviermusik erklang. Zeig mir deinen Boden, und ich sage dir, wer du bist, dachte er. Dieser hier war orange, er glänzte im eisigen Deckenlicht, bemühte sich um eine positive Ausstrahlung, um die Vermittlung von Lebensfreude und Zuversicht, aber er war voller Schlieren, Einkerbungen und Bremsspuren, je nachdem, wo sich Rollstühle, Transportbetten, Essenswagen und Gummisohlen ungünstig in die Kurve gelegt hatten. Das wollte man ja gar nicht wissen, was sich da alles an Keimen ansammelte im Laufe eines einzigen Tages.

Sörensen wünschte, er käme ohne Bodenhaftung ans Ziel, aber noch mehr durfte er nun wirklich nicht hasten, es hätte Fragen aufgeworfen. Er hatte ein wenig abgenommen, das stand ihm gut, bei ihm ging es immer rauf und runter, je nach Befindlichkeit hatte er mal fünf Kilo mehr, mal drei Kilo weniger. Andersherum wäre es ihm lieber gewesen, aber nun ja. Er war jetzt achtundvierzig, seinen Geburtstag hatte er vor einigen Tagen schlicht und bescheiden im engsten Kreis gefeiert, das hieß mit seinem Mischlingshund Cord und einer von Konservierungsstoffen geformten Sahnetorte, die er aus der Tiefkühltruhe eines Supermarkts entführt und mit ins Katenbüller Revier genommen hatte, wo die Polizeiobermeister Dhonau und Faltermeyer dankend abgelehnt hatten (die Uhrzeit, das Gewicht, der Zucker), sodass Kriminaloberkommissarin Jennifer Holstenbeck und er sich leicht vergessen hatten im Übermut der Aufgabenlosigkeit. Am Ende hatten sie abwechselnd über der Kloschüssel gehangen, ganz das eingespielte Team, das sie waren, einmal hatte er sogar ihre Haare gehalten. Nie waren sie sich nähergekommen.

Im Moment fühlte er sich einigermaßen ausbalanciert, wenn man von der akuten Sorge absah, die ihn zum Betreten des Krankenhausflurlinoleumfußbodens veranlasst hatte. Die Patienten, denen er auf dem Gang der Station begegnete, sahen erschöpft aus, da waren eingefallene, mürrische Gesichter, ein Mann mit Glatze schob sich in seinem Rollstuhl zum Schwesternzimmer, um einen Hauch von Aufmerksamkeit zu erhaschen. Sörensen sah sich unweigerlich selbst in diesem Rollstuhl, in einer nicht allzu fernen Zukunft, die Haare ungekämmt, die Mundwinkel verkrustet, die Haut schuppig und zerfurcht. Er hatte Leichen gesehen, schon so einige, hatte Unglücke und Schicksale begleitet und erfolgreich zu verarbeiten versucht, aber eine so offensichtliche Sackgasse, ein solches Tal der letzten Hoffnung, das machte ihm dann doch zu schaffen. Er atmete kürzer. Wie würde es mit ihm wohl enden? Der ganze Stress, vor allem der selbst gemachte, die Belastung für Herz, Nieren und Nerven, die Schlaflosigkeit, die nur durch kurze Hochphasen unterbrochene Niedergedrücktheit, die ewige Angst vor dem nächsten Totalausfall, das konnte ja nicht gesund sein. Vorsorge tat not. Vorsorge, Umsicht und die große Hafenrundfahrt. Oh Gott, wenn er nur daran dachte. Schläuche, Betäubung und rektale Entblößung waren nicht so seins. Musste er nicht langsam mal da sein?

Zimmer 406.

Er seufzte und klopfte.

Niemand reagierte.

Er öffnete die Tür und streckte vorsichtig den Kopf hinein. Der strenge Geruch von Desinfektion und Endzeit schlug ihm entgegen. Es war ein Zweibettzimmer. Rechts des Eingangs war die Badezimmertür, direkt dahinter lag Alfred Sörensen vor einer ehemals weißen Wand und hielt die Augen geschlossen. Er schien seinen Sohn nicht wahrzunehmen, hatte die Hände über der Bettdecke gefaltet, den Mund leicht geöffnet und atmete tief und regelmäßig. Das Bett am Fenster war leer. Sörensen schloss die Tür hinter sich, ging zwei sachte quietschende Schritte auf das Krankenlager zu, zog sich einen Stuhl heran und ließ sich am Fußende nieder, wie in Zeitlupe.

Er betrachtete seinen Erzeuger. So mochte auch er eines Tages aussehen, dachte er, aber nur, wenn die Dinge entsetzlich schiefliefen. Alfred Sörensens fast schulterlange, rötlichweiße Haare – weg. Der Vollbart ebenfalls. Sörensen erahnte, dass da unter der Decke auch nicht mehr allzu viel übrig war vom Rest. Nichts außer Knochen, Sehnen, Adern und herausgelassener Luft. Er betrachtete die Poren, die Nasenlöcher, die blasse Stirn mit einer Genauigkeit, als müsste er einen Aufsatz über Physiognomie schreiben. Er traute sich kaum zu atmen.

«Schicke Blumen», sagte Alfred Sörensen unter den geschlossenen Lidern. Seine Stimme war leise, aber klar. «Von welcher Tankstelle sind die denn?»

Sörensen zuckte zusammen und betrachtete den Strauß, der in den letzten Minuten noch mehr eingelaufen zu sein schien. «Die sind doch nicht von einer Tankstelle», log er. «Das wäre ja …»

«Hm?»

«Respektlos wäre das. Geradezu lieblos. Nee, von so einem Edelbotaniker sind die, also von so einem Blumenladen … teuer war der, der Strauß. Weiß ich nicht, über zwanzig Euro. Fast dreißig. Können auch fünfunddreißig gewesen sein. Hier, in Eppendorf, gleich da hinten, den Namen hab ich jetzt vergessen.»

«Aral?»

«BP.»

«Viel besser.» Alfred Sörensen öffnete die Augen und betrachtete seinen Sohn mit all dem Schalk, der ihm zu eigen war. Und einer Wärme, die sich Sörensen als Kind gewünscht hätte. «Schön, dass du gekommen bist. Hast du da wirklich kurze Hosen an? Wie alt bist du? Zwölf?»

«Es ist Sommer.»

«Nicht für jeden von uns. Wäre aber nicht nötig gewesen. Also, der Strauß.»

«Musst nicht dran riechen», sagte sein Sohn und gab ihm die Blumen trotzdem.

Der alte Mann hielt sie sich unter die Nase. «Mmh», sagte er genießerisch und grinste, «Ethanol, ein Hauch von Butan, dazu ein feines Isohexangemisch. Wusstest du, dass Benzin aus über hundert Kohlenwasserstoffen besteht?»

«Nein», sagte Sörensen. «Was ist passiert? Warum bist du hier? Ich dachte, so eine Chemo ist ambulant?»

«Na ja, die Nebenwirkungen», sagte sein Vater, legte den Strauß auf den Nachtschrank und strich die Decke vor sich glatt. «Irgendwas mit den Nerven. Ich hab meine Füße nicht mehr gespürt, und da bin ich wohl hingefallen.»

«Oh Mann.»

«In der Dusche.»

«Ach je.»

«Dabei wollte ich da gar nicht rein. Ich dusche montags, mittwochs und samstags. Heute ist Freitag, weil gestern Donnerstag war. Ist heute Freitag?»

«Heute ist Freitag.»

«Bin einfach vom Klo aufgestanden und in die Kabine gestürzt.»

«Wer hat dich gefunden?»

Alfred Sörensen presste die Lippen zusammen. «Niemand», sagte er leise. «Das sind so die Momente, wo du merkst, dass du allein bist. Ich habe ewig gebraucht, um da wieder rauszukommen. Und mein Telefon lag im Wohnzimmer. Ganz kurz hab ich gedacht, ich mach den Duschstrahler an und lass mich durch den Abfluss saugen. Aber dafür bin ich dann wohl doch noch nicht dünn genug …»

«Mensch, Papa …» Sörensen betrachtete das Häufchen Elend vor sich und kämpfte mit Tränen und einem schlechten Gewissen. «Das tut mir so leid.»

«Bin auch ein bisschen erschöpft, ehrlich gesagt. Doch genug von mir, reden wir endlich von dir. Wie findest du meinen neuen Stil?»

Alfred Sörensen zeigte auf seine Glatze. Er bemühte sich zu lächeln, aber es war unverkennbar, wie viel Schmerz in seinem Blick lag.

