Soziale Strategien für morgen -  - E-Book

Soziale Strategien für morgen E-Book

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Beschreibung

Ein tiefgreifender Wandel kennzeichnet unsere Gesellschaft. Ökonomisierung und Technisierung praktisch aller Lebensbereiche verändern das Leben bis tief in den Privatbereich hinein. Dabei schreiten die Veränderungen so rasant voran, dass es kaum mehr möglich scheint, Folgen rechtzeitig abzuschätzen, die Entwicklungen zu steuern oder sie angemessen zu reflektieren. Die genannte Dynamik hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten auch die Arbeitsfelder der sozialen Begleitung und Betreuung erfasst: Krankenpflege, Altenbetreuung und die Begleitung beeinträchtigter Menschen unterliegen zunehmend behördlichen Vorgaben. Begründet werden diese Vorgaben damit, dass die "Sozialkosten" ein inakzeptables Ausmaß erreicht hätten. Sparmaßnahmen sind die Folge. Für nicht wenige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bedeutet diese Entwicklung eine immer größere körperliche und psychische Belastung und zugleich immer weniger Zeit für die jeweiligen Klienten und Klientinnen. Mit dem Buch Soziale Strategien für morgen soll die beschriebene Entwicklung reflektieret werden. Ziel des Projektes ist es, vielen Menschen in unserer Gesellschaft ein kritisches Bewusstsein im Blick auf Lebens- und Arbeitswelten zu ermöglichen. Die Beiträge dieses Buches wollen inspirierende Impulse zu wirksamer und dringend notwendiger Veränderung geben.

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Gerhard Gäbler · Roland Steidl (Hg.)SOZIALE STRATEGIEN FÜR MORGEN

Gerhard Gäbler · Roland Steidl (Hg.)

SOZIALE STRATEGIENFÜR MORGEN

Ein Plädoyer für die Menschenwürde

OTTO MÜLLER VERLAG

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1236-8eISBN 978-3-7013-6236-3

© 2016 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIENAlle Rechte vorbehaltenSatz: Media Design: Rizner.at, SalzburgDruck und Bindung: CPI Moravia Books s.r.o., CZE-691 23 PohořeliceCoverbild: Media Design: Rizner.at, Salzburg

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort der Herausgeber

1.HERAUSFORDERUNGEN

Ist mehr Armut ein Naturgesetz?

Martin Schenk

Hat das Alter Zukunft?

Daniela Palk

Migration – Flucht – Asyl – (Wie) kann Integration gelingen?

Josef Kiesenhofer

Wie soll sich Aus- und Fortbildung in der Sozialarbeit entwickeln?

Ruth Strauch-Lintschnig

Von der Zeit der Verwahrung und Versorgung hin zu einem pädagogischen Optimismus – Ein Gespräch

Margit Humer, Erwin Doppler

2.REFLEXIONEN

Wie viel Qualitätsmanagement verträgt der Mensch?

Renate Schernus

Können Sozialunternehmen das Spannungsfeld zwischen Sozialarbeit und Ökonomie so gestalten, dass daraus ein zukunftsfähiges Ganzes entsteht?

Josef Scharinger, Franz Auinger

Welche Sprache spricht die soziale Arbeit?

Thomas Erlach

Müssen Sozialunternehmen sinnstiftend sein?

Cornelia Coenen-Marx

Vom Abenteuer, Menschen zu betreuen und zu begleiten, die sich selbst nicht „forthelfen“ können

Dieter Fischer

3.ETHIK – MENSCHENWÜRDE

Inklusion, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

Ulrich H. J. Körtner

Die Würde des Menschen ist ein gefährdetes Gut

Gunter Trübswasser

Alles wirkliche Leben ist Begegnung – ganz besonders in der sozialen Betreuungsarbeit

Roland Steidl

4.GESELLSCHAFT – POLITIK

Das Soziale und die Medien – oder warum es Fakten so schwer haben

Gerald Mandlbauer

Der Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung

Werner Beutelmeyer

Soziale Institutionen und die Kultur des Sozialen

Gerhard Gäbler

Die Autoren

Vorwort der Herausgeber

Gemeinsam mit Interessierten am Thema Soziales haben wir die Idee zu diesem Buch erarbeitet. Wir meinen, dass die Zeit dafür reif ist, miteinander darüber nachzudenken, was das denn ist: das Soziale. Welche Verantwortung trägt eine reiche Gesellschaft für all diejenigen, die, nicht selten unverschuldet, in Not geraten, die verarmen, die alt sind, die mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen leben müssen, die seelische Krisen durchleiden oder auf der Flucht vor lebensbedrohlichen Ereignissen sind? Dass diese Menschen angemessene Hilfe, Begleitung und Unterstützung in tiefem Respekt vor ihrer Würde als Menschen erwarten dürfen, ohne Demütigung, darum geht es uns.

In den letzten Monaten und Jahren sind tausende Menschen aus Kriegsregionen auf der Flucht, um in Europa ein neues Leben zu beginnen. Eine beispiellose Hilfsbereitschaft empfängt die Flüchtlinge. Soziales und Menschlichkeit sind in unserer Gesellschaft tief verankert, aber zugleich wachsen auch Ängste, Abwehr und der Ruf nach einer Abschottung Europas.

Es muss uns bewusst sein, dass das Soziale in unserem Sinne eingebettet ist in eine gesamtgesellschaftliche, ja, globale Entwicklung, die uns allen tiefgreifende Veränderungen zumutet. Die zunehmende Kluft zwischen arm und reich, Ökonomisierung und Technisierung aller Lebensbereiche verändern unser Leben bis tief ins Private hinein. Diese Veränderungen schreiten so rasant voran, dass es kaum mehr möglich ist, die Folgen rechtzeitig abzuschätzen, Entwicklungen bewusst zu steuern oder auch nur ansatzweise gründlich zu reflektieren. Diese ungebremste Dynamik hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten auch die Arbeitsfelder der sozialen Begleitung, Unterstützung und Betreuung erfasst: Krankenpflege, Betreuung von Menschen im Alter sowie die Begleitung beeinträchtigter Menschen – um nur drei Felder der Sozialarbeit zu nennen – unterliegen überdies zunehmend behördlichen Vorgaben und Reglementierungen. Begründet werden diese Vorgaben damit, dass die Sozialkosten ein unannehmbares Ausmaß erreicht hätten. Einsparungsmaßnahmen sind die Folge. Für nicht wenige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den sozialen Berufen bedeutet dies eine immer größer werdende körperliche und psychische Belastung und zugleich immer weniger Zeit für die jeweiligen Klientinnen und Klienten. Freilich, ein neuer Autobahnabschnitt lässt sich sehen und messen, die achtsame Zuwendung für einen an Demenz leidenden Menschen nicht…

Wir haben der Abfolge der Beiträge in unserem Buch eine gewisse Struktur gegeben. Am Anfang stehen die Herausforderungen. Sie geben Einblicke in einige konkrete Felder sozialer Arbeit. Darauf folgen Reflexionen, die die aktuellen Herausforderungen etwas distanzierter, dafür aber in größeren Zusammenhängen zu betrachten versuchen. Ein eigener Abschnitt Ethik – Menschenwürde gilt speziell der ethischen Reflexion unter besonderer Berücksichtigung des Themas Menschenwürde. Die Beiträge im letzten Kapitel Gesellschaft – Politik zielen auf die dringende Notwendigkeit ab, den gesellschaftlichen Diskurs über Soziale Strategien für morgen zu intensivieren.

Wir möchten Dank sagen: allen voran den Autorinnen und Autoren für ihre hochqualifizierte und unentgeltliche Mitarbeit. Danke sagen wir auch den Mitgliedern der motivierenden Denkgruppe, mit der wir einige Male Inhalt und Zielvorstellungen für dieses Buch intensiv reflektiert haben.

Sodann bedanken wir uns beim Otto Müller Verlag in Salzburg, beim Verleger Arno Kleibel und seinen Mitarbeiterinnen für die ausgezeichnete Kooperation. Und ein besonderer Dank gilt der Evangelischen Bank in Kassel mit ihrem Vorstandssprecher, Thomas Katzenmayer, für die großzügige finanzielle Unterstützung, ohne die unser Buchprojekt nicht hätte verwirklicht werden können. Nicht vergessen wollen wir die Helferinnen im Hintergrund, die uns nicht nur bei der elektronischen Kommunikation wertvolle Unterstützung geleistet haben.

