Stationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung Geflüchteter -  - E-Book

Stationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung Geflüchteter E-Book

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Beschreibung

Geflüchtete Menschen sind eine besonders vulnerable Gruppe, sie leiden häufig an schwerwiegenden psychischen Störungen. In Deutschland stehen dem hohen Behandlungsbedarf dieser Menschen nicht genug Behandlungsangebote gegenüber. Dabei stellt sich zusätzlich die Frage, wie Geflüchtete in das bestehende psychosoziale Versorgungssystem integriert werden können. Die Gießener psychiatrische Universitätsklinik ist seit vielen Jahren mit der Behandlung Geflüchteter befasst und hat im Verlauf ein umfassendes Versorgungskonzept etabliert, das Markus Stingl und Bernd Hanewald sowie weitere Autor*innen in diesem Band praxisnah darstellen. Grundlage sind die besonderen Bedürfnisse und Voraussetzungen sowohl auf Seiten der Patienten und Patientinnen mit Fluchthintergrund als auch des Behandlungsteams. Dabei werden die für die psychische Gesundheit wesentlichen medizinischen, sozialen, kulturellen und juristischen Aspekte in einem strukturierten Behandlungsleitfaden zusammengefasst, der gleichzeitig Spielraum für die flexible Behandlung Geflüchteter lässt.

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Seitenzahl: 138

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Geflüchtete Menschen psychosozialunterstützen und begleiten

Herausgegeben von

Maximiliane BrandmaierBarbara BräutigamSilke Birgitta GahleitnerDorothea Zimmermann

Markus Stingl/Bernd Hanewald (Hg.)

Stationäre psychiatrisch-psychotherapeutischeBehandlung Geflüchteter

Ein Praxisleitfaden

Mit 2 Abbildungen und einer Tabelle

Vandenhoeck & Ruprecht

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Nadine Scherer

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2625-6436ISBN 978-3-647-99947-0

Inhalt

Geleitwort der Reihenherausgeberinnen

1Herausforderungen in der Behandlung Geflüchteter

2Kontext

3Psychische Gesundheit Geflüchteter

3.1Traumafolgestörungen

3.2Trauma und Psychose(Regina A. Kurth)

4Rechtliche Aspekte

4.1Asyl- und aufenthaltsrechtliche Aspekte(Maria Bethke und Janneke Daub)

4.2Begutachtung und Dokumentation

5Stationäre Behandlung

5.1»Starter Paket« für Geflüchtete

5.2Psychotherapie

5.3Stabilisierung: Imagination, Achtsamkeit, Yoga(Franziska Brodersen, Karl Phillip Rumpf, Markus Stingl und Bernd Hanewald)

5.4Kultursensible Supervision(Michael Knipper)

5.5Behandlungsteam

5.6Umgang mit Sprachbarrieren

6Zusammenfassung und Ausblick(Markus Stingl, Regina A. Kurth und Bernd Hanewald)

7Literatur

8Die Autorinnen und Autoren

Geleitwort der Reihenherausgeberinnen

Mitte November 2019 titelte die Bundesarbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF e. V.) in der Vorstellung ihres fünften Versorgungsberichts: »Für traumatisierte Geflüchtete wird in Deutschland zu wenig getan«. Wenngleich die im Jahr 2017 deutschlandweit 37 (mittlerweile 42) psychosozialen Zentren insgesamt 21.418 Klient*innen – mehr als doppelt so viele Menschen wie fünf Jahre zuvor – großteils multiprofessionell und interdisziplinär versorgen konnten, zeigen die gleichzeitig sehr hohe Zahl an abgelehnten Anfragen (min. 40 %) und die hohe Anzahl von Personen auf den Wartelisten (bundesweit durchschnittlich monatlich 2.675 Geflüchtete mit durchschnittlicher Wartezeit von 7,3 Monaten) einen hohen, ungedeckten Versorgungsbedarf bei (traumatisierten) Geflüchteten und Asylsuchenden.

