Sprache ist, was du draus machst! - Prof. Dr. Simon Meier-Vieracker - E-Book

Sprache ist, was du draus machst! E-Book

Prof. Dr. Simon Meier-Vieracker

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Beschreibung

Linguistik-Professor Simon Meier-Vieracker vermittelt uns die faszinierende Vielfalt der deutschen Sprache Wir sprechen, also sind wir In verschiedenen Gegenden Deutschlands wird unterschiedlich gesprochen. Die lokalen Dialekte haben nicht nur Kultstatus, sondern geben uns auch Auskunft über die Herkunft von Sprechenden. Während das Ende eines Brotstücks beispielsweise in Ostdeutschland oft als »Kanten« bezeichnet wird, sagt man in Hamburg eher »Knust« und im Schwabenland heißt es oft »Riebele«. Linguistik-Professor Simon Meier-Vieracker, bekannt durch seine Wissensvermittlung auf TikTok als @fussballlinguist, zeigt uns unterhaltsam und zugänglich, wie ein Sprachforscher mit solchen Daten umgeht und was er daraus ableiten kann.  Sprachwandel oder Sprachverfall? Sprache umgibt uns jeden Tag, sie hilft uns, Beziehungen zu anderen Menschen zu knüpfen und uns selbst zu definieren. Sie ist Ausdrucksmittel, Kunstform und die Grundlage unserer Kommunikation. Es ist also nicht verwunderlich, dass Sprache nicht nur Gegenstand der Forschung ist: Auch im Alltag wird sie immer wieder heiß diskutiert. Sind beispielsweise Internet-Sprachphänomene eine jugendliche Verrohung unserer altehrwürdigen deutschen Sprache? Verlernen wir in den Sozialen Medien Rechtschreibung und Grammatik oder steckt vielleicht aus linguistischer Perspektive mehr dahinter?  Sprache als Spiegel der Gesellschaft Wenn heutzutage über Sprache diskutiert wird, dann wird es schnell auch politisch: Warum reden eigentlich alle übers Gendern? Und wer entscheidet letztendlich darüber, was richtig oder falsch ist? Simon Meier-Vieracker bahnt sich einen Weg durch den Sprachdschungel und hilft uns die aktuellen Debatten um unsere Sprache besser zu verstehen. Er nimmt uns mit auf eine Reise durch die wundersame Welt unserer Sprache, die so vielfältig und spannend ist. »Abhängig von Ort, Alter und Kontext wird Deutsch ganz unterschiedlich gesprochen und geschrieben. Nehmen wir das sogenannte Beamtendeutsch, in dem ein Baum nicht Baum, sondern ›raumübergreifendes Großgrün‹ genannt wird. Das ist zweifellos Deutsch und folgt doch eigenen Regeln in Sachen Wortbildung, Bedeutung und Gebrauch.« Prof. Dr. Simon Meier-Vieracker

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Prof. Dr. Simon Meier-Vieracker

Sprache ist, was du draus machst!

Wie wir Deutsch immer wieder neu erfinden

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Simon Meier-Vieracker zeigt in seinem klugen Buch, wie lebendig sprachwissenschaftliche Forschung sein kann:

Ich möchte von Alltagsbeobachtungen zu Sprache und Sprachgebrauch ausgehen, wie sie im Prinzip alle machen können, und sie mit linguistischen Perspektiven in einen Dialog bringen. Warum werden im Fußball so viele Phrasen gedroschen? Verlernen wir nach und nach die Fähigkeit zu korrekter Rechtschreibung, und tragen die digitalen Medien daran zumindest eine Mitschuld? Ist es sinnvoll, in Texten zu gendern, oder geht das auf Kosten der Verständlichkeit? Wie spricht man das Wort »Chemie« aus, und muss es »ich bin gesessen« oder »ich habe gesessen« heißen?

Kenntnisreich und mit viel Liebe zum Detail zeigt uns Simon Meier-Vieracker, wie man in der Linguistik vorgeht, um solche Fragen zu klären, die uns auch im Alltag beim Nachdenken und Reden über Sprache umtreiben.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Prolog Lass uns mal über Sprache reden

Kapitel 1 Was ist eigentlich Sprache und wenn ja, wie viele?

Same same but different

Ein Dialekt mit Flotte und Armee

Vielfalt in der Einheit

Kapitel 2 Ist das schon Sprachwandel oder ist das einfach nur falsch?

Warum wandelt sich Sprache überhaupt?

Auf dem Trampelpfad der Sprache

Und das Wort hat zum Abschied fröhlich gewinkt

»Aber Sinn kann man nicht machen, der kann sich nur ergeben!!11elf!«

Dürfen wir uns Sorgen machen?

Kapitel 3 »das is so nh sache«: Schreiben in Sozialen Medien

Zwei Arten des Schreibens

Verarmung oder Bereicherung?

Dann is ja alles in ordnung, nh?

Verderben die Sozialen Medien die Schriftsprache?

Und was ist mit dem Hass?

Kapitel 4 Sternchen sehen: Gendersensible Sprache

Gendern – was soll das überhaupt?

Okay, aber warum regen sich dann alle so auf?

Wortschatz und Grammatik als sedimentierte Ungleichheit

Ich fühle mich aber angesprochen!

Aber Gendern macht Texte völlig unlesbar!

Alles Aktivismus oder was?

Die Debatte um Genderpflicht und Genderverbote – und was der Rechtschreibrat dazu sagt

Kapitel 5 Mit Sprache Politik machen: Die Macht der Wörter

Nur ein Streit um Wörter?

Fahnen und Stigmata

Die Freiheit, die wir meinen

Übernahmen und Rückeroberungsversuche

Immer wieder »wieder«: Die Macht des Impliziten

Im Dschungel der Gesetze: Metaphern in der Politik

Kapitel 6 Phrasen auf’m Rasen: Die Sprache des Fußballs

Vom Mal zum Tor: Eine kurze Geschichte der Fußballsprache

Vom Trommelfeuer zum Zuckerpass

Phrasenalarm!

Phrasen als Folklore

Pfeffern, zuckern, buttercremen

Kapitel 7 Wer spricht? Chatbots, Künstliche Intelligenz & Co.

Der Computer lernt schreiben

Was kommt als Nächstes?