Wir wünschen uns, dass unser Buch einen konstruktiven und in die Zukunft gerichteten Beitrag zum Thema Soziales leistet, zugleich die öffentliche Diskussion anregt und von den Leserinnen und Lesern – v.a. auch von in der Sozialarbeit Tätigen – als Grundlage für die eigene Meinungsbildung geschätzt wird.

Gerhard Gäbler und Roland SteidlGallneukirchen, November 2015

Fotos:

Die fotografischen Beiträge, die überwiegend Einblicke in den Alltag der Begleitung von Menschen gewähren, haben Erwin Doppler und Erhard Kozlik freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Dafür einen herzlichen Dank!

1. HERAUSFORDERUNGEN

MARTIN SCHENK

Ist mehr Armut ein Naturgesetz? Spielregeln für eine solidarische Gesellschaft

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Entwicklung und den Ursachen von Armut im Kontext des österreichischen Sozialstaatsmodells. Dabei werden Stärken und Schwächen herausgearbeitet. Weiters kommen die Auswirkungen europäischer Austeritätspolitiken und die Perspektiven für ein Europa mit weniger Armut in den Blick.

1. Armut in Österreich: Keine Entspannung, aber hohe Prävention durch den Sozialstaat

Einige Armutsindikatoren sinken seit 2008 – aber nur auf das hohe Niveau von vor der Krise. Die langfristige Entwicklung seit 2004 zeigt konstant hohe Armutslagen, auch im Vergleich mit dem letzten Jahr bleibt die Höhe von Armut und Deprivation konstant. Die Gruppe von Menschen, die als einkommensarm, depriviert und erwerbsarbeitslos ausgewiesen wird, ist seit 2004 gleichbleibend hoch, bis 2008 stark angestiegen, seitdem leicht sinkend – aber weiter auf und über dem Niveau von vor 2008. 400.000 Menschen in existentiell schwierigsten Lebensbedingungen sind für ein reiches Land wie Österreich in jedem Fall zu viel. Sie sind oft von einem sehr schlechten allgemeinen Gesundheitszustand, chronischer Krankheit und starken Einschränkungen bei Alltagstätigkeiten betroffen – dreimal so stark wie der Rest der Bevölkerung. Auch die Wohnqualität ist prekär und die Wohnkostenbelastung hoch (vgl. Abbildung 1).

Abb. 1: Erscheinungsformen von Armut und Mehrfachausgrenzung (Martin Schenk nach Statistik Austria: EU SILC 2013)

Es sind nicht nur die Belastungen ungleich verteilt, sondern auch die Ressourcen diese zu bewältigen.1 In den aktuellen Auswertungen der Statistik Austria (2014) wird die Abhängigkeit des Wohlbefindens vom sozialen Status ersichtlich (vgl. Abbildung 2). Müdigkeit und Erschöpfung, Niedergeschlagenheit, Bedrücktheit und Nervosität steigen mit sinkendem Haushaltseinkommen.

Abb. 2: Psychisches Wohlbefinden nach Einkommensgruppen (Martin Schenk nach Statistik Austria: EU SILC 2013)

Steigende Ausgaben in den zentralen Positionen Wohnen, Energie und Ernährung führen zu großen Problemen, gesundheitliche Beeinträchtigungen und psychische Erkrankungen, schlechte und prekäre Jobs, Einsamkeit und Beschämung machen einer großen Zahl von Menschen zu schaffen.

Dabei werden diese Lebenslagen unterschätzt, da es sich hier um eine Statistik von Privathaushalten handelt und Notunterkünfte, Heime, Psychiatrien etc. nicht erfasst sind.

Es fällt auf, dass die Haushalteinkommen in Österreich insgesamt stabil bleiben. Die Höhe der Einkommensarmut bleibt konstant. Das ist sehr ungewöhnlich im Vergleich zu anderen europäischen Staaten. Ohne Sozialleistungen wären auch mittlere Haushalte massiv unter Druck und stark abstiegsgefährdet.

Bei der Einkommensmessung sind aber die Ausgaben nicht ersichtlich. Besonders die Bereiche Wohnen, Energie und Ernährung sind inflationsbedingt am stärksten gestiegen. Das sind genau jene Ausgaben, die bei einkommensärmeren Haushalten den größten Teil des Monatsbudgets ausmachen.

2. Stärken und Schwächen des österreichischen Sozialstaatsmodells

Was sind die Stärken und was sind die Schwächen, fragt man sich, wenn man etwas verbessern will? Im besten Fall führt dies dazu, dass die Schwächen korrigiert und die Stärken optimiert werden. Das gilt auch für den Sozialstaat. Dort, wo soziale Probleme steigen, müssen wir gegensteuern, dort, wo soziale Probleme präventiv vermieden werden, müssen wir weiter investieren. Oft passiert das Gegenteil: Die Stärken werden abgeschwächt und die Schwächen verstärkt.

Zu den Stärken:

•Sozialleistungen wirken als automatische Stabilisatoren: Während Industrieproduktionen, Exporte und Investitionen in Folge der Finanzkrise stark gesunken sind, ist einzig der Konsum der privaten Haushalte stabil geblieben, teilweise sogar gestiegen.

•Ein stabiles Sozialsystem fördert stabile Erwartungen: Der Sozialstaat bedeutet eine Risikoabsicherung bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und im Alter. Die Verlässlichkeit der sozialen Institutionen verhindert Angstsparen.

•Länder mit hohen Sozialstandards performen besser: Sämtliche wirtschaftliche Indikatoren (Beschäftigung, insbesondere Arbeitslosigkeit, Wirtschaftswachstum, Armutsgefährdung, Staatsfinanzen) zeigen, dass skandinavische und kontinentaleuropäische Länder die besten Ergebnisse vorweisen.

•Der Großteil wohlfahrtsstaatlicher Leistungen stellt eine Umverteilung im Lebenszyklus dar. Wir befinden uns im Laufe unseres Lebens auf verschiedenen Einkommensstufen. Die meisten wandern im Laufe des Lebens die Einkommensleiter hinauf und im Alter wieder eine gewisse Strecke zurück. Der kontinentaleuropäische Sozialstaat legt hohen Wert auf Versicherungsleistungen und Statuserhalt; daher profitiert die Mittelschicht stark von den sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Leistungen.

•Monetäre Transfers tragen entscheidend zum sozialen Ausgleich bei und wirken armutspräventiv. Sie reduzieren die Armutsgefährdung von 40% auf 12%. Am progressivsten wirken klassische Sozialausgaben wie Arbeitslosengeld, Notstands- und Sozialhilfe sowie Wohnbeihilfe. Staatliche Umverteilung erfolgt in Österreich fast ausschließlich über die Ausgabenseite: Ins erste Drittel der Haushalte fließen 44% aller Sozial- und Wohlfahrtsausgaben und belaufen sich dort auf 84% des Markteinkommens. Auch ohne Berücksichtigung der Haushaltsgröße fließen fast 90% der Arbeitslosenversicherungen, der Notstands- und Sozialhilfen sowie der Wohnbeihilfen ins untere Drittel bzw. der Hinterbliebenenpensionen in die unteren zwei Drittel. Deutlich weniger umverteilend wirken die übrigen wohlfahrtsstaatlichen Ausgaben für Gesundheit, Bildung und Familienförderung, die im Wesentlichen nach der Anzahl der kranken Personen bzw. Kinder, Schüler und Studenten verteilt werden. Aber auch sie wirken progressiv, d. h. ihre Bedeutung in Relation zum Einkommen nimmt in den höheren Einkommensschichten ab.2

Zu den Schwächen:

Wir können eine Reihe von Fehlentwicklungen und Problemstellen des österreichischen Wohlfahrtsstaates identifizieren, die auch gleichzeitig für die höchsten Armutsrisken verantwortlich sind. Reformstrategien für sozialen Ausgleich lassen sich aus diesen sozialstaatlichen Fehlsteuerungen wie ein gewendetes Negativ ableiten. Was sind nun die Fehlentwicklungen im hiesigen Sozialstaatsmodell?

