Spielen - Bernhard Hauser - E-Book

Spielen E-Book

Bernhard Hauser

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  • Herausgeber: Kohlhammer
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Kinder Spielen für ihr Leben gern. Kindliches Spiel ist ein wichtiger Entwicklungsmotor für Lernen und hat einen eigenständigen Bildungswert. Das Buch stellt einen inspirierenden Gegenentwurf gegen eine Verschulung des Elementarbereichs dar. An einer Vielzahl empirischer Studien zeigt der Autor, dass ein entwickeltes Spiel höchst ertragreiches Lernen ermöglicht - ein lustbetontes Lernen mit geringem Überwindungs- und Anstrengungsempfinden. Die entwicklungspsychologischen Hintergründe werden anschaulich erläutert und es wird gezeigt, wie Kinder in vielfältigen Spielformen wie Bewegungs-, Funktions-, Rollen-, Regel- und Konstruktionsspielen sich wichtige soziale, sprachliche, geistige und emotionale Fähigkeiten aneignen. Das Buch liefert eine Fülle an Hinweisen und Anregungen für die Praxis, die den Kindern ausreichend Zeit zum entwicklungsförderlichen Spielen eröffnen.

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Kinder spielen für ihr Leben gern. Kindliches Spiel ist ein wichtiger Entwicklungsmotor für Lernen und hat einen eigenständigen Bildungswert. Das Buch stellt einen inspirierenden Gegenentwurf gegen eine Verschulung des Elementarbereichs dar. An einer Vielzahl empirischer Studien zeigt der Autor, dass ein entwickeltes Spiel höchst ertragreiches Lernen ermöglicht - ein lustbetontes Lernen mit geringem Überwindungs- und Anstrengungsempfinden. Die entwicklungspsychologischen Hintergründe werden anschaulich erläutert und es wird gezeigt, wie Kinder in vielfältigen Spielformen wie Bewegungs-, Funktions-, Rollen-, Regel- und Konstruktionsspielen sich wichtige soziale, sprachliche, geistige und emotionale Fähigkeiten aneignen. Das Buch liefert eine Fülle an Hinweisen und Anregungen für die Praxis, die den Kindern ausreichend Zeit zum entwicklungsförderlichen Spielen eröffnen.

Prof. Dr. Bernhard Hauser ist Leiter des Studiengangs ''Pädagogik der Frühen Kindheit'' an der Pädagogischen Hochschule des Kantons St. Gallen.

Entwicklung und Bildung in der Frühen Kindheit

Herausgegeben von Manfred Holodynski, Dorothee Gutknecht und Herrmann Schöler

Bernhard Hauser

Spielen

Frühes Lernen in Familie, Krippe und Kindergarten

2. Auflage

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

2. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Umschlagmotiv: © yarruta – Fotolia.com Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print: ISBN 978-3-17-030117-7

E-Book-Formate

pdf:

978-3-17-030118-4

epub:

978-3-17-030119-1

mobi:

978-3-17-030120-7

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Herausgeberin und der Herausgeber

