Spielball der Politik - Hauke Friederichs - E-Book

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Hauke Friederichs

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Beschreibung

Wechselvolle Geschichte: Zwischen NS-Vergangenheit und Putin Die Bundeswehr ist ein Kind des Kalten Krieges und ein Stiefkind der Bundesrepublik: Auf Druck der Amerikaner ins Leben gerufen, haben Bevölkerung und Armee bis heute nicht wirklich zueinander gefunden. Die Gründe liegen ebenso sehr in der NS-Vergangenheit wie in politischer Unsicherheit und Kurzsichtigkeit. Jahrzehntelang wurde die Truppe kaputtgespart, gleichzeitig stiegen die politischen Ansprüche ins Maßlose: Der gescheiterte Afghanistan-Einsatz steht dafür. Hauke Friederichs beleuchtet die wechselnden Aufträge an die Bundeswehr, zeigt die lange Reihe von Skandalen und Affären, und macht deutlich, was es braucht, damit dieses Land wieder verteidigungsfähig ist und einen substanziellen Beitrag zum NATO-Bündnis leisten kann.

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Hauke Friederichs

Spielball der Politik

Eine kurze Geschichte der Bundeswehr

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Für Peter,

der eine gute Zeit als Soldat der Bundeswehr hatte,

obwohl er politisch meist sehr viel weiter links stand

als alle Kameraden

 

Für Martina,

die mittlerweile mehr über Panzer weiß

als so mancher Gedienter

 

Für Jonathan,

der selbst nie Krieg erleben möge

EINLEITUNGVon Blank zu blank

An einem sonnigen Vormittag im August 2022 klettert der Bundeskanzler in einen Panzer. Der »Gepard« mit Zwillingskanone und zwei Radaranlagen steht auf einem Truppenübungsplatz in Putlos an der Ostsee. Olaf ScholzScholz, Olaf besucht den Standort der Bundeswehr in Schleswig-Holstein, um sich den Flugabwehrkanonenpanzer zeigen zu lassen. Daran werden gerade ukrainische Soldaten von Mitarbeitern des Rüstungsunternehmens Krauss-Maffei Wegmann (KMW) ausgebildet. Vor vielen Jahrzehnten hat KMW den Panzer hergestellt. Das erste Exemplar übergab die Firma 1976 an die Bundeswehr. Nun erläutern deren Angestellten dem Kanzler wie der Gepard funktioniert. Als ScholzScholz, Olaf mühsam durch die enge Luke eingestiegen ist, dreht sich der Turm rasch, von links nach rechts, hebt und senkt sein Zwillingsgeschütz.

Einige hundert Meter entfernt, Richtung Meer, stehen weitere Flak-Panzer, in denen ukrainische Besatzungen sitzen. Sie lernen, Ziele zu erfassen und sie dann vom Himmel zu holen. Das Geknatter feuernder Zwillingsgeschütze schallt herüber. Die Ukrainer schießen auf einen Schleppsack am Himmel, den ein weißer Learjet hinter sich herzieht. 30 dieser Flak-Panzer hat die Bundesregierung in die Ukraine geschickt. Sieben weitere folgen Anfang 2023. Ihr Training erhalten die ukrainischen Schützen, Fahrer und Kommandanten des Gepard in der Bundesrepublik, aber nicht von der Bundeswehr. Denn sie hat keinen dieser Flugabwehrpanzer mehr im Dienst, keine Munition im Depot und keine Ausbilder parat. Also springt KMW ein.

Im Krieg gegen Russland helfen die »Geparden« dabei, ukrainische Städte vor den russischen Luftschlägen zu schützen. Bis 2010 verfügte auch die Bundeswehr über das Flugabwehrsystem. Aus fehlender politischer Weitsicht und wegen zu geringer finanzieller Mittel wurde der Flak-Panzer aussortiert. Luftangriffe auf Deutschland und auf die Soldaten in den Auslandseinsätzen wie im Kosovo oder am Hindukusch schienen unwahrscheinlich. In Afghanistan oder Mali setzen die Gegner keine Flugzeuge, keine Kampfhubschrauber oder gar Marschflugkörper ein. Deutschland fühlte sich ohnehin von Freunden umgeben, woher sollte eine Bedrohung kommen?

Selbst die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland 2014 änderte an dieser Haltung nichts, ebenso wenig die Besetzung von Teilen der Oblaste Luhansk und Donezk, zwei Verwaltungsbezirke im Osten der Ukraine, durch aus Moskau gelenkte Separatisten. Obwohl damit erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg gewaltsam Grenzen in Europa versetzt wurden, machte Deutschland weiterhin Erdgasgeschäfte mit dem Kreml und rüstete im Gegensatz zu vielen Verbündeten kaum auf. Erst der russische Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 ließ Olaf ScholzScholz, Olaf die »Zeitenwende« ausrufen, von der aber niemand so genau zu sagen vermag, wie nachhaltig sie wirklich sein wird. Bis Anfang 2023 jedenfalls hat die Bundeswehr wenig davon gemerkt. Außer warmen Socken und ein wenig mehr »persönliche Ausrüstung« ist bei den Soldaten nach zwölf Monaten »Zeitenwende« noch keine neue Ausstattung angekommen.

Für die Bundeswehr gilt das Primat der Politik. Bundesregierung und Bundestag legen fest, wo und wie die Parlamentsarmee eingesetzt, womit sie ausgestattet wird, wie groß und wie schlagkräftig sie ist. Die Abgeordneten entscheiden nicht nur über die Auslandmissionen, sondern auch über die Höhe des »Einzelplans 14«, wie der Wehretat genannt wird. Alle Beschaffungsprojekte, die 25 Millionen Euro überschreiten, müssen vom Haushaltsausschuss abgesegnet werden. Der Verteidigungsausschuss begleitet die Truppe und kann, wenn dessen Mitglieder Missstände entdeckt haben, als Untersuchungsausschuss einzelne Probleme durchleuchten. Zudem wählt der Bundestag den Wehrbeauftragten, an den sich Soldaten bei Mobbing durch Vorgesetzte, bei Diskriminierungen, bei Ärger über die schlechte Ausstattung oder andere Sorgen wenden können.

Stets waren und sind die Streitkräfte von der Politik gelenkt und beeinflusst. Schon Carl von Clausewitzvon Clausewitz, Carl, der preußische General und Kriegstheoretiker, stellt in seinem 1831 erschienenem Hauptwerk »Vom Kriege« fest: »So sehen wir also, dass der Krieg nicht bloß ein politischer Akt, sondern ein wahres politisches Institut ist, eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln.« Was Clausewitzvon Clausewitz, Carl über die militärischen Konflikte und damit auch über die Streitkräfte seiner Zeit sagt, gilt auch für die Bundeswehr seit ihrer Gründung bis heute. Stets ist sie ein Mittel der Politik, oft genug auch ein Spielball.

So braucht der erste Kanzler der Bundesrepublik, Konrad AdenauerAdenauer, Konrad, die Soldaten nicht für die Verteidigung, er stellt eine Armee auf, um die Souveränität der Bundesrepublik zu erlangen. Der Christdemokrat sieht die Westbindung seines jungen Staates gefährdet ohne eine Aufnahme in die NATO – und das geht nur mit eigenen Streitkräften. 1945 hatten die Alliierten das Militär in Deutschland aufgelöst. Zehn Jahre lang gab es nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht keine regulären deutschen Truppen im Land. 1955 schuf das Kabinett AdenauerAdenauer, Konrad dann eine neue Armee, um das wichtigste außenpolitische Ziel zu erreichen, die Integration in das westliche Verteidigungssystem als souveräner Staat.

Deutschlands erster Verteidigungsminister, Theodor BlankBlank, Theodor, erklärt 1955 vor dem Bundestag in Bonn: »Die Bundesregierung ist sich der Schwierigkeiten und der Bedeutung der vor ihr stehenden Aufgaben bewusst. Sie hätte den Weg, der jetzt beschritten wird, die Aufstellung von Streitkräften, gern vermieden, wenn sich eine andere Möglichkeit gezeigt hätte.« Das Protokoll des Parlaments vermerkt Gelächter bei den Sozialdemokraten. BlankBlank, Theodor ist vor den Abgeordneten im Plenarsaal ehrlich, die Gründung der Bundeswehr ist für ihn ein notwendiges Übel. Hier zeigt sich von 1955 bis ins Heute hinein eine durchgehende Linie: Verschiedene Bundesregierungen nutzen die Truppe immer wieder als Mittel der Politik – oft auch kurzfristig, ohne die Soldaten für ihre Aufträge ausreichend auszurüsten oder ihnen neue Strategien zu erklären.

Die Bundeswehr besteht seit bald sieben Jahrzehnten. Damit existiert sie länger als jede andere deutsche Armee seit der Gründung des Deutschen Reiches 1871. Auf knapp 48 Jahre Existenz kommt die kaiserliche Truppe, die Reichswehr auf 13 und die Wehrmacht auf zwölf. Mehr als drei Jahrzehnte lang wussten die Angehörigen der Bundeswehr genau, wozu sie gebraucht wurden. Im Kalten Krieg waren die Streitkräfte zur Abschreckung da. Mit dessen Ende setzten das Schrumpfen und das Sparen ein. Im wiedervereinigten Deutschland geriet die Armee in eine Sinnkrise. Zahlreiche Auslandseinsätze begannen in den Neunzigerjahren, einige davon laufen bis heute. Nun dient die Bundeswehr erneut als Mittel der Außenpolitik. Mit ihr zeigt die Bundesregierung ihre Bereitschaft, auf dem internationalen Parkett mehr Verantwortung zu übernehmen. Schließlich strebt das wiedervereinigte Deutschland selbstbewusst einen Sitz im Weltsicherheitsrat an. Doch diese ehrgeizigen Ambitionen werden nicht finanziell im Wehretat hinterlegt. Seit Jahrzehnten fehlt es der Bundeswehr nicht nur an geeigneter Rüstungstechnik wie großen Transportflugzeugen, einsatzbereiten schweren Hubschraubern, Uniformen für unterschiedliche Klimazonen, sondern auch an klaren Bekenntnissen aus der Politik zu laufenden Missionen, Reformen und Aufgaben.