Nach dem Krieg wurde der Sozialstaat auf vier Säulen errichtet:

1.Der Annahme eines männlichen Ernährerhaushalts

2.Der Annahme eines Normalarbeitsverhältnisses

3.Der Vorstellung einer kulturell homogenen Bevölkerung

4.Dem Prinzip der Statussicherheit – plus einem Schuss Ständismus

In den letzten Jahren hat sich aber einiges geändert:

•Auch Frauen sind Familienerhalterinnen und es gibt vielfältigste Formen des Zusammenlebens

•Unterbrochene Erwerbsbiografien und unsichere McJobs nehmen zu

•Viele Menschen sind nach Österreich zugewandert

•Bildung ist im Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft entscheidender geworden.

Auf jede dieser vier Entwicklungen wurde sozialpolitisch nicht rechtzeitig reagiert:

1.Das Festhalten am männlichen Ernährerhaushalt führt zu hohem Armutsrisiko von Alleinerzieherinnen und zur Mindestpension für ein Drittel aller Frauen.

Laut OECD (2008, 2010, 2015) stellt in Österreich vor allem der Status Ein-Eltern-Haushalt ein Armutsrisiko dar: Denn nimmt man alle Haushalte in denen Kinder leben zusammen, liegt Österreich im Bezug auf die Armutsquote mit 6% am fünften Platz hinter Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland. Nimmt man nur die Haushalte Alleinerziehender mit Kindern, fällt Österreich auf den achten Platz zurück. In den nordischen Ländern ist die Situation anders: Dort haben Alleinerziehende ein weit geringeres Armutsrisiko.

Weiter wirkt sich die Verteilung der Familienaufgaben zwischen den Geschlechtern auf die soziale Lage einer Familie aus. Die sorgenden Tätigkeiten wie Kinder betreuen, Großmutter pflegen, waschen und kochen, sind rhetorisch gewürdigt, in der Praxis aber gering bewertet und Frauen zugeteilt. Im Schnitt verrichten 92% der Frauen und 74% der Männer Arbeiten im Haushalt. Frauen wenden rund vier Stunden täglich für kochen, waschen, putzen und einkaufen auf, bei Männern sind es beinahe anderthalb Stunden weniger. Baden, Zähne putzen, wickeln, Tätigkeiten, die die Körperpflege des Kindes betreffen, werden von 16% aller Frauen, jedoch nur von 8% aller Männer verrichtet. Auch füttern, kuscheln, mit dem Kind lernen, das Kind zu Hause oder am Spielplatz beaufsichtigen und zu Schul- oder Freizeitveranstaltungen begleiten ist mehrheitlich Frauensache.3

2.Die Fixierung auf die klassische Erwerbsarbeit übersieht die steigende Zahl der Working Poor und die Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse.

Jetzt schon leben an die 200.000 Menschen in Österreich in Haushalten in denen der Verdienst trotz Erwerbsarbeit nicht reicht, um die eigene Existenz und die der Kinder zu sichern.4 Unfreiwillige Ich-AGs, Generation Praktikum, Abstiegsbiografien sind hier die Stichworte. Ein niedriges Erwerbseinkommen schlägt sich weiters in nicht-existenzsichernden Sozialleistungen bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und in der Pension nieder. Wer sein Leben lang in prekären Jobs arbeitet, wird keine ausreichende Pension erhalten, das Arbeitslosengeld und die Notstandshilfe sind so gering, dass man im Falle eines Jobverlusts damit keinen Tag überleben kann. Und die eigene Krankenversicherung kann unsicher werden.

3.Die jahrelange Konzentration auf die Herkunft (Gastarbeiterpolitik) schafft soziale Ausgrenzung und mangelnde Aufstiegschancen von MigrantInnen.

Lange wurde am Gastarbeitermodell und seiner Vorstellung temporärer Arbeitskräfte festgehalten. Maßnahmen zu Integration und Inklusion haben relativ spät in den 90er Jahren eingesetzt. Drittstaatenangehörige müssten heute ihrer Ausbildung entsprechend eigentlich um 30%, Eingebürgerte um 20% mehr verdienen. Sie werden weit unter ihrer Qualifikation beschäftigt. Nach der erfolgten Dequalifizierung findet kein beruflicher Aufstieg mehr statt. Die Dequalifizierung nach der ersten Beschäftigung wird im Lebenslauf nicht mehr überwunden.5

4.Ein sozial selektierendes Bildungssystem mit Tendenz zu homogenen Gruppen blockiert sozialen Aufstieg.

Trotz der im europäischen Vergleich geringen Kinderarmut schneidet Österreich in den sozialen Aufstiegschancen nach oben nur durchschnittlich ab. Die soziale Herkunft entscheidet überaus stark den weiteren Lebensweg. Hohe Bildung und damit hohes Einkommen und hohe berufliche Position der Eltern bedeuten für deren Kinder im hiesigen Schulsystem eine um 90 Punkte bessere Testleistung als von Kindern aus Elternhäuser mit weniger Bildung und Einkommen. In anderen Ländern beträgt dieser Abstand weniger als 40 Punkte.6

5.Zu geringe Investitionen in Dienstleistungen lassen z.B. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen allein und Potenziale im Dienstleistungssektor brach liegen.

Nirgendwo im Sozialsystem gibt es so hohe Selbstbehalte, nirgendwo wird so rigoros auf das eigene Vermögen und das der Angehörigen zugegriffen, wie im Falle einer Pflegebedürftigkeit. Wird im Krankenhaus noch auf hohem Niveau für uns gesorgt, sind wir, sobald wir als austherapiert gelten, auf uns allein gestellt oder werden im Alter zum Fall für die Sozialhilfe. Österreich gibt 1,3% des Bruttoinlandsprodukts für Pflege aus, Dänemark 2,6%, Finnland 2,9%. Die sozialen Dienstleistungen wie Kinderbetreuung oder Pflege liegen in Österreich unter dem EU-Durchschnitt. Auch der Anteil der Beschäftigten im Sozial- und Gesundheitssektor ist unterdurchschnittlich (vgl. Abbildung 3).

Abb. 3: Anteil der Beschäftigten im Sozial- und Gesundheitssektor an den Beschäftigten insgesamt, 1995-2012, ausgewählte Länder (Eurostat online database)

6.Der Paternalismus des Sozialstaats schafft mangelnde Transparenz und Mitbestimmung: Arbeitslose am Arbeitsamt, Patienten in Spitälern, Migranten ohne Wahlrecht, Mitbestimmung in den Sozialversicherungen etc.

Hier wirkt auch der Dschungel des föderalen Systems mit seinen unterschiedlichsten Regelungen, die in vielen Fällen sachlich nicht begründbar sind und eine Verwaltungs- und Vollzugspraxis, die nicht den Bürger, sondern den Untertanen sieht. Vieles atmet den obrigkeitsstaatlichen Wohlfahrtsstaat, Vater Staat, der seinen minderjährigen Kindern Gaben zuteilt.

Besonders auf den Sozialämtern wird in zahlreichen Studien ein willkürlicher und bürgerunfreundlicher Vollzug festgestellt. Was es jedenfalls braucht, sind unabhängige Stellen, die über eine beratende Funktion hinaus den Charakter von Rechtsdurchsetzungsagenturen haben. Sie müssen der Ort sein, wo sich potentiell Anspruchsberechtigte vor einer Antragstellung über ihre Rechte informieren können und später auch die Rechtmäßigkeit ihres Bescheids überprüfen lassen können. Große Herausforderungen finden sich auch bei Mitbestimmung und Partizipation Armutsbetroffener. Für eine bessere Bürgerbeteiligung müssen mit neuen Partizipationsprojekten besonders benachteiligte Bevölkerungsgruppen eingebunden werden. Da braucht es Instrumente und Verfahren, um diese Expertise auch in die politischen Entscheidungsstrukturen einfließen zu lassen: im Verwaltungsrat des AMS, in Beratungsgremien für Minister, in Strategieforen der Gesundheitsbehörden oder in Programmen der Gemeinden. Sie können Einblicke und Lösungen erbringen an die vorher nicht gedacht wurde. Nach diesem Vorbild können auch benachteiligte Bevölkerungsgruppen zu Wort kommen wie Menschen mit Behinderungen, Armutsbetroffene, Erwerbslose, Pflegebedürftige und ihre Angehörigen. Die Unterstützung von Selbstorganisationen und der Bildung von Selbsthilfegruppen ist hier aber zentrale Voraussetzung für Partizipation und Mitbestimmung.