Einleitung

1 Spieldefinition und Bedingungen für Spiel

1.1 Intuitive Spieldefinition

1.2 Zur Notwendigkeit einer klaren Definition

1.3 Bisherige Beschreibungs- und Definitionsversuche

1.4 Exklusive Definition von Spiel

1.4.1 Merkmal 1: Unvollständige Funktionalität

1.4.2 Merkmal 2: So-tun-als-ob

1.4.3 Merkmal 3: Positive Aktivierung und Fokussierung

1.4.4 Merkmal 4: Wiederholung und Variation

1.4.5 Merkmal 5: Entspanntes Feld

1.5 Förderung: Maßnahmen zum Ermöglichen von Spiel

Literatur-Tipps

2 Biologische Funktion

2.1 Zur biologischen Bedingtheit des Spiels

2.1.1 Physiologische Basis

2.1.2 Phylogenetische Kontinuität

2.1.3 Universalität

2.2 Bedingungen für die Evolution von Spiel

2.3 Kosten-Nutzen-Bilanz

2.4 Die adaptive und vorbereitende Natur des Spiels

2.5 Jungen und Mädchen spielen unterschiedlich

2.5.1 Ein Überblick über die Unterschiede

2.5.2 Biologische Bedingungen für Geschlechtsunterschiede im Spiel

Literatur-Tipps

3 Die wichtigsten Spielformen

3.1 Eltern-Kind-Spiele

3.1.1 Hormonelle Grundlagen elterlicher Responsivität im Spiel

3.1.2 Glückliche frühe Duette

3.1.3 Elterliche Spiel-Marker

3.1.4 Komplizenschaft zwischen Eltern und Kind

3.1.5 Kitzeln und Guck-Guck: Sinnlicher Ursprung früher Überraschungsspiele

3.1.6 Das Einbringen von anspruchsvollen Überraschungen

3.1.7 Humor als hohe Kunst überraschender Erfüllung von Erwartungen

3.1.8 Funktionale Fixiertheit auf erwachsene Modelle

3.1.9 Von der Spielgestalterin über die Mitspielerin zum Coach

3.1.10 Förderung des Eltern-(Erwachsenen-)Kind-Spiels

3.2 Exploration: Ein typisches Vor-Spiel

3.2.1 Die kleine Forscherin – der kleine Forscher

3.2.2 Von der spezifischen zur diversiven Exploration

3.2.3 Von der Exploration zum Spiel

3.2.4 Exploration von Objekten und Umgebungen

3.2.5 Soziale Exploration: Der neue Ast und die Folgen

3.2.6 Förderung von Exploration und nachfolgendem Spiel

3.3 Funktionsspiel: Die pure Freude am Tun und am Bewirken

3.4 Bewegungsspiel: Funktionsspiel mit Mobilität

3.4.1 Gespielte Aggression und Raufspiele

3.4.2 Förderung von Funktions- und Bewegungsspiel

3.5 Fantasie- und Rollenspiel

3.5.1 Die Fähigkeit zum Irrealen: ein lebensgefährlicher Luxus?

3.5.2 Kognitive Meilensteine in der Entwicklung des Fantasiespiels

3.5.3 Überblick über die Entwicklung des Fantasiespiels

3.5.4 Der Spaß am Magisch-Animistischen

3.5.5 Puppen, Stofftiere und imaginäre Freunde

3.5.6 Zusammenhänge zu Objekt- und Regelspiel

3.5.7 Kleine-Welt-Spielsachen und die Realitätsnähe des Materials

3.5.8 Förderung des Fantasiespiels

3.6 Objekt- und Konstruktionsspiel

3.6.1 Förderung der Raumvorstellung

3.6.2 Konstruktionsspiel und Problemlösen

3.6.3 Förderung von Objekt- und Konstruktionsspiel

3.7 Regelspiel

3.7.1 Entwicklung des Regelspiels und Entwicklungsbedingungen

3.7.2 Regelspiele im Bereich Bewegung und Sport

3.7.3 „Was wird hier gespielt“?