Der Gepard, der dem Bundeskanzler gezeigt wird, steht exemplarisch für die kurzsichtige und fehlgeleitete Sicherheitspolitik in Deutschland. Politik und militärische Führung haben ab 2010 wider besseren Wissens den Flak-Panzer aufgegeben, weil dessen Modernisierung zu teuer schien. Für den dringend benötigten Nachfolger fehlten allerdings ebenfalls die finanziellen Mittel. Also löste die Bundeswehr 2012 die Heeresflugabwehr auf, deren Aufgabe es war, die eigenen mobilen Verbände vor gegnerischen Luftschlägen zu schützen. Der Gepard ist nur ein Fall von vielen, in dem die Politik den Soldaten einen lebensnotwendigen Schutz weggespart hat, wehrbürokratisch wird das als »Fähigkeitslücke« verbrämt.

Diese Panzer und anderes Material auszusortieren und sie ins Ausland und an die heimische Industrie zu verkaufen, das gehe schnell. Aber eine neue Heeresflugabwehr aufzubauen, das dauere mindestens ein Jahrzehnt, sagen Experten. Bereits 2021 stellte Hans-Peter BartelsBartels, Hans-Peter, der frühere Wehrbeauftragte des Bundestages, fest: »In der Mitte Europas braucht die NATO ein größeres, einsatzbereites deutsches Heer. Es muss schnell verlegfähig sein und sich in der Bewegung selbst schützen können, auch gegen Luftbedrohung.« Nach dem 24. Februar 2022 haben in Deutschland viele verstanden, dass die Bundesrepublik eben doch nicht nur von Freunden umgeben ist. Beim Heer weiß die Spitze natürlich, dass sie eine eigene Flugabwehr braucht, die den Schutz der Panzertruppe und Infanterie vor feindlichen Luftangriffen übernimmt. Im Kalten Krieg unterhielt die Landstreitkraft noch zwei Waffensysteme dafür: den Flugabwehrraketenpanzer »Roland« und den »Gepard«. Damals war diese mobile Flugabwehr der Bundeswehr herausragend innerhalb der NATO. Heute kann die Truppe auf dem Gefechtsfeld kleine Drohnen und Schwärme der ferngelenkten Flieger kaum abwehren. Vorhanden sind Ende 2022 nur noch 19 altersschwache »Wiesel«-Panzer, die mit »Stinger«-Raketen bestückt sind und bei der Bundeswehr als »leichtes Flugabwehrsystem Ozelot« bezeichnet werden. Sie unterstehen der Luftwaffe, die damit das Heer beschützen soll. Von den 19 Exemplaren sind aber wegen des hohen Alters nie alle dauerhaft einsatzbereit. Bodentruppen der Bundeswehr können damit außerhalb von Feldlagern kaum verteidigt werden.

Der Umgang mit der Heeresflugabwehr zeigt, dass die Politik immer wieder leichtfertig sicherheitspolitische Entscheidungen fällt, die langfristige Auswirkungen auf die Verteidigungs- und Einsatzfähigkeit der Bundeswehr haben. Ein Fachmann kritisiert das deutlich: »Die Strukturänderungen mit Blick auf die Heeresflugabwehr und die Verlagerung der Aufgaben an die Luftwaffe war einer der schwersten organisatorischen Fehler der vergangenen 20 Jahre«, stellt Generalleutnant a.D. Kersten LahlLahl, Kersten fest. »Es wäre ein Irrglaube anzunehmen, einmal vollzogene Strukturänderungen seien locker von heute auf morgen wieder zurückzunehmen. Nein, jeder Fehler hier dauert Jahre, um ihn halbwegs wieder auszubügeln. Leider.«

Als Russland die Ukraine überfällt, wird deutlich, wie wichtig die Heeresflugabwehr ist. Die Ukrainer hatten zunächst zu wenig Schutz vor feindlichen Luftschlägen. Dann kamen Flugabwehrsysteme aus dem Westen, darunter die »Geparden« aus Deutschland. Nach einem Jahr Krieg sieht die Lage für die ukrainischen Streitkräfte nun wesentlich besser aus. Bei ihren erfolgreichen Gegenoffensiven im September und Oktober 2022 bei Charkiw im Nordosten und Cherson im Süden gibt es kaum noch russische Luftangriffe auf die vorrückenden Verbände, die russische Führung hatte schon so viele Flugzeuge und Helikopter verloren, dass sie ihre restliche Luftwaffe schont. Sie beschießt stattdessen monatelang ukrainische Städte mit Raketen sowie Marschflugkörpern und attackiert mit Kamikazedrohnen. Von diesen Angriffen fängt die ukrainische Luftverteidigung oft mehr als 70 Prozent ab. In Deutschland wären die Streitkräfte dazu nicht in der Lage. Die Bundeswehr könnte wohl keine einzige deutsche Großstadt vor Luftschlägen schützen.

Die Fähigkeitslücke bei der Flugabwehr soll mit der von ScholzScholz, Olaf ausgerufenen »Zeitenwende« behoben werden. 100 Milliarden Euro gibt es als Sondervermögen für die Truppe. Aber Anfang 2023 sind noch keine Verträge unterschrieben, und bis ein so komplexes System aufgebaut ist und Soldaten daran ausgebildet sind, werden viele Jahre vergehen. In diesem Bereich hätten Deutschland und Europa akute Lücken und großen Nachholbedarf, räumt Verteidigungsministerin Christine LambrechtLambrecht, Christine Ende 2022 ein. Nun würden die Herausforderungen aber wirklich angegangen. Das sei die Zeitenwende.

Ihr Nachfolger hat sich dem Problem bereits angenommen. Verteidigungsminister Boris PistoriusPistorius, Boris, seit dem 19. Januar 2023 im Amt, kündigte nun an, die »Gepard-Lücke« schließen zu wollen und generell die Luftverteidigung zu stärken. Deutschland hat sich dazu mit 14 anderen europäischen Staaten zusammengetan. Fehlende Flugabwehr ist nicht nur in der Bundesrepublik ein Thema.

Die Sozialdemokraten, in der Ampel-Koalition für die Bundeswehr zuständig, weisen immer wieder daraufhin, dass die Probleme der Truppe von den Verteidigungsministern aus CSU und CDU verursacht worden seien. Tatsächlich wurde die Bundeswehr seit dem Ende des Kalten Krieges von vielen Politiker kaum beachtet und geachtet. Oft genug schlug ihr aus der Politik Desinteresse entgegen. So gilt der Verteidigungsausschuss bei Parlamentariern als unattraktiv, das Amt des Verteidigungsministers als Schleudersitz und für große Nähe zur Truppe oder der Rüstungsbranche werden Abgeordnete in den Medien und von Friedensgruppen regelmäßig kritisiert. »Wir alle sind in den letzten Jahren den sicherheitspolitischen Mainstream mitgegangen, die Landes- und Bündnisverteidigung zu vernachlässigen«, räumt Lars KlingbeilKlingbeil, Lars, Parteivorsitzender der SPD, 2022 ein. »Nur die wenigsten sind davon ausgegangen, dass PutinPutin, Wladimir die Ukraine angreift. Wenige Tage später hat Putin seinen Angriff gestartet. Mich beschäftigt bis heute, dass wir das alle nicht gesehen haben.«

Die Bundeswehr ist auf die Aggression der russischen Armee nicht vorbereitet – auch nicht darauf, kurzfristig die Bündnisverteidigung zu verstärken. Seit Jahrzehnten reiht sich eine Reform an die nächste. In viel zu kurzen Abständen soll die Bundeswehr neu erfunden werden. Meist geht es darum, ihre Struktur an die von politischer Seite beschlossenen Sparpläne anzupassen.

Wohin das geführt hat, macht Alfons MaisMais, Alfons, der Inspekteur des Heeres, am 24. Februar 2022 klar. Er schreibt, das Heer stehe »mehr oder weniger blank da«, ausgerechnet in dem Moment, in dem in Europa ein Krieg beginnt. »Die Optionen, die wir der Politik zur Unterstützung des Bündnisses anbieten können, sind extrem limitiert.« Seine kurze Nachricht von wenigen Zeilen löst große Aufmerksamkeit aus, bei manchem auch Empörung oder Entsetzen.

MaisMais, Alfons gehört seit 1981 zum Heer. Er lernt die Bundeswehr im Kalten Krieg kennen, Der heutige Spitzengeneral ist in Koblenz aufgewachsen, damals die größte Garnisonsstadt in der Bundesrepublik. Militär und Panzer waren allgegenwärtig auf den Straßen. Seine Schule bekam regelmäßig Besuch von Jugendoffizieren. Und einmal im Jahr machte seine Klasse einen Ausflug in eine Kaserne. Damals hatte die Bundeswehr einen klaren Auftrag, die Landes- und Bündnisverteidigung. Die Truppe war mit zahlreichen Waffensystemen gut ausgestattet, mit mehr als 7000 Kampf-, Schützen- und sonstigen Panzern, gut 1000 Kampfflugzeugen, 40 Raketenschnellbooten, 24 U-Booten sowie einigen Zerstörern und Fregatten.

Als MaisMais, Alfons seine Sorge über den Zustand der Truppe äußert, verfügt die Bundeswehr über weniger als 300 Kampfflugzeuge. 266 Kampfpanzer sind einsatzbereit. Russland hingegen kann zum Zeitpunkt seines Angriffs auf die Ukraine 12400 solcher Kolosse auf Ketten aufbieten – und die Vereinigten Staaten immerhin halb so viele. Deutschland steht weltweit auf Platz 55 der Staaten mit den meisten Kampfpanzern.

41 Jahre dient MaisMais, Alfons bereits als Soldat, für ihn ist der russische Angriff ein tiefer Einschnitt, vergleichbar mit dem Fall der Berliner Mauer und den Terroranschlägen am 11. September 2001, sagt er in einem Video, das das Verteidigungsministerium veröffentlicht hat. Der Generalleutnant lobt die Versuche, die Einsatzbereitschaft der Armee zu verbessern, stellt aber auch fest, dass die Bundeswehr nicht mehr die Möglichkeit habe, auf eine unerwartete Situation unmittelbar zu reagieren, also nicht wie die Feuerwehr bei einem Alarm sofort aufbrechen zu können.

Ende März 2022 wendet er sich in einem Inspekteurbrief an seine Soldaten. Er beschreibt die Folgen des russischen Angriffskrieges, das Leiden in der Ukraine, persönliche Tragödien, auch den Bruch der festgefügten Ordnung in Europa. Mit dem »erneuten völkerrechtswidrigen Handeln der Russischen Föderation« sei »für Europa eine Zeitenwende eingetreten. Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt«. Vorbereitet ist das Heer darauf nicht. »Ausbildung und Einstellung alleine reichen jedoch zur Auftragserfüllung nicht aus«, heißt es weiter. »Nur die Verbindung gut ausgebildeter und in ihrem Wertefundament gestärkter wehrwilliger Soldatinnen und Soldaten mit einer angemessenen Ausstattung und hoher materieller Einsatzbereitschaft unserer Waffensysteme führt letztlich zur Verteidigungsfähigkeit des Heeres.« Eine klare Forderung an die Politik.