Wohin können sich geflüchtete Menschen in psychischen Krisen also wenden? Die BAfF konstatiert, dass der Zugang zum Gesundheitssystem für geflüchtete Menschen (wieder) schwieriger geworden sei. Aus den psychosozialen Zentren konnten 2017 monatlich im Durchschnitt nur etwa drei Klientinnen an niedergelassene Psychotherapeut*innen vermittelt werden. Es gibt schon lange Forderungen, die Versorgung von Geflüchteten nicht in Sonderstrukturen, die keine ausreichenden Kapazitäten haben und/oder nur über Spenden finanziert sind, erfolgen zu lassen, sondern in die Regelstrukturen des Sozial- und Gesundheitswesens zu integrieren. Zugleich gibt es durch die Sondergesetzgebungen für Asylsuchende besondere Erfordernisse und praktische Herausforderungen, für die es ausgereifte Konzepte braucht.

Auf viele praktische Fragen, z. B., wie die Versorgung traumatisierter geflüchteter Menschen in stationären psychiatrischen Strukturen umgesetzt werden kann, gibt dieser Band Antworten. Das stationäre Behandlungskonzept der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Gießen setzt auf multiprofessionelle und interdisziplinäre Zusammenarbeit, indem im Sinne der Netzwerkarbeit auch mit Akteur*innen außerhalb der medizinisch-psychiatrischen Versorgung eng zusammengearbeitet wird, z. B. im Bereich der Rechtshilfe. An verschiedenen Stellen wird deutlich, wie viel persönlichen Einsatz dies erfordert – auch darauf wird Rücksicht genommen, z. B. durch den hohen Stellenwert von Reflexion in kultursensibler Inter- und Supervision sowie durch entsprechende Qualifizierung der Mitarbeiter*innen aller Berufsgruppen. Die Autor*innen greifen in der Darstellung ihres Behandlungskonzepts zahlreiche Schwierigkeiten der alltäglichen Praxis auf und versuchen, darauf ebenso praktische Lösungen zu finden.

Die beiden Hauptautoren, der Psychotherapeut Dr. Markus Stingl und der Psychiater Dr. Bernd Hanewald, versammeln in ihrem Band Perspektiven unterschiedlicher Berufsgruppen und Akteur*innen, die an dieser netzwerkorientierten Arbeit beteiligt sind. Nach einführenden Kapiteln über die Herausforderungen und den Kontext der stationären Behandlung geflüchteter Menschen folgt zunächst ein Überblick über Traumafolgestörungen mit einem besonderen Fokus auf die Abgrenzung zu Psychosen. Letzteres ist gerade im psychiatrischen Kontext mit Menschen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund eine häufige und zugleich diffizile differenzialdiagnostische Herausforderung, weshalb der hier präsentierte Überblick über die Forschung wertvolle Informationen für die Praxis liefert. Einen besonderen Stellenwert erhalten weiter die rechtlichen Aspekte, nicht nur die Besonderheiten von Stellungnahmen oder Begutachtungen im asylrechtlichen Verfahren betreffend, sondern auch bezüglich der Gestaltung von Zusammenarbeit mit Rechtsberatungsstellen und/oder Rechtsanwältinnen. Der Schwerpunkt des Bandes liegt jedoch auf der Darstellung des Gießener stationären Behandlungskonzepts, das sich aus jahrelanger Praxis in der Versorgung traumatisierter Geflüchteter entwickelt hat. Das hier dargestellte Konzept kann zahlreiche Anregungen für die Übertragung in andere stationäre Kontexte geben – angefangen mit einem ganz praktischen »Starter Paket« für neu aufgenommene geflüchtete Patientinnen und der Durchführung psychotherapeutischer Gespräche über ergänzende therapeutische Angebote aus dem Bereich von Sport- und Bewegungstherapien (hier veranschaulicht am Beispiel des therapeutischen Yogas) bis hin zu strukturellen Aspekten, wie die multiprofessionelle und interdisziplinäre Zusammenarbeit (z. B. auch mit Sprachmittler*innen) gewährleistet werden kann. Da die Arbeit mit traumatisierten Menschen besonders vor dem Hintergrund der großen Unsicherheit während des Asylverfahrens sehr kräftezehrend sein kann (vgl. Rössel-Čunović, 2018), bekommt hier die Darstellung des Konzepts der interkulturellen Supervision und anderer Maßnahmen besondere Relevanz, die nicht nur die hohe Qualität der Behandlung gewährleisten, sondern auch die Ressourcen und Kräfte des Behandlungsteams im Blick haben.