Ein hyperintelligenter Oktopus

Künstliche Dummheit und ihre intelligente Nutzung

Was wir von künstlichen Texten erwarten (dürfen)

Epilog Ein Blick in den Spiegel

Sprachwissenschaftliche Ressourcen für den Alltag

Glossar

Danksagung

Bildnachweis

Prolog Lass uns mal über Sprache reden

Dein heutiger Tag könnte ungefähr so verlaufen sein: Noch im Bett liegend hast du dein Handy zur Hand genommen, den Flugmodus ausgeschaltet und erst einmal die nachts eingegangenen WhatsApp-Nachrichten gelesen. Es sind auch ein paar Sprachnachrichten dabei, aber die hast du dir für später aufgehoben. Du hast auch Instagram ein erstes von sehr vielen Malen an diesem Tag aufgerufen und die neuesten Stories durchgesehen. Dann bist du duschen gegangen und hast dabei Radio gehört. Nachrichten, Lieder, Werbung und dazwischen das Gequatsche der Moderatorin – das übliche Hintergrundgedudel. Auch beim Frühstück hast du das Radio laufen lassen, aber nicht genau hingehört, denn du hast lieber die Texte auf der Müslipackung gelesen. Von Knuspergenuss ist da die Rede, der dich nicht nur zum Frühstück verwöhnt, sondern sich auch als Knabberei für zwischendurch eignet. Und du hast dich kurz gefragt, ob eigentlich außerhalb der Werbung irgendjemand das alberne Wort »Knuspergenuss« verwenden oder von einer »Knabberei für zwischendurch« sprechen würde. Du hast den Gedanken aber nicht weiterverfolgt, da du dich wieder Instagram zugewendet hast. Es sind schon wieder neue Stories dazugekommen, und du hast die erste eigene Story hochgeladen, in der du wie üblich ein Foto mit ein bisschen bunt blinkendem Text und Stickern kombiniert hast. Auch auf X und TikTok hast du vorbeigeschaut und ein paar Likes und Kommentare dagelassen.

Dann hast du dich auf den Weg zur Uni gemacht – nehmen wir einmal an, du studierst gerade. In der Straßenbahn hast du der Versuchung widerstanden, nicht zum Handy gegriffen und stattdessen den Roman weitergelesen. Du warst so sehr in die Lektüre vertieft, dass dir der Kontrolleur auf die Schulter tippen musste. Du hast artig dein Deutschlandticket vorgezeigt und dann noch den Kontrolleur ein wenig beobachtet und vor allem belauscht, wie er sein mantrahaftes »Die Fahrscheine, bitte« heruntergeleiert hat.

In der Uni bist du zuerst in die Vorlesung gegangen. Neunzig Minuten lang hast du der Professorin zugehört oder es zumindest versucht. Denn irgendwann hast du angefangen, darauf zu achten, wie oft die Professorin »sozusagen«, »sagen wir mal«, »wenn man so will« und ähnliche Floskeln verwendet. Du hast deinen Sitznachbarn auch dezent darauf hingewiesen, und dann war es mit der Konzentration vorbei. Nach einem weiteren Seminar war der Hunger groß, und du hast dich wie verabredet mit ein paar Freund:innen in der Mensa getroffen. Der Andrang war groß und die Schlange lang, was euch aber nicht gestört hat, denn ihr habt euch beim Schlangestehen und während des Essens über Filme und Podcasts, aber auch über die mäßige Qualität des Mensaessens und die exotisierenden bis schönfärberischen Speisebezeichnungen wie »Madagaskar-Soße« unterhalten. Und weil einige am Tisch auch in der Vorlesung gewesen sind, war auch die Professorin noch einmal Thema. Das mit den vielen Floskeln ist nicht allen aufgefallen, dafür haben sich andere an dem süddeutschen Akzent der Professorin gestört, an dem leichten Singsang ebenso wie an der Aussprache mancher Wörter wie »Kina« statt »China«, die sie provinziell wirken lasse; wobei manche am Tisch auch selbst nicht »China«, sondern »Schina« sagten, was ja auch nicht viel besser ist.

Am Nachmittag bist du in der Bibliothek gewesen und hast dich an einem der Gruppenarbeitsplätze mit Kommiliton:innen auf das Referat in der übernächsten Woche vorbereitet – wie immer ist das mit viel Abstimmungsbedarf und Diskussionen verbunden, die allzu oft ins Geplauder abschweifen. Dann stand noch ein Besuch in der Sprechzeit des Dozenten an. Es ging unter anderem darum, ob und wie auf den Slides und den Handouts gegendert werden muss. Zu eurer Überraschung und anders als oft unter dem Stichwort Genderpflicht an Unis behauptet, war es dem Dozenten egal. Dann war der Unitag auch schon wieder vorbei. Auf dem Nachhauseweg hast du einen Podcast gehört, einen von diesen Laberpodcasts ohne Skript. Die gefallen dir besser als die eher journalistischen Formate; es ist so, als würde man mit den Leuten aus dem Podcast am Tisch sitzen. Thema war unter anderem die anstehende Europawahl, für die sich die Parteien wieder einmal griffige Slogans einfallen lassen mussten.

Den Podcast hat du auch noch beim Einkaufen gehört, wo du am Weinregal einige Zeit verbracht und Etiketten gelesen hast, auf denen der Geschmack der Weine mal als »rund« und »samtig-weich« oder auch als »glutvoll« und »tief« beschrieben wurde, obwohl doch runde, weiche oder tiefe Dinge als solche gar keinen Geschmack haben. Du hast dich dann für einen »eleganten« Wein entschieden und ihn zum Abendessen ausgeschenkt, zu dem zwei Freunde vorbeigekommen sind. Beim Essen habt ihr euch über Gott und die Welt unterhalten, bevor ihr dann noch zusammen Fußball geschaut und dabei auch über Gott und die Welt geredet habt. Natürlich habt ihr auch über den Kommentator geredet, der mal wieder eine abgedroschene Phrase nach der anderen rausgehauen hat. Nach dem Spiel habt ihr euch sogar noch die Interviews angeschaut, dieses eigenartige Ritual, das in seiner ewigen Gleichförmigkeit und Inhaltsleere abstoßend und doch irgendwie faszinierend ist. Die anschließende Talkrunde habt ihr euch aber geschenkt.

Und jetzt liegst du im Bett und liest dieses Buch, bis dir die Augen zufallen. Und während dir die Augen zufallen, denkst du vielleicht darüber nach, dass du den ganzen Tag, diesen ganz gewöhnlichen Tag, buchstäblich von morgens bis abends von Sprache umgeben warst. Nahezu ununterbrochen warst du mit Sprechen und Hören, mit Lesen und Schreiben beschäftigt, an der Uni genauso wie in der Freizeit. Und selbst wenn du nur nachgedacht hast, hast du sozusagen mit dir selbst gesprochen. Du hast dir Gehörtes und Gelesenes ins Gedächtnis gerufen und stumm darauf geantwortet, und du hast dir kommende Sprechanlässe ausgemalt und geplant. Hätte man alle Handlungen und Erlebnisse, in denen Sprache eine Rolle spielt, aus deinem Tag herausgestrichen, dann wären dir gleich nach dem Aufwachen die Augen wieder zugefallen. Und hätte man aus den ganzen Aktivitäten, in die du über den Tag aktiv oder passiv involviert warst, Sprache herausgekürzt, dann wäre es ein zäher und trotz des Zusammenseins mit anderen Menschen wohl auch einsamer Tag gewesen.