Deutliche Worte findet auch die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva HöglHögl, Eva, in ihrem Jahresbericht 2022. »Um die Bundeswehr bei Material, Personal und Infrastruktur bestmöglich aufzustellen, braucht es Investitionen. Sie muss modernisiert werden, insbesondere um für ihren Kernauftrag der Landes- und Bündnisverteidigung gerüstet zu sein. Die Dringlichkeit und Notwendigkeit dessen legt PutinsPutin, Wladimir Angriff auf die Ukraine schonungslos offen.« Tatsächlich haben die Streitkräfte der Bundesrepublik so viele Mängel, dass Deutschland nicht verteidigungsbereit ist. 1962, bei der »›Spiegel‹-Affäre«, galt Westdeutschland immerhin noch als »bedingt abwehrbereit«.

Verschiedenen Bundesregierungen waren und sind diese Mängel durchaus bewusst. 2019 stellte das Bundeskabinett unter Kanzlerin MerkelMerkel, Angela in seinem »Weißbuch zur Sicherheitspolitik« fest: »Die stärkere Akzentuierung von Landes- und Bündnisverteidigung einschließlich der Abschreckung – insbesondere an der Peripherie der Allianz – verlangt von der Bundeswehr, ihre Einsatzorientierung auf diese anspruchsvolle Aufgabe und die hierzu notwendige Vorbereitung zu erweitern. Hieraus resultierende Verpflichtungen und Maßnahmen haben mit den jüngsten sicherheitspolitischen Veränderungen eine neue Dimension erreicht. Sie werden absehbar verstärkt die Fähigkeiten der Bundeswehr in der gesamten Bandbreite fordern.« Passiert ist trotz dieser Erkenntnis allerdings nur wenig.

Im Interview mit »ZEITONLINE« im Sommer 2022 sagte Alfons MaisMais, Alfons: »Dass der Zustand der Bundeswehr so ist, wie er heute ist, ist ja kein Zufall, sondern das geht auf bewusste Entscheidungsprozesse von vor zwölf Jahren zurück. In Folge der Finanzkrise standen wir damals unter erheblichem Spardruck. Unter den Verteidigungsministern Karl-Theodor zu Guttenbergzu Guttenberg, Karl-Theodor (CSU) und Thomas de Maizièrede Maizière, Thomas (CDU) wurde die Frage aufgeworfen, was wir uns leisten können, welche Streitkräfte wir eigentlich brauchen und was der Hauptauftrag der Bundeswehr sein soll.« MaisMais, Alfons beleuchtet die Rolle der Politik: »Im Ergebnis verlor die Landes- und Bündnisverteidigung drastisch an Bedeutung. In der Annahme, dass wir nur von Freunden umgeben wären, wurde entschieden, dass das keine prioritäre Aufgabe der Streitkräfte mehr sein sollte. Auch die Abschaffung der Flugabwehr beim Heer und die Aussetzung der Wehrpflicht waren bewusste Entscheidungen.«

Nun sind es klare politische Entscheidungen, die Regierung in Kiew im Krieg gegen Russland zu unterstützen. Die Bundeswehr gibt dafür viele Waffensysteme ab, die sie eigentlich selbst für die Landesverteidigung braucht. So erhalten die ukrainischen Streitkräfte »Panzerhaubitzen 2000«, von denen das Heer nur wenige einsatzbereite Exemplare hat, um die eigenen Soldaten ausreichend auszubilden, dazu Mehrfachraketenwerfer vom Typ »MARSII«, die Mangelware bei der Truppe sind, oder eben die »Geparden«, deren Reaktivierung so mancher deutscher Soldat erhofft hatte.

Fast schon ironisch mutet es an, dass ausgerechnet der vor fast 20 Jahren ausgemusterte Gepard nun eine Rolle in einem Krieg spielt, der ScholzScholz, Olaf dazu gebracht hat, die Zeitenwende auszurufen, der Landesverteidigung eine neue Priorität einzuräumen und die bedeutende Rolle der Bundeswehr für die Sicherheit und Freiheit der Bundesrepublik zu betonen. »Zeitenwende« wurde 2022 zum »Wort des Jahres« gewählt. Für die Soldaten der Bundeswehr ist das ein großes Wort, das bisher nur zu sehr kleinen Änderungen ihres Alltags in Uniform geführt hat.

KAPITEL1Ein Tag im November – 101 Soldaten werden vereidigt

Auf Schmuck, Pomp, Trommelwirbel, Stechschritt und die Präsentation von Waffen verzichtet die neue Armee an diesem Samstag, dem 12. November 1955, an ihrem Gründungstag. Noch ist sie namenlos und wird von der Bevölkerung mehrheitlich abgelehnt. Sie verfügt noch über keine Panzer, Flugzeuge oder Kriegsschiffe und hat gerade einmal so viel Personal wie die Schweizer Garde im Vatikan. Die Geschichte der »neuen Wehrmacht«, wie sie zunächst aus Verlegenheit genannt wird, beginnt in einer schlichten Kasernenhalle in der provisorischen Hauptstadt Bonn.

Dennoch ist das Interesse in der Öffentlichkeit groß. 50 Journalisten berichten über die Zeremonie. Radioreporter und Kamerateams zeichnen den Festakt auf, strecken den neuen Soldaten ihre Mikrofone entgegen. Fotografen drängen sich in der Halle der Ermekeil-Kaserne, die früher der Kavallerie zum Trainieren diente. Das Bundesministerium für Verteidigung nutzt das Gebäude als Garage. An diesem Samstag allerdings haben sich Männer vor einem Rednerpult aufgereiht. Sie sind angetreten, um als erste Soldaten in die westdeutschen Streitkräfte aufgenommen zu werden. Militärisches Zeremoniell kennen sie aus der Reichswehr und der Wehrmacht. Sie erinnern sich an »Große Zapfenstreiche« und Paraden, mit denen Siege und besondere Anlässe gefeiert wurden, mit Fackeln, Militärmusik und Ehrenformationen. So schlicht wie heute ging es noch bei keiner deutschen Armee an einem solch bedeutenden Tag zu. Die Wand hinter dem Rednerpult schmückt eine schwarz-rot-goldene Fahne, die Dienstflagge der Bundesrepublik, ein paar Kübelpflanzen mit Chrysanthemen stehen vor dem Rednerpult. An der Wand hängt ein riesiges Eisernes Kreuz.

Damit verweist die Truppe auf die Befreiungskriege gegen Napoleon. 1813 stiftete der preußische König Friedrich Wilhelm III.Friedrich Wilhelm III. das Eiserne Kreuz. Entworfen hat den Orden der Architekt Karl Friedrich SchinkelSchinkel, Karl Friedrich nach einer Zeichnung des Monarchen. Auszeichnen will der Herrscher damit den »vaterländischen Verdienst«, der »in dem jetzt ausbrechenden Kriege, entweder im Kampf mit dem Feinde oder außerdem im Felde oder daheim, jedoch in Beziehung auf diesen großen Kampf um Freiheit und Selbstständigkeit erworben wird«. Vor dem Angriff auf Polen im September 1939 schuf Adolf HitlerHitler, Adolf den Orden neu, in mehreren Klassen. Bei den westdeutschen Streitkräften soll das Eiserne Kreuz den Soldaten ein »Sinnbild sittlich gebundener Tapferkeit« sein. Es wird als Hoheitszeichen künftig die Kampffahrzeuge und Flugzeuge der neuen Armee zieren. Das Eiserne Kreuz wird zu ihrem zentralen Symbol.

Zehneinhalb Jahre lang, seit der deutschen Kapitulation im Mai 1945, verfügt Deutschland über kein Militär. Dann bekommen die ersten 101 Freiwilligen von Verteidigungsminister Theodor BlankBlank, Theodor ihre Ernennungsurkunden für den Dienst in den Streitkräften überreicht. Dass es überhaupt dazu kommt, ist nicht unumstritten. In Westdeutschland wird über die Wiederbewaffnung kontrovers diskutiert. Nicht nur Pazifisten lehnen es ab, dass abermals Deutsche als Soldaten dienen sollen. Auch Veteranen des Weltkrieges schwören »nie wieder«. Dennoch schafft die Bundesregierung unter Konrad AdenauerAdenauer, Konrad nun Fakten.

Seit 1950 lässt der Bundeskanzler die Wiederbewaffnung planen. In den Jahren und Monaten zuvor war der Kalte Krieg eskaliert. Sowjetische Truppen hatten Westberlin abgeriegelt, das kommunistische Nordkorea den Süden der Halbinsel überfallen. Auch die Bundesrepublik scheint durch die Truppen des Ostblocks bedroht zu werden. Durch Deutschland und Europa ziehe sich ein »Eiserner Vorhang«, wie Winston ChurchillChurchill, Winston1946 sagte und damit einen Begriff prägt. Die Konfrontation der Supermächte kann hier, so fürchten die Verantwortlichen in Bonn, an der Frontline rasch von kalt in heiß übergehen. »Asien steht an der Elbe«, warnt Kanzler AdenauerAdenauer, Konrad und meint damit die sowjetischen Kräfte. Im Mai 1955 tritt die Bundesrepublik der North Atlantic Treaty Organisation, der NATO, bei. Im Gegenzug fordern die Bündnispartner von der Regierung AdenauerAdenauer, Konrad, dass diese Streitkräfte aufbaut. Nun muss das neugegründete Verteidigungsministerium liefern.

Der erste Dienstsitz des Ministeriums befindet sich in der Ermekeil-Kaserne. Die Bonner verspotten die historische Anlage als »Ärme-Kääls-Kaserne« – die Heimat der »Armen Kerle«. Früher wurden in der Liegenschaft in der Südstadt in der Nähe des Rheins die Rekruten von preußischen Infanterieregimentern gedrillt, nun sind dort zunächst die gesamten neuen Streitkräfte untergebracht. Die Zentrale der Wiederbewaffnung liegt in einem Wohnviertel des neuen Regierungssitzes. In verwinkelten alten Gebäuden aus rotem Backstein und einigen neueren Bürohäusern mit hellverputzter Fassade beginnt die Wiederbewaffnung. In der Kaserne planen ehemalige Offiziere der Wehrmacht als Beamte oder als militärische Berater, wie die Armee der Demokratie aussehen soll.