«Steht dir», sagte Sörensen und wusste nicht, inwieweit er auf den scherzhaften Ton eingehen durfte. «Ist natürlich schlimm. Aber das geht ja wieder vorbei. Und Mützen. Gibt ja so Mützen. Für Leute wie dich.»

«Hab ich längst. Bin aber kein Typ für eine Mütze.» Der ältere Sörensen stöhnte auf, wand sich und machte unter der Decke ein Hohlkreuz. «Weißt du, Sohn, ich war ja immer Optimist …»

«Ganz große Stärke.»

«Im Gegensatz zu dir.»

«Ganz große Schwäche.»

«Aber heute nicht.» Alfred Sörensen versank wieder tief in seinem Kissen. «Heute frage ich mich, ob es so schlau ist, den Tod zu vertrösten, wenn er einen nun mal haben will.»

«Der will gar nix, der Tod», sagte Sörensen. «Der ist völlig wahllos, ist der. Der meint das nicht persönlich, der nimmt einfach, was er kriegen kann.»

«Ich hab keine Lust mehr. Auf nix. Alles wird zum Akt. Kaffee kochen und so. Fernseher anschalten.»

«Aber das kommt doch wieder.»

«Weiß man’s?»

Alfred Sörensen schloss die Augen, sein Sohn fühlte sich hilflos. Das war keine Ebene, auf der sie jemals diskutiert hatten, es war auch nicht der Vater, den er kannte. Den er so oft verwünscht hatte ob seiner oberflächlichen Lebensfreude, der ihn mit seiner Leichtigkeit fast erdrückt hatte, sofern das nicht ein Widerspruch in sich war.

«Wie lange musst du denn noch hierbleiben?»

«Weiß nicht. Auf jeden Fall bis morgen. Dann darf ich vielleicht wieder raus und kleine Kinder mit meinem Anblick erschrecken.»

«Schön.»

«Ja. Toll.»

Sie schwiegen.

«Gilt das eigentlich noch … also, das, was du gesagt hast?», fragte der alte Sörensen nach einer Weile.

«Was denn?»

«Dass du mir hilfst. Bei dir in Katendings.»

«Ja sicher», sagte der Sohn. «Ich hole dich morgen ab, wenn’s so weit ist, und bringe dich zu mir. Logisch. Cord freut sich schon.»

«Aber ich hab keine Haare mehr.»

«Das ist dem Hund doch egal. Der hat ganz viele, das reicht für zwei.»

«Dafür die Erschöpfung und alles.»

«Ist doch gut. Sonst hab ich ja gar nichts aufzupäppeln. Das wäre ja vollkommen widersinnig, wenn du zum Aufpäppeln kommst, und dann hüpfst du rum wie ein Reh auf Ecstasy. Komisches Wort übrigens, aufpäppeln.»

«Kommt bestimmt von Pappel. Ich hab ja immer gedacht, ich bin eine Eiche.»

«Bist du auch, Papa. Bist du auch. Eine Eiche, die noch wächst.»

Sörensen stand auf und machte sich auf die Suche nach einer Vase. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, die an der Seite des Nachbarbettes befestigte Urinflasche umzuwidmen. Aber nein. Es blieb nur der Zahnputzbecher im Bad. «Ich kann die Schwester rufen», sagte sein Vater. «Sie heißt Natascha und kommt aus Nowosibirsk.»

«Wenn die jeder wegen einer Vase ruft, geht die da auch bald wieder hin.» Sörensen füllte Wasser in den Plastikbecher, kam aus dem Bad, stellte ihn aufs Schränkchen neben dem Bett und den Blumenstrauß hinein. Zu seiner Schande war der Becher keineswegs zu klein.

«So!», sagte er und machte eine anerkennende Geste mit der Hand, als handele es sich um ein besonders exquisites Bouquet.

«Danke für die Schlichtheit», sagte Alfred Sörensen. «Warum einen alten Mann mit Schönheit blenden?» Er zeigte auf das leere Bett am Fenster. «Da lag gestern Abend noch einer, der hieß Manfred.»

«Aha.» Sörensen wollte den Rest gar nicht hören. Dies schien keine Geschichte zu werden, die gut ausging.

«Der hatte auch Prostatakrebs. Aber in einem anderen Stadium. Bei dem hatte es schon gestreut. Also, bei mir hat es ja auch gestreut, aber höchstens so wie Puderzucker, bei dem hat’s gehagelt, aber so richtig. Der lag hier und hatte sowieso schon schlechte Laune, und der hat da in dem Fernseher …», Alfred Sörensen zeigte auf das Gerät, das unterhalb der Decke hing, «… der hat da in dem Fernseher so eine Sendung geschaut. Hier, Wer wird Quiz-Champion? oder wie das heißt. Ich hab das dann natürlich auch geguckt, denn ich konnte ja nicht weg.»

«Papa …»

«Drängle mich nicht, ich bin krank.» Alfred Sörensen zog sich etwas hoch. «Jedenfalls kam da eine Frage in der Quizsendung, da hab ich gedacht, ich werd nicht mehr.»

«Was denn?» Sörensen zwang sich zur Geduld.

«Wenn du sechzig Jahre alt bist, wie lange hattest du dann durchschnittlich in deinem Leben nachts beim Schlafen eine Erektion?»

«Als Mann?»

«Ja, natürlich als Mann, Herrgott. Das war die Frage. Im Hauptprogramm. Mit all den Kindern vor dem Fernseher und so.»

«Die Kinder gucken heute doch gar kein Fernsehen mehr», sagte Sörensen. «Die sind auf YouTube und so. TikTok.»

«Wo?»

«TikTok.»

«Die orangen oder die weißen?»

«Was?»

«Egal. Der Manfred jedenfalls, der wollte sich gar nicht wieder beruhigen. Und das von unserem Geld, hat er gesagt, skandalös ist das, dafür zahle ich dem Staatsfunk Zwangsgebühren. Staatsfunk, hat er gesagt. Zwangsgebühren.»

«Der Manfred war wohl ein bisschen rechts», stellte sein Sohn fest.

«Links, rechts, geradeaus, da blickt doch keiner mehr durch. Jedenfalls hat er sich aufgeregt, ich glaub, das war der gewohnt, der Manfred. Also, das Sich-Aufregen. Wer das denn überhaupt wissen wolle, wie man so etwas denn errechne, und vor allem, wer das denn wäre, der da so danebensitzt, nachts, bei den Leuten auf der Bettkante, wer denn da die Decke hebt und sagt, schau, da hat er eine Erektion, wie lange das wohl gut geht, da nehme ich mal die Zeit, und dass er, der Manfred, zum Beispiel ja schon seit zehn Jahren keinen mehr hochkriege, und dass dann jemand anderes die doppelte Menge Erektionen haben müsse, nachts, um den Durchschnitt zu retten, und das könne man doch nun wirklich niemandem zumuten.»

«Wie lange ist es denn nun?», fragte Sörensen, den die Antwort auf diese Frage durchaus interessierte.

«Was?»

«Na, wie lange hat man nachts beim Schlafen eine Erektion gehabt, wenn man sechzig Jahre alt ist?»

«Fünf Jahre», sagte der Ältere. «Wenn du sechzig Jahre alt bist, hast du fünf Jahre lang eine Erektion gehabt. Am Stück. Im Schlaf. Nachts. Wo sie keinem was nützt.»

«Unfassbar.»

«Der Manfred hat sich wirklich aufgeregt. Und dann ist er gestorben. Einfach so. Das Letzte, woran der gedacht hat, waren die Erektionen der anderen. Das ist doch traurig.»

«Ja, das ist traurig», sagte Sörensen.

«Ich will so nicht sterben.»

«Wirst du auch nicht, Papa.» Sörensen setzte sich wieder hin. «Du kannst ja einfach an was anderes denken. Außerdem möchte ich nicht mit meinem Vater über Sterben reden. Und über Erektionen.»

Alfred Sörensen schnaubte. «Du warst immer schon so ein Spießer. Schon als Kind warst du Spießer. Als ich dir den ersten Joint angeboten habe, da hast du abgelehnt. Das muss man sich mal vorstellen. Wenn mein Vater mir …»

«Als du mir einen Joint angeboten hast, war ich Kriminalkommissaranwärter. Und du hast mir den angeboten, weil du mein Gesicht sehen wolltest, nicht weil du jemals selbst einen Joint geraucht hättest.»

«Langweile mich nicht mit Details. Spießer.»