***

Sprache umgibt uns jeden Tag. Eine Welt ganz ohne Sprache – selbst ohne Gebärdensprache – können wir uns kaum vorstellen. Selbst Phasen der Sprachlosigkeit wie beispielsweise ein rauschhaftes Tanzerlebnis im Techno-Club sind eben genau das, nämlich Phasen. Sprache ermöglicht uns die Verständigung mit anderen, aber offenbar leistet Sprache mehr als nur das.

Mit Sprache knüpfen und pflegen wir Beziehungen zu anderen Menschen, und mit Sprache und unserer jeweiligen Art zu sprechen weisen wir uns bestimmten Gruppen zu, grenzen uns von anderen ab und definieren damit uns selbst.1 Erst durch Sprache und Kommunikation werden Gesellschaft und Kultur möglich, auch wenn sich Kultur in anderen Formen wie zum Beispiel in Bildern ausdrückt. Sogar die Technologien, die wir tagtäglich nutzen, setzen in ihrer Entwicklung Sprache voraus. Und gerade Kommunikationstechnologien, insbesondere das Internet, beinhalten immer auch Sprachtechnologien.

Die Linguistik als Wissenschaft von der Sprache beschäftigt sich mit all diesen Themen, mit all den genannten Facetten von Sprache und noch mit vielem anderen mehr. Ich habe den fiktiven Tagesablauf so gestaltet, dass ich zu jedem Absatz ein paar Fußnoten setzen und auf eine oder mehrere Studien hinweisen hätte können. Messenger-Kommunikation in geschriebener und gesprochener Sprache, Werbesprache auf Produktverpackungen, Instagram-Stories, Fahrscheinkontrollen, Floskeln und Phrasen, regionale Aussprachevarianten, Bezeichnungen von Speisen, Tischgespräche, Wahlkampfsprache, Weinsprache, Fußballkommentare und -interviews – zu allem gibt es zahlreiche sprachwissenschaftliche Untersuchungen.

Eigentlich ist es schnell erklärt: Alle Facetten von Sprache und Sprachgebrauch sind Gegenstand der Linguistik, und umgekehrt ist es Aufgabe der Linguistik, Sprache und Sprachgebrauch in allen Facetten zu untersuchen. Trotzdem erlebe ich es als Sprachwissenschaftler häufig, dass sich Menschen ohne Vorwissen keine oder nur sehr eingeschränkte Vorstellungen davon machen können, worum es in der Linguistik eigentlich geht. Viele haben vage und eher ungute Erinnerungen an die Schule und schlussfolgern daraus, wir Sprachwissenschaftler:innen wären eben die, die sich gut mit Sprache und ihren Regeln auskennen und deshalb darüber urteilen dürfen und sollen, was richtig ist und was falsch. Das wiederum ist nicht ganz falsch, trifft aber doch nicht den Kern der Sache und blendet vieles von dem aus, womit wir in der Linguistik befasst sind. Zwar beschäftigen wir uns sehr wohl mit den Regeln und Normen der Sprache, aber eher, um sie in ihrer ganzen Vielfalt in ihrem Zustandekommen und ihren Wirkungen zu erklären, und nicht, um sie durchzusetzen.

Es gehört offenbar zum Wesen der Sprache, dass sie uns so selbstverständlich ist und wir sie so selbstverständlich gebrauchen, dass sie quasi unsichtbar ist – fast so wie die Luft, die wir atmen. Deshalb ist es vielleicht nicht auf den ersten Blick klar, was daran überhaupt untersuchenswert ist. Ein erster Schritt bei jeder sprachwissenschaftlichen Untersuchung, den wir auch an Studierende erst vermitteln müssen, ist deshalb der, Sprache zunächst einmal sichtbar zu machen und über die Bewusstseinsschwelle zu heben. Dann erst kann man über die Sprache auch wissenschaftliche Aussagen treffen.

In diesem Buch möchte ich genau das tun: Ich möchte die Sprache, die uns täglich umgibt, sichtbar machen. Ich möchte zeigen, wie faszinierend und vor allem faszinierend vielfältig die Sprache in ihren Formen und Funktionen ist und mit wie vielen Lebensbereichen sie verknüpft ist. Ich möchte zeigen, wie komplex und vielseitig unser aller Sprachfähigkeiten sind und wie wir alle jeden Tag durch unser Sprechen und Schreiben daran mitwirken, dass Sprache lebendig bleibt. Und ich möchte zeigen, dass Sprache ein Spiegel der Gesellschaft ist, in der sie gesprochen und geschrieben wird, und dass Sprache auch ihrerseits die Gesellschaft mitprägt. Das alles möchte ich mit den Augen eines Sprachwissenschaftlers tun und damit Einblicke in linguistische Forschungsmethoden und -ergebnisse geben.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Linguistinnen und Linguisten nicht die Einzigen sind, die über Sprache nachdenken und über Sprache reden. Sosehr Sprache oft unsichtbar bleibt, so oft gibt es doch im Alltag immer wieder Anlässe, Sprache zum Reflexionsgegenstand zu machen. In den eingangs geschilderten Tagesablauf habe ich, wie vielleicht aufgefallen ist, eine ganze Reihe solcher Anlässe eingebaut. Wir wundern uns im Alltag über eigentümliche Wörter, wir nehmen Formulierungsgewohnheiten oder regionale Färbungen wahr und ordnen sie und damit auch die Sprechenden ein, und wir urteilen über die (mangelnde) sprachliche Originalität von Journalist:innen. All das ist nicht außergewöhnlich, sondern alltäglich.

Im Grunde genommen haben Sprachwissenschaftler:innen mit allen anderen Menschen etwas gemeinsam: Alle reden über Sprache – und verwenden dafür ihrerseits Sprache. Natürlich gibt es Unterschiede: Die Sprachwissenschaft greift auf präzise definierte Fachbegriffe zurück, nutzt bestimmte Untersuchungsmethoden und zielt auf objektive Beschreibungen und eher theoretische Betrachtungen, wohingegen alltägliche Sprachreflexion subjektiv-wertend und oft vage ist und häufig ganz pragmatische Ziele verfolgt.2 Trotzdem ist das verbindende Element das Reden über Sprache mittels Sprache.