Die aktuelle Armutsstatistik weist drei Gruppen als besonders gefährdet aus, die exakt den ersten drei Säulen des Zugangs zu sozialstaatlichen Leistungen entsprechen: AlleinerzieherInnen und AlleinverdienerInnen im Niedriglohnsektor, prekär Beschäftigte, Langzeiterwerbslose und MigrantInnen. Im Sozialstaat kontinentaler Prägung, wie in Österreich, setzen sich prekäre Arbeitsverhältnisse und nicht durchgängige Erwerbsbiografien ungebrochen in den Systemen sozialer Sicherung fort. Dem stark am Versicherungsprinzip und am männlichen Ernährerhaushalt ausgerichteten Sozialstaatsmodell fehlen echte Mindestsicherungselemente sowie universelle Leistungen und es mangelt an Bildungschancen unabhängig von sozialer Herkunft, eigenständiger Existenzsicherung für Frauen und einer Demokratisierung des Wohlfahrtsmodells mit stärkeren partizipativen Elementen. Die neuen sozialen Risiken – new social risks – liegen quer zu den klassischen Risiken sozialstaatlicher Sicherungssysteme: neue Selbständige, prekäre Beschäftigung, Lebensrisiko Pflege, Behinderungen und Migration.

Neue soziale Herausforderungen brauchen eben auch neue soziale Antworten. In Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise drohen gefährliche Entwicklungen: Dort, wo die armutspräventive Wirkung des Sozialsystems ausgewiesen ist, kürzen, und dort, wo Fehlentwicklungen und Armutsfallen im Sozialstaat auftreten, Reformen verweigern. So werden die Schwächen verstärkt und die Stärken geschwächt.

2.1 Warum in Schwedens Schulen Leistung und Gerechtigkeit nicht mehr zusammenfinden

Es begann in Schweden in den 90er Jahren mit der Kommunalisierung der Schule ohne Zielsteuerung. „Die Rathäuser hatten weder Mittel noch Erfahrung“7, analysiert der schwedische Bildungshistoriker Hans Albin Larsson. „Es gab keine konkreten Qualitätsstandards mehr“8. In den 2000er Jahren folgte die Kommerzialisierung. Die Schlagwörter hießen freie Schulwahl, Bildungsschecks, private Profitanbieter für mehr Wettbewerb. Schul-Aktiengesellschaften drängten in die Bezirke mit Renditen von 4-6%, manche streiften 15% Gewinn ein9. Gleichzeitig wird das Angebot geografisch und sozial immer unausgewogener. Die Einkommensstärkeren sammeln sich in den privaten Schulen, die Ärmeren bleiben zurück. Der öffentlich ausgetragene Wettkampf der Schulstandorte treibt die soziale Segregation weiter an. Es entstehen aber auch Leistungsprobleme in den Privatschulen: „Wichtig ist nicht, den Schülern eine gründliche Bildung zu vermitteln, sondern sie als Kunden zufriedenzustellen“. Daraus resultierte eine Inflation guter Noten und steigender Druck auf die LehrerInnen, möglichst niemanden durchfallen zu lassen.

Die Mehrheit der Schweden hält die Privatisierung des Schulsystems inzwischen für einen Fehler. Zwei von drei freien Trägern sind Risikokapitalgesellschaften. Als eine solche Gesellschaft vor einem Jahr Insolvenz anmeldete, mussten 10.000 Schülerinnen und Schüler mitten im Schuljahr eine neue Schule suchen. „Wir waren naiv“, gesteht mir Per ein, den ich 2014 in Stockholm auf einer großen Konferenz sozialer Dienstleister treffe. Er hatte, so erzählt er, große Erwartungen, „aber die Folgen sind desaströs.“ Im aktuellen Leistungsvergleich der OECD (2013) haben sich Schwedens Schüler am deutlichsten verschlechtert. Sie liegen in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften unter dem OECD-Durchschnitt, am 28. Rang unter den 34 OECD Ländern in Mathematik, am 27. in Lesen und in Naturwissenschaften. Der Abstand zwischen leistungsstarken und -schwächeren Schülern ist größer geworden, die soziale Herkunft macht sich in den Leistungen deutlicher als in der Vergangenheit bemerkbar.

Auf der Konferenz erzählen Krankenschwestern von ähnlichen Entwicklungen in der Pflege. Vor allem die Skandale um Pflegedienstleister wie Carema schmerzen. Öffentliche Gelder, die zu Gewinnen umgemodelt werden und anschließend in Steuerparadiese abfließen, interne Kredite, die sich der Versteuerung entziehen, drastische Personalkürzungen, die zu Lasten der Bedürftigen ausfallen. Es gäbe eine große Unruhe wegen der mangelnden Leistbarkeit von Pflege bei gleichzeitig privaten Gewinnen im Sozialsektor.

Aus diesen Erfahrungen kann man lernen. In Sachen Schule ist es wohl noch immer besser auf Finnland zu schauen, oder auch auf Kanada. Leistung und Gerechtigkeit finden in beiden Ländern zusammen. Schulsysteme können ihre Besten zu Spitzenleistungen anspornen, gleichzeitig aber dafür sorgen, dass der Abstand der schwächsten Schüler zu den besten gering bleibt. Die Schule in Kanada weist die geringsten Leistungsunterschiede bei ihren fünfzehnjährigen Schülern aus. Der Abbau der Leistungsdifferenzen geht nicht zu Lasten der Leistungsstarken, sondern wird ausschließlich durch bessere Leistungen der schwachen Schüler bewirkt.

Hierzulande wird man bei Reformen besonderes Augenmerk auf die Unterrichtsqualität, die Lehrerausbildung, die Schulraumarchitektur und die zu frühe Bildungsentscheidung im Alter von zehn Jahren legen müssen. Das zahlt sich für die Kinder und für uns alle aus. Nach Schätzungen der Bildungswissenschafter Hanushek und Wößmann würde sich das jährliche Wachstum des Bruttosozialprodukts in Österreich um einen halben Prozentpunkt erhöhen, könnte der Anteil der Schulabgänger mit geringen Lesekompetenzen auf null reduziert werden.

2.2 Von Schlüsseln und Schlössern

Eine Studie der Wirtschaftsuniversität Wien hat ergeben, dass Armutsbekämpfung erfolgreich ist, wenn der Mensch als Ganzes gesehen wird. Wer mit Arbeitslosen zu tun hat, denkt an Bildung, Existenzsicherung, Wohnen, Familie und Gesundheit. Wer mit Gesundheitsfragen von Armutsbetroffenen zu tun hat, sorgt sich um Beschäftigung, nicht schimmlige Wohnungen, Erholungsmöglichkeiten und eine Lösung der lähmenden Existenzangst. Zum Beispiel darf sich Arbeitsmarktpolitik paradoxerweise nicht nur um den Arbeitsmarkt drehen. Erfolgreich sind bei Personen mit vielfachen Problemlagen gerade jene Herangehensweisen, die auch an den anderen Dimensionen ansetzen: Gesundheit, Freundschaften, Erholung, Wohnen etc. Daraus kann besonders die Politik lernen, anstatt sektoral und in eingeschlossenen Handlungsfeldern in Zusammenhängen zu denken und Gesundheitspolitik als Wohnungspolitik, Bildungspolitik als Sozialpolitik und Stadtplanung als Integrationspolitik zu betrachten.10

Dafür braucht es einen ganzheitlichen Approach, einen integrierten Ansatz, die Fähigkeit in Zusammenhängen zu denken. Mit einem Faktor allein tut sich kaum etwas. Erst das Zusammenspiel mehrerer richtig gesetzter Interventionen zeigt Wirkung.

Familiengelder allein vermeiden Armut nicht. Wäre das so, müsste Österreich mit seinen hohen monetären Leistungen die geringste Kinderarmut aufweisen. Geringere Kinderarmut hat aber Dänemark mit einer besseren sozialen Durchlässigkeit des Bildungssystems, einem bunteren Netz von Kinderbetreuung wie auch vorschulischer Förderung und höheren Erwerbsmöglichkeiten von Frauen. Arbeit schaffen allein vermeidet Armut nicht, sonst dürfte es keine Working Poor in Österreich geben. Eine Familie muss von ihrer Arbeit auch leben können. Anti-Raucher-Kampagnen allein vermeiden das hohe Erkrankungsrisiko Ärmerer offensichtlich nicht, sonst würden arme Raucher nicht früher sterben als reiche Raucher. Deutsch lernen allein reduziert Armut und Ausgrenzung offensichtlich auch nicht, sonst müssten die Jugendlichen in den Pariser Vorstädten bestens integriert sein, sprechen sie doch tadellos Französisch. Dort fehlt es aber an Jobs, Aufstiegsmöglichkeiten, Wohnraum und guten Schulen. Ein Schlüssel braucht immer auch ein Schloss. Die einen investieren nur in Schlüssel, die anderen nur in Schlösser und wundern sich, dass die Türen nicht aufgehen.