Das von den Autor*innen präsentierte stationäre Behandlungskonzept überzeugt nicht nur durch die jahrelange Entwicklung und Erprobung in der Praxis, sondern auch durch die Bereitschaft, über bewährte Konzepte im stationären psychiatrischen Kontext hinauszudenken und neue Wege der interdisziplinären Zusammenarbeit zu beschreiten. Wir wünschen Ihnen daher viele neue Einsichten in die Besonderheiten der stationären Arbeit mit geflüchteten Menschen und eine interessante Lektüre.

Maximiliane Brandmaier

Barbara Bräutigam

Dorothea Zimmermann

Silke Birgitta Gahleitner

1 Herausforderungen in der Behandlung Geflüchteter

Die Behandlung geflüchteter Menschen erfordert den Blick über den Tellerrand: Soziale, politische, gesetzliche und ökonomische Faktoren beeinflussen wechselseitig die psychische Gesundheit geflüchteter Menschen und bestimmen das psychotherapeutische Arbeiten wesentlich mit. Die Begegnungen der Betroffenen mit ihren Behandlern werfen zudem (inter-)kulturelle Fragen auf – um zu verstehen und verstanden zu werden, gilt es, einige Hindernisse zu überwinden.

Die adäquate Behandlung von Geflüchteten stellt für psychiatrische Akutkliniken eine große Herausforderung dar. Häufig wird aufgrund struktureller Restriktionen (z. B. auf das Nötigste begrenzter Behandlungsdauern, Sprachbarrieren, transkultureller Schwierigkeiten) bei mangelnder Stabilisierung ausschließlich psychopharmakologisch interveniert. Daraus können sich häufige Wiederaufnahmen in die entsprechenden Kliniken ergeben, fortlaufende Chronifizierung psychischer Erkrankungen oder gar Ablehnungen der Behandlung von Geflüchteten mit dem Verweis auf die Notwendigkeit einer Betreuung in einem »spezialisierten Zentrum«. Tatsächlich beinhaltet die Behandlung von Geflüchteten eine Reihe von Besonderheiten, die eine Anpassung des Settings erfordern.

Traumafolgestörungen, unter denen geflüchtete Menschen häufig leiden, können von unmittelbaren Kriegserlebnissen, extremer Gewalt wie Folter, geschlechtsspezifischer Gewalt sowie Fluchterfahrungen herrühren, denen die Betroffenen als Zivilisten ausgesetzt waren oder an denen sie selbst als Militärangehörige beteiligt waren. Letzteres erfordert in der Therapie die Auseinandersetzung sowohl mit der Opfer- als auch der Täterrolle. Unabgeschlossene Asylverfahren und die daraus resultierende Destabilisierung der Betroffenen, schwierige Wohnverhältnisse, Einsamkeit, Hilflosigkeit, das Fehlen einer erfüllenden und sinnvollen täglichen Aktivität, Trauer, der Verlust sozialer Strukturen und der Familie sowie Schuldgefühle können weitere Problembereiche geflüchteter Patientinnen und Patienten darstellen. Zusätzlich erschweren fehlende/mangelhafte asylrechtliche Basiskenntnisse oder die Negierung des Einflusses juristischer Rahmenbedingungen auf die psychische Gesundheit der geflüchteten Menschen die stationäre Behandlung weiter. Sprachschwierigkeiten sowie Probleme und Unsicherheiten im Umgang mit Dolmetschern stellen große Anforderungen an das Behandlungsteam, ebenso wie Fragen zur Kostenübernahme für die stationäre Behandlung. Während kulturelle Aspekte in der Behandlung Geflüchteter nicht übersehen werden sollten, kann eine zu starke Gewichtung der vermuteten »Kultur« einseitige Stereotype produzieren und einen empathischen, individuellen Behandlungsansatz gefährden.