Man hat in der Sprachwissenschaft oft darauf hingewiesen, dass genau das ein charakteristisches und wesentliches Merkmal menschlicher Sprache ist: ihre Reflexivität.3 Erst sprachliche Kommunikation befähigt uns zur Metakommunikation (also Kommunikation über Kommunikation), mit der wir Verständigungsprobleme ansprechen und lösen können (»Welchen Sonntag meinst du mit ›nächsten Sonntag‹?«), mit der wir nach Bedeutungen von Wörtern fragen (»Was bedeutet eigentlich das Jugendwort ›delulu‹?«) oder neue Bedeutungen verabreden können (so z.B. bei der Definition von Fachwörtern) oder mit der wir uns über die Angemessenheit bestimmter Formulierungen austauschen können (»Ist es okay, einen Professor auf TikTok zu duzen?«). Und all diese Formen der auch außerhalb der Wissenschaft verbreiteten Metakommunikation sind übrigens – und Achtung, jetzt wird’s meta – ihrerseits ein immer wichtiger werdender Gegenstand der Sprachwissenschaft.

So untersucht zum Beispiel die sogenannte Wahrnehmungsdialektologie, wie Menschen, und zwar insbesondere jene ohne sprachwissenschaftliche Ausbildung, im Alltag Dialekte wahrnehmen und über die Dialektsprechenden urteilen.4 In der Sprachideologieforschung wird untersucht, welche mitunter politisch geprägten Meinungen und Einstellungen Menschen gegenüber bestimmten Sprachen und sprachlichen Phänomenen wie zum Beispiel Sprachmischungen und Fremdwörtern haben.5 Sprache, so formuliert ein einschlägiges Handbuch zum Thema, steht eben auch »im Urteil der Öffentlichkeit«6. Die Linguistik muss dazu eine Haltung entwickeln, wenn sie nicht als ignorant und weltfremd, als Bewohnerin des Elfenbeinturms abgestempelt werden möchte.

Die typische Haltung, die viele Sprachwissenschaftler:innen gegenüber den Alltagsurteilen über Sprache für lange Zeit eingenommen haben, ist diese: Wir wissen es besser als ihr, und deshalb müssen wir euch jetzt belehren! Zumindest am ersten Teil der Aussage ist natürlich etwas dran. Es wäre ja eigenartig, wenn Menschen, welche die wissenschaftliche Untersuchung von Sprache zu ihrer Hauptbeschäftigung und vielleicht sogar zum Beruf machen, über ihren Gegenstand nicht mehr wüssten als alle anderen. Die Frage ist aber, ob man deshalb gleich in einen belehrenden Ton verfallen und einen Alleinvertretungsanspruch beim Reden über Sprache erheben muss. Neuere linguistische Ansätze sind hier zurückhaltender. Sie gehen davon aus, dass es auch in der Alltagswelt umfangreiches Wissen über Sprache gibt, das vielleicht anders ist als das wissenschaftliche Wissen, das aber genau deshalb präzise beobachtet, beschrieben und vielleicht auch erklärt werden muss.7

So möchte ich in diesem Buch vorgehen. Ich möchte von Alltagsbeobachtungen zu Sprache und Sprachgebrauch ausgehen, wie sie im Prinzip alle machen können, und sie mit linguistischen Perspektiven in einen Dialog bringen. Warum werden im Fußball so viele Phrasen gedroschen? Verlernen wir nach und nach die Fähigkeit zu korrekter Rechtschreibung, und tragen die digitalen Medien daran zumindest eine Mitschuld? Ist es sinnvoll, in Texten zu gendern, oder geht das auf Kosten der Verständlichkeit? Wie spricht man das Wort »Chemie« aus, und muss es »ich bin gesessen« oder »ich habe gesessen« heißen? Ich möchte zeigen, wie man in der Linguistik vorgeht, um solche Fragen zu klären, die uns auch im Alltag beim Nachdenken und Reden über Sprache umtreiben. Und gleich eine Ankündigung vorweg: Ich werde in vielen Fällen keine eindeutige Antwort geben können (und auch nicht geben wollen), was denn nun »richtig« ist. Dafür ist Sprache viel zu komplex und viel zu vielfältig. Aber ich werde zeigen, was man alles im Blick behalten muss, wenn man zum Beispiel nach »korrekter Aussprache« fragt. Denn genau das macht die sprachwissenschaftliche Perspektive aus: Anstelle von Pauschalurteilen geht es darum, genauer hinzusehen und zum Beispiel nach den Gründen zu fragen, warum manche Dinge in der Sprache überhaupt strittig sind und wovon die Vielfalt möglicher Lösungen abhängt. Dieses Buch wird auch Laien dabei helfen, ihren Blick entsprechend zu schärfen.

Eine wichtige Inspirationsquelle für das Buch und eine Art Trainingsplatz ist mein TikTok-Kanal. TikTok-Videos von anderen habe ich zuerst in meinen Vorlesungen an der Universität genutzt, um daran sprachliche Phänomene zu erklären. Meine kurzen TikTok-Analysen habe ich später dann in Form von eigenen Videos auf die Plattform zurückgespielt, wo sich erstaunlich viele Menschen dafür interessierten. Wie im Alltag überhaupt wird auf TikTok nämlich sehr viel über Sprache gesprochen. Aussprache- und Schreibvarianten, interessante Wörter oder grammatische Figuren und natürlich auch das Thema Gendern – meine »For you«-Page ist, auch bedingt durch meine eigene Nutzung der Plattform, voll davon, und oft werde ich von meinen Follower:innen unter solchen Videos auch markiert.

In meinem Format #LinguisTikTok greife ich diese Fragen bevorzugt in sogenannten Stitches auf. Bei dieser Funktion nimmt man einen Ausschnitt eines anderen Videos und hängt sozusagen als Kommentar sein eigenes Video hintendran. In den knapp sechzig Sekunden, die mir in den Stitches verbleiben, versuche ich genau das, was ich eben beschrieben habe: Ich zeige linguistische Perspektiven und Methoden, um die Fragen aus den Ausgangsvideos anzugehen, und komme gerade bei Fragen nach richtig oder falsch oft zu dem Schluss: Es kommt darauf an. Worauf es jeweils ankommt, werde ich in diesem Buch zeigen, und ich kann mir hier zum Glück auch mehr Zeit dafür nehmen als nur sechzig Sekunden.