Im Juni 1955 wird aus dem Amt BlankBlank, Theodor das Bundesministerium für Verteidigung. Nun hat Westdeutschland mit Theodor BlankBlank, Theodor wieder einen für die Armee zuständigen Minister, aber noch keine Soldaten. Das ändert sich am 12. November. Bereits einen Monat zuvor, am 10. Oktober 1955, hatte Bundespräsident Theodor HeussHeuss, Theodor die Urkunden für die ersten Männer der Streitkräfte unterzeichnet. Aber bis zur Übergabe lassen die Verantwortlichen sich Zeit. Sie warten auf ein besonderes Datum, den 200. Geburtstag des Generalleutnants Gerhard von Scharnhorstvon Scharnhorst, Gerhard.

In seiner Ansprache vor den Freiwilligen verweist BlankBlank, Theodor an diesem Tag auf den preußischen General, der manchem als erster moderner Berufssoldat gilt. Der Minister sagt, dass der Reformer Scharnhorstvon Scharnhorst, Gerhard die Armee und die Nation vereinigen wollte. »Dann hat er mit seiner nie ermüdenden, großen inneren Kraft seine Ideen gegen eine vielfach widerstrebende Umwelt durchgesetzt.« Blank war 1939 wie so viele andere Männer zur Wehrmacht einberufen worden. Er stieg bis zum Oberleutnant auf und kehrte nach Kriegsende rasch aus der Gefangenschaft zurück. Der studierte Ingenieur gehört zu den Mitbegründern der Christlich Demokratischen Union (CDU).

BlankBlank, Theodor scheint in Scharnhorstvon Scharnhorst, Gerhard einen Seelenverwandten zu sehen – oder spricht er ein wenig über sich selbst? Schließlich kämpft er seit mehr als fünf Jahren für die Wiederbewaffnung, gegen die es Widerstände in vielfacher Form und allen Gesellschaftsschichten gibt. Sogar ein Bundesminister ist aus Protest gegen die Aufrüstung bereits zurückgetreten. Gustav HeinemannHeinemann, Gustav, für das Innenressort zuständig, fühlte sich von AdenauerAdenauer, Konrad übergangen, als der den Aufbau einer Armee ankündigte. »Wir legitimieren unser Deutschland selbst als Schlachtfeld, wenn wir uns in die Aufrüstung einbeziehen«, schrieb er in seiner Begründung. »Es kommt darauf an, dass die Chance für eine friedliche Lösung nicht verlorengeht. Unsere Beteiligung an der Aufrüstung würde das Aufkommen einer solchen Chance kaum mehr offen lassen.« HeinemannHeinemann, Gustav befürchtet zudem, dass der Staatsapparat noch so wenig eingespielt und gefestigt sei, dass die militärische Macht nahezu unvermeidlich wieder eine eigene politische Willensbildung entfalten werde.

BlankBlank, Theodor weiß, wie kontrovers die neuen Streitkräfte gesehen werden. Und so warnt er die Soldaten: »Angesichts der vor uns liegenden Aufgaben wollen wir aber auch nicht vergessen, dass Scharnhorsts Werk nach einigen Jahren nach dem Wiener Kongress einen erheblichen Rückschlag erlitt durch Kräfte, die sich vom Gestern nicht lösen konnten. Diese Entwicklung mahnt uns mit allem Nachdruck, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen und uns nicht von ihm abbringen zu lassen.« Nun sei in »den Neubau unseres Staates« das zehn Jahre »fehlende Element der Verteidigung« einzufügen.

Der Minister verspricht den vor ihm angetretenen Männern keine goldene Zukunft. Er prophezeit ihnen stattdessen harte Arbeit und schwere Aufgaben. »Ich möchte Sie bitten, diesen, ihren Auftrag niemals aus dem Auge zu lassen: Durch Erhöhung der Verteidigungsbereitschaft, zur Sicherung des Friedens beizutragen. Nur darin kann der Sinn soldatischer Existenz gesehen werden.«

Nach BlankBlank, Theodor tritt Generalleutnant Adolf HeusingerHeusinger, Adolf ans Mikrofon. Er antwortet für die Armee. 58 Jahre ist er alt. »Dem Herren Bundespräsidenten und der Bundesregierung danken wir für das Vertrauen, das sie uns durch die Ernennung zu Soldaten ausgesprochen haben. Dieses Vertrauen verpflichtet uns, all’ unsere Kräfte für den Frieden, unser Volk und Vaterland einzusetzen«, sagt der Offizier mit ruhiger Stimme und nüchterner Sachlichkeit. Das Gedenken an Millionen deutscher Soldaten der Vergangenheit und die tiefe Verbundenheit mit ihnen verlange Gehorsam, Kameradschaft und Treue. Und weiter: »Das geloben wir in dieser Stunde.«

Weder an die Reichswehr in der Weimarer Republik noch an die Wehrmacht soll die neue Armee anknüpfen. Sie erhält eine Traditionslinie mit Brüchen und Lücken. HeusingerHeusinger, Adolf hebt ebenfalls mit Scharnhorstvon Scharnhorst, Gerhard nur einen früheren Militär namentlich hervor. Und der starb etwas mehr als ein Jahrhundert vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges. Als Vorzeigedemokrat kann der Adelige, der 1755 geboren wurde und 1813 gestorben ist, kaum gelten. Aber Scharnhorstvon Scharnhorst, Gerhard war ein Reformer, der die preußische Truppe effizienter und schlagkräftiger gemacht hat, dabei auf Bildung setzte, altes Elitedenken ablehnte und das Leistungsprinzip bei Beförderungen einführte. Außerdem gilt der preußische General als Schöpfer der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland. Von ihm ist der Satz überliefert: »Alle Bewohner des Staates sind geborene Verteidiger desselben.« Das reicht 1955, um als geeignetes Symbol für die neue Truppe zu dienen.

An Scharnhorsts Geburtstag also werden die neuen Soldaten, die große Mehrzahl von ihnen sind Veteranen des Zweiten Weltkrieges, auf die zweite Demokratie auf deutschem Boden eingeschworen. Erst wenige der Männer haben schon ihre grauen und blauen Ausgehuniformen erhalten. Sie tragen große Schirmmützen, Handschuhe und polierte Lackschuhe. Ihre Kameraden müssen im »Straßenanzug« antreten, in ihrer Zivilkleidung. Es gibt schlicht zu wenige Uniformen für alle. Und selbst diejenigen, die bereits ausstaffiert wurden, erhalten nicht immer passende Teile. Generalleutnant HeusingerHeusinger, Adolf ist seine Mütze zu groß, sie rutscht ihm über die Ohren. Er hält sie in der Hand, als die Fotografen ihn ablichten.

Die neuen Uniformen der Streitkräfte gefallen den meisten Soldaten nicht wirklich. »Affenjäckchen« nennen sie verächtlich das Oberteil. Das Aussehen soll sich von der Wehrmacht deutlich unterscheiden, aber auch nicht zu stark an die Uniformen der neuen Verbündeten oder gar der Russen erinnern.

HeusingerHeusinger, Adolf gehört bereits der vierten Armee an. Sein ganzes Leben lang ist er Militär. Er hat als junger Frontoffizier im Ersten Weltkrieg gekämpft, gehörte zu den Streitkräften der Weimarer Republik, zur Reichswehr. Nach dem Scheitern der ersten deutschen Demokratie und der Machtübergabe an Adolf HitlerHitler, Adolf benannte das NS-Regime die Truppe in Wehrmacht um. 1935 führte HitlerHitler, Adolf die Wehrpflicht wieder ein, eine massive Aufrüstung begann und die Armee wuchs rasch. Und auch in ihr diente HeusingerHeusinger, Adolf treu. Als Chef der Operationsabteilung im Generalstab des Heeres trug er dem Diktator fast täglich die aktuelle Lage vor. Am 20. Juli 1944 berichtete er seinem obersten Befehlshaber in der Lagebaracke des Führerhauptquartiers »Wolfschanze« über die dramatische Situation der unter sowjetischem Druck stehenden Heeresgruppe Nord. HitlerHitler, Adolf, der direkt links neben dem General über den Tisch gebeugt auf die Karte schaute, unterbrach ihn wieder einmal brüsk, raunzte ihn an, das habe sich die Heeresgruppe selbst zuzuschreiben und beugte sich dann weiter über den sechs Meter langen Tisch aus Eichenholz.

Ganz in der Nähe hatte Claus Schenk Graf von StauffenbergGraf von Stauffenberg, Claus Schenk seine Aktentasche mit einer Bombe darin platziert. Um 12:42 Uhr detonierte der Sprengsatz. HeusingerHeusinger, Adolf überlebte den Anschlag, genau wie HitlerHitler, Adolf. Sie rettete die massive Eichenplatte. Die Explosion verletzte den General am Kopf, an den Armen und den Beinen, er kam ins Lazarett. Vier andere Anwesende starben und viele wurden schwer verwundet.

HeusingerHeusinger, Adolf wusste von den Anschlagplänen einiger hochrangiger Offiziere, er hegte durchaus Sympathie für deren Ziele, er stand HitlerHitler, Adolf kritisch gegenüber, gehörte selbst aber nicht zum Widerstand. Drei Tage nach dem Attentat nahmen ihn Gestapo-Beamte im Lazarett fest und brachten ihn nach Berlin in ihre Zentrale. Dort verhörten ihn die Geheimpolizisten, stellten ihn Zeugen gegenüber, drohten. Die Behörde verdächtigte ihn, ein »Mitwisser« zu sein, aber Beweise gab es dafür nicht und ein Geständnis legte HeusingerHeusinger, Adolf nicht ab. Er verfasste eine Denkschrift für HitlerHitler, Adolf über die militärische Lage, mit der er sich entlasten wollte. Einmal noch empfing ihn der Diktator, dann entfernte er HeusingerHeusinger, Adolf aus dem aktiven Dienst und versetzte ihn in die »Führerreserve«. Er erhielt die Auflage, dass er seinen Wohnsitz in Walkenried am Rand des Harzes nicht verlassen dürfe.