3. Finanzkrise und Austeritätspolitiken

NEET bedeutet im Englischen Not in Education, Employment or Training. Der Begriff bezeichnet die Gruppe Jugendlicher und junger Erwachsener, die keine Schule besuchen, keiner Arbeit nachgehen und sich nicht in beruflicher Ausbildung befinden (vgl. Abbildung 4). Italien hatte die höchste NEET-Rate (22,2%), gefolgt von Bulgarien (21,6%), Griechenland (20,6%), Zypern (18,7%), Kroatien (18,6%), Spanien (18,6%), Rumänien (17,2%), Irland (16,1%), Ungarn (15,4%) und Portugal (14,2%). Alle diese Länder verzeichnen ein massives Anwachsen der Jugendarbeitslosigkeit seit 2008. Die Länder der EU-28 mit dem größten Anstieg sind Zypern, dicht gefolgt von Griechenland. Deutliche Zuwächse sind auch in Rumänien, Italien, Spanien und Portugal zu verzeichnen.

Abb. 4: Jugendliche ohne Job und Ausbildung (Eurostat online database)

In dieser Situation schreiben die Nationalstaaten Kürzungslisten im Sozialen, um die Austeritätsziele der aktuellen EU-Politik zu erfüllen. Insbesondere schwach oder nur mittelmäßig ausgebaute Sozialstaaten ventilieren besonders umfassende Rückbaupläne (vgl. Abbildung 5). In welchen Leistungsbereichen und vor allem auf Kosten welcher Bevölkerungsgruppen?

Abb. 5: Sozialausgaben 2016/17/18 (Fink 201411)

Eurodiaconia (2011) hat alle diakonischen Einrichtungen in Europa befragt, wie sich die Finanzkrise ausgewirkt hat. Die Berichte der Diakonie-Initiativen vor Ort waren eindeutig. Die Nachfrage nach Lebensmittelhilfen, Wohnungslosenprojekte, Schuldenberatungen und finanzielle Existenzsicherungen ist gestiegen und muss in größerem Ausmaß als früher angeboten werden. Dabei fehlen vielen sozialen Organisationen die Ressourcen: Es gibt größeren Bedarf aber weniger Geld, mehr soziale Probleme aber geringere öffentliche Mittel.

Eine vergleichende Studie im Auftrag des Europäischen Parlaments (2015), dem Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres, führt die Ergebnisse von nationalen Studien aus Belgien, Zypern, Griechenland, Irland, Italien, Spanien und Portugal über die Auswirkungen der Finanzkrise und der Austeritätspolitiken zusammen und analysiert deren Auswirkungen auf die Grundrechte in der Europäischen Union: In allen sieben Ländern kam es zur Reduktion von LehrerInnen an den Schulen, obwohl die Schülerzahlen gestiegen sind. In Griechenland wurden Schulen nicht mehr beheizt und Schulstandorte wurden geschlossen, was den Zugang zur Bildung für bestimmte Bevölkerungsgruppen erschwerte. In Spanien sparte man bei der Schulausstattung, sogar bei den Schulbüchern. In Griechenland kam es zusätzlich zu gravierenden Einschnitten im Gesundheitssystem. Dabei wurde die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung derart aufs Spiel gesetzt, sodass sogar die Kindersterblichkeit anstieg. Die Wartezeiten für Operationen sind explodiert, auch in Spanien, Irland und Zypern. Diese Kürzungen in den Gesundheitssystemen haben die Ärmsten am härtesten getroffen.

Mit der Finanzkrise stieg die Suizidrate wieder europaweit. Besonders die von den sozialen Folgen von Krise und Austeritätspolitik betroffenen Länder verzeichnen einen Anstieg (vgl. Abbildung 6).

Abb. 6: Trends in Suizid-Raten, ausgewählte europäische Länder, 1995-2010 (OECD: Health at a Glance: Europe 2012)

Dazu hat das Europaparlament die Arbeit der sogenannten Troika untersucht. Die Troika, das Dreiergespann aus Vertretern der Europäischen Zentralbank, des Internationalen Währungsfonds und der EU-Kommission habe einseitig auf Sparmaßnahmen gesetzt und Wachstumsimpulse vernachlässigt, so der mit Mehrheit im Plenum angenommene Bericht. Kürzungen bei den Sozialleistungen und steigende Arbeitslosigkeit hätten die Armut in den Ländern, in denen die Troika gewirkt hat, weiter vergrößert. Die Mehrheit der Abgeordneten des Europaparlaments stellte fest, dass Mindestlöhne nicht eingefroren, Renten nicht unter die Armutsgrenze fallen, der Zugang zu wesentlichen medizinischen und pharmazeutischen Produkten nicht eingeschränkt werden dürfen und Unterkünfte bezahlbar bleiben müssen.12

Mindestens ein Drittel des Anstiegs der Arbeitslosigkeit in Europa geht auf das Konto der Austeritätspolitik. Es ist eine fatale Strategie, eine Verbesserung der ökonomischen Situation zu erwarten, wenn Löhne gekürzt werden. Die in Europa erzeugten Güter und Dienstleistungen werden zum größten Teil in Europa selbst abgesetzt und nicht irgendwo anders in der Welt. 90% aller Waren werden im Binnenmarkt gehandelt. Da Löhne die wichtigste Einkommensquelle der meisten Menschen in Europa sind, führen Sozial- und Lohnkürzungen zu einem Rückgang der Nachfrage im Binnenmarkt und damit zu einem Schrumpfen der Wirtschaft sowie einen weiteren Rückgang von Investitionen und Beschäftigung. Europa wird ärmer, nicht reicher, wenn alle Länder ihre Löhne senken. Der Philosoph Jürgen Habermas zeigte sich in einem Aufsatz besorgt über das „autoritäre“ und „postdemokratische“ Projekt im Europa der Finanzkrise. In dasselbe Horn stieß das Europaparlament und zog die demokratische Legitimation der Troika in Zweifel. Sie sei „ohne rechtliche Grundlage“ geschaffen worden und lasse jede „demokratische Kontrolle“ vermissen13. Das Europaparlament legt in seinem Bericht den Finger in eine der größten Wunden der Troika: Ihren Programmen fehlt die Bindung an die europäischen Grundrechte. Mehrere Reformempfehlungen der Troika stehen in klarem Konflikt mit dem Europäischen Recht, insbesondere der Europäischen Sozialcharta. Dazu gehören die durch unausgeglichene Sparpolitik verschlechterte medizinische Versorgung und der durch Arbeitsmarktreformen verursachte starke Rückbau des Tarifsystems. Die Europäische Agentur für Grundrechte erhält nun den Auftrag, Licht in die Grauzone möglicher Rechtsbrüche der Troika zu bringen. Auch die Berechnungsgrundlagen und Annahmen der wirtschaftspolitischen Empfehlungen sollen auf den Tisch kommen.14

4. Vom Geschmack des Vertrauens: Gestaltungsspielraum, Anerkennung, Ausgleich

„Wenn der erste Spieler sich sofort alle großen Straßen unter den Nagel reißt und die anderen nur noch abzockt, dann können die das kaum mehr aufholen.“ Der Münchner Marcel-André Merkle entwickelt Brettspiele. Der Startvorteil der ersten Spieler gehörte zu den größten Herausforderungen für Spiele-Entwickler, erzählt er mir in Berlin auf der Spielemesse 2014. Die Dynamik des Spiels führt oft dazu, dass sich ein Vorsprung über die Spieldauer verstärkt und ab einem bestimmten Punkt kaum mehr umkehrbar ist. Es werde als frustrierend und ungerecht erlebt, erklärt Merkle, wenn der Verlauf davon abhängt, wer als Erstes beginnt. Die Spiele-Gestalter haben darauf mit unterschiedlichen Strategien reagiert. Wenn zum Beispiel in jeder Runde neues Kapital ausgegeben werde, dann sinke die Gefahr massiv, dass einzelne Spieler den Anschluss verlieren. „Zentral ist das Gefühl von Selbstwirksamkeit. Menschen müssen das Gefühl haben, dass ihr Handeln Einfluss auf den Verlauf des Spiels hat.“ Der Spiele-Gestalter testet seine Regeln mit mehreren Gruppen, bevor ein Spiel produziert wird. Dabei beobachtet er, welche Wirkung die Regeln haben und ob sich die Spieler an die Spielanleitung halten. Ein Spiel, das als gerecht empfunden wird und dessen Regeln anerkannt werden, verbindet laut Merkle auf ideale Weise Elemente des Zufalls, der Geschicklichkeit und des „sozialen Ausgleichs“. Abgeschlagene Spieler, die die Regeln als ungerecht empfinden, können sich Brettspiel-Macher einfach nicht leisten.