Ich werde mich im Buch vor allem, aber nicht nur auf die deutsche Sprache beziehen. Mein Fach ist die Angewandte Linguistik als Teil der Germanistik, die deutsche Sprache ist also mein Hauptgegenstand. Allerdings ist die Rede von »der« deutschen Sprache hier etwas irreführend, denn das Deutsche ist – wie jede Sprache – sehr vielfältig und steht – wie jede Sprache – seit jeher im Kontakt mit anderen Sprachen. Und um manche Facetten des Deutschen zu verstehen oder um sie überhaupt erst einmal als Eigenheiten zu sehen, muss man notgedrungen einen Blick auf andere Sprachen werfen. Was Sprache ist und was eine Sprache ist, kann man nur verstehen, wenn man sich klarmacht, dass es viele Sprachen gibt.

Kapitel 1 Was ist eigentlich Sprache und wenn ja, wie viele?

Ein Buch über Sprache muss natürlich die große, ja vielleicht die größte Frage überhaupt zu Beginn einmal stellen: Was ist eigentlich Sprache? Man kann diese Frage auf viele verschiedene Arten stellen und auf sehr viele verschiedene Arten beantworten. Schauen wir uns einige Möglichkeiten etwas genauer an.

So können wir fragen, wie Sprache aufgebaut ist, woraus sie besteht (etwa aus Lauten, Buchstaben, Silben, Wörtern und Sätzen usw.) und wie diese nach bestimmten Regeln kombiniert werden. Dann werden wir Sprache als Zeichensystem definieren, also eine »Zusammenstellung« (so die wörtliche Übersetzung von »System«) von einzelnen Zeichen und den Regeln ihrer Verknüpfung, die wir Grammatik nennen. Wir können aber auch fragen, wozu wir Sprache verwenden und welche Funktionen sie hat. Eine naheliegende, wenn auch sehr allgemeine Antwort wäre, dass wir Sprache zur Kommunikation nutzen. Wir definieren Sprache in diesem Fall als ein Instrument, um uns zu verständigen, um uns mitzuteilen, um andere Menschen zu etwas zu bewegen oder um etwas über die Welt auszusagen.

Beide Perspektiven bedingen natürlich einander. Nehmen wir an, wir entdecken irgendwo eigentümliche Zeichen, von denen wir vermuten, dass es sprachliche Zeichen sind. Wir würden dann einerseits versuchen, die Struktur und die Regeln hinter diesen Zeichenketten zu verstehen. Andererseits würden wir versuchen zu verstehen, wovon da die Rede ist, was diejenigen, die die Zeichen hinterlassen haben, mitteilen wollten und wem sie es mitteilen wollten. Und das eine geht nur durch das andere: Erst wenn wir die Struktur der Sprache halbwegs durchschauen, wird sie für uns bedeutsam und kommunikativ, und die Suche nach Struktur wird für uns erst dann zu einem Ziel gelangen, wenn wir in der Struktur bedeutsame Elemente entdecken.

Ein Beispiel hierfür ist das berühmte Voynich-Manuskript, ein vermutlich im 15. Jahrhundert entstandenes handgeschriebenes Schriftstück, das Forschende seit seiner Entdeckung im Jahr 1912 vor Rätsel stellt.8 Die Schrift ähnelt Alphabeten, die wir aus Europa kennen, es gibt Wörter, die offenkundig nach bestimmten Regeln gebildet werden, und auch sonst findet man rasch sich wiederholende Muster. Aber niemand weiß, in was für einer Sprache oder Geheimsprache das Manuskript geschrieben ist, wovon es handelt und ob es überhaupt ein sinnvoller und verstehbarer Text ist. Alle paar Jahre behauptet zwar jemand, das Manuskript entschlüsselt zu haben, aber bislang konnte niemand plausibel machen, wie die angebliche Bedeutung des Textes mit den eigentümlichen Regeln in Einklang zu bringen ist, denen der Text offensichtlich folgt.9 Und die entdeckten Regeln selbst sind so lange nutzlos, ehe sie uns nicht dabei helfen zu verstehen, was der Text bedeutet.

Eine nochmals andere Perspektive auf Sprache würde danach fragen, was man eigentlich weiß, wenn man (eine) Sprache beherrscht. (Eine) Sprache zu beherrschen heißt unter anderem, die Regeln zu kennen, nach denen man Wörter und Sätze bildet. Es heißt aber auch zu wissen, was einzelne Wörter bedeuten, also an welche Vorstellungen bestimmte Formen gekoppelt sind. Wir definieren Sprache demnach als Kenntnissystem und können dann auch mit den Mitteln der Psychologie oder sogar der Neurowissenschaft fragen, wie dieses Wissen organisiert ist, wie es mit Emotionen interagiert und wie es im Gehirn verarbeitet wird.

Wir können die Frage nach dem sprachlichen Wissen aber auch etwas anders stellen und fragen, was man eigentlich lernt bzw. lernen muss, wenn man (eine) Sprache lernt. Sehr gut erforscht ist die Art, wie und in welchen Etappen Kleinkinder ihre Muttersprache lernen, aber auch das Erlernen von Fremdsprachen ist ein ausgesprochen spannender Prozess. Wer schon einmal eine fremde Sprache gelernt und im Ausland angewendet hat, weiß, dass es mit Grammatik, Vokabeln und Aussprache allein noch nicht getan ist. Man muss auch lernen, wie man in verschiedenen Situationen und Kontexten jeweils angemessen spricht und schreibt, wenn man zum Beispiel höflich sein oder ein Kompliment machen möchte. Wir definieren Sprache in diesem Zusammenhang als Träger von Kultur, in die wir durch das Lernen von Sprache hineinsozialisiert werden, als Kinder ebenso wie als Erwachsene.

Same same but different

Die letzten Ausführungen deuten auf einen Aspekt hin, den man auch als Wesenszug von Sprache beschreiben kann: Variation. Nicht nur gibt es verschiedene Sprachen, sondern auch einzelne Sprachen verändern sich, sowohl in der Zeit – wir sprechen dann von Sprachwandel – als auch zwischen verschiedenen Situationen und Kontexten. Ein und dieselbe Sprache wie etwa das Deutsche wird zum Beispiel in Abhängigkeit vom Ort oder vom Alter der Sprechenden ganz unterschiedlich gesprochen und geschrieben.10 Es mag freilich Dialekte geben, die sich so sehr von der Standardsprache unterscheiden, dass man sie als eigene Sprache bezeichnen kann. Doch nehmen wir so etwas wie das im Alltag oft so genannte Beamtendeutsch, in dem ein Baum nicht Baum, sondern »raumübergreifendes Großgrün« genannt wird. Das ist zweifellos Deutsch und folgt doch eigenen Regeln in Sachen Wortbildung, Bedeutung und Gebrauch. Und dass man im Klassenzimmer während des Unterrichts anders Deutsch spricht als vor dem Klassenzimmer in der Pause, dürften alle noch aus ihrer Schulzeit in Erinnerung haben.