Sörensen strich über das Stück Bettdecke vor sich. «Hast du Schmerzen?», fragte er.

Sein Vater schüttelte den Kopf. «Gerade nicht.» Er zeigte auf seinen kahlen Schädel. «Meine Würde, die hab ich verloren. In der Dusche. Und im Waschbecken. Obwohl die heute eigentlich so weit sind mit der ganzen Chemie, dass das gar nicht mehr unbedingt so sein müsste. Na ja, bin halt vom alten Schlag.»

Er zögerte kurz und streckte dem Sohn die Hand entgegen. Sörensen betrachtete sie wie etwas sehr Seltsames, das vermutlich immer schon da gewesen war, aber keine Beachtung gefunden hatte. Sie hatten nie viel Körperkontakt gehabt, eigentlich gar keinen. Komisch, das jetzt noch zu ändern. Er drückte die Hand seines Vaters. Sie war warm, pulsierend und trocken.

«Was macht denn deine Angststörung?», fragte der Ältere leise.

Sörensen stutzte. «Wieso Störung?»

«Na, so heißt das doch.»

«Ja, ich weiß. Aber du hast immer Gedöns gesagt. Du hast das überhaupt nicht ernst genommen.»

«Die Zeiten ändern sich.»

«Weil du selbst Angst hast», vermutete der Jüngere und zwang sich zu einem vorsichtigen Lächeln.

«Kann sein», sagte sein Vater und lächelte verhalten zurück. «Also, was ist mit dir?»

«Geht gerade.»

«Geheilt?»

«Nee. Das kann man nie sagen. Im Moment ist Ruhe. Bis es halt wieder losgeht. Kann immer mal wieder losgehen.»

«Bleibst du in Hamburg?»

«Nein», sagte Sörensen und ließ die Hand los. «Ich muss zurück nach Katenbüll. Da steppt heute Abend der Bär.»

«Wahnsinnig unmodern klingt das», sagte der alte Mann tadelnd. «Lass dich nie mit einem ein, bei dem der Bär steppt. Oder wo die Heide wackelt. Sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Wo der Bartel den Most holt.»

«Mach ich nicht», seufzte sein Sohn. «Ich muss trotzdem zurück.»

«Warum?»

«Präsenz zeigen muss ich. Auf einem Fest.»

«Ach, komm. In Katendings?»

«Und ob. Andauernd ist da irgendwas los. Hat einem vorher auch keiner gesagt.»

Sie plänkelten noch ein wenig herum, hauptsächlich, weil Sörensen das Gefühl hatte, er könne noch nicht gehen und seinen gepeinigten Vater alleinlassen. Inhaltlich waren sie an eine Grenze geraten. Nach zehn, fünfzehn Minuten erhob er sich endlich und blickte auf seinen Vater herab. «Ich muss mal wieder los. Brauchst du was? Soll ich der Schwester noch was sagen?»

«Nein. Aber tust du mir einen Gefallen?»

«Klar.»

«Nimm den Strauß wieder mit. Der erinnert mich zu sehr daran, was alles schiefgegangen ist. Zwischen uns.»

Sörensen schluckte und nahm das Gebinde aus dem Zahnputzbecher. «Klar», murmelte er noch einmal und wandte sich zum Gehen. «Ich ruf dich morgen an. Und dann komme ich dich einsammeln.»

Der alte Sörensen nickte, dann sah er über das verlassene Nachbarbett hinweg aus dem Fenster. «Weißt du noch, als ich Nele gesagt habe, sie soll Lotta zu uns bringen an Ostern, weil das vielleicht das letzte Mal ist, dass sie ihren Opa sehen kann?»

Sörensen antwortete nicht. Er wartete einfach ab.

«Ich hätte nie gedacht, dass das vielleicht die Wahrheit war. Ich hab so oft gelogen in meinem Leben, warum ausgerechnet da nicht?»

«Du hast gelogen, Papa», sagte Sörensen. «Auch dieses Mal. Du bist ein notorischer Lügner. Du kannst gar nicht anders. Wenn du sagst, du stirbst, dann überlebst du uns alle. Das ist Gesetz.»

Alfred Sörensen lächelte, öffnete die Schublade des Nachtschränkchens und zog sein Portemonnaie heraus.

Sörensen runzelte die Stirn. «Du willst mir jetzt aber nicht zehn Euro in die Hand drücken, oder?»

«Um Gottes willen, nein. So viel Geld.»

Der alte Mann zog ein Foto heraus und gab es seinem Sohn. Die Farben waren verblasst und verwischt, aber zwischen dem Rot- und Rosastich erkannte Sörensen sich selbst. Er mochte vielleicht acht, neun Jahre alt sein, ein aufgeweckter, fröhlicher Junge mit wuscheligem, kraftvollem Haar und offenen, freundlichen Augen. Er deutete mit dem Zeigefinger auf das HSV-Trikot, das er gerade geschenkt bekommen hatte. Sein Vater, volles, dunkles Haar und ein ebensolcher Bart, hatte den Arm um ihn gelegt, liebevoll, fürsorglich, und lachte aus ganzem Herzen. Er schien stolz zu sein, gelöst, sie wirkten wie ein Herz und eine Seele, das perfekte Vater-Sohn-Gespann für das Rama-Frühstück, die lila Pause oder eine Allianz fürs Leben am Wüstenrottag.

«Nimm es mit», sagte Alfred Sörensen. «Ich möchte, dass du uns so in Erinnerung behältst.»

Sein Sohn, dessen Blick über das Fortschreiten des Lebens die frühere Offenheit so nach und nach verloren hatte, schluckte. «Ich kann mich an dieses Foto gar nicht erinnern», sagte er. «Ich hab das noch nie gesehen.»

«Du warst klein», sagte Alfred Sörensen. «Was soll ich sagen?»

«Aber so war es nicht, Papa. Das ist nur ein Schnappschuss. So waren wir nicht.»

Der alte Sörensen schloss die Augen. «Ich habe nicht gesagt, dass es so war», sagte er. «Ich habe gesagt, dass ich möchte, dass du uns so in Erinnerung behältst. Kannst du das tun? Für mich?»

«Ja», sagte der junge Sörensen. «Ja, das kann ich.»

Die Trauer krallte sich nun so fest in seine Magenwand, dass er fast gewürgt hätte. Es war, als wäre sein Vater bereits gestorben, dabei war das doch gar nicht abgemacht, stand es noch lange nicht fest, Alfred Sörensen war zäh, er würde sie alle überleben, er war bereits mit der Ursuppe mitgeschwommen und würde derjenige sein, der das Jüngste Gericht überlebte. Als Hauptangeklagter. Er würde sich so lange herausreden, bis der Richter aufgab. Wie immer. Sollte sich bloß niemand etwas einbilden.

Die Zimmertür öffnete sich, eine Schwester kam herein, mit großer Geste, gewichtigem Gang, der Raum gehörte ihr, alle anderen waren nur auf der Durchreise. Sie brachte ein Tablett mit, auf dem es ein wenig kümmerlich dampfte. «So, Herr Sörensen», bellte sie. «Mittagessen. Liegen oder Tisch?»

«Wonach sieht das denn aus?», knurrte der alte Herr und zog sich hoch. Sein Sohn schaute auf die Uhr. Halb zwölf. Warum gab es im Krankenhaus eigentlich immer so früh Mittagessen? Er sah auf den Teller. Graue Pampe mit gelber Pampe und grüner Pampe. Die zusammengenommen nach brauner Pampe roch.

«Guten Appetit», sagte die Schwester und zog das Tablett aus dem Beistellschrank. «Hackfleischtaler mit Kartoffelbrei und Rosenkohl.»

Alfred Sörensen sah seinen Sohn an, dieses Mal mit unverstellter Panik. «Meinst du, du kannst mich auch sofort mitnehmen? Also, jetzt?»

Sörensen konnte den Blick kaum vom Teller lösen. «Auf jeden Fall», sagte er. «Ich pack deine Sachen.»

Nichts als die Wahrheit

Sörensen schaltete in den vierten Gang und genoss das Gefühl von leichter Beschleunigung, eigentlich zum ersten Mal, seit sie losgefahren waren. Na ja, losgefahren. Sie waren die verstopfte, mehrspurige Kieler Straße entlanggeruckelt, vorbei an Waschanlagen, Spielhallen, Absturzkneipen, einer Armada von Tankstellen und billigen Hotels, eine Straße, die so kalt und kantig war, dass sie Zuzugswilligen als wohlfeile Abschreckung dienen mochte, dann hatte die ewige Baustelle auf der A7 ihren Weg zusätzlich verkompliziert, bis sie endlich auf der A23 in Richtung Husum in einen zumindest zähfließenden Verkehr geraten waren.