Es brodelt in Spanien, in Portugal und in Griechenland. Vor kurzem noch brannte es auf Englands Straßen. Das kommt nicht aus dem Nichts. Wenn wir uns drei Indikatoren anschauen, die über Lebensqualität und sozialen Zusammenhalt einiges aussagen: Erstens die Gewaltrate, zweitens die Anzahl der Gefängnisinsassen, drittens das Wohlergehen von Kindern und dann diese drei Indikatoren mit der sozialen Ungleichheit verknüpfen, die in unterschiedlichen Ländern besteht, dann bekommen wir als Ergebnis: wo die soziale Schere auseinandergeht herrscht mehr Gewalt, dort sitzen mehr Menschen im Gefängnis und die Lebensqualität von Kindern ist viel schlechter. Bleiben wir in den reichen Ländern. In den USA wird alle drei Stunden ein Kind mit einer Waffe getötet, in England werden über eine Million Gewaltverbrechen in einem Jahr registriert. Das ist wesentlich höher als in anderen Staaten mit ähnlicher Wirtschaftskraft. Je höher die soziale Ungleichheit in einem Land, desto mehr Gewaltvorkommen sind zu verzeichnen. Dasselbe gilt für die Anzahl der Personen, die in Gefängnissen sitzen. Auch hier weist England eine extrem hohe Rate auf.

Abb. 7: Soziale Ungleichheit wirkt sich negativ auf gesundheitliche und soziale Entwicklung von Kindern aus. (Wilkinson / Pickett 2010)16

Der Report der UNICEF misst mehrere unterschiedliche Aspekte, die das Wohlergehen von Kindern beeinflussen: Einkommenssituation, Gesundheitszustand, Bildung, Selbstbestimmung, etc. Das Ergebnis: England weist hier ganz schlechte Werte auf. Je größer die Unterschiede zwischen arm und reich, desto schlechter die Lebensqualität von Kindern. Der Zusammenhang war in jenem Land am stärksten, in dem die höchste Anzahl an Kindern verzeichnet ist, die unter weniger als der Hälfte des durchschnittlichen Einkommens im Land lebt. Nicht wie reich wir insgesamt sind, ist hier entscheidend, sondern wie groß die Unterschiede zwischen uns sind.15

„Der Premierminister bietet uns Grütze und sagt uns dann, sie schmeckt wie Kaviar“, schimpft Jugendarbeiter Sameer aus London. Die Jugendzentren werden geschlossen, die Unterstützung für günstige Wohnungen um 60% gekürzt, die Schulen verfallen, prekäre Jobs breiten sich aus – und die Regierung nennt das dann ihre Big Society. Derweil wurden die Gelder in den Finanzdistrikten der City of London verspekuliert oder in den Sicherheits- und Kontrollapparat verschoben. So viele Kameras auf öffentlichen Plätzen gibt es nirgendwo in Europa, dem Gefängnis- und Sicherheitsbusiness geht es prächtig. Zumindest eines ist sicher: So werden die brennenden Probleme nicht kleiner.

In Gesellschaften mit hoher sozialer Ungleichheit entsteht ein hoher Stress die potentiellen und realen Demütigungen und Kränkungen adäquat zu verarbeiten. Prozesse der sozialen Disqualifikation sind soziale Belastungssituationen. Reale Abstiegserfahrungen, aber auch die Angst vor dem möglichen sozialen Abstieg, konstituieren ein anderes Selbstverständnis gegenüber sich selbst wie auch gegenüber den anderen. „Meine Kinder sollen es einmal besser haben“, sagten die Eltern, jetzt sagen sie „meine Kinder sollen es nicht schlechter haben“. Ähnlich verhält es sich mit der Erfahrung blockierten Aufstiegs, also der Frustration trotz Leistung und Engagement keinen adäquaten Lohn zu erhalten oder sozialen Aufstieg zu schaffen.

Nicht gestalten können, keine Anerkennung bekommen, keinen Ausgleich erleben – all das zeigt seine negative Wirkung. Lerne ich den Geschmack vom zukünftigen Leben als Konkurrenz, Misstrauen, Verlassen sein, Gewalt kennen? Oder habe ich die Erfahrung qualitätsvoller Beziehungen, von Vertrauen und Empathie gemacht? Werde ich schlechtgemacht und beschämt oder geschätzt und erfahre Anerkennung? Ist mein Leben von großer Unsicherheit, Angst und Stress geprägt oder von Vertrauen und Planbarkeit? Je ungleicher Gesellschaften sind, desto schlechter sind diese psychosozialen Ressourcen. Es gibt weniger Inklusion, das heißt häufiger das Gefühl ausgeschlossen zu sein. Es gibt weniger Partizipation, also häufiger das Gefühl nicht eingreifen zu können. Es gibt weniger Reziprozität, also häufiger das Gefühl sich nicht auf Gegenseitigkeit verlassen zu können.

Die soziale Ungleichheit wird in und nach Wirtschaftskrisen größer, wie der renommierte britische Sozialwissenschafter Tony Atkinson anhand einer Betrachtung von vierzig Wirtschaftskrisen festgestellt hat. Der World Wealth Report 2015 berichtet bereits wieder von einem Anstieg des Reichtums der Reichsten um 8%. Wir sehen eine zunehmende Ungleichheit innerhalb der Arbeitseinkommen und gleichzeitig eine wachsende Schere durch wieder steigende Vermögenseinkommen bei Wenigen ganz oben.17

Angesichts der Entwicklung warnt die OECD vor mehrfachen Risiken: „Zunehmende Ungleichheit schwächt die Wirtschaftskraft eines Landes, sie gefährdet den sozialen Zusammenhalt und schafft politische Instabilität – aber sie ist nicht unausweichlich“, so OECD-Generalsekretär Angel Gurria.18

Arbeitslosigkeit, geringe Wirtschaftsleistung, Bankenrettungspakete und die Stützung des Finanzsektors haben große Budgetlöcher geschlagen. Die Schuldenquote der Eurozone sank vor der Krise von 72% (1999) auf 66% pro Jahr (2007). Nach der Krise aber liegt sie um 20% höher, bei rund 86%. Irland oder Spanien hatten vor der Krise Budgetüberschüsse und niedrige Schuldenquoten, was sie nicht davor bewahrt hat, jetzt unter Druck der Finanzmärkte zu kommen. Und 50.000 mehr Arbeitslose als vor der Krise in Österreich kosten beispielsweise weit über 1 Mrd. Euro.

4.1. Steueroasen sind Privilegiensümpfe

Etwa 8% der weltweiten Privatvermögen, das sind 8.000 Mrd. Euro, liegen in Steueroasen mit dem hauptsächlichen Motiv der Steuerhinterziehung. Nach der Finanzkrise gab es viele Versprechungen und einige Maßnahmen – aber sie waren alle unzureichend. Den Sozialstaaten entgehen laut einer Schätzung des Ökonomen Gabriel Zucman dadurch jährlich 130 Mrd. Euro an Steuereinnahmen. 80% der Offshore-Vermögen weltweit werden steuerlich nicht deklariert. 12% der europäischen Privatvermögen werden in Steueroasen verwaltet, davon die Hälfte in der Schweiz. Diese Anteile sind in den letzten Jahren trotz einschlägiger internationaler Deklarationen und Bemühungen weiter angestiegen.