3.7.4 Förderung von Regelspielen

Literatur-Tipps

4 Kulturelle Funktion

4.1 Biologische Grundlagen für kulturelles Lernen im Spiel

4.1.1 Imitation und geteilte Aufmerksamkeit als Instinkt?

4.2 Unterschiede zwischen Kulturen

4.3 Die Wirkung von frühem Spiel auf die Schulfähigkeiten

4.3.1 Der „Mutterplatz“ als dörfliches Spielzentrum und Urform der KiTa

4.3.2 Die Bildungs-Macht der Frühpädagogik in modernen Gesellschaften

4.3.3 Gelingende Frühpädagogik und die Grenzen der internationalen Vergleichbarkeit

4.3.4 Merkmale gelingender Frühpädagogik

4.3.5 Merkmale und Wirkungen früher Spielpädagogik

4.3.6 Wirksamkeit von Spiel in der Familie

4.4 Spielerischer Erwerb von Kulturtechniken in modernen Kulturen

Literatur-Tipps

5 Ausgewählte (kulturelle) Domänen des Spiels

5.1 Soziales Lernen im Spiel

5.1.1 Soziale Exploration

5.1.2 Unterschätztes Alleinspiel

5.1.3 Parallel-Spiel als natürlicher Übergang

5.1.4 Die Gegenwart und Funktion Erwachsener

5.1.5 Kind-Kind-Beziehungen und Emotionen im sozialen Spiel

5.1.6 Förderung des sozialen Spiels

5.2 Sprachliches Lernen im Spiel

5.2.1 Narrative Kompetenz und gespielte Geschichten

5.2.2 Erwachende Literalität

5.2.3 Erklären und Aushandeln im Spiel: Sprachliche Bausteine der Sozialkompetenz

5.2.4 Sprachentwicklungsförderliches Erwachsenenverhalten im Spiel

5.2.5 Rhythmus, Humor, Sprachspiele und Sprachentwicklung

5.3 Mathematische Entwicklung im Spiel

5.3.1 Entwicklung der mathematischen Vorläuferfertigkeiten

5.3.2 Spielerische Förderung mathematischer Vorläuferfähigkeiten

5.4 Frühkindliches Spiel mit Medien

Literatur-Tipps

Literatur

Vorwort der Herausgeberin und der Herausgeber

Die Lehrbuchreihe „Entwicklung und Bildung in der Frühen Kindheit“ will Studierenden und Fachkräften das notwendige Grundlagenwissen vermitteln, wie die Bildungsarbeit im Krippen- und Elementarbereich gestaltet werden kann. Die Lehrbücher schlagen eine Brücke zwischen dem aktuellen Stand der einschlägigen wissenschaftlichen Forschungen zu diesem Bereich und ihrer Anwendung in der pädagogischen Arbeit mit Kindern.

Die einzelnen Bände legen zum einen ihren Fokus auf einen ausgewählten Bildungsbereich, wie Kinder ihre sozio-emotionalen, sprachlichen, kognitiven, mathematischen oder motorischen Kompetenzen entwickeln. Hierbei ist der Leitgedanke darzustellen, wie die einzelnen Entwicklungsniveaus der Kinder und Bildungsimpulse der pädagogischen Einrichtungen ineinandergreifen und welche Bedeutung dabei den pädagogischen Fachkräften zukommt. Die Reihe enthält zum anderen Bände, die zentrale bereichsübergreifende Probleme der Bildungsarbeit behandeln, deren angemessene Bewältigung maßgeblich zum Gelingen beiträgt. Dazu zählen Fragen, wie pädagogische Fachkräfte ihre professionelle Responsivität den Kindern gegenüber entwickeln, wie sie Gruppen von Kindern stressfrei managen oder mit Multikulturalität, Integration und Inklusion umgehen können. Die einzelnen Bände bündeln fachübergreifend aktuelle Erkenntnisse aus den Bildungswissenschaften wie der Entwicklungspsychologie, Diagnostik sowie Früh- und Sonderpädagogik und bieten damit eine hervorragende Grundlage sowohl für Aus- und Weiterbildung als auch für die konkrete pädagogische Arbeit in der KiTa. Die Lehrbuchreihe richtet sich sowohl an Studierende, die sich in ihrem Studium mit der Entwicklung und institutionellen Erziehung von Kindern befassen, als auch an die pädagogischen Fachkräfte des Elementar- und Krippenbereichs.

Im vorliegenden Band „Spielen – Frühes Lernen in Familie, Krippe und Kindergarten“ beschreibt der bekannte Spiel- und Bildungsforscher Bernhard Hauser die herausragende Bedeutung des Spielens für die Entwicklung in der frühen Kindheit. Das Buch stellt einen inspirierenden und empirisch gut begründeten Gegenentwurf zur aktuell zu beobachteten Verschulung der Elementarpädagogik dar. Aus der wichtigen Erkenntnis, dass eine aufgeklärte demokratische Gesellschaft Bildung und Bildungsinhalte ihren Kindern von Anfang an zuteilwerden lassen muss, haben viele Bildungsforscher und -planer leider die unsägliche Konsequenz gezogen, dass die Art und Weise der schulischen Bildung einfach auf den Elementarbereich übertragen werden könne. Dem setzt Bernhard Hauser mit seinem eingängig geschriebenen Buch ein leidenschaftliches und zugleich wissenschaftlich fundiertes Plädoyer für das kindliche Spielen entgegen, das den eigenständigen Bildungswert des kindlichen Spielens und sein Potenzial für die Elementarbildung vor Augen führt.