«Jedes Mal nervt das», sagte Sörensen mürrisch. «Nie ändert sich was.»

Er bildete sich ein, dass der Motor seines roten Gefährts Geräusche machte, die da nicht hingehörten und die etwas mit Protest, Altersstarrsinn und schlechter Laune zu tun hatten. Damit passten sie hervorragend zu ihrem Fahrer, während der Beifahrer so schief und krumm auf seinem Platz hing, dass Sörensen für einen Moment den Einsatz von Lottas Sitzerhöhung in Betracht zog. So war das mit dem Kreislauf des Lebens, dachte er. Wenn es blöd lief, war am Ende alles wieder wie am Anfang: Windeln, Zahnlosigkeit, Bevormundung, Sitzerhöhung.

Alfred Sörensen hatte sich mahnende Worte des Stationsarztes gefallen lassen müssen, in einem Tonfall, der eines erwachsenen Empfängers unwürdig war, sich mit zusammengebissenen Lippen und ohne den Hauch seines sonstigen Humors abgewandt, eine Schirmmütze mit Bayern-München-Logo über das kahle Haupt gezogen und war in ein grünes Sommerjäckchen geschlüpft, das er schon ewig besaß und das nun plötzlich mindestens zwei Nummern zu groß war. Dann war er abfahrbereit gewesen, ungeduldig, die Füße über der Bettkante baumelnd wie ein, tja, Kleinkind, der Arzt hatte sich kopfschüttelnd verabschiedet, und es hatte sage und schreibe noch eine weitere Dreiviertelstunde gedauert, bis er das Entlassungspapier unterschreiben konnte, bis sie endlich losdurften.

Alfred Sörensen hatte sehr, sehr lange für die paar Meter bis zum Parkplatz und das Einsteigen gebraucht, war augenblicklich erschöpft gewesen von den Temperaturen und seinem Körper, der nicht mal mehr im Geringsten so wollte wie er. Sein Sohn hingegen hatte stoisch mitgeholfen, auch wenn er jetzt gerne in Timbuktu, Walhalla oder Lummerland gewesen wäre, aber das Leben ging nun einmal eigene Wege, die weder erwünscht, zu erahnen noch zu verstehen waren. Schon gar nicht von ihm.

«Magst du Musik?», fragte er.

«Ja.»

Sörensen fummelte am Drehknopf des Autoradios herum.

«Ich habe nicht gesagt, dass ich welche hören will», sagte sein Vater. «Ich habe nur gesagt, dass ich Musik mag.»

«Ach so.»

«Ja.»

Ende des Gesprächs. Sörensen drehte den Knopf wieder nach links, das gerade erst einsetzende Hintergrundrauschen verstummte. Er seufzte. Das Wetter überwarf sich mit ihnen und stellte spontan von Hitze auf Sommerregen um, er betätigte die Wischer, die quietschend protestierten. Sein Vater blickte aus dem Fenster und verfolgte die dahingleitenden Tropfen auf der Seitenscheibe, Sörensen selbst konzentrierte sich auf die Straße. Direkt vor ihnen fuhr ein weißer Lastwagen, der ihren Nachnamen als Schriftzug auf der Verladeklappe trug.

«Sind wir da eigentlich verwandt?», fragte er.

«Jeder ist mit jedem verwandt», knurrte sein Vater. «Letztlich. Auch wenn man das nicht wahrhaben will. Sieht aus wie ein rollender Grabstein, der da … Ha, like a rolling stone.»

«Papa, du stirbst nicht.»

«Die ist auf Dauer nicht zu halten, die These.»

Sörensen seufzte, blinkte und setzte zum Überholen an. Auf Wiedersehen, LKW. Auf Wiedersehen, Verwandtschaft. Was waren das denn bloß für Geräusche aus dem Motorraum?

«Ich muss eigentlich nachher erst mal ins Revier», sagte er, da waren sie schon hinter Elmshorn. «Soll ich dich vorher zu Hause absetzen? Schön mit Sofa und Eistee und so?»

«Bloß nicht», knurrte Alfred Sörensen. «Ich will jetzt nicht allein sein.»

«Aber irgendwann musst du», sagte sein Sohn. «Du kannst dich doch kaum auf den Beinen halten. Und ich muss arbeiten.»

«Von Stuhl zu Stuhl schaffe ich. Alles andere … na ja, ist vielleicht besser, jetzt keine schlechte Laune zu haben. Gibt da ja so eine Wechselwirkung, ne? Zwischen Seele und Gesundheit, meine ich. Geht einem nicht besser, wenn man schlechte Laune hat.»

«Nee», sagte Sörensen, der es nun wirklich beurteilen konnte, und überprüfte seine eigene schlechte Laune. «Im Gegenteil.»

«Okay», sagte der Ältere, gab sich einen Ruck und setzte sich aufrecht hin. «Ich kann da umschalten. Und ich muss dich ja auch motivieren, dich um mich zu kümmern. Also: Frag mich was.»

«Wie bitte?»

«Wir haben Zeit. Du kannst mich alles fragen. Alles, was du immer schon wissen wolltest. Von mir. Über dich. Oder uns. Frag einfach, ich werde antworten. Eine einmalige Chance ist das. Für dich.»

Sörensen hatte plötzlich das Gefühl, jemand hätte ihm oral einen Korken eingesetzt. Er nickte, damit schindete er Zeit, dann machte er das Autoradio an, einfach so, ganz automatisch, ein weltbekannt dünnes Stimmchen sang vom Material Girl und dass sie alle in einer materiellen Welt lebten. Alfred Sörensen betrachtete die Konsole, als säße darauf eine zum Sprung bereite Spinne.

«Ganz schön übel», sagte er. «Ich biete dir Antworten, und du schaltest das Radio ein.»

«Stimmt», sagte Sörensen und schaltete es wieder aus. «Unsicherheit. Unerfahrenheit. Unvermögen.»

«Unverschämtheit.» Sein Vater faltete die Hände wie ein Gourmet kurz vor dem Hauptgericht. «Also, freiheraus, als hätten wir jemals ein Gespräch geführt: Was willst du wissen?»

*

Sörensen war blockiert. Sie hatten alles Städtische hinter sich gelassen, fegten auf der Autobahn dahin – na ja, Fegen im Sinne einer borstenlosen Handbürste –, der Regen hatte sich erschöpft, Aufklarung zugelassen, und Sörensen fiel einfach nichts ein, was er seinen Vater fragen konnte. Es erschien ihm entweder zu banal oder zu tief, es war so, als hätte man keinen Bootsführerschein, wäre das Rudern gewohnt und würde plötzlich ans Steuer eines untergehenden Flugzeugträgers gesetzt, um ihn sicher in den nächsten Hafen zu führen. So funktionierte das einfach nicht. Höchstens in Hollywood-Filmen mit entsprechendem Budget. Das hier war alles andere als Hollywood. Also sagte er nichts, sondern nickte vor sich hin. Immer wieder. Wie zur Bekräftigung des Ungesagten. Ein nonverbales Füllsel. Ein kommunikatives Luftloch.

Alfred Sörensen hatte ihn zunächst erwartungsvoll angeschaut, offen, freundlich, dann nach und nach auch noch die letzte Körperspannung verloren, mit dem Mund gemahlen, den Fingerspitzen auf den Knien getrommelt, schließlich «na ja» gesagt und es gut sein lassen. Vater und Sohn gaben sich der Leere hin, es war wie früher, nur war das Schweigen damals durch hohle Worte übertüncht worden.

Sörensens Gedanken sprangen ziellos hin und her, dann dachte er an seine Tochter Lotta und ihren Besuch an Ostern. Es war gut gelaufen, trotz aller Nervosität, aller Unsicherheit. Alfred Sörensen hatte seine Enkelin ununterbrochen zum Lachen gebracht, bis sogar sein Sohn eingestimmt und mitgealbert hatte, sie hatten ein wunderbares, warmherziges, freudvolles Osterfest verbracht, Sörensen, sein Vater, seine Tochter, Cord und, ja, Nele, Lottas Mutter, die nach und nach von der Aufpasserin zur Komplizin geworden war. Sörensen war nicht umhingekommen, das Schöne an ihr zu bewundern, das, worin er sich einst verliebt hatte und was immer noch da war. Es hatte Momente gegeben, da wünschte er sich, sie würden einfach dableiben, Nele und Lotta, ihre Hamburger Wohnung kündigen, die Schule wechseln, den Beruf, ihr Leben verändern, so wie er es getan hatte, nach Katenbüll ziehen und mit ihm zusammen eine wundersame Wiedervereinigung erleben.