Die großen Orte der Steuerhinterziehung liegen in der Schweiz, Luxemburg, Hongkong, Singapur, Kaimaninseln und den Bahamas. Luxemburg beispielsweise hat ab den 70er Jahren begonnen, seine eigene Souveränität zu vermarkten. Das kleine Großherzogtum verkaufte multinationalen Konzernen in der ganzen Welt das Recht, selbst über ihre Steuersätze, gesetzliche Auflagen und rechtliche Verpflichtungen zu bestimmen. Gleichzeitig verfügt Luxemburg als souveräner Staat über weitreichende Blockademöglichkeiten in den Gremien der EU: Vetorecht bei Fragen des Steuerwesens und Einstimmigkeit im Europäischen Rat. Da stellen sich Fragen der Demokratie: Ist Luxemburg noch ein Staat, oder eine Plattform der Finanzindustrie? Und es stellen sich Fragen der Finanzstabilität: Ist sein Wirtschaftsmodell, das auf einem aufgeblähten Finanzsektor basiert, gefährlich für die anderen EU-Staaten? Wenn man verhindern möchte, dass sich die irische und die zypriotische Katastrophe wiederholt, ist eine Kehrtwende in Luxemburg dringend geboten. Zucman plädiert für eine umfassende und vollständige Kooperation mit den anderen Ländern, um Steuerhinterziehungen und Buchungstricks ein Ende zu setzen. Als letzte Konsequenz sieht er den Ausschluss Luxemburgs aus der Eu.

Zentral, so Zucman, sei ein weltweites Finanzkataster, das zeigt, wem die zirkulierenden Wertpapiere gehören. Das entspricht dem Grundprinzip im Kampf gegen Geldwäsche und gegen die Finanzierung von Terrorismus. Datenbasis dafür sind die bereits bestehenden Register wie DTC (für amerikanische Wertpapiere), Euroclear Belgien oder Clearstream (für staatenlose Wertpapiere). Der Internationale Währungsfonds soll das Kataster verwalten. Nur so kann gewährleistet werden, dass die Banken ihre Meldepflicht erfüllen und damit Steuerhinterziehungen der Ultrareichen beenden.

Steueroasen sind Privilegiensümpfe. Diese Sümpfe trockenzulegen, sind ein klassischer Akt der Aufklärung. Sie sind zentraler Bestandteil jeder Freiheitsbewegung. Die Französische Revolution schuf 1789 einen eigenen Kataster um den gesamten Immobilienbesitz zu erfassen, seinen Wert zu ermitteln und die Privilegien abzuschaffen, die das feudale System am Leben erhielten. Wer von Freiheit spricht, kann über Steueroasen nicht schweigen.

4.2. Soziale Investitionen zahlen sich aus

Laut Europäischer Kommission ist die Beschäftigung im Gesundheits- und Sozialbereich stärker gewachsen als in anderen Bereichen der Wirtschaft. Zwischen 2000 und 2009 stieg die Zahl der Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialsektor um 4,2 Millionen Menschen, das ist ein Viertel des gesamten Beschäftigungszuwachses in der europäischen Wirtschaft. Dieser Wirtschaftssektor generiert zudem etwa 5% der gesamten wirtschaftlichen Leistung in Europa. Zusätzlich hat die Europäische Kommission mit ihrem aktuellen Action Plan for EU Health Workforce (2012) das Problem erkannt, dass die demografischen Entwicklungen Verbesserungen für die derzeitigen Arbeitsbedingungen erfordern, um möglichst viele Menschen in diesem Arbeitsfeld halten zu können bzw. die Beschäftigung weiter ausbauen zu können.

Soziale Dienstleistungen umfassen eine enorme Bandbreite: Pflege- und Betreuungsleistungen im Kinder- und Altenbereich, Beratungsangebote für Menschen in sozialen Notlagen oder auch Wohnangebote für Jugendliche, die es im Leben schwerer haben. Nicht zuletzt wird dieses Geld gut eingesetzt, denn jeder verdiente Euro wird von Non-Profit-Organisationen wieder dazu verwendet, neue Dienste für die Schwächsten der Gesellschaft auszubauen.

Das Soziale ist eine Produktivkraft. Die Hilfen für die Pflege der Oma, die Assistenz für Menschen mit Behinderungen und die Betreuung des kleinen Sprösslings sorgen für Wachstum, stabilisieren die Wirtschaft und stiften sozialen Ausgleich. Sie haben Wachstumsfunktion bei Beschäftigung. Sie haben eine stabilisierende Funktion, weil sie Teilhabe sichern und Nachfrage über den Konjunkturzyklus bereitstellen. Und sie erfüllen die Funktion des sozialen Ausgleichs. Besonders die Dienstleistungen in Pflege, Kinderbetreuung und Bildung reduzieren das Armutsrisiko und verteilen zu den Schwächeren um. Soziale Dienste sind auch deshalb konjunkturell interessant, weil sie regional und in strukturschwachen Regionen Jobs schaffen. Sie stützen die Kaufkraft und heben die Haushaltseinkommen, auch wenn hier noch viel zu tun ist, was die Bezahlung und Attraktivität der Jobs angeht. Nicht zuletzt können Menschen mit Migrationshintergrund von diesem Beschäftigungspotential profitieren. Insgesamt entstehen bei Kinderbetreuung wie bei der Pflege Win-Win-Situationen zwischen Familieneinkommen, Arbeitsplätzen, Frühförderung von Kindern und Entlastung Angehöriger. Hier gibt es viel ungenütztes Potential, das brach liegen gelassen wird.

Betrachtet man allein den gesamten Non-Profit-Sektor ergibt das eine beachtliche Leistungskraft. Das Hilfreiche hier: Jeder verdiente Euro wird von gemeinnützigen Organisationen wieder für Neues reinvestiert. Investiert man eine Million Euro in Kindergärten, schafft man 14 bis 15 Vollzeitarbeitsplätze anderswo. Dieser Multiplikatoreffekt kann sich sehen lassen: Die Stromwirtschaft weist ein Beschäftigungsvielfaches von 13 auf, der Bausektor von 11. Österreichische Non-Profit-Organisationen haben im Jahr 2010 – ohne Einbeziehung von ehrenamtlicher Arbeit – 5,9 Mrd. Euro an Bruttowertschöpfung erwirtschaftet. Damit zählt der Non-Profit-Sektor zu den fünf bedeutendsten Sektoren der Volkswirtschaft und liegt damit vor Wirtschaftszweigen wie Land- und Forstwirtschaft, Fahrzeugbau und sogar Nahrungs- und Genussmittelproduktion. Insgesamt arbeiten 400.000 Beschäftigte im Sozial- und Gesundheitsbereich, mehr als im Bauwesen mit 370.000 oder im Tourismus mit 240.00 Beschäftigten. Insgesamt sind das knapp 10% aller Jobs in Österreich. (Zum Vergleich: in den nordischen Staaten sind es bis zu 20%.)

Abb. 8: Investitionen in Kinder helfen allen

Kinder stärken und begleiten, alte Menschen pflegen und betreuen hat natürlich immer einen Wert an sich. Untersuchungen zum Social Return on Investment (SROI) zeigen, dass ein investierter Euro in die soziale Arbeit Wirkungen im Wert von bis zu 10,2 Euro erbringen. SROI-Werte zwischen 2,5 bis 4,5 sind der Normalfall. In der Frühförderung beispielsweise entspricht ein investierter Dollar einer Rendite von 8 Dollar, errechnete Nobelpreisträger James Heckmann für die USA. Bei benachteiligten Kindern beträgt sie sogar 16 Dollar, also einer Hebelwirkung von 1 zu 16 (vgl. Abbildung 8). Kindern im Sozialprogramm ging es im späteren Leben einfach besser: weniger Kriminalität, weniger Arbeitslosigkeit, bessere Bildung, persönliche Stabilität. Oder die Schuldenberatung: Nach einer Beratung finden Schuldner rascher wieder Arbeit oder behalten mit höherer Wahrscheinlichkeit ihre Stelle – statt Sozialleistungen zu beziehen, zahlen sie Sozialversicherungsbeiträge und Steuern. Das wiederum bedeutet Vorteile für Staat und Sozialsystem. Jeder Euro, der in die Schuldenberatung investiert wird, bringt der Gesellschaft einen Gegenwert von 5,3 Euro. Das sind für ganz Österreich positive Wirkungen im Umfang von 60 Millionen Euro.