An der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Gießen und Marburg (UKGM) konnte am Standort Gießen in den vergangenen Jahren sukzessive ein stationäres Behandlungskonzept für Geflüchtete mit Traumafolgestörungen weiterentwickelt und in den klinischen Alltag integriert werden. In der kritischen Auseinandersetzung mit den besonderen Anforderungen gelang es, Lösungsansätze zu erarbeiten, welche die Unsicherheiten und Widerstände in der Behandlung Geflüchteter deutlich reduzierten. Die Erfolge des »gewachsenen« Konzeptes zeigen sich in einer größeren Behandlungszufriedenheit seitens der Betroffenen wie auch der Behandler und in einer deutlich besseren Behandlungseffizienz.

Nach unserer Erfahrung können bei vorhandener basaler traumatherapeutischer Kompetenz die genannten Besonderheiten im stationären Setting effektiv adressiert werden. Dieses Buch ist als eine praxisorientierte Antwort auf die Herausforderungen in der Behandlung Geflüchteter zu verstehen und als ein Ratgeber zur strukturierten Therapie von Geflüchteten im stationären Setting psychiatrischer Akutkliniken. Wir möchten dazu ermutigen, dass die stationäre psychiatrische Behandlung Geflüchteter als integrative und vernetzte Behandlungsform in einem psychiatrischen Krankenhaus mit einem allgemeinen Versorgungsauftrag gut gelingen kann – sie sollte kein Alleinstellungsmerkmal weniger, besonders spezialisierter Zentren bleiben.

2 Kontext

Die Erkenntnis, dass physische, psychische und soziale Faktoren in Wechselwirkungen die Entstehung und Aufrechterhaltung von Krankheiten begründen, entstammt der frühen Stressforschung (»Adaptationssyndrom« nach Selye, 1936) und wurde Jahrzehnte später im »biopsychosozialen Krankheitsmodell« erstmalig integriert (Engel, 1976). Seither haben neben individuellen Risikofaktoren auch externe Bedingungen immer mehr an Bedeutung bei der Erforschung der Ätiopathogenese und den Verläufen von Krankheiten gewonnen. Auch bei den Traumafolgestörungen, welche als einzige Gruppe psychischer Störungen die äußere Einwirkung eines Ereignisses voraussetzen, spielen solche kontextuellen Wechselwirkungen eine wesentliche Rolle. Da diese auch auf die stationäre Behandlung Geflüchteter wirken, müssen die spezifischen Kontextfaktoren im Behandlungskonzept entsprechend berücksichtigt werden.

Die Rahmenbedingungen werden zunächst von politischen Prozessen bestimmt – kein anderes Thema nimmt wie die Flüchtlingspolitik in der aktuellen öffentlichen Diskussion so viel Raum ein und polarisiert die Gesellschaft zunehmend zwischen »Willkommens- und Abschiebekultur«. Unmittelbar werden hier grundlegende ethische Aspekte berührt: In Deutschland ist der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit ein Grundrecht, welches für alle Menschen gilt und eng mit der Menschenwürde verknüpft ist (Art. 2, Abs. 2 Grundgesetz). Während das Engagement in der Flüchtlingshilfe und der medizinischen Versorgung Geflüchteter so als Konsequenz verantwortungsvollen Handelns gemäß den Menschenrechten zu verstehen ist, sieht man sich andererseits in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Begriffen wie »Gutmenschentum« konfrontiert oder als Angehörige der »Bleibeindustrie« tituliert. Auch die stationäre Krankenhausbehandlung geflüchteter Menschen bewegt sich in diesem Spannungsfeld und ist daher immer als Teil des politischen Raumes zu verstehen, in dem sich die angedeuteten Polaritäten auf unterschiedliche Weise zeigen.