Elf Jahre später zählt HeusingerHeusinger, Adolf zu den höchsten Soldaten der neuen Truppe. In der Vorgängerarmee hat er es bis zum Generalleutnant geschafft und trägt diesen Rang nun auch in den westdeutschen Streitkräften. Hans SpeidelSpeidel, Hans, der ebenfalls bereits im NS-Staat zum General aufstieg, hat genauso viele goldene Sterne auf den Schultern. Die Spitzenmilitärs sind im Ausland nicht unumstritten. Aus sozialistischen Staaten werden ihnen Kriegsverbrechen vorgeworfen. So heißt es in der Zeitschrift »Kaserne«, die in der DDR hergestellt und an Soldaten in der Bundesrepublik als »Zersetzungsmaßnahme« versandt wurde, über HeusingerHeusinger, Adolf: »Seine Befehle waren Mordbefehle.« HeusingerHeusinger, Adolf hätte in Nürnberg auf der Anklagebank sitzen müssen, steht in einem Text über den General. »Denn er ist ein Kriegsverbrecher. Er hat nicht nur die Angriffspläne gegen friedliche Völker ausgearbeitet – er ist auch vieler Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig.« Über SpeidelSpeidel, Hans erscheint ein Film der DEFA, der staatlichen Filmproduktion der DDR, der ganz ähnliche Vorwürfe erhebt. Der Streifen wird in verschiedene europäische Sprachen übersetzt.

Konrad AdenauerAdenauer, Konrad hält an beiden fest. Sie beraten ihn seit Jahren in Sicherheitsbelangen. Er könne der NATO schließlich keine 18-jährigen Generäle präsentieren, sagt der Kanzler gewohnt schlagfertig. Deswegen stechen HeusingerHeusinger, Adolf und SpeidelSpeidel, Hans aus der Masse der 101 Soldaten hervor, die an diesem Samstag den Eid leisten. Beide kennen sich seit Jahrzehnten, sie besuchten 1930 gemeinsam den Generalstabslehrgang, hatten Kontakt zum militärischen Widerstand. SpeidelSpeidel, Hans, der im Krieg als Chef des Stabes bei Erwin RommelRommel, Erwin wirkte, wurde inhaftiert, nachdem sein Vorgesetzter 1944 von den Nationalsozialisten gezwungen worden war, sich selbst zu töten. Zwar konnte ihm keine Beteiligung an den Putschplänen nachgewiesen werden, dennoch kam er in ein Gefängnis am Bodensee. Dort wurde er schließlich von französischen Soldaten befreit.

SpeidelSpeidel, Hans unterstützte seinen Kameraden bei der Entnazifizierung. HeusingerHeusinger, Adolf sei »eine nach Charakter, Haltung und Leistung gleichermaßen außergewöhnliche Erscheinung, ein wahrhafter honourable man, der für den Wiederaufbau unserer Heimat und damit Europas eingesetzt werden sollte«, hatte SpeidelSpeidel, Hans1947 festgestellt. HeusingerHeusinger, Adolf kam daraufhin aus US-amerikanischer Kriegsgefangenschaft frei und spielte eine zentrale Rolle beim Aufbau der westdeutschen Streitkräfte.

AdenauerAdenauer, Konrad braucht, um die Bedingungen der Alliierten für die Westanbindung zu erfüllen, schnell eine große Armee. Schon in der Planungsphase wird HeusingerHeusinger, Adolf und seinen Generalskameraden klar, dass die vorgegebenen Ziele nicht in dem verlangten Tempo zu erreichen sind. Aber ihm gelingt es nicht, AdenauerAdenauer, Konrad und BlankBlank, Theodor bei dem ehrgeizigen Vorhaben zu bremsen. HeusingerHeusinger, Adolf folgt den Anweisungen von oben und nimmt die Folgen hin: Die Truppe wird von Anfang an überfordert und die überhastete Aufstellung verursacht unlösbare strukturelle und personelle Probleme.

HeusingerHeusinger, Adolf und SpeidelSpeidel, Hans sind die Ersten, die vereidigt werden. Dann sind die anderen 99 Soldaten an der Reihe. Sie sprechen an diesem Sonnabend die Eidesformel: »Ich verpflichte mich, das Grundgesetz für die Bundesrepublik zu wahren und meine Dienstpflichten gehorsam zu erfüllen.« Unter den ersten Soldaten finden sich 18 Oberstleutnante, 30 Majore und 40 Hauptmänner. Der niedrigste Dienstgrad ist Oberfeldwebel, Mannschafter sind nicht dabei.

»Diese Soldaten werden nun in dieser Stunde offiziell in ihren soldatischen Beruf eingewiesen. Sie bekommen eine Ernennungsurkunde, und diese Ernennungsurkunde unterscheidet sich in und durch nichts von den üblichen Urkunden, die ein Beamter bekommt, wenn er endgültig in den Staatsdienst übernommen wird«, berichtet ein Journalist des Radiosenders NWDR aus der Kraftwagenhalle seinen Hörern. So wenig spannungsgeladen wie die Rundfunkreportage fällt auch der ganze Akt aus.

Die Staatsspitze bleibt den Feierlichkeiten fern. Der Bundespräsident ist nicht dabei, als die ersten deutschen Soldaten ihren Dienst beginnen, auch der Kanzler nimmt am Akt nicht teil. Jahrelang haben AdenauerAdenauer, Konrad und sein Kabinett in harten politischen Verhandlungen im In- und Ausland dafür gestritten, dass Westdeutschland eine eigene Armee erhält. Für ihn ist sie ein Mittel zum Zweck, die chancenreichste Möglichkeit, die Bundesrepublik als souveräne Republik in das westliche Staatensystem zu integrieren. Die »neue Wehrmacht« soll ein Instrument der Politik sein. Er selbst war nie Soldat und kann sich für die Welt des Militärs nur wenig begeistern. Für ihn ist das »Soldatsein« ein Beruf »der gleichgeachtet neben anderen steht«, sagt er einmal. Eine Dominanz der Generäle in der Bonner Republik will er auf jeden Fall verhindern: »Der Militarismus ist tot.«

Als »erfreulich zivil« beschreibt die »Frankfurter Rundschau« den ersten Tag der Armee. Dass die gesamte Presse vor Ort gewesen sei, aber »leider kein sonstiger Angehöriger des Hauses« sorgt für »rechte Verstimmung«, notiert der Offizier Ulrich de Maizièrede Maizière, Ulrich über den wenig feierlichen Akt. Er kritisiert, dass nur wenige Mitarbeiter des Ministeriums in der Kraftwagenhalle dabei waren, weil so viel Platz für die Journalisten benötigt wurde. Im Bundesministerium für Verteidigung unterstellt so mancher dem Minister, dass dieser die Truppe zur Selbstinszenierung missbraucht habe. Die Kritiker sehen »das Ganze als politischen Akt, als Schaunummer für die Presse«. So sieht es auch Konrad AdenauerAdenauer, Konrad, der über den Akt schimpft, der so gar nicht feierlich abgelaufen sei, sogar ohne die Nationalhymne, das »Deutschlandlied«.

Unter Beamten und Offizieren bleibt auch das Eiserne Kreuz als Signet umstritten. So lehnt Wolf Graf von BaudissinGraf von Baudissin, Wolf, Unterabteilungsleiter im Bundesverteidigungsminister und ein früherer Offizier der Wehrmacht, der nun für eine neue militärische Führungskultur eintritt, dieses preußische Symbol ab. Mit ihm werde das »ewige Soldatentum« verherrlicht. Das Eiserne Kreuz sei kein »Sinnbild unserer Grundordnung«, sagt BaudissinGraf von Baudissin, Wolf. Seine Gegner im Ministerium, die seine geplanten Reformen ablehnen und auch das Konzept der »Inneren Führung«, das für ein neues, modernes Menschenbild in der Truppe sorgen soll, haben das bislang verhindert.

Nach der Ernennung der ersten 101 Soldaten spielt das Musikkorps des Bundesgrenzschutzes aus Kassel im Innenhof der Kaserne deutsche Militärmärsche – ein wenig traditionelles Zeremoniell gibt es an diesem Tag dann doch. Die Streitkräfte haben noch kein eigenes Orchester. Die neuen Armeeangehörigen haben allerdings nicht viel Zeit. Ob in Uniform oder im dunklen Anzug, wie alle Angestellten des jungen Verteidigungsministeriums müssen sie zurück an ihre Schreibtische. Es gibt so viel zu tun. Schon bald sollen die neuen Streitkräfte maßgeblich die Bundesrepublik schützen – unterstützt von den Alliierten.

KAPITEL2Das Amt Blank – Die Bundesrepublik bereitet die Wiederbewaffnung vor

Am 8. Mai 1945 um 23:01 Uhr endet der Zweite Weltkrieg in Europa. Die deutsche Wehrmacht hat bedingungslos kapituliert. Mehr als 60 Millionen Menschen sind weltweit gestorben und ermordet worden, lauten Schätzungen, die genaue Zahl kennt niemand. Deutschland war gleich dreifach geschlagen worden, nicht nur militärisch, sondern auch politisch und moralisch.

Wie die Nachkriegsordnung aussehen soll, darüber haben die Siegermächte bereits auf mehreren Konferenzen während des Krieges gesprochen. Vom 17. Juli bis 2. August 1945 treffen sich die Alliierten ein weiteres Mal, diesmal im besiegten Deutschland. Im Potsdamer Schloss Cecilienhof sprechen Harry S. TrumanTruman, Harry S., Josef StalinStalin, Josef und Winston ChurchillChurchill, Winston, der nach seiner Wahlniederlage während der Konferenz von seinem Nachfolger Clement AttleeAttlee, Clement abgelöst wird, über die Zukunft der Besiegten. Einig sind sich die Vertreter der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und der UdSSR, das von Deutschland keine militärische Gefahr mehr ausgehen dürfe. Innerhalb von nur 25 Jahren hatte das Land in Zentraleuropa zweimal Nachbarstaaten überfallen. Eine erneute deutsche Aggression wollen Amerikaner, Briten und Sowjets für alle Zeiten verhindern. So beschließen die Alliierten in Potsdam: »Alle deutschen Land-, See- und Luftstreitkräfte […] seien völlig und endgültig aufzulösen, und zwar so, dass die Wiederbelebung oder Neuorganisation des deutschen Militarismus und Nazismus auf Dauer verhindert wird.«

In vielen Punkten sind sich die Verbündeten aus den Vereinigten Staaten, aus Großbritannien und der Sowjetunion uneins. Die Gemeinsamkeiten sind aufgebraucht. TrumanTruman, Harry S. informiert StalinStalin, Josef während der Potsdamer Konferenz über den erfolgreichen Test einer Atombombe, einem neuen Instrument im Arsenal des Schreckens, das schon bald die weltweite Sicherheitsarchitektur bestimmen wird. Kurz darauf beendet diese neue Massenvernichtungswaffe den Zweiten Weltkrieg endgültig. Amerikanische Flugzeuge werfen über Hiroshima und Nagasaki Atombomben ab. Danach kapituliert auch Japan. Die Regierung in Washington sieht sich durch das eigene Kernwaffenprogramm in ihrem globalen Führungsanspruch gestärkt.