Kinder spielen nicht nur für ihr Leben gern, sondern ein entwickeltes Spiel stellt auch den kindgerechten Entwicklungsmotor für das Lernen der so viel beachteten Vorläuferkompetenzen schulischen Lernens dar. Im Buch kommen die Fakten aus einer Vielzahl an empirischen Studien zu Wort, die zeigen, dass ein entwickeltes Spiel ein höchst ertragreiches Lernen ermöglicht. Es ist lustbetontes, intrinsisch motiviertes Lernen, das auch Anstrengungen positiv empfinden lässt. Die entwicklungspsychologischen Hintergründe werden anschaulich erläutert und gezeigt, wie Kinder in den vielfältigen Spielformen wie Bewegungs-, Funktions-, Rollen-, Regel- und Konstruktionsspielen sich wichtige soziale, sprachliche, geistige und emotionale Fähigkeiten aneignen. Das Buch schlägt auch einen Bogen zu den familiären und institutionellen Bedingungen, wie Eltern und Elementarpädagoginnen und -pädagogen das kindliche Spielen fördern, aber auch beeinträchtigen können. Ein informatives und inspirierendes Buch über das kindliche Spiel und seinen faszinierenden Schatz für eine frühkindliche Bildung und Erziehung, die Kindern ihre Zeit zum entwicklungsförderlichen Spielen eröffnet.

Münster, Freiburg und Heidelberg

Manfred Holodynski, Dorothee Gutknecht und Hermann Schöler

Einleitung

„Wird uns am Ende vor den von Geburt an neuropädagogisch abgerichteten Elitefrüchtchen nicht weniger grausen müssen als vor anderen Produkten pädagogischer Modewellen?“

Hubert Markl in seinem Festvortrag zum 100-jährigen Jubiläum der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, 2004

An das eigene Spiel in früher Kindheit haben Menschen oft lebhafte und gute Erinnerungen. Mögen sie schon etwas im Nebel liegen und auch oft ein wenig verklärt sein, so schmecken und riechen sie doch immer noch gut. Der Geruch der Gasse, in der man Verstecken gespielt hat. Das wohlig bange Gefühl beim Hoffen, nicht entdeckt zu werden. Das Hochschnellen des Pulses, wenn man beim Fangen-Spiel vom Fänger berührt wurde oder ihm gerade nochmals entwischen konnte, und die rasche Erholung anschließend, wenn man zufrieden in Apfel und Brot biss und dabei herumalberte, während der Körper wieder herunterkühlte und der Schweiß auf der Haut trocknete. Solche oder ähnliche Geschichten können die meisten Menschen aus ihrer Erinnerung ausgraben. Sie erinnern an die Zeit, als es die Zeit noch gar nicht gab, an die Zeit gelebter Gegenwart. Viele verbinden diese Erinnerungen mit dem Bild von echter Kindheit: „Wir durften als Kinder noch Kinder sein.“ Das Spiel der Kinder hat oft ein sehr eigenes Abteil im persönlichen Erfahrungsschatz – nicht selten besetzt mit klaren Wertungen. Passen diese auch zum Stand der Forschung? Der Wert des Spiels vor Beginn der Schule ist in den letzten Jahren stark in die Diskussion geraten.