Der Sprach- und Literaturwissenschaftler Harald Weinrich hat das einmal in einem wunderbaren Buchtitel so auf den Punkt gebracht: »Sprache, das heißt Sprachen«11. Das gilt für Sprache allgemein, denn es gibt eben sehr viele verschiedene Sprachen – dem Mythos zufolge seit dem Turmbau zu Babel. Derzeit finden wir auf der Welt rund 7000 lebende, das heißt von Muttersprachler:innen gesprochene Sprachen.12 Es gilt aber auch für jede einzelne Sprache, denn auch diese fächert sich sozusagen auf in verschiedene Dialekte und Register.

Dialekte kennen wir alle, Register verbinden vermutlich die wenigsten mit Sprachwissenschaft. Wir werden uns diesen Begriff später noch genauer anschauen, fangen wir erst einmal mit den Dialekten an. Wir verstehen darunter normalerweise für bestimmte Regionen typische Ausprägungen einer Sprache. Wie die Alternativbezeichnung Mundart andeutet, werden Dialekte vor allem gesprochen und nur selten und in sehr spezifischen Kontexten wie etwa der Dichtung auch geschrieben. Und mehr noch: Dialekte werden oft nur in informellen Kontexten gesprochen. Ein Vorstellungsgespräch auf Alemannisch oder auf Saarländisch (wissenschaftlich korrekt müsste man eigentlich Moselfränkisch oder Rheinfränkisch sagen) ist selbst dann eher unwahrscheinlich, wenn die Personalerin und der Bewerber in ihren Familien oder im Sportverein Dialekt sprechen. Das heißt aber auch: Selbst Personen, die im Privaten Dialekt sprechen, können oft ins Hochdeutsche wechseln, wenn die Situation es verlangt. Klar, ein gewisser Akzent in der Aussprache bleibt oft, nicht umsonst kokettieren die Schwaben sogar in einer Werbekampagne des Landes Baden-Württemberg damit, dass sie alles können – außer Hochdeutsch.1 Aber zumindest die standarddeutsche Grammatik wird von den allermeisten Schwaben beherrscht, im Gesprochenen und im Geschriebenen natürlich erst recht.

Dass wir als Deutschsprechende so mühelos zwischen verschiedenen Arten des Deutschen wechseln können, je nachdem, was in der Situation gerade angemessen ist, fassen wir in der Linguistik mit dem Begriff Register. Der kommt eigentlich aus dem Orgelspiel. Da nennt man die einzelnen Pfeifensätze so, die man mit kleinen Knöpfen zum Ziehen ein- oder ausschalten und so den Klang der Orgel gezielt verändern kann. Große Orgeln haben über hundert Register, manche klingen fein und zart, andere dumpf und tief, wiederum andere massiv und strahlend. Und wenn wir »alle Register ziehen«, wie man auch sprichwörtlich sagt, dann holen wir aus der Orgel das Maximum an Lautstärke und Klangvolumen heraus. Sprachliche Register kann man zwar nicht alle auf einmal ziehen, wir müssen uns entscheiden. Aber uns stehen in der Sprache ebenfalls verschiedene Register zur Verfügung, und wir können zwischen ihnen hin und her wechseln, um passend zur Situation zu sprechen und zu schreiben. Was in informellen Situationen wie einem Plausch mit Freunden im Café angemessen ist, ist in einer formellen Situation wie einer Kontoeröffnung in der Bank womöglich völlig fehl am Platz. Und umgekehrt! Wer sich in einem privaten Gespräch zu formell ausdrückt, wird negativ auffallen, und wer in einem WhatsApp-Chat tunlichst auf regelkonforme Rechtschreibung und Interpunktion achtet, gerät leicht in den Verdacht, entweder ein Pedant oder ein Boomer zu sein.13

Die Wahl des geeigneten Registers hat nicht zuletzt etwas mit den anderen Personen zu tun, an die ich mich richte. Mit mir vertrauten Personen spreche und schreibe ich anders als mit Fremden, mit Vorgesetzten anders als mit Kolleg:innen. Im Marketing würde man vielleicht von zielgruppenadäquater Kommunikation sprechen. In der Sprachwissenschaft nennen wir das »audience design«, den Zuschnitt unserer Sprache auf das Publikum.14 Wir alle tun das, nicht nur die Marketing-Expert:innen unter uns, und wir tun das häufig sogar unbewusst, wenn auch nicht immer mit Erfolg. Auch dieses Buch ist übrigens ein Beispiel dafür. Ich schreibe hier ganz anders als in meinen wissenschaftlichen Artikeln, die ich für ein Fachpublikum schreibe. Ich wähle dementsprechend ein anderes Register, vielleicht weniger präzise, dafür lockerer und anschaulicher und damit hoffentlich für ein größeres Publikum verständlich.

Wie wir sprechen und schreiben, ist also einerseits Ausdruck  unserer Persönlichkeit. Wir alle haben ganz individuelle Stimmfärbungen, anhand derer wir von uns vertrauten Personen am Telefon schon durch ein kurzes »Ich bin’s« erkannt werden. Wir haben individuelle Ausdrucksweisen oder Schreibstile, eine Art sprachlichen Fingerabdruck, den sich dann auch die forensische Linguistik zunutze macht, um beispielsweise eine Telefonstimme oder den Verfasser eines Bekennerschreibens zu identifizieren.15 Aber längst nicht alle Eigenheiten unseres Sprechens und Schreibens sind wirklich individuell. Vieles hängt von unserer lokalen Herkunft ab – hier sind wir wieder bei den Dialekten, die zwar allein noch nicht zur Sprecheridentifikation, aber zumindest zur Eingrenzung genutzt werden können.

Das kann man leicht ausprobieren. Dialektologen haben einen Test entwickelt, in dem man 24 Fragen z.B. zur Bezeichnung des Brotendstücks beantworten muss. Auf dieser Grundlage wird dann der wahrscheinlichste Herkunftsort bestimmt.16 Das funktioniert erstaunlich gut: Ich werde korrekt im südbadischen Lörrach lokalisiert – obwohl ich das Brotendstück wie im Pfälzerwald üblich als »Knäuschen« bezeichne. Und bei der Arbeit an diesem Buch hat mein berufsbedingt kritischer Lektor mir die Aufgabe gestellt, ganz allein anhand seiner bevorzugten Brotendstückbezeichnung »Knüstchen« seinen Herkunftsort zu bestimmen. Mit einer entsprechenden Karte aus dem Atlas der deutschen Alltagssprache17 ist es mir auf die Stadt genau gelungen!