Gemeinsam sorgen die Alliierten für den Beginn der juristischen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen. Im Herbst 1945 kommen in Nürnberg die noch lebenden Verantwortlichen der NS-Diktatur vor Gericht. Auf einen Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher hatten sich die Alliierten bereits 1943 geeinigt. Generalfeldmarschall Wilhelm KeitelKeitel, Wilhelm und Generaloberst Alfred JodlJodl, Alfred werden zum Tode verurteilt und gehängt. Hermann GöringGöring, Hermann ist neben weiterer Verbrechen auch für Vergehen als Oberbefehlshaber der Luftwaffe angeklagt. Er hat ebenfalls ein Todesurteil erhalten, nimmt sich vor dessen Vollstreckung aber selbst das Leben. Der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, Erich RaederRaeder, Erich, erhält lebenslänglich, sein Nachfolger, Großadmiral Karl DönitzDönitz, Karl, eine Haftstrafe von zehn Jahren. Das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) und der Generalstab werden von der Anklage als »verbrecherische Organisation« eingestuft. Allerdings sehen die Richter in diesem Punkt einen Formfehler, weder die Führung noch die Armee selbst gelten als »verbrecherische Organisation«. Ehemalige deutsche Soldaten werten das als einen Freispruch für ihre Streitkräfte. Weitere Verfahren gegen ehemalige deutsche Spitzenmilitärs folgen.

Nach dem Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher machen die vier Besatzungsmächte in ihren jeweiligen Zonen allein mit Verfahren weiter. Gemeinsame Ziele finden die Sieger kaum noch, ihre Zusammenarbeit endet bald nach den Nürnberger Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher. Die ideologischen Gegensätze treten immer deutlicher zu Tage. In den Vereinigten Staaten wird die Sowjetunion zunehmend als Gefahr und als Konkurrenz wahrgenommen. Die Regierung in Washington versucht, den Kreml daran zu hindern, seinen Einfluss in Europa und Asien auszuweiten. Das sorgt zwischen den Supermächten für weitere Spannungen. Es entstehen zwei Blöcke im Westen und Osten.

Die Westtalliierten wissen, dass auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) ein beeindruckendes Truppenkontingent stationiert ist. Mehr als 30 sowjetische Divisionen mit Panzern und Militärfahrzeugen sollen dort stehen, ausgerüstet mit Munition, Treibstoff und Verpflegung, um in kürzester Zeit losmarschieren zu können. Je schlechter sich die Beziehungen mit dem Kreml entwickeln, desto bedrohlicher wirken die in der SBZ bereitgestellten Verbände. Und noch beeindruckender ist das Gesamtpotenzial der sowjetischen Streitkräfte: Bis zu 180 Divisionen mit mehr als 4 Millionen Soldaten.

Im März 1946 warnen amerikanische und britische Geheimdienste vor einer militärischen Konfrontation zwischen den Blöcken. Präsident TrumanTruman, Harry S. fordert seine Spitzenmilitärs zu einer Lagebeurteilung auf. Er will wissen, was über die Truppen in der SBZ bekannt ist. In Westdeutschland bauen die Amerikaner einen Dienst auf, der im Geheimen operiert. Die »Organisation Gehlen«, die 1946 unter Aufsicht der amerikanischen Armee von ehemaligen Angehörigen der Wehrmacht gegründet wird, soll Informationen über die Sowjets besorgen. Benannt wird der Dienst nach einem seiner Gründer, Reinhard GehlenGehlen, Richard, der im Zweiten Weltkrieg in der Armee für die Aufklärung und Spionage in der Sowjetunion zuständig war. Seine Abteilung hieß »Fremde Heere Ost«. Sie lieferte Meldungen und Beurteilungen an die Wehrmachtsführung, die daraus ihr militärisches Lagebild erstellte. GehlenGehlen, Richard, Generalmajor a.D., hat Kameraden von früher, dazu Informanten und Agenten um sich gesammelt. Auch einige frühere Angehörige des NS-Sicherheits- und Verfolgungsapparats waren dabei.

Ein wichtiger Mitarbeiter Gehlens wird Adolf HeusingerHeusinger, Adolf, der als Chef der Auswertung für Lageanalysen zuständig ist. Bereits im Juli 1947 will die »Organisation Gehlen«Gehlen, Richard ihn einstellen, aber sein Entnazifizierungsverfahren läuft noch und die US-Armee hat ihn noch nicht offiziell aus ihrer Kriegsgefangenschaft entlassen. Er arbeitet für die »Historical Division« der Amerikaner, eine militärhistorische Forschungsgruppe, die den Verlauf des Zweiten Weltkriegs analysiert. An ihrer Spitze stehen Generaloberst a.D. Franz HalderHalder, Franz und der frühere Generalfeldmarschall Erich von Mansteinvon Manstein, Erich. Anfang 1948 kommt HeusingerHeusinger, Adolf dann frei und im März übernimmt er in Pullach bei München schließlich die »Evaluation Group«. Der frühere General soll für GehlenGehlen, Richard vor allem Informationen über die militärischen Möglichkeiten der UdSSR auswerten.

HeusingerHeusinger, Adolf kam am 4. August 1897 in Holzminden als Sohn einer gutbürgerlichen Familie zur Welt. Sein Vater Ludwig war Direktor am Gymnasium, seine Mutter Charlotte hat einige Beamte und Militärs unter ihren Vorfahren. Adolf HeusingerHeusinger, Adolf glänzte als Schüler, seine Lehrer bescheinigten ihm eine überdurchschnittliche Begabung. Er wollte Förster werden, wie so mancher Verwandter aus der Linie des Vaters. Nach dem frühen Tod seiner Mutter 1913 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs im Jahr darauf änderte er aber seinen Berufswunsch. Er trat am 17. Juni 1915 als Fahnenjunker in das 7. Thüringische Infanterieregiment 96 in Gera ein. Er hatte sich freiwillig als Offiziersanwärter gemeldet. An der Westfront nahm er an einigen der schlimmsten Schlachten teil: Er kämpfte in Verdun, an der Somme, bei Arras. Zweimal erlitt HeusingerHeusinger, Adolf Verwundungen, er erhielt das Eiserne Kreuz 1. Klasse, eine der höchsten Tapferkeitsauszeichnungen des kaiserlichen Heeres.

In Flandern geriet er 1917 in britische Kriegsgefangenschaft, kam in ein Lager in Yorkshire. Dort verbesserte er sein Englisch. Nachdem er in Gefangenschaft von der Oktoberrevolution erfahren hatte und begriff, dass die Ereignisse im zerfallenden Zarenreich große Auswirkungen auf die nächsten Jahrzehnte haben würden, lernte er auch noch Russisch. Im November 1919 durfte HeusingerHeusinger, Adolf nach Hause zurückkehren. Er musste abermals die Idee verwerfen, als Förster zu arbeiten, die Wirtschaftslage war fatal und bezahlte Stellen waren rar.

Also blieb der junge Offizier in der Truppe. In der Reichswehr diente er nun als Leutnant. 1927 durfte er die dreijährige »Führergehilfenausbildung« beginnen. So nannte die Reichswehr aus Tarngründen die durch den »Versailler Vertrag« verbotene Generalstabsausbildung. Einer seiner Kameraden im Hörsaal war Hans SpeidelSpeidel, Hans. Die Sieger des Ersten Weltkriegs hatten Deutschland zahlreiche Auflagen gemacht. Das Heer durfte nur 100000 Mann umfassen, Panzer, U-Boote und Kampfflugzeuge waren verboten. Aber Teile der Politik und die Reichswehrführung setzten sich darüber hinweg, rüsteten heimlich auf, kooperierten dabei mit der Sowjetunion und in Deutschland mit rechtsradikalen Milizen.

Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten und dem raschen Ausbau der Streitkräfte machte HeusingerHeusinger, Adolf zügig Karriere. Er hatte 17 Jahre gebraucht, um vom Leutnant zum Hauptmann befördert zu werden. Nun stieg er in wenigen Jahren in die höchste Dienstgradgruppe auf: Am 1. Dezember 1941 wurde er zum Generalmajor befördert. HeusingerHeusinger, Adolf leitete die Operationsabteilung, die dem Generalstab des Heeres unterstand. Er überzeugte durch eine kluge Analyse, klare Lagevorträge und einen schier unermüdlichen Arbeitseifer. Sein Tag begann in aller Regel um acht Uhr morgens. Dann nahm er die Feindlagemeldungen entgegen und wertete sie aus. Nachts zwischen ein und drei Uhr trafen dann die Tagesabschlussmeldungen bei ihm ein, die er noch lesen musste.

Nach der Niederlage von Stalingrad versuchte HeusingerHeusinger, Adolf vehement, sich versetzen zu lassen, aus dem Umfeld Hitlers wegzukommen. Aber der Diktator wollte nicht auf den analytischen Kopf und dessen Lagevorträge verzichten. Erst nach dem gescheiterten Attentat 1944 entfernte ihn HitlerHitler, Adolf aus dem Führerhauptquartier. HeusingerHeusinger, Adolf erlebte das Kriegsende im Harz, wurde dort von Amerikanern festgenommen und blieb drei Jahre lang in Gefangenschaft. Erst 1948 durfte er zurückkehren – und die »Organisation GehlenGehlen, Richard« bekam endlich ihren Leiter der Auswertung. Bis Ende 1950 bleibt der Generalleutnant a.D. in Pullach beim Geheimdienst. Seine wichtigste Aufgabe bleibt der Blick nach Osten. Was er und seine Kollegen dort sehen, beunruhigt sie und ihre Auftraggeber in Washington.

Josef StalinStalin, Josef schlägt eine zunehmend expansive und aggressive Außenpolitik ein. Die US-Regierung reagiert im März 1947 darauf mit der TrumanTruman, Harry S.-Doktrin. Der Präsident sagt in einer Rede vor dem Kongress allen »freien Völkern« der Welt die Hilfe der Vereinigten Staaten zu. »Die Saat totalitärer Regime lebt zu ihrem Gedeihen von Elend und Mangel«, sagt TrumanTruman, Harry S.. »Sie wächst und verbreitet sich im bösen Boden von Armut und Unfrieden. Sie wächst zu ihrer vollen Höhe, wenn die Hoffnung eines Volkes auf besseres Leben gestorben ist.« Jedes Land müsse selbst wählen dürfen, für welche Regierungsform es sich entscheide, für ein repräsentatives System mit freien Wahlen oder für »Terror und Unterdrückung«, Zensur und manipulierte Wahlen.