Die Theorie des vor-operationalen Denkens (Piaget, 1975) vom zweiten bis zum siebten Lebensjahr hat die Schulreifevorstellungen über Jahrzehnte hinweg nachhaltig geprägt. Gemäß dieser Theorie sind Kinder erst ab dem siebten Lebensjahr in der Lage, sich in eine andere Perspektive zu versetzen, das Gleichheitszeichen zu verstehen, Wirklichkeit und Schein zu unterscheiden oder ein grundlegendes Zeitverständnis zu entwickeln. Befunde der letzten 20 bis 30 Jahre jedoch zeigen, dass die meisten dieser Fähigkeiten schon im Alter von vier bis fünf Jahren erworben werden (vgl. Beilin, 1978; Bischof-Köhler, 1998; Fieberg, 1991; Flavell, Green & Flavell, 1986; Hauser, 2001, 2005; Perner 1991; Sodian, 1998; Wilkening, 1982). Wenn sich diese Fähigkeiten schon mit vier statt erst mit sieben Jahren entwickeln, dann ist es auch nicht verwunderlich, wenn sich bei Kindern im Vorschulalter große Unterschiede in den Lernvoraussetzungen finden. So bringt ein Teil der Kinder die Grundlagen für den Erwerb der Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen schon deutlich vor dem siebten Lebensjahr mit (z. B. Stamm, 1998, 2005). Teile der Wirtschaft, aber auch aus Lern- und Hirnforschung werfen der herkömmlichen Kombination von Kindergarten und Schule vor, Lernpotenziale der jungen Kinder zu wenig zu nutzen und Kinder massiv zu unterfordern. Deren Tenor lautet: Wir vergeuden zu viel Zeit mit (sinnlosem) Spielen und „bewirtschaften“ das kindliche Lernpotenzial zu wenig. So wurde aufgrund eines PISA-Befundes in Japan gefragt, ob nicht das Spiel dem ernsthaften Lernen zu viel Zeit wegnehme (Ota & Mari, 2006). Wie berechtigt ist diese Kritik? Zum Teil lassen sich die Unterschiede zwischen Kindern tatsächlich darauf zurückführen, dass dieses frühe(re) Können fast nur im Fördermilieu bildungsnaher Eltern möglich ist. Damit wäre die zu späte Einschulung – oder die zu lange andauernde Spiel-Zeit – eine Ursache für das Entstehen von Bildungsungerechtigkeiten. Diese Wertung wird noch akzentuiert angesichts jüngster Befunde, wonach gerade bei Kindern aus benachteiligten Familien äußere Einflüsse, also Familie, Gleichaltrige und frühpädagogische Institutionen, fast alle Unterschiede im Intelligenzquotienten erklären (Nisbett, Aronson, Blair, Dickens, Flynn, Halpern & Turkheimer, 2012): Je benachteiligter ein Kind, desto mehr können auch frühpädagogische Maßnahmen zur Reduktion dieser Benachteiligungen beitragen.

Die Ergebnisse der PISA-Studie haben seit dem Jahr 2000 diese Diskussion zur frühkindlichen Bildung zusätzlich verschärft. Obwohl das in PISA erfolgreichste europäische Land Finnland die Kinder erst spät einschult, wurde vielfach eine Vorverlegung des Einschulungsalters gefordert. Denn es komme auf den Anfang an. Dieser Argumentation folgend und auf dem Hintergrund der Ergebnisse von PISA 2000 wurde z. B. in der Schweiz (BFS & EDK, 2002) – unter anderem aufgrund einer ungenügenden Kompensation der bildungsschichtspezifischen Benachteiligungen – die Einführung einer Vorschulstufe empfohlen, welche

spätestens im 5. Lebensjahr zu beginnen habe,

einen „teilweisen Übergang vom offenen Spiel zum systematischen Lernen anzustreben“ (EDK, 2003, S. 16) habe und

explizit als vorgezogenes Einschulungsalter zu denken sei (EDK, 2003, S. 17).

Ähnliche Entwicklungen konnten in verschiedenen industrialisierten Ländern beobachtet werden. So bemerkte Fthenakis, einer Empfehlung des deutschen PISA-Konsortiums (2001) folgend: „Es reicht deshalb nicht aus, in Bildungskonzepten für die Kinder von heute auf selbstbildende Potenziale zu bauen“ (Fthenakis, 2004, S. 13f.). Mit den selbstbildenden Potenzialen ist das Spiel zumindest mitgemeint. Eine Verschulung des Kindergartens auf Kosten des Spiels erscheint somit als einer der Schritte zur Lösung des PISA-Problems. Die Frage, ob die Kinder für das Leben gerüstet sind, wie sie PISA 2000 im Titel stellte, wird gewissermaßen nach unten weitergereicht und in die Frage umgegossen, ob die Kinder für die Schule gerüstet sind, bzw. in die implizit versteckte Frage, ob das Spiel für die Schule rüste.