Dann, auf einen Schlag, so, als wäre es nicht immer schon klar gewesen, waren sie wieder abgereist, erst Mutter und Tochter, dann Alfred Sörensen, und die anschließende Stille hatte schwerer gewogen als jede Stille zuvor, da mochte Cord hecheln, schnüffeln und winseln, so viel er wollte, er konnte nicht ausgleichen, was Sörensen mit einem Mal vermisste. Er hatte sich zum ersten Mal allein gefühlt, allein in Nordfriesland, der Deich gegenüber versprach keinen Schutz mehr, sondern engte ihn nur noch ein, schnürte ihm das Herz zu. Ihm waren seine Grenzen aufgezeigt worden. In jeder Hinsicht. Und es hielt bis heute an. Er wünschte sich ein Lachen von Lotta, ein Lächeln von Nele. Jeden Tag. Jede Stunde. Jetzt.

Die A23 endete kurz hinter Heide, sie kamen auf die Landstraße, hier galt Tempo einhundert, sie überholten mehrere landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge, schon näherte sich linker Hand Tönning, da fuhren die meisten PKW ab, denn da ging es zum Strand, zum Meer, zur Weite. Sie hingegen rasten weiter geradeaus, Windräder bestimmten den Horizont. Noch dreiundzwanzig Kilometer bis Husum, dann noch etwas über eine halbe Stunde bis Katenbüll.

Sörensen wischte die Gedanken an Lotta und Nele beiseite. Fragen. Er sollte Fragen stellen. Okay. Was war es eigentlich, was ihn schon sein Leben lang interessierte?

Wo warst du die ganze Zeit?

Ja, genau, das wäre eine interessante Frage gewesen.

Warum hat Mama alles allein machen müssen? Obwohl sie das kaum konnte?

Warum hat sich niemand um ihre Depression gekümmert?

Warum waren wir nie zusammen im Kino? Oder auf dem Spielplatz? Im Urlaub? Beim Arzt?

Seit wann bist du Fan von Bayern München?

Hattest du wirklich andere Frauen? Damals schon?

Ist dir eigentlich klar, dass du ein Grund für meine Angststörung bist?

Mochtest du mich als Kind überhaupt?

Wusstest du, dass auch Vegetarier Schmetterlinge im Bauch haben können?

Das alles hätte er fragen können, es wäre die Spitze des Eisbergs gewesen, eines sehr hohen, breiten und schwer zu bezwingenden Eisbergs, aber er bekam nichts dergleichen heraus. Es fühlte sich falsch an. Wehleidig. Kindisch. Er war fast ein halbes Jahrhundert alt, Herrgott. Da hatte man sich keine unnützen Fragen mehr zu stellen, in der Vergangenheit herumzustochern, nein, seinen Frieden hatte man da gemacht zu haben. Nach vorne zu schauen, solange es noch ein Vorne gab.

Die ganzen Jahre hatte er sich das klärende Gespräch gewünscht, jetzt bekam er es nicht zustande. Vielleicht auch, weil er keine Lust auf Ausreden, Beschwichtigungen und das Infragestellen seiner Erinnerungen hatte. Was, wenn sein Vater behauptete, sie seien falsch? Sein ganzes Leben war darauf aufgebaut.

Sörensen dachte an die Vergangenheit, die Gegenwart und endete in der unmittelbaren Zukunft. Was würde er mit ihm anstellen? Seinem Vater? In Katenbüll? Da ging ja nicht viel. Fernsehen, Essen, Schlafen. Zwischendurch mal mit dem Hund auf den Deich. Mobil bleiben. Sich die gute Luft um die Nase wehen lassen. Mehr war nicht. Aber er musste arbeiten. Er hatte keinen Urlaub und konnte auch keinen nehmen. So spontan. Und heute Abend war das Fest. Zwei Jahre Einkaufszentrum. Würde er überhaupt hingehen? Was, wenn es ihm zu viel wurde, angeschlagen, wie er war? Wenn es ihn erwischte? Die Krankheit wieder auslöste? Panik gar? Er war sich sowieso nicht mehr ganz sicher, ob seine Angststörung nicht eigentlich eine Panikstörung war. Oder zumindest geworden war. Es vermischte sich, verwischte, kam und ging, verschwand lautlos und tauchte plötzlich mit Getöse wieder auf. Alles war im Wandel, erneuerte und veränderte sich, blieb aber doch stets neben dem sicheren Mittelstreifen. Eine Störung war kein Defekt, daran sollte er denken, viele Störungen aber …

All diese Dinge bewegten sich in rasender Geschwindigkeit durch sein Gehirn, zumeist nur angerissen und schon wieder von anderen Fetzen abgelöst. Nein, dachte er, warum nicht einfach zu Hause sitzen, auf seiner abgewetzten, farblosen Couch, dem Hund Leckerli geben, den anschließenden Mundgeruch aushalten, mit seinem Vater Netflix starten, feststellen, dass er schon alles gesehen hatte, trotzdem noch irgendwas finden und sich mit leicht heruntergelassenen Augendeckeln berieseln lassen? Warum nicht der Eigenbrötler sein, der er ja nun mal war? Genau, dachte Sörensen. Lass die anderen mal schön feiern. Auf dem Fest. Er brauchte das nicht. Er war aus der Nummer raus. Er war, was er war. Sörensen eben. Im Guten wie im Schlechten.

«Meinst du, ich soll heute Abend da hingehen?», fragte er.

Alfred Sörensen drehte den Kopf und sah ihm in die Augen. «Dahingehen im Sinne von Sterben oder da hingehen?»

«Da hingehen, Papa. Zu dem Fest.»

«Das ist die Frage, die du mir stellst? Nach zwei Stunden Bedenkzeit?»

«Ich bin nicht gut im Bedenken.»

«Du bist zu gut im Bedenken. Das war immer schon dein Problem. Wenn die anderen längst die Lösung hatten, warst du noch auf der Suche nach den Einzelheiten des Problems. Deswegen hat das auch nie aufgehört. Du suchst immer das Problem und nicht die Lösung.»

«Alles klar. Ich bin schuld. Und da wunderst du dich, dass ich dich nichts frage.»

«Du bist an gar nichts schuld, Sohn.» Alfred Sörensen betrachtete seine Handflächen. «Na ja, das stimmt natürlich auch nicht. Manchmal glaube ich, du richtest dich in deiner Angststörung ein wie in deinem Wohnzimmer. Mach mal die Tür auf, komm mal raus an die frische Luft. Könnte kalt sein, könnte aber auch die Sonne scheinen. Das Risiko muss man eingehen. Du legst dich immer wieder auf dieses, äh, Nagelbrett, nur weil du’s kennst und weil du Angst hast, die Daunen woanders könnten ebenso spitz sein.»

«Was? Spitze Daunen?»

«Du hast mich schon verstanden.»

Sörensen ließ Husum links liegen. Sie bogen ab in Richtung Mildharder Koog, dann ging es endlos geradeaus, die Kurven waren Bögen, so sanft, dass sie kaum als solche wahrgenommen wurden; je näher sie Katenbüll kamen, desto karger wurde es. Als würde die Natur ein Zeichen setzen, dass es hier aber nun auch wirklich nicht mehr weiterging. Dass es keinen Sinn hatte, weiterzufahren. Dass man genauso gut stehen bleiben konnte. Oder umdrehen. Man freute sich über jede Kuh am Wegesrand, über jede vom Meer verwehte Möwe, jedes stoisch vor sich hin grasende Schaf. Menschen waren Mangelware, ihnen begegnete nicht ein einziger Fußgänger. Na ja, auf welchem Bürgersteig auch? Die Landstraße wurde am Rande des Grabens von hohem, sanft wehendem Gras begrenzt, für das sich augenscheinlich niemand zuständig fühlte und das weit in die Straße hineinragte, bis der Fahrtwind es in Richtung der Felder zurückbog. Wie immer wunderte sich Sörensen über die ein oder andere Bushaltestelle, die mitten in die Landschaft gesetzt war, ohne dass auch nur ein einziges Haus oder gar eine Siedlung in Sichtweite gewesen wäre. Was musste das für ein Schock für den Busfahrer sein, wenn da tatsächlich einmal jemand stand? Wo sollte der herkommen? Und vor allem: hinwollen? Schließlich, als Sörensens Kiefer bereits vor Druck und mieser, ungesunder Laune schmerzte, passierten sie das mit Graffiti verschönerte Ortsschild: Katenbüll. Sörensen empfand keinerlei Heimatgefühle. Eher Fatalismus. Das war sein Leben, hier hatte es ihn hingetrieben.