Wer in den frühkindlichen Bereich investiert, sozial integrative Schulen fördert und Menschen in der Pflege nicht allein lässt, leistet einen entscheidenden Beitrag zum sozialen Ausgleich und gegen Armut.

4.3. Spielregeln ändern

Lippenbekenntnisse für ein soziales Europa reichen nicht aus. Ein soziales Europa ist möglich und steht nicht im Widerspruch zu wirtschaftlichem Erfolg. Europa wird sozial sein, oder es wird nicht mehr sein. Der bisherige Kurs der europäischen Regierungschefs hatte den Abbau sozialstaatlicher Leistungen und Infrastruktur zur Folge und brachte die Löhne unter Druck. Die verabschiedeten europäischen Rechtsakte zementierten die finanzpolitischen Ungleichgewichte zu Lasten der sozialen Stabilität. Sie stehen damit auch im Widerspruch zum offiziellen EU-Ziel der Armutsbekämpfung, wie es im Zuge der Europa-2020-Strategie von allen Staatschefs formuliert wurde.

Die Hoheit über die Sozialschutzsysteme obliegt den Mitgliedsländern, wiewohl mit dem Lissabon Vertrag die soziale Dimension der Europäischen Union gestärkt und präzisiert wurde. Mit diesem Vertrag wurde etwa auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union rechtskräftig. Gerade die letzten Krisenjahre machen deutlich, dass die zunehmende wirtschaftliche Integration nicht mehr ohne eine verstärkte soziale Integration auskommen kann, auch im Hinblick auf die Akzeptanz der EU bei ihren Bürgerinnen und Bürgern.

Die zukünftige Linie der Sozial- und Wirtschaftspolitik muss sich an einem breiteren volkswirtschaftlichen Verständnis orientieren. Indikatoren waren und sind ein mächtiges Steuerungsinstrument europäischer Politiken. So wie bisher kann das nicht weitergehen. Zur besseren Zielsteuerung braucht es starke soziale Indikatoren (Scoreboards) zu Arbeitslosigkeit, Qualität der Jobs und zur sozialen Entwicklung, aber auch zur Struktur von Steuern (Taxes). Entscheidungen zur Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes müssten dann einem Stresstest im Hinblick auf die Erreichung der hier entwickelten Indikatoren sowie die Einhaltung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union unterzogen werden. Werden diese verletzt, müssten die vorgeschlagenen Maßnahmen zurückgenommen, abgefedert oder neue entwickelt werden. Weiters braucht es einen institutionalisierten Dialog mit dem sozialen und gemeinnützigen Sektor, den sozialen Initiativen und der Civil Society. Besonders fehlt ein solcher Dialog im europäischen Wirtschafts- und Sozialkomitee. Soziale europäische Standards könnten in Korridoren definiert werden, damit es zu keinem Down Sizing innerhalb Europas kommt und die Entwicklung der sozialen Systeme bedarfsgerecht erfolgt. Die zurzeit einzigen direkten sozialpolitischen Instrumente der Europäischen Union – die Strukturfonds – müssen wesentlich stärker für Armutsbekämpfung genutzt und in den Ausbau sozialer Dienste investiert werden.

Es geht nicht nur darum besser mitzuspielen, es geht auch darum die Spielregeln zu ändern. Die aktuelle Spielaufstellung produziert zu viele abgeschlagene Spieler. Wo wir gestalten können, Anerkennung erfahren und sozialen Ausgleich erleben, dort wächst Vertrauen und sinkt Armut.

ANMERKUNGEN:

1Schenk, Martin / Moser, Michaela: Es reicht, 2010. S. 85; Schenk, Martin: Armut kann Ihre Gesundheit gefährden, 2004. S. 100.

2Wirtschaftsforschungsinstitut WIFO: Umverteilung durch den Staat in Österreich, 2009.

3Statistik Austria: Zeitverwendungserhebung 2008/2009.

4Statistik Austria: EU SILC 2013.

5Bachinger, Eva / Schenk, Martin: Die Integrationslüge, 2012.

6PIRLS: Results, 2011.

7Bigalke, Silke: Pisa-Absteiger Schweden, 2014.

8Scholter, Judith: Tief im Norden, 2013.

9Gamillschegg, Hannes: Schweden. Privatschulen umgarnen Schüler, 2011.

10Dawid, Evelyn / Heitzmann, Karin: Leistungen der NGOs in der Armutsbekämpfung, 2006.

11EC Staff Working Documents on National Stability and Convergence Programmes, Spring 2014, nach Marcel Fink, 2015.

12European Parliament, 2014.

13European Parliament, 2014.

14Habermas, Jürgen: Rettet die Würde der Demokratie, 2011.

15UNICEF, 2013.

16Der Index inkludiert: Lebenserwartung, Analphabetismus und mathematische Fähigkeiten, Kindersterblichkeit, Mordraten, Anzahl an Häftlingen, Schwangerschaften von Jugendlichen, Vertrauen, Fettleibigkeit, Ausmaß an psychischen Erkrankungen (inkl. Drogen- und Alkoholmissbrauch) und soziale Mobilität.

17World Wealth Report, 2015.

18OECD: Pressemeldung „Einkommensungleichkeit nimmt OECD-weit zu“, 2011.

Onlinequellen:

Bigalke, Silke: Pisa-Absteiger Schweden: Schluss mit lustig in der Schule. In: Süddeutsche Zeitung (2.3.2014): http://www.sueddeutsche.de/bildung/pisa-absteiger-schweden-schluss-mit-lustig-in-derschule-1.1901532-2 [Letzter Zugriff: 20.9.2015]

Bundesanstalt Statistik Österreich (Statistik Austria): Tabellenband EU SILC 2013. Einkommen, Armut und Lebensbedingungen. Wien, 2014: http://www.statistik.at/web_de/frageboegen/private_haushalte/eu_silc/index.html [Letzter Zugriff: 26.10.2015]

Bundesanstalt Statistik Österreich (Statistik Austria): Zeitverwendungserhebung 2008/09 – Ein Überblick über geschlechterspezifische Unterschiede. Wien, 2009: http://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/soziales/zeitverwendung/zeitverwendungserhebung/index.html [Letzter Zugriff: 26.10.2015]

Dawid, Evelyn / Heitzmann, Karin: Leistungen der NROs in der Armutsbekämpfung. Studie zur Bestandsaufnahme der Leistungen sozialer Dienste in der Vermeidung und Bekämpfung von Armut in Österreich. Wien, 2006: http://epub.wu.ac.at/1474/ [Letzter Zugriff: 26.10.2015]

European Commission: Action Plan for the EU health workforce: http://ec.europa.eu/dgs/health_consumer/dyna/enews/enews.cfm?al_id=1247 [Letzter Zugriff: 26.10.2015]

Eurodiaconia: Carrying the burden, diaconal work supporting people in need. 3rd follow-up report on the impact of the autumn 2008 financial crisis. Brüssel, 2011:

http://www.eapn.eu/en/news-and-publications/publications/other-publications/eurodiaconia-new-report-on-the-impact-of-the-crisiscarrying-the-burden-diaconal-work-supporting-people-in-need [Letzter Zugriff: 26.10.2015]

European Parliament: Employment and social aspects of the role and operations of the Troika (ECB, Commission and IMF) with regard to euro area programme countries. Brüssel, 2014:

http://www.europarl.europa.eu/oeil/popups/ficheprocedure.do?lang=en&reference=2014/2007(INI) [Letzter Zugriff: 26.10.2015]

European Parliament: The impact of the crisis on fundamental rights across Member States of the EU. Comparative analysis. Study for the LIBE Committee. Brüssel, 2015:

http://www.europarl.europa.eu/thinktank/de/document.html?reference=IPOL_STU(2015)510021 [Letzter Zugriff: 26.10.2015]

Eurostat online Database: http://ec.europa.eu/eurostat/de [Letzter Zugriff: 20.9.2015]

Fink, Marcel: Vortragsfolien der 10. Armutskonferenz im Bildungszentrum St. Virgil: Was machen wir mit der sozialen Innovation? Karriere eines Begriffs in Zeiten der Sparpolitik. Salzburg, 2015: http://www.armutskonferenz.at/files/2014-10-10_fink_europaeische-perspektiven_kommentar.pdf [Letzter Zugriff: 20.9.2015]

Gamillscheg, Hannes: Schweden. Privtschulen umgarnen Schüler. In: Die Presse (29.8.2011):