Verschulungstendenzen von Kindergarten und Vorschulzeit beschränken sich nicht auf die deutschsprachigen Länder und werden seitens der Forschung durchaus auch kritisiert. So mahnten beispielsweise Krafft und Berk (1998, S. 655) von der Illinois State University, USA: „In einer Ära der zunehmenden Beschäftigung mit dem durchschnittlichen Abschneiden nationaler Schulkinder wird als simplifizierende Lösung gerne die Ausdehnung des formal bildenden Trainings vorgeschlagen. Pädagoginnen und Pädagogen von Kindern im Vorschulalter finden sich oft im Verteidigen der Wichtigkeit des spontanen Spiels (…). Das (indirekte) Lehren durch Spiel ist nicht mehr selbstverständlich“ (Übersetzung v. Verf). Ganz ähnlich sehen das Gmitrova und Gmitrov (2003) aus der slowakischen Republik. Diese befürchteten oder erhofften Veränderungen haben die Frühpädagogik im letzten Jahrzehnt schon verändert und den Anteil des Spiels reduziert. So berichten Fisher, Hirsh-Pasek, Golinkoff, Singer und Berk (2011), dass im Gefolge der jüngsten Erziehungsreform in den USA viele Vorkindergärten und andere pädagogische Einrichtungen für kleine Kinder spielerische Erfahrungen mit Curricula ersetzt haben, welche mit pädagogischen Standards und Assessments ausgestattet sind und sich wie Drehbücher lesen. Unter anderem verbringen Kinder in Ganztageskindergärten in Los Angeles und New York normalerweise drei bis vier Stunden täglich mit instruktionalem Unterricht in Sprache und Mathematik, auch mit Testvorbereitung. Freispiel gibt es nur noch etwa eine halbe Stunde oder weniger täglich.

Vergleichbare Entwicklungen finden sich auch in deutschsprachigen Ländern, zum Beispiel auf der Ebene der Lehrmittel. In den vergangenen zwölf Jahren haben im Kindergarten Inhalte und Methoden Einzug gehalten, die früher eher der Schule vorbehalten waren. Dazu gehören das „Würzburger Trainingsprogramm“ (Küspert & Schneider, 2000) für die frühe Schriftsprachförderung, das Programm „Faustlos“ (Cierpka, 2005) zur Gewaltprävention und verschiedene Instrumente zur frühen Matheförderung wie „Komm ins Zahlenland“ (Friedrich & Galgóczy, 2008), „Mengen, zählen, Zahlen“ (Krajewski, Nieding & Schneider, 2007) oder „Das kleine Zahlenbuch“ (Wittmann, 2004). Der nachweislich große Einfluss der Vorläuferfertigkeiten in Sprache und Mathematik auf die späteren Schulleistungen im Lesen, Schreiben und Rechnen macht deren vorschulische Förderung zu einer Notwendigkeit. Diese Fertigkeiten wurden im Kindergarten bis vor etwa zehn Jahren eher zufällig und in der Regel zu wenig gefördert. Forschende sind sich – zusammen mit einer wachsenden Zahl an pädagogischen Fachkräften und Schulbehörden – einig, dass die Verbesserung der Förderung von schulrelevanten Vorläuferfertigkeiten im Kindergarten notwendig war und bleibt. Inhaltlich ist diese „Verschulung“ deshalb auch sinnvoll. Die didaktische „Verschulung“ hingegen mit sehr eng geführten Trainings oder instruktionalen Anlagen wurde erstaunlicherweise ohne großen Widerspruch hingenommen. Fraglich bleibt, ob diese mit einer eher instruktionalen oder mit einer eher spielorientierten Didaktik umzusetzen ist. Letzteres wurde bis jetzt kaum systematisch versucht. Die Folgen einer instruktionsorientierten Verschulung und damit zumindest einer Reduktion des Spielens sind bislang noch wenig bekannt.