Auch unsere soziale Herkunft beeinflusst, wie wir sprechen und schreiben. Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht prägt sich auch sprachlich aus. Wir werden von anderen entsprechend eingeordnet und beurteilt, wenn auch nicht immer zu Recht. Wir können aber auch durch eine besonders gewählte Ausdrucksweise ganz gezielt eine bestimmte soziale Position für uns beanspruchen und uns von anderen abgrenzen. Diese Unterarten einer Sprache nennen wir in Anlehnung an den Dialektbegriff auch Soziolekte. Schließlich hängt unsere Sprache von unserem Alter und sogar von unserem Geschlecht ab. Es gibt tatsächlich Unterschiede im Sprachverhalten z.B. von Männern und Frauen, wobei das aber nicht einfach biologisch festgelegt ist, sondern etwas mit den jeweiligen Rollenerwartungen und Stereotypen und entsprechender Sozialisation zu tun hat.18

All diese Ausprägungen einer Sprache – wir nennen sie in der Sprachwissenschaft Varietäten als Oberbegriff für Dialekte, Soziolekte usw. – bestimmen sich also durch soziale Faktoren wie eben Herkunft, Alter und Geschlecht, die wir mit anderen teilen. Auch wenn sie sich bei allen von uns vielleicht auf ganz individuelle Weise mischen, sind diese sozial bedingten Varietäten eben doch so etwas wie die Verbindungsglieder zwischen den Mitgliedern bestimmter Gruppen, sodass diese zum Beispiel sagen können: Wir in Sachsen reden so und so. Und zwar über Alters- und Schichtgrenzen hinweg.

Allerdings, und hier wären wir wieder bei den sprachlichen Registern, ist es nicht so, dass diese sozialen Faktoren unser Sprechen und Schreiben vollständig bestimmen. Zu sagen, dass ich spreche, wie ich spreche, weil ich ein aus Südbaden stammender Mann Mitte vierzig bin, wäre eine extreme Verkürzung, die zudem unterstellt, dass ich eben als ein aus Südbaden stammender Mann Mitte vierzig immer gleich spreche. In Wirklichkeit ist das viel komplexer und flexibler. Wir erinnern uns: Register sind die situations- und adressatenspezifischen Ausprägungen einer Sprache, zwischen denen wir gezielt, wenn auch nicht immer bewusst, wechseln können. Wir können jetzt auch sehen, dass die Grenzen zwischen Dialekten, Soziolekten und Registern fließend sind. In vielen Gegenden Deutschlands (weniger aber in der Schweiz) sind Dialekte ein Hinweis auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht – oder werden zumindest dafür gehalten.19 Das kann man daran sehen, dass Menschen in Tests anderen Menschen typischerweise einen eher niedrigeren Bildungsstand zuschreiben, wenn diese Dialekt sprechen. Dieser Effekt zeigt sich auch dann, wenn die beurteilten Personen in Wirklichkeit Schauspieler:innen sind, die sich als verschiedene Personen ausgeben und mal Dialekt sprechen und mal nicht.20 Trotzdem sind wir als Dialektsprechende dem Dialekt nicht ausgeliefert. Je nach Situation und Gegenüber können wir Dialekte mehr oder weniger stark nutzen und tun das für gewöhnlich auch.

Wir alle verfügen also über eine bemerkenswerte innere Mehrsprachigkeit – so hat man dieses Phänomen in der Sprachwissenschaft auf den Begriff gebracht. Die individuelle Fähigkeit also, ganz verschiedene Varietäten und Register einer Sprache zu sprechen, zu schreiben und auch zu verstehen und richtig zu deuten, zeichnet uns alle aus, die wir von uns sagen, dass wir Deutsch können.

Ein Dialekt mit Flotte und Armee

Wenn »Deutsch können« in Wirklichkeit heißt, viele verschiedene Arten von Deutsch zu können – was ist dann eigentlich »das Deutsche«? Ist das nicht eher eine Art Sammelbezeichnung für die unzähligen Varietäten und Register? So wie wir Äpfel, Birnen und Bananen zusammenfassend als »Obst« bezeichnen? Die Antwort lautet: Jein. Denn die einzelnen Varietäten und Register haben viel mehr miteinander gemein, und die Übergänge sind fließend. Man könnte als Vergleich eher noch verschiedene Apfelsorten wie Jonagold, Boskop oder Elstar mit den ganzen Kreuzungen dazwischen heranziehen. Aber auch das trifft einen wesentlichen Aspekt nicht richtig.

Denn zumindest in modernen Sprachen wie dem Deutschen gibt es eine Standardsprache als eine Art gemeinsames Dach für die einzelnen Dialekte. Das Standarddeutsche, das man gemeinhin als Hochdeutsch bezeichnet, ist ein entscheidender Bezugspunkt, wenn man ganz allgemein nach »dem Deutschen« fragt. Aus der Schule oder, aus der Perspektive von Deutschlernenden, aus dem Sprachunterricht kennen wir solche Regeln wie »Im Deutschen steht in Nebensätzen das Verb am Schluss«. Das ist eine Regel, die für das geschriebene Standarddeutsche weitestgehend gilt. In der gesprochenen Sprache, die oft dialektal gefärbt ist, sieht es schon wieder ganz anders aus. Da hört man etwas wie »Wir müssen uns beeilen, weil wir verpassen sonst den Zug« recht häufig, und hier steht das Verb definitiv nicht am Schluss.21 Wir haben auch mal (als Kinder beim Spracherwerb oder im Sprachunterricht) gelernt, dass im Deutschen in Aussagesätzen in der zweiten Person das Personalpronomen »du« bzw. »ihr« gesetzt werden muss oder dass Lokaladverbiale mit Adverbien oder Präpositionalphrasen gebildet werden. Keine Sorge, was hier kompliziert klingt, ist eigentlich kinderleicht. Wir sagen »Du bist ein Genie!« mit Personalpronomen und nicht nur »Bist ein Genie!«, und wir sagen »Ich gehe in die Schule« mit dem Wörtchen »in« und nicht nur »Ich gehe Schule«. Das ist im Italienischen anders, dort sagt man »Sei un genio!« und lässt das Personalpronomen »tu« typischerweise weg. Im Türkischen sagen man »Okula gidiyorum«, was sich am ehesten noch mit »Schule gehe ich« übersetzen lässt. Es braucht also keine Präposition, stattdessen wird die Richtung über eine Erweiterung des Substantivs »Okul« angezeigt.