Ein zentrales Problem in der Behandlung Geflüchteter resultiert aus dem oftmals noch ungeklärten und damit unsicheren Aufenthaltsstatus. So können geflüchtete Patienten mit laufenden Asylverfahren nicht sicher sein, ob und wie sich ihre Lebensumstände in der Zukunft entwickeln werden, beispielsweise in Zusammenhang mit einer Abschiebung in einen sicheren Drittstaat nach der Dublin-IIIVerordnung oder gar in das Herkunftsland. Existenzielle Ängste vor Abschiebung erschweren die psychotherapeutische und psychiatrische Behandlung erheblich und können zu Resignation und Hoffnungslosigkeit bis hin zu akuter Suizidalität führen. Therapeutische Ansätze, die die rechtliche Situation in der Behandlung von Geflüchteten ignorieren, übersehen möglicherweise das grundlegende Bedürfnis nach Sicherheit der Geflüchteten, sodass hier eine entsprechende Erweiterung notwendig ist. Ein nicht gesicherter Aufenthaltsstatus und die damit verbundene Rechtspraxis wirken unmittelbar auf den Gesundheitszustand der Patientinnen und können bestehende Traumafolgestörungen zusätzlich verschlechtern. Eine solche Unklarheit oder das Fehlen einer Bleibeperspektive schränken die therapeutischen Behandlungsmöglichkeiten massiv ein – Ängste vor einer drohenden Abschiebung und konsekutiver sequenzieller Traumatisierung lassen es an der notwendigen äußeren Sicherheit fehlen, um die innere Sicherheit wiederherstellen zu können. Letztere ist eines der vornehmlichsten Ziele der Traumatherapie. Der rechtliche Kontext bedeutet in der Behandlung Geflüchteter somit mehr als nur die Vorgabe der äußeren Rahmenbedingungen, er beeinflusst direkt die medizinischen Kategorien »Krankheit und Gesundheit«. Besserungen des Gesundheitszustandes von Geflüchteten im Rahmen stationärer Behandlungen sind daher oft temporär und fragil, weil hinzutretende negative Verläufe im Asylverfahren die erarbeiteten Verbesserungen beinträchtigen oder zunichtemachen können. In diesem Sinne können selbst Briefe von Behörden oder angekündigte Besuche des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen krisenhafte Zuspitzungen der Symptomatik bewirken. Auch das Erscheinen der Polizei in der Klinik, das unabhängig von dem Betroffenen erfolgt, kann zu erheblicher Verunsicherung und (ungerechtfertigter) Angst vor einer Festnahme oder Abschiebung führen und sollte bereits im Vorfeld mit den Betroffenen zur Prävention bzw. Deeskalation (wann immer möglich) kommuniziert und kontextualisiert werden. Die Bedeutung von äußerer Sicherheit, sozialer und medizinischer Unterstützung und Anerkennung der durchlebten Traumata muss für die Prognose traumatisierter Flüchtlinge nachdrücklich betont werden. Schlimmstenfalls droht eine fatale Dynamik zwischen individuellem Leid, verkomplizierender Rechtslage und -praxis, therapeutischer Hilf- und Ratlosigkeit und weiterer Dekompensation. An dieser Stelle ist allerdings auch festzuhalten, dass die Auswirkungen rechtlicher Gegebenheiten auf die Gesundheit und Formen sogenannter struktureller Gewalt sich nicht über anonyme, sich in kafkaeskem Sinne autonom entfaltende Mächte zeigen. Unserer Erfahrung nach bestehen innerhalb rechtlicher Vorgaben, Gesetze und Strukturen vielmehr oftmals Ermessens- und Handlungsspielräume, die von den jeweiligen Akteuren wie auch den Behandlerinnen im Sinne der Gesundheit der Betroffenen genutzt werden können.