Gleichzeitig führen Erzieherinnen eine über viele Jahre bewährte Kindergartendidaktik ins Feld. Viele Eltern und Behörden melden Bedenken an gegenüber einer drohenden Verschulung des Vorschulalters. Sie plädieren für ein Primat des Spiels und damit auch dafür, den Kindern in dieser Phase Zeit zu lassen, „Kind sein zu dürfen“. Gerne würde man Robert Hinde folgen, der sagte: „Spiel verbraucht so viel Zeit und Energie, dass es eine zentrale adaptive Wichtigkeit für die Entwicklung haben muss“ (Hinde, 1974, S. 227). Dabei ist die Versuchung groß, wenig reflektierten Vorteilsbehauptungen zu glauben, statt sich an Forschungsbefunden zu orientieren. Peter Smith (1988) bezeichnete die Tendenz, die Wichtigkeit von Spiel für die kindliche Entwicklung und Erziehung zu überschätzen, als „Das Spiel Ethos“. Ziel dieses Buches ist es, die Diskussion zur Bedeutung des Spiels in der frühen Kindheit auf dem Hintergrund wesentlicher Forschungsergebnisse zu führen. Es soll dem Berufsfeld eine Hilfe sein auf dem Weg vom Glauben zum Wissen, oder wie es Klaus Grawe vor bald 20 Jahren programmatisch forderte: Von der Konfession zur Profession (Grawe, Donati & Bernauer, 1994). Wir können es uns nicht mehr leisten, das Spiel der jungen Kinder dogmatisch zu verteidigen. Es ist deshalb an der Zeit, sich mit dem Spiel und vor allem mit dem Beitrag des Spiels zum Lernen der Kinder gründlich zu beschäftigen.

Weil die Orientierung an Forschung ohne normative Haltung doch etwas orientierungslos ist, verfolgt dieses Buch noch ein weiteres, dem ersten vielleicht auch etwas entgegenstehendes Ziel. Ein grundlegendes Streben von Menschen einer aufgeklärten Kultur ist es, ein interessantes, erfülltes und auch lustbetontes Leben zu führen. Deshalb sollten wir nicht der Versuchung erliegen, den Wettbewerb um die internationale Bildungs-Spitze mit mehr Drill zu führen. Die Forschung zeigt eindrücklich, dass Leistungsdrill ohne oder mit wenig Lernfreude die Motivation nachhaltig schädigt. Wir sollten uns zur Verbesserung unserer schon ausgezeichneten pädagogischen Einrichtungen auf unsere Stärken besinnen: Noch mehr Lust und Freude am Lernen durch eine Verstärkung des spielerischen, intrinsisch motivierten und anspruchsvollen Lernens.

1 Spieldefinition und Bedingungen für Spiel

„Fast alle Forscher, die sich mit Spiel befasst haben, anerkennen die Schwierigkeiten (…), Spiel zu definieren. Trotzdem haben die meisten Menschen kein Problem, Spiel zu erkennen, wenn sie es sehen.“

(Übersetzung v. Verf.)

Anthony Pellegrini, 2009, S. 8

Dieses Kapitel widmet sich ausführlich der Definition von Spiel. Auf die Diskussion, inwiefern Spiel auch Funktionen hat, die nicht mit Lernen im Zusammenhang stehen (vgl. Hauser, 2006), soll hier nicht eingegangen werden. Bei Kindern erscheint dies unwahrscheinlich: Die Kindheit als Lernzeit wurde von der Evolution wohl kaum für etwas anderes „erfunden“ als für das Lernen. Für den Luxus des Erlernens von für eine Gesellschaft unnützen Kompetenzen war der Aufwand bei unseren Vorfahren schlicht zu groß: Je früher die Kinder erwachsen waren, desto geringer war der Aufwand für die Sippe. 18 Jahre Nahrung beschaffen, beschützen, Lernmöglichkeiten anbieten usw. stellen einen großen Aufwand dar.

1.1 Intuitive Spieldefinition

Ob jemand spielt, kann nur aus Sicht des Spielenden entschieden werden. Es ist wie bei der Strafe: Ob eine Strafe auch als Strafe aufgefasst wird, ist stets nur aus der Sicht des bestraften Subjekts zu entscheiden. Strafen, über welche Kinder lachen oder gar stolz sind, zum Beispiel weil sie dadurch im Ansehen der Gleichaltrigen gestiegen sind, verfehlen ihre Wirkung. Sie vermindern die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Verhaltens nicht. Nur wenn eine Strafe vom Betroffenen als Strafe im Sinne eines als unerwünscht erlebten Reizes wahrgenommen wird, ist es auch eine Strafe. So ist es auch beim Spiel. Ein Spiel, welches von einem Spielenden nicht als Spiel wahrgenommen wird, zum Beispiel weil er dabei Angst hat, von einem Gleichaltrigen drangsaliert zu werden, oder aber weil er in einem Regelspiel nicht verlieren kann, ist kein Spiel, sondern Ernst.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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