Die Vereinigten Staaten geben damit ihre Politik der »Nichteinmischung« endgültig auf, die mit der »Monroe-Doktrin« aus den 1820er-Jahren festgeschrieben worden war. Die USA gehen zum Konzept der Eindämmung über, dem »Containment«, mit dem sie die Ausbreitung des Kommunismus aufhalten wollen. Sie setzen auf eine Doppelstrategie von wirtschaftlicher und militärischer Unterstützung ihrer Partner, bieten Kredite und Waffen an. Mit dem »European Recovery Program«, dem Europäischen Wiederaufbauprogramm, auch »Marshall-Plan« genannt, fließen in den nächsten Jahren mehr als zwölf Milliarden Dollar nach Europa. Dazu bleiben US-Truppen in Westdeutschland, Italien, Japan und Südkorea stationiert, um zu verhindern, dass dort der Kommunismus um sich greift.

Am 20. März 1948 bricht der Alliierte Kontrollrat auseinander, mit dem die Vereinigten Staaten, Frankreich, Großbritannien und die Sowjetunion die Entwicklungen im besetzten Deutschland bestimmt haben. Der sowjetische Vertreter verlässt das Gremium. Damit beginnt der Kalte Krieg offiziell. Einige westliche Staaten schließen sich nun enger zusammen. Vertreter Großbritanniens, Kanadas und der Vereinigten Staaten vereinbaren, eine Militärallianz zu gründen, den »Nordatlantikpakt«. Er soll auf einem Verteidigungssystem gegenseitiger Hilfeleistung basieren. Sie laden weitere Regierungen aus Westeuropa ein, sich zu beteiligen.

Währenddessen erhöht StalinStalin, Josef den Druck in Zentraleuropa. Westdeutschland hat mit der D-Mark eine neue Währung eingeführt, sie gilt auch im Westen Berlins. StalinStalin, Josef empfindet das als Provokation und reagiert mit der Blockade Berlins. In der Nacht zum 24. Juni 1948 sperren Soldaten der Roten Armee die Zugangswege an Land und auf dem Wasser zur früheren deutschen Hauptstadt ab. Lebensmittel und Kohle gelangen nicht mehr in den Westteil, der Personenverkehr ist unterbunden. Auch die Versorgung mit Gas und Strom der Westberliner schränken die Sowjets ein.

Die Westalliierten verteidigen die Metropole. Dabei setzen sie nicht auf Panzer oder Kampfjets. Amerikaner, Briten und Franzosen sorgen dafür, dass Westberlin nicht von den Sowjets oder der DDR geschluckt wird – ohne Krieg zu riskieren. Sie schicken auf abertausenden Flügen kleine Flugzeuge und schwere Frachtmaschinen nach Berlin. Bereits zwei Tage nach dem Beginn der Blockade landet der erste »Rosinenbomber«, wie die Einwohner die Transporter nennen, in der Stadt.

Von Oktober 1948 bis April 1949 klagen die Amerikaner in Nürnberg im Prozess »Oberkommando der Wehrmacht« 14 Generäle als Kriegsverbrecher an. Neben drei hochrangigen Militärs aus dem OKW stehen Oberbefehlshaber von Heeresgruppen und Armeen vor den Richtern. Keiner von ihnen wird zum Tode verurteilt. Zwei Angeklagte erhalten das Urteil »lebenslange Haft«, die anderen müssen für mehrere Jahre ins Gefängnis.

Konrad AdenauerAdenauer, Konrad, Präsident des Parlamentarischen Rates, informiert sich nun intensiv über die militärische Lage. Er bittet Vertraute, ihm Kontakt zu früheren Militärs herzustellen. Im Dezember 1948 trägt Hans SpeidelSpeidel, Hans dem CDU-Politiker seine Gedanken über die Sicherheit der künftigen Bundesrepublik vor.

StalinsStalin, Josef Griff nach Berlin schweißt den Westen zusammen. In Washington unterzeichnen die Vertreter von zwölf Staaten am 4. April 1949 den Nordatlantikvertrag. Die Alliierten versichern sich gegenseitig, das Bündnisgebiet zusammen zu verteidigen. Ein Angriff auf ein Mitglied der NATO zieht eine Reaktion der gesamten Allianz nach sich. So will der Westen die Sowjets auf Abstand halten, ihre Grenzen in Europa sichern, den Status quo dort erhalten.

Vergeblich versucht die Sowjetführung mit der Totalblockade, den Abzug der Westmächte aus Berlin zu erzwingen und ein Zeichen der Stärke zu senden. Die geteilte Stadt wird von einem Synonym für Schreckensherrschaft zu einem Symbol der Freiheit. Berlin ist nun »der Vorposten der freien Welt«. Die westlichen Siegermächte bringen mit mehr als 270000 Flügen gut 2,1 Millionen Tonnen lebenswichtiger Güter in die bedrängte Stadt. Mit der Operation beweisen die Westalliierten, wozu sie in der Lage sind. Auf den drei Westberliner Flughäfen setzt alle zwei bis drei Minuten eine Maschine auf. Mit ihrem Durchhaltewillen erlangen die Menschen in Westberlin den Respekt der freien Welt.

Schließlich knickt StalinStalin, Josef im Mai 1949 ein, er gibt die Blockade auf. Diese machtpolitische Niederlage gegenüber den Amerikanern, Briten und Franzosen macht allerdings wett, dass den sowjetischen Wissenschaftlern ein Durchbruch gelungen ist. Ende August 1949 zieht die UdSSR mit den Vereinigten Staaten gleich und zündet in der kasachischen Steppe ihre erste Atombombe. Nun verfügen Ost und West über ein Nukleararsenal. Beide Kontrahenten können sich gegenseitig komplett zerstören – und einen Großteil des Planeten.

Dieses Gleichgewicht des Schreckens prägt den Kalten Krieg. Von Albert EinsteinEinstein, Albert stammt die Mahnung, er wisse nicht, wie der Dritte Weltkrieg ausgetragen werde, aber im Vierten Weltkrieg kämpfen die Menschen mit Steinen und Stöcken. Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten auf der einen und die Sowjetunion mit ihren Partnern auf der anderen Seite rüsten weiter. Aber niemand wagt einen heißen Konflikt, um nicht den Erstschlag der anderen Seite zu riskieren.

In den USA überlegen Generäle und Spitzenbeamte währenddessen, wie Westdeutschland zum Schutz des NATO-Gebietes beitragen könnte. Im Pentagon, dem US-Verteidigungsministerium in Arlington bei Washington, gibt es viele Befürworter der westdeutschen Wiederbewaffnung. Allerdings sehen das die Mitarbeiter des State Departments ganz anders, dem US-Außenministerium kommt dieser Schritt zu früh. Noch gibt es zudem keinen deutschen Staat, der Truppen unterhalten kann.

Das ändert sich im Mai 1949, als die Bundesrepublik entsteht. Der Parlamentarische Rat verabschiedet das Grundgesetz und wählt zudem Bonn zur vorläufigen Bundeshauptstadt. Auch die drei Militärgouverneure aus dem Westen bestätigen die neue Verfassung. Darin betonen deren Mütter und Väter mehrfach die Bedeutung des Friedens. Sie geben ein klares Bekenntnis zu einer gewaltlosen Außenpolitik ab. Bereits in der Präambel heißt es, das deutsche Volk sei von dem Willen beseelt, dem Frieden in der Welt zu dienen. Und Artikel 26 verbietet, einen Angriffskrieg vorzubereiten und zu führen.

Zum ersten Mal geben Menschen zwischen Nordsee und Bodensee am 14. August 1949 ihre Stimmen für eine Wahl zum Bundestag ab. Sieger sind CDU und CSU. Und so können die Parlamentarier der Union gemeinsam mit den Abgeordneten der FDP und der Deutschen Partei am 15. September Konrad AdenauerAdenauer, Konrad zum Kanzler wählen. 73 Jahre ist der neue Regierungschef alt. Er hat im Parlament nur eine Stimme Mehrheit – seine eigene.

Deutlich distanziert sich die junge Bundesrepublik vom Nationalsozialismus – aber nicht zwingend von einzelnen Tätern. Diese Doppelstrategie, die gleichzeitig auf die Integration der Belasteten und auf eine klare Westbindung als Demokratie setzt, geht auf. So zählt für AdenauerAdenauer, Konrad nicht, was jemand in der Vergangenheit getan hat, sondern nur, was er für den jungen Staat leisten kann und wie loyal derjenige ist. An der Spitze des Kanzleramtes dient ihm Hans GlobkeGlobke, Hans, der im NS-Staat am Verfassen der antisemitischen »Nürnberger Gesetze« beteiligt gewesen war. Täter und Parteigänger der NS-Herrschaft werden durch Amnestie und Amnesie in die neue Republik integriert.

Die Wehrmacht und ihre Kriegsführung gelten als sauber und unbelastet, so lautet die Legende, die auch von der Bundesregierung gepflegt wird, weil sie die Veteranen für die Wiederbewaffnung braucht. Eine Verdrehung der Geschichte. Denn die Streitkräfte des NS-Staates waren an der verbrecherischen Kriegsführung beteiligt, sie tragen eine Mitverantwortung am Massenmord an den Juden sowie anderen Opfergruppen, der inhumanen Behandlung von Millionen Kriegsgefangenen, dem brutalen Kampf gegen Partisanen, der Belagerung von Städten und deren Aushungern.

Alte Militärs geben dafür einem Mann die Schuld: Adolf HitlerHitler, Adolf habe das Soldatentum für sein persönliches Machtstreben missbraucht. Eine weitere Lüge. Denn die Armeeführung folgte bereitwillig den Kriegszielen des Diktators. Darüber schweigt die Generalität nach 1945 lieber. Sie wirft dem »Führer«, dem einfachen Gefreiten, lieber vor, mit seinen zahlreichen Eingriffen in strategischen und taktischen Fragen, sowie mit seinen häufigen Personalrochaden im Generalstab, entscheidend zur Niederlage beigetragen zu haben.