Doch als plötzlich die Sonne durchbrach, als das Licht sich mit den Farben veränderte, verwandelte sie die nordfriesische Einöde mit einem Zwinkern in den schillerndsten Ort der Welt, ganz schnell ging das, der schillerndste Ort der Welt mit saftigen Wiesen, würziger Luft, wärmender Gelassenheit, und als sie die Kirche auf ihrem Hügel passierten, pflegte Pastor Freudig den leuchtenden Friedhof drum herum mit ansteckender guter Laune. Seine Elvis-Tolle glänzte im Licht der Sonne, er winkte Sörensen überschwänglich zu, dieser winkte zurück. Fast ein bisschen, ja, fröhlich. Freudigs Töchter Juli und Pauline spielten Fangen um die Grabsteine, es war vielleicht nicht ganz korrekt im Sinne der Pietät, aber das Beste, was man mit diesen Insignien ewiger Ruhe tun konnte. Fang mich, Tod, du kriegst mich nicht. Die beiden Mädchen blieben stehen und winkten ebenfalls. Geradezu euphorisch. Sörensens roter Passat war stadtbekannt. Genau, dachte er und erwiderte die Geste, so einsam war er doch gar nicht. Auch mal das Positive sehen. Er wohnte in der Natur, er kannte einen Pastor, der aussah wie der junge Elvis weit vor dem Niedergang. Und dessen Familie, die kannte er auch. Immerhin. Er seufzte und spürte den amüsierten Blick seines Vaters. Es galt, diese Fahrt zu einem Ende zu bringen.

«War ich jetzt eigentlich so ein schlechter Sohn oder du so ein schlechter Vater?», fragte er und setzte den Blinker in Richtung Marktplatz.

Alfred Sörensen überlegte kurz, dann zuckte er mit den Schultern. «Woher soll ich das wissen? Ich war ja nie da.»

*

Das kleine Großraumbüro des Katenbüller Reviers sah aufgeräumt aus, immer ein Zeichen für zu wenig Beschäftigung bei zu viel Dienstzeit. Der Praktikantenschreibtisch war verwaist, zumindest vorübergehend, die Fahndungsplakate an den Wänden begannen, sich zu wellen, die grellrote Kaffeemaschine gab dem ansonsten eher stilbefreiten Raum Farbe. Cord, der überaus gelungene Mischling aus Schäferhund und Golden Retriever, hatte sich zu einem kleinen Winseln hinreißen lassen, zunächst sein selbst gewähltes Herrchen begrüßt, dann dessen Erzeuger, nun stand er erwartungsvoll im Raum und wedelte mit dem Schwanz. Die beiden Polizeiobermeister Dhonau und Faltermeyer taten nichts dergleichen, sie waren nicht einmal anwesend, wahrscheinlich drehten sie im brandneuen Katenbüller Kreisverkehr unweit des Einkaufszentrums sinnlos ihre Runden und überprüften das Dienstfahrzeug auf seine ordnungsgemäße Kurvenlage.

Kriminaloberkommissarin Holstenbeck saß hinter ihrem Schreibtisch, konzentriert vorgebeugt, und befand sich im Gespräch mit einer Frau, die ihr gegenübersaß und Sörensen den Rücken zudrehte. Jennifer blickte auf, sah Sörensens Vater und hatte ihr Erschrecken recht gut im Griff, das musste man ihr lassen, es war höchstens ein Augenlid, das zuckte, es hätte genauso gut ein äußeres Zeichen von Müdigkeit oder Erschöpfung sein können. Aber dennoch sah Sörensen an ihrer minimalen Entgleisung, wie schlimm es um seinen alten Herrn stand. Sie erhob sich, hielt sich mit der linken Hand an der Tischkante fest und streckte Alfred Sörensen die Hand entgegen.

«Mensch», sagte sie und grinste in einer Mischung aus tiefem Bedauern, verständnisvoller Melancholie und dem hilflosen Versuch von Abmilderung.

«Ja», erwiderte der alte Sörensen seufzend und schlug ein. Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Sie setzten sich seitlich zu Jennifers Schreibtisch, während Cord bemerkte, dass er weder gebraucht, gefordert noch umsorgt wurde, mit den nicht vorhandenen Schultern zuckte und sich wieder hinlegte, dieses Mal zu Alfred Sörensens Füßen. Ein feines Gespür hatte er, der Hund. Immer schon gehabt. Sörensen betrachtete ihren Gast. Es war eine üppige Frau in seinem Alter, mit dichtem, schwarzem Haar, das weit über die Schultern hinaus die Rückenlehne bedeckte. Sie hatte ein rundes Gesicht mit auffällig großen, dunklen Augen unter langen, eventuell nicht ganz echten Wimpern.

«Das ist Frau Gündüz», sagte Jennifer und warf Sörensen einen Blick zu, den dieser nicht recht deuten konnte. «Und das ist Kriminalhauptkommissar Sörensen. Ja, und sein Vater.»

«Noch», sagte Alfred Sörensen und lächelte schwach.

Jennifer lächelte nicht. «Frau Gündüz war gerade dabei, uns etwas mitzuteilen.»

Frau Gündüz sah die beiden Sörensens an, ein wenig irritiert, der jüngere nickte einladend und überlegte, ob er etwas Ermutigendes beisteuern sollte. Sofort erwachte in ihm der Impuls, lauter, deutlicher und langsamer zu reden, da Frau Gündüz doch bestimmt nicht von hier war, aus einem anderen Kulturkreis stammte. Gibt’s doch nicht, dachte er, das war aber auch ein Kreuz mit den Vorurteilen. Der Sozialisation. Den Stereotypen. Wehren musste man sich dagegen, Weltläufigkeit beweisen, Toleranz, Offenheit und Modernität. Sie waren in den Zwanzigern des einundzwanzigsten Jahrhunderts, Herrgott.

«WaskönnwerdennfürSietun?», nuschelte er also. Genau, dachte er, als guter Europäer zeigte er seine antirassistische Haltung, indem er sich keinerlei Mühe gab. Indem er ganz bewusst weder laut, langsam noch deutlich sprach.

Frau Gündüz betrachtete ihn, als wüchsen ihm keimende Kartoffeln aus den Ohren. «Wie bitte?», fragte sie, astreines Hochdeutsch war das, Hochdeutsch mit einem Hauch von Holstein.

«Entschuldigung», sagte Sörensen und befingerte seine Schneidezähne. «Ich hatte was im Mund. Reste. Wollen Sie gar nicht wissen, wovon. Also, äh, was wir für Sie tun können, das wäre die Frage gewesen. Ist sie noch.»

«Ja, das hab ich der Frau Holstenbeck doch schon erzählt», erwiderte Frau Gündüz und betrachtete Jennifer unsicher.

«Dann gerne noch einmal von vorne», sagte Jennifer, aber sie sagte es in einem Tonfall, der verriet, dass Frau Gündüz’ Geschichte bislang auf eher unfruchtbaren Boden gefallen war.

«Also, äh, mir gehört die Änderungsschneiderei am Geestgraben, die kennen Sie ja vielleicht», begann Frau Gündüz vorsichtig, «die mit der Reinigung.»

Sörensen hatte keine Ahnung, wovon sie sprach, kannte weder Straße noch Schneiderei. «Natürlich», sagte er dennoch. Nicht demotivieren, bevor es zum Wesentlichen kam. «Ist doch toll, wenn man quasi ein Monopol hat, ne? Dann wird man nämlich gekannt.»

«Wieso Monopol? Es gibt noch zwei andere Änderungsschneidereien in Katenbüll», sagte Frau Gündüz und zog die Augenbrauen hoch. «Auf die Einwohner gerechnet sind das viel zu viele.»

Sörensen ließ sich nicht beirren. «Wichtig ist nur ihre. Die kennt man. Im Geestgraben.»

Frau Gündüz lächelte jetzt doch geschmeichelt und entspannte sich und ihre Gliedmaßen. Sie beugte sich vor und sprach fortan nur noch zu Sörensen. «Heute Abend ist doch das Fest im Einkaufszentrum.»