Aufmerksame Lesende werden sich jetzt vielleicht gedacht haben: Moment mal, das gibt es im Deutschen doch auch! Vielleicht nicht im Standarddeutschen, aber umgangssprachlich können wir sehr wohl sagen »Bist ein Genie!« und können damit vielleicht sogar emotionaler klingen als mit der eigentlich korrekten Formulierung. Ein Satz wie »Ich gehe Schule« ist ein klassisches Beispiel einer Wendung aus dem sogenannten Kiezdeutsch, jener vor allem von Migrant:innen in Großstädten gesprochenen Varietät, die aber längst den Weg in die Jugendsprache jenseits der migrantischen Communities gefunden hat.22 Solche umgangs- oder jugendsprachlichen Wendungen sind aber genau das: umgangs- oder jugendsprachliche Wendungen; sie sind jedenfalls keine Standardsprache.

Dabei gibt es rein sprachwissenschaftlich betrachtet übrigens keinen Unterschied zwischen dem Standarddeutschen und sogenannten Nonstandardvarietäten wie Dialekten. Auch Dialekte haben eine Grammatik und haben Regeln, nur eben andere als im Standarddeutschen. Wir sind, nicht zuletzt durch die Schule und die den Rotstift ansetzenden Lehrkräfte, sehr darauf gepolt zu sagen: Hochdeutsch ist das richtige Deutsch, und was davon abweicht, ist falsch. Das ist in vielen Kontexten auch so. Ich würde zum Beispiel dringend empfehlen, Bewerbungsschreiben auf Standarddeutsch zu verfassen, wenn man sich nicht gerade beim örtlichen Dialektpflegeverein als Social Media Manager bewirbt. Aber nur weil etwas gemessen an der Norm falsch ist, heißt es nicht, dass es nicht trotzdem Regeln folgt. Das Beispiel zeigt aber, dass die Regeln des Standarddeutschen trotz allem einen anderen Status haben. Sie sind normiert, in schriftlichen Regelwerken festgehalten – im Falle der Rechtschreibung sogar in einem amtlichen Regelwerk – und dürfen von autorisierten Personen auch durchgesetzt werden.23 Die angesprochenen Lehrkräfte haben eben im staatlichen Auftrag die Lizenz zum Gebrauch des Rotstifts, mit möglicherweise weitreichenden Konsequenzen für Schülerinnen und Schüler, die den Regeln nicht folgen können oder wollen. Außerhalb der Schule hat diese Lizenz keine Gültigkeit, und die Regeln gelten vielleicht weniger strikt. Aber sie bieten dennoch eine entscheidende Orientierung und liefern zum Beispiel Arbeitgebenden Gründe, Menschen lieber nicht einzustellen, wenn sie in ihren Bewerbungsschreiben allzu offensichtlich gegen die offiziellen Regeln verstoßen.

Überspitzt kann man also sagen: Das Deutsche im Sinne des Standarddeutschen ist auch nur eine bestimmte deutsche Varietät, die aber anders als zum Beispiel Dialekte mit institutioneller Macht zum Orientierungsrahmen erklärt und durchgesetzt wird. Genau das ist die Pointe des dem russisch-jüdisch-amerikanischen Sprachwissenschaftler Max Weinreich zugeschriebenen Aphorismus: A language is a dialect with a navy and an army (eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Kriegsflotte und einer Armee).24 Das klingt natürlich einigermaßen martialisch und ist eher als Metapher zu verstehen. Der entscheidende Punkt ist aber, dass es Institutionen mit weitreichenden Befugnissen braucht, damit das Standarddeutsche zu dem wird, was es ist: ein ausgesprochen wirkungsvoller Orientierungsrahmen, der sich uns so sehr eingebrannt hat, dass wir ihn oft für den einzig gültigen Maßstab halten. Das geht so weit, dass Menschen von umgangssprachlich oder regional geprägten Wörtern wie »öfters« behaupten, dass es sie nicht gibt. Das ist offenkundig falsch. Natürlich gibt es sie, sonst wären sie den Kritisierenden ja gar nicht aufgefallen, nur eben nicht in der (bundesdeutschen) Standardsprache.

An dieser Stelle hilft vielleicht ein kleines Gedankenspiel. Stellen wir uns vor, der Freistaat Bayern würde mit dem Freistaatgedanken so richtig ernst machen und aus der Bundesrepublik austreten. Um die eigene nationale Identität zu stärken, sollte das Bairische (so die korrekte Bezeichnung für die unter anderem in Bayern gesprochene Dialektgruppe) zur Landes- und Amtssprache erhoben werden. Was müsste hierfür passieren? Natürlich bräuchte es in der Verfassung einen Satz wie »Die Landessprache in Bayern ist Bairisch« – natürlich auf Bairisch bzw. Boarisch. Aber was bräuchte es zusätzlich, damit dieser Satz mit Inhalt und Leben gefüllt wird?25

Zunächst einmal müsste man die ausgesprochen vielfältigen Dialekte, deren spezifische Ausprägungen bekanntlich von Dorf zu Dorf variieren, irgendwie standardisieren – eben deshalb sprechen wir von Standardsprachen. Man müsste sich auf eine einheitliche Schreibung, ein einheitliches Vokabular, eine einheitliche Grammatik und vielleicht sogar auf eine einheitliche Aussprache einigen. Man könnte sich überlegen, welche der bereits existierenden Varianten des Bairischen sozusagen den Zuschlag erhält und zum Standard ausgebaut wird, oder man könnte versuchen, von allem etwas zu nehmen. Man kann sich leicht vorstellen, dass dieser Prozess eine Menge Konfliktpotenzial birgt – es könnte sich am Ende ein Landstrich übergangen fühlen. Aber gesetzt den Fall, diese Standardisierung gelingt, ohne dass der neue Staat gleich wieder daran zerbricht, dann müsste man das alles in Regelwerken festhalten, also Wörterbücher für Rechtschreibung und Aussprache sowie Grammatiken schreiben, an denen sich dann die Ämter orientieren können, die Gesetzestexte und Ähnliches schreiben. Aber auch Zeitungen und Verlage, die »korrekte« Texte publizieren wollen, und Verkehrsanbieter, die ihre Durchsagen neu einsprechen wollen, brauchten entsprechende Regelwerke. Damit das Ganze nicht nur eine Sache von wenigen bleibt, sondern möglichst von der breiten Bevölkerung beherrscht wird, müsste das neue Standardbairische auch an Schulen unterrichtet werden, und hierfür bräuchte es Lehrkräfte, die genau hierfür ausgebildet sind, um mit der oben schon angesprochenen Lizenz zum Gebrauch des Rotstifts souverän umgehen zu können. Das Erscheinungsbild der bayerischen Städte und Straßen würde sich ebenfalls ändern, da die komplette Beschilderung angepasst werden müsste. Selbst auf Produktverpackungen müssten z.B. die Inhaltsstoffe auf Bairisch angegeben werden.