Im August 1949 beginnt in Deutschland ein weiterer Kriegsverbrecherprozess. Kurz vor der Bundestagswahl muss sich Erich von Mansteinvon Manstein, Erich vor britischen Richtern verantworten. Damit steht ein alter Mentor von Adolf HeusingerHeusinger, Adolf vor Gericht. Viele ehemalige Wehrmachtsoffiziere lehnen das rigoros ab. Der Kalte Krieg überlagert bereits die juristische Wahrheitsfindung. Mansteinvon Manstein, Erich genießt hohes Ansehen im Westen. Er hat Kanzler AdenauerAdenauer, Konrad beraten und enge Kontakte nach England. Die Familie Churchill spendet Geld, damit Manstein gute britische Juristen als Verteidiger gewinnen kann. Die Ankläger werfen Mansteinvon Manstein, Erich Kriegsverbrechen in 17 Fällen vor, darunter das Erschießen von Kriegsgefangenen, Geiseln und Zivilisten, dazu Massenmorde an Juden sowie Sinti und Roma. In neun Anklagepunkten spricht das Gericht Mansteinvon Manstein, Erich schuldig, 18 Jahre Haft lautet das Urteil. Seine Strafe wird bald auf zwölf Jahre reduziert. Der Generalfeldmarschall a.D. kommt ins britische Gefängnis für Kriegsverbrecher in Werl.

Auch wenn Mansteinvon Manstein, Erich1952 bereits wegen einer Krankheit Haftverschonung erhält und im Jahr darauf offiziell aus dem Gefängnis entlassen wird, fällt er als Kopf der neuen Streitkräfte aus. In dieser Rolle hatten ihn einige führende Ex-Militärs und Planer der Wiederbewaffnung durchaus gesehen. Lediglich als Berater der Bundesregierung nimmt er Anteil am Aufbau des Heeres. Als er freikommt, läuft die Wiederbewaffnung bereits auf Hochtouren.

AdenauerAdenauer, Konrad hat den Bundesminister für Wiederaufbau, Eberhard WildermuthWildermuth, Eberhard, ein Ritterkreuzträger des Zweiten Weltkrieges, gebeten, die Aufrüstung zu unterstützen. Ehemalige Wehrmachtsoffiziere entwickeln bereits Ideen für die Bewaffnung Westdeutschlands. Sie arbeiten als »Deutsches Büro für Friedensfragen«. Offizielle Politik ist das nicht. Im November 1949 besucht US-Außenminister Dean AchesonAcheson, Dean den Westen Deutschlands. Er spricht mit AdenauerAdenauer, Konrad über die Westintegration des neuen Staates. Einen militärischen Beitrag der Bundesrepublik zur Verteidigung des freien Europas versucht der Kanzler zu umgehen: Er habe kein Interesse an der Wiederbewaffnung. Stattdessen setzt er auf eine massive Präsenz von US-Truppen in seinem Land. Aber er ahnt bereits, dass er an eigenen Streitkräften als Preis für die Westintegration nicht vorbeikommen wird.

Einen Monat später spricht der Kanzler mit der US-Zeitung »Cleveland Plain Dealer« aus Ohio über die »Remilitarisierung«. AdenauerAdenauer, Konrad gewährt dem Korrespondenten des Provinzblattes eine Audienz von 50 Minuten. In dem Exklusivgespräch sagt er, es sei »untragbar«, dass die Diskussionen, in denen Deutschland als künftiger Kriegsschauplatz in Betracht gezogen wird, von »Nicht-Deutschen« geführt werde. Außerdem seien die beabsichtigten Verteidigungslinien am Rhein oder an der Elbe durch die Entwicklung der Kriegstechnik überholt. Sie dienten nur dazu, das russische Selbstvertrauen zu stärken. Der einzig sichere Weg für den Westen die Russen aufzuhalten, sei, so stark zu sein, dass der Gegner einen Krieg erst gar nicht beginnen könne. Wenn die Russen einmal den Rhein erreicht hätten, würden sie ganz Europa überrollen. Der Kanzler lehnt es zudem ab, deutsche Soldaten für westliche Armeen zu rekrutieren. Denn das hieße »ein Volk kaufen, um Söldner zu haben«, sagt AdenauerAdenauer, Konrad. »Eigene deutsche Streitkräfte würden nicht mehr als eine Abteilung unter einem europäischen Kommando bilden.« Leicht verklausuliert sagt der Kanzler damit, dass die Bundesrepublik einen militärischen Beitrag zu europäischen Streitkräften leisten könne – und wolle.

Am 5. Dezember 1949, einen Tag nach dem Erscheinen des aufsehenerregenden Artikels mit den durchaus selbstbewussten und brisanten Aussagen Adenauers, bringt das Bundespresseamt eine Richtigstellung. Demnach habe der Kanzler ausgeführt, dass er »grundsätzlich gegen jede deutsche Wiederaufrüstung« sei. Wenn aber auf eine Beteiligung Westdeutschlands an der Verteidigung Europas bestanden würde, dann könne dies nur im Falle eines deutschen Kontingents innerhalb einer europäischen Armee geschehen.

Kurz darauf fordert der Kanzler seinen Minister WildermuthWildermuth, Eberhard auf, eine Gruppe von Experten zusammenzustellen, die für Sicherheitsfragen zuständig sein soll. Den Auftrag gibt der liberale Politiker wohl an den früheren Generalleutnant SpeidelSpeidel, Hans weiter, mit dem er befreundet ist und der mit dem »Büro für Friedensfragen« ohnehin bereits mehrere Denkschriften zum westdeutschen Verteidigungsbeitrag erstellt hat. Der erfahrene Offizier baut nach und nach einen Arbeitsstab auf. Dazu gehören auch Adolf HeusingerHeusinger, Adolf und Hermann FoertschFoertsch, Hermann, ein General der Wehrmacht, der wegen Kriegsverbrechen angeklagt, aber im Vorjahr freigesprochen und aus US-Haft entlassen worden war. SpeidelSpeidel, Hans, HeusingerHeusinger, Adolf und FoertschFoertsch, Hermann nutzen ein informelles Netz aus alten Kameraden, um Mitstreiter zu finden.

Anfang 1950 erstellen die Herren Generäle a.D. einen »Besprechungsplan«, dessen Zweck es sein soll, die »Klärung der Frage eines Wehraufbaus in Westdeutschland im engsten Rahmen« für die Bundesregierung zu erarbeiten. In dem achtseitigen Dokument stellen sie einige Forderungen an die Westalliierten, darunter die Sicherung des deutschen Wehraufbaus gegen einen russischen Vorstoß, die politische, psychologische und militärische Gleichberechtigung. Damit formulieren SpeidelSpeidel, Hans, HeusingerHeusinger, Adolf, FoertschFoertsch, Hermann und ihre Mitstreiter durchaus selbstbewusst die Ansprüche der Bundesrepublik, deren Vorgängerstaat erst fünf Jahre zuvor bedingungslos kapituliert hatte.

Für AdenauerAdenauer, Konrad geht es aber um weit mehr als militärische Gleichberechtigung. Für ihn stellt die Armee ein notwendiges Mittel dar, um seine Außenpolitik umzusetzen. Eine enge Orientierung an die Westmächte soll dem jungen Staat Souveränität und Sicherheit bringen. Er bekennt sich daher klar zum westlichen Verteidigungssystem. Im Mai richtet AdenauerAdenauer, Konrad im Bundeskanzleramt die »Zentrale für Heimatdienst« ein, seinen militärischen Planungsstab, der nur nicht so heißen darf, um die Bevölkerung und die politische Opposition nicht zu provozieren. Seinen Vertrauten Herbert BlankenhornBlankenhorn, Herbert beruft er zu ihrem politischen Leiter. Gleichzeitig ernennt der Regierungschef im Mai 1950 den General der Panzertruppe a.D., Gerhard Graf von SchwerinGraf von Schwerin, Gerhard, zu seinem »Berater in technischen Fragen der Sicherheit«.

Im Juni 1950 trifft sich Konrad AdenauerAdenauer, Konrad nacheinander mit den drei Hohen Kommissaren aus Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten. Die Regierungen in Washington und London wollen, dass die Bundesrepublik sich an der Verteidigung des Westens beteiligt. Frankreich fordert aber, an der Demilitarisierung des Nachbarlandes festzuhalten. AdenauerAdenauer, Konrad kennt die Widerstände im In- und Ausland. Er möchte zunächst eine paramilitärische Bundespolizei aufstellen, die in der Lage sein soll, die Grenzen zu sichern. Dann aber verändert ein Krieg in Korea schlagartig die weltweite Sicherheitsarchitektur. Der kommunistische Norden attackiert am 25. Juni überraschend den Süden, der unter dem Schutz der USA steht. Schon nach zwei Tagen nehmen die Kommunisten die Hauptstadt des Südens, Seoul, ein. Noch einmal zwei Tage später verkündet US-Präsident TrumanTruman, Harry S., Truppen nach Korea zu schicken, die den Norden aufhalten werden. Fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kämpfen US-Soldaten wieder in Asien. Als die UN-Truppen unter US-Kommando die nordkoreanischen Truppen fast bis zur chinesischen Grenze zurückgedrängt haben, greifen die Regierungen in Moskau und Peking ein. StalinStalin, Josef schickt Fliegerstaffeln und chinesische »Freiwillige« unterstützen die Partner in Pjönjang. Es kommt zu einem ideologisch aufgeheizten Stellungskrieg. Der Krieg in Korea verschärft die Spannungen zwischen den Blöcken.

Gerade Deutschland, das wie Korea ein ideologisch geteiltes Land ist, scheint ein mögliches Ziel für einen kommunistischen Angriff zu sein. Im Osten steht nicht nur die Sowjetmacht, sondern auch die 70000 Mann starke kasernierte »Volkspolizei«, die mit Panzern, Mörsern und Haubitzen bewaffnet ist. StalinStalin, Josef hatte bereits im Frühsommer 1948 angeordnet, dass Ost-Berlin 10000 kasernierte Polizisten und zusätzlich 10000 Grenzschützer aufstellen müsse. Sie sollten als »sichere Stütze der demokratischen Entwicklung« in der SBZ dienen. Die in Potsdam beschlossene Entmilitarisierung des besiegten Deutschlands ist damit Geschichte. Die Sowjetunion stellt der Polizei und dem Grenzschutz 5000 Kriegsgefangene zur Verfügung, die frei gelassen werden, um in den Formationen zu dienen. Die ehemaligen Wehrmachtsangehörigen erklärten sich bereit, zum Teil unter heftigen Druck gesetzt, eine neue Uniform anzulegen. Unter ihnen befinden sich auch einige Generäle und andere hochrangige Offiziere, die sich in den Lagern als politisch zuverlässig erwiesen haben oder politisch umerzogen wurden.

An der Spitze der ostdeutschen Paramilitärs steht die »Hauptverwaltung für Ausbildung« (HVA). Ihr Leiter ist Heinz HoffmannHoffmann, Heinz, ein früherer Funktionär der KPD, Offizier der sowjetischen Armee und Mitarbeiter des Geheimdienstes NKWD