«Genau.» Sörensen wollte gar nicht daran denken.

«Ich geh da nicht hin.»

«Ich auch nicht.»

«Können Sie es vielleicht ausfallen lassen?»

«Was?»

Sörensen sah erst seinen Vater an, dann Frau Gündüz, bemerkte, dass er Jennifer vergessen hatte, und schenkte auch ihr einen bedeutungsschwangeren Blick. Schade, dass sie sich gerade Notizen machte und nicht hinsah. Alfred Sörensen schlug das linke Bein über das rechte, es sollte interessiert aussehen, betonte aber vor allem seine erbarmungswürdige Knochigkeit.

«Wieso ausfallen lassen?», fragte Sörensen.

Frau Gündüz hob beschwörend beide Hände. «Ich weiß, das klingt verrückt. Aber ich hatte heute Kundschaft.»

«Verrückt.»

«Ja, ein junger Mann war da und hat Hemden abgeholt.»

«Ein Stammkunde?»

Frau Gündüz schüttelte den Kopf. «Nein, und ich weiß auch den Namen nicht, ich vergebe immer nur Nummern. Die 145 hatte der.»

«Na, die steht wohl nicht im Telefonbuch.»

«Nee, die finden Sie da nicht. Jedenfalls ist der reingekommen und hat geredet. Aber nicht mit mir, sondern mit dem Telefon. Also, nicht mit dem Telefon, sondern mit dem, der da am anderen Ende der Leitung …»

«Ich glaub, ich hab verstanden, wie der telefoniert hat», sagte Sörensen. Es klang ein ganz klein wenig schroff. Jennifer seufzte.

«Ja, und dann hat der gelacht und seinen Schein rübergereicht, und als ich die Hemden an der Stange gesucht hab, da hat der gesagt, dass man eigentlich heute Abend mal ein Zeichen setzen müsse.»

«Was denn für ein Zeichen?», fragte Sörensen.

«Das weiß ich nicht», sagte Frau Gündüz. «Aber er hat einfach weitergeredet, wahrscheinlich hat er gedacht, ich verstehe ihn nicht, weil meine Großeltern aus der Türkei stammen und der Name Gündüz an der Tür steht. Gibt ja so Menschen, ne, die denken dann gleich, sie müssen laut, langsam und deutlich reden, wenn man nicht so aussieht wie sie.»

«Schlimm ist das», sagte Sörensen.

«Als ob man automatisch taub und begriffsstutzig ist, wenn man aus einem anderen Land kommt», fuhr Frau Gündüz fort. «Ich komme ja aus Flensburg.»

«Alltagsrassismus», sagte Sörensen. «Ganz übel. Haben so viele in sich. Dabei tragen Sie noch nicht mal ein Kopftuch.»

«Wie bitte?»

«Nix.»

«Ich soll ein Kopftuch tragen, weil meine Großeltern aus der Türkei kommen?»

«Aber nein», sagte Sörensen und wurde rot. «Das hab ich doch gar nicht gesagt. Warum auch? Es ist ja gar nicht windig.»

Frau Gündüz sah hilfesuchend zu Jennifer, während Alfred Sörensen noch kleiner zu werden drohte. «Ich trage nie ein Kopftuch», sagte sie.

«Nicht mal im Winter?», fragte Sörensen. «Ich trage da immer eine Mütze. Auf dem Kopf trage ich die und …»

Er verstummte.

«Was hat der Mann denn nun gesagt?», fragte Jennifer streng. «In sein Telefon?»

«Na ja, Mann. Der war gerade mal volljährig. Höchstens. Von einer bestimmt fehlenden Absperrung hat er geredet. Weil hier ja keiner was auf die Kette kriegen würde. Und dass das Gelände dann total offen sei. Und dass man da ganz viele erwischen würde. Von den Arschlöchern. Auf einen Streich. Und dann hat der noch mal gelacht.»

«Hm», sagte Sörensen. Es galt, die Hoheit über dieses Gespräch zurückzuerlangen. Polizeiliche Souveränität zu beweisen. Einfühlungsvermögen. «Was glauben Sie denn? War das ein Scherz? Oder die Andeutung eines Anschlags?»

Frau Gündüz schüttelte den Kopf. «Weiß ich nicht. Jedenfalls hat er dann was gesagt von wegen, na ja, wäre ja alles Quatsch und der andere wisse das ja. Und dass sie sich ordentlich besaufen würden, und dann wäre gut. Und dass er was zum Einschmeißen mitbringen würde.»

Sörensen bekam misanthropische Anwandlungen. Was zum Einschmeißen … Warum musste der Mensch immer so extrem sein? Warum konnten die Leute sich nicht einfach treffen, langweiliges Bier zu langweiligen Gesprächen bei langweiliger Musik trinken und danach gelangweilt in ihr langweiliges Leben zurückkehren? Nur, weil das so langweilig war?

«Es ist gut, dass Sie hergekommen sind», sagte er. «Aber es klingt schon so ’n bisschen nach pubertärem Geprotze, ne? Weniger nach ’nem konkreten Plan oder so.»

Jennifer nickte zustimmend, sagte aber nichts.

«Ich weiß», sagte Frau Gündüz. «Ich wäre auch gar nicht gekommen, wenn es nicht noch einen Hinweis gäbe.»

«Worauf?»

«Auf ein Unglück.»

Sörensen setzte sich gerade hin. «Das heißt?»

«Nun ja», sagte Frau Gündüz und machte das Gesicht einer Hohepriesterin kurz vor der Gruppensegnung, «ich hab manchmal nicht so viel Kundschaft, wie gesagt, es gibt noch zwei weitere Änderungsschneidereien, und die liegen eigentlich viel günstiger als meine. Jedenfalls war ich unruhig, als der junge Mann gegangen ist, und da hab ich mir die Karten gelegt.»

«Karten gelegt …», wiederholte Sörensen und schaltete innerlich ab.

«Tarot?», fragte sein Vater und wirkte im Gegensatz zu seinem Sohn plötzlich hellwach.

«Ja», sagte Frau Gündüz erfreut.

«Dreikartenmethode?»

«Genau.»

«Papa», sagte Sörensen entsetzt. «Kannst du dich mal stummschalten, bitte?»

«Hab ich doch die ganze Zeit gemacht.»

«Ja, zurecht. Das sieht vielleicht nicht so aus, aber das ist ja Polizeiarbeit, ist das hier. Kein Kaffeekränzchen für Esoteriker.»

«Was kam denn dabei heraus?», fragte Alfred Sörensen und ignorierte die Wünsche seines Sohnes, ganz so wie früher. «Bei den Karten?»

«Die dritte Karte ist die Zukunft», sagte Frau Gündüz. «Das wissen Sie ja vielleicht.»

«Absolut.»

«Und wissen Sie, welche ich da gezogen habe?»

«Den Tod?»

«Den Tod.»

«Große Arkana», murmelte Alfred Sörensen. «Das ist ein starkes Zeichen.»

«Ja, nicht wahr?», sagte Frau Gündüz und klang fast ein wenig begeistert. «Sagen Sie das Fest jetzt ab, Herr Kommissar?»

«Das können wir nicht so ohne Weiteres», sagte Sörensen. «Und das Ordnungsamt reagiert leider verhalten auf große Araber.»

«Arkana.» Frau Gündüz stand auf. Sie war größer als Sörensen. «Arkana! Keine Araber ohne Kopftuch im Sommer oder Winter. War ja klar, dass das niemand ernst nimmt. Aber sagen Sie hinterher nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.»

«Frau Gündüz …»

«Es ist bedauerlich, dass der einzige vernünftige Mensch hier drin kein Polizist ist.»

Alfred Sörensen lüftete als Geste der Dankbarkeit seine Kappe, darunter sah es trostlos aus.

«Frau Gündüz», sagte nun auch Jennifer und versuchte, sachlich zu bleiben. «Wie sah der junge Mann aus, der die Hemden bei Ihnen abgeholt hat?»

«Sehen doch alle gleich aus, diese Leute», sagte Frau Gündüz mit bösem Blick auf Sörensen. «So denken Sie bestimmt, oder? Na ja, schmales, langes Gesicht hatte der, mit Augenringen, wahrscheinlich kurze Haare, konnte man nicht so genau erkennen, der hatte so eine Mütze auf, die hinten runterhing, grün war die, wie ein grüner Schlumpf sah der aus, und das mitten im Sommer, muss man sich mal vorstellen.» Sie wandte sich Alfred Sörensen zu. «Ist nicht persönlich gemeint, das mit der Mütze, ne?»

«Ich hab Krebs», sagte Sörensens Vater trocken.

«Gute Besserung.»

«Danke.»

«Blass war er», fuhr Frau Gündüz fort. «Mindestens so blass wie Ihr Vater. Und dünn.»

«Wirkte er irgendwie aggressiv auf Sie?», fragte Jennifer. «Oder sonst wie komisch? Angespannt? Vielleicht unter Drogen?»

«Nein. Der war sogar sehr höflich. Hat Trinkgeld gegeben. Einen Euro fünfzig nur, aber immerhin.»

«Okay.» Sörensen seufzte und erhob sich ebenfalls. «Danke, dass Sie da waren, Frau Gündüz. Der Veranstalter muss da ein Konzept einreichen, also auch für die Sicherheit. Das Ordnungsamt entscheidet dann. Ich spreche mal mit denen oder dem Gewerbeamt oder dem Umweltamt, keine Ahnung, wer da am Ende zuständig ist, vielleicht kann man da ja noch ein paar zusätzliche Poller aufstellen. Als Schutz. Kann ja sowieso nicht schaden.»

«Als wenn da um diese Uhrzeit noch jemand wäre. An einem Freitag.» Die Reinigungsbesitzerin schnaubte und gab Alfred Sörensen die Hand. «Das Leben ist die Schule, der Schmerz ist der Lehrer», sagte sie. «Türkisches Sprichwort. Alles Gute für Sie.» Sie wandte sich um und verließ das Revier, das rhythmische Klackern ihrer Schuhe war als Kommentar zu verstehen. Die Eingangstür war so gefedert, dass sie nicht zuschlagen konnte, aber sie tat es im Geiste.

Die drei Verbliebenen ließen eine Sekunde des Schweigens zu, bevor sie explodierten. «Sag mal, was redest du denn da von Kopftüchern und Arabern?», schimpfte Jennifer und zeigte ihrem Chef tatsächlich den Vogel.

«Tarotkarten?», sagte Sörensen zu seinem Vater. «Dein Ernst? Sag bloß, du glaubst an diesen Quatsch?»

«Und dann auch noch in kurzen Hosen! Im Dienst!», legte Jennifer nach.

«Nein, tue ich nicht», sagte Alfred Sörensen. «Darum geht es ja auch gar nicht.»

«Worum geht es denn?», fragte sein Sohn.

«Darum, der Frau ein gutes Gefühl zu geben. Die macht sich auf den Weg hierher, überwindet sich sozusagen, und die war doch nun wirklich nicht geltungssüchtig. Und dann kommt ihr und tut so, als wäre die total bescheuert.»

Jennifer schnaubte. «Nicht, dass die uns nachher anzeigt, die Frau Gündüz», rief sie. «Wegen Rassismus. Na, den Skandal können wir gerade noch gebrauchen! Wir haben ja sowieso schon einen Ruf wie ein lecker Öltanker bei Windstärke zwölf. Tarotkarten! Da kannst du ja auch an Globuli glauben.»

«Eben», sagte Alfred Sörensen und wandte sich ihr zu. «Das ist ja alles nicht so einfach. Die Karten sind vielleicht Blödsinn, aber das Entscheidende ist, was das Gehirn daraus macht. Das ist wie bei den Globuli. Da ist nix drin, was irgendwas nützen könnte, aber wenn das Gehirn fest daran glaubt, wirst du trotzdem schneller gesund. Manchmal. Und dann denken die Leute eben, das waren die Globuli, und glauben weiter daran.»

«Was? Was redest du denn da?», fragte sein Sohn und hob beide Arme.

«Es geht darum, dass die Frau beunruhigt ist. Die hat Angst, dass was passiert. Und dann legt sie sich irgendwelche Karten, und die bestätigen ihr die Angst. Da muss man doch freundlich sein. Mitfühlend. Die Angst untersuchen und nicht die Karten.»

«Das sagst ausgerechnet du.» Sörensen kam mit den Ebenen des Gesprächs durcheinander. «Seit wann interessierst du dich für die Angst anderer Leute?»

«Seitdem ich selbst welche habe», sagte Alfred Sörensen leise und stand nun ebenfalls auf, reichlich wacklig, schwach in den Knien. Es veränderte die Stimmung in Sekundenbruchteilen.

«Wollen Sie ein Glas Wasser?», fragte Jennifer besorgt. «Oder erst mal ’n Kaffee?»

Sie war schon auf dem Weg zum Automaten, als Alfred Sörensen verneinte. «Vertrage ich gerade nicht so», sagte er und hielt sich an der Stuhllehne fest. «Ich vertrage gar nichts mehr. Wie geht’s eigentlich dem Baby? Wie heißt der noch mal, der junge Mann? Jonte?»

«Ach», sagte Jennifer, kam zurück und machte eine abwehrende Geste. «Schreit, macht Dreck und trampelt auf unseren Nerven herum. Dafür schläft er nicht. Genau wie seine Mutter, seine Großmutter und seine Urgroßmutter. Alles bestens also.»

Sörensen atmete tief durch und sah nun endlich auch die Erschöpfung hinter ihrem burschikosen Auftreten. Jennifer war selbst erst sechsunddreißig Jahre alt, aber vor wenigen Monaten Großmutter geworden; eine Großmutter, die sich fühlen musste wie die eigentliche Mutter, die ihre Tochter war – Lucy –, die sich wiederum wie das überforderte, spätpubertäre Kind gab, das sie per Ausweis gerade so eben nicht mehr war. Klang kompliziert, war es auch. Am Ende jedenfalls – und das hatte Jennifer von Anfang an prophezeit – blieb das meiste an ihr hängen. Die Organisation des Alltags, die Arztbesuche, die Einkäufe, die Wiegeschaukeleien, das nächtliche Herumtragen. Alles zusätzlich zum Job und dem eigenen, nicht vorhandenen Privatleben. Jennifer war eine hübsche, pragmatische Frau, sie war ausdauernd und zäh, aber sie hatte mehr Falten unter den Augen als Keith Richards an einem gewöhnlichen Montagmorgen.

«Ich rufe das Ordnungsamt an», sagte Sörensen. «In einem Punkt hatte Frau Gündogan ja recht.»

«Gündüz», sagte Jennifer genervt. «Herrje, das kann doch nicht so schwer sein. Du gibst dir überhaupt keine Mühe, Sörensen.»

«Absichtlich!», fuhr Sörensen auf. «Um kein Rassist zu sein, geb ich mir keine Mühe. Solltest du auch mal tun, ist sehr befreiend. Auf jeden Fall hat es sein Gutes, wenn man ein paar Poller aufstellt. Sollte man eigentlich immer dabeihaben. Auch privat.»

Swantjes Tagebuch. Montag.

Ich habe den scheiß Kuhstall sauber gemacht und die Hühner gefüttert, ich habe den Abwasch gemacht, den Kompost umgesetzt und ein paar Fleischreste auf den Haufen gegeben, vielleicht lockt das die Ratten an. Ich brauche das manchmal. Kleine Dinge kaputt zu machen, um große Dinge auszuhalten.

Ich habe zweimal geduscht und kriege den Gestank nicht aus den Klamotten. Vielleicht sind es auch schon längst nicht mehr die Klamotten, vielleicht ist es mein Körper. Mein Körper riecht, um mir zu zeigen, wo ich hingehöre. Ich schwitze stark. Wenn ich mich selbst rieche, wird mir schlecht. Ich brauche ein besseres Deo. Ich muss in die Stadt fahren und ein Deo kaufen.

Ich bin hier gefangen. Ich merke das immer mehr. Ich habe jetzt acht neun Sätze mit Ich angefangen, was man nicht machen soll. Aber es ist mein Tagebuch, wenn ich will, kann ich alle Sätze mit Ich anfangen. Ich, ich, ich. Alle denken, ich bin ein bisschen dumm, weil ich so still bin, aber für eine dumme Frau denke ich zu viel nach. Finde ich. Vielleicht bin ich auch doch dumm, denn ich komme nie zu einem Ergebnis. Außer dem einen, dass ich hier gefangen bin. Und dass ich nicht gut genug bin. Für gar nichts. Heute ist Montag, was heißt, ich sollte mich um einen Job kümmern, oder um eine Ausbildung. Mit dem Bus zum Rathaus fahren und mich ins Arbeitsamt setzen. Zum hundertsten Mal. Frau Henke