Entgegen den Wirksamkeitsnachweisen einiger, insbesondere traumakonfrontativer psychotherapeutischer Methoden bei Geflüchteten sehen wir aus unserer praktischen Erfahrung die mittel- bis langfristigen Erfolgsaussichten solcher Verfahren eher kritisch, solange eine basale äußere Sicherheit als Grundvoraussetzung (noch) nicht gegeben ist. In diesem Zusammenhang erscheint auch die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) nicht als die zutreffende Diagnose, da keine wirkliche »post«-traumatische Situation gegeben ist, solange Realängste vor Rückführung an die Orte der traumatischen Erfahrung(en) bestehen – vielfach ist eine stationäre psychiatrische Behandlung nur eine Unterbrechung der fortbestehenden äußeren, krankheitsverstärkenden Belastungsfaktoren. Weitere Faktoren wie belastende, prekäre Lebensverhältnisse, der Verlust der bisherigen sozialen Identität und/oder der Familie können kumulativ die Behandlung von Geflüchteten und Asylsuchenden erschweren. Häufig wurde die Flucht trotz schlechter wirtschaftlicher Ausgangssituation von Familienangehörigen finanziert, verbunden mit der Erwartung, dass der Geflüchtete die Zurückgebliebenen finanziell unterstützt oder eine Familienzusammenführung in der Zukunft anstrebt. Sofern diese Erwartungen nicht erfüllt werden können, z. B. gegenüber Kindern unter Ehepartnern, die in prekären Lebenssituationen verblieben sind, können große Schuldgefühle entstehen. Die genannten Faktoren sind als akut wirksame Stressoren zu verstehen und erschweren die psychotherapeutische Behandlung zusätzlich, verschlechtern bestehende psychische Probleme oder begünstigen die Entwicklung von weiteren und müssen – auch mithilfe des Sozialdienstes der Klinik und der Versorgungsnetzwerke vor Ort – im Rahmen einer multimodalen psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung aufgegriffen werden.

3 Psychische Gesundheit Geflüchteter

3.1 Traumafolgestörungen

Unter dem Begriff »Traumafolgestörungen« werden (psycho-)pathologische Reaktionen eines Menschen verstanden, die sich infolge nicht bewältigter traumatischer Erfahrungen entwickeln. Neben der »klassischen« posttraumatischen Belastungsstörung mit der Symptomtrias »Intrusion, Hyperarousal, Vermeidung« können sich alle Formen psychischer Erkrankungen entwickeln, am häufigsten Depressionen, Angst- und somatoforme Störungen bis hin zu psychotischen Krankheitsbildern, welche unter Geflüchteten nicht zuletzt wegen des Zusammenhanges mit traumatischen Erfahrungen in psychiatrischen Kliniken häufig vorliegen (s. Kapitel 3). Die übergeordnete Kategorie »Traumafolgestörungen« eröffnet die Möglichkeit, psychische Erkrankungen (welche gemäß ICD-Klassifikation spezifisch zu verschlüsseln sind) ätiologisch zuzuordnen, und erfordert die differenzierte Erfassung und Diagnostik der Entstehungsbedingungen.

Der Zusammenhang von Traumatisierung und körperlichen Erkrankungen ist hinreichend belegt. Direkte psychophysiologische und psycho-neuro-endokrinologische Veränderungen, aber auch ein Risikolebensstil Traumatisierter (Rauchen, Fehlernährung etc.) erhöhen das Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko bei traumatisierten Menschen (Felitti et al., 1998). Im Zuge stationärer psychiatrischer Behandlung ist daher immer auch die eingehende körperliche Untersuchung und Mitbehandlung somatischer Erkrankungen wichtig.

In der traumatischen Situation ist der Mensch nicht mehr in der Lage, auf angeborene archaische, das Überleben sichernde Verhaltensweisen wie »flüchten« oder »kämpfen« zurückzugreifen, und erlebt sich als hilflos, ohnmächtig und ausgeliefert. Diese extreme Stresssituation wird intrapsychisch kurzfristig durch sogenannte peritraumatische Dissoziation gelöst: Die betroffene Person ist handlungsunfähig und »friert« ein, ähnlich dem Totenstellreflex bei bestimmten Tierarten. Dabei wird das momentan Erlebte fragmentiert, d. h., die zugehörigen Emotionen und Körpergefühle werden vom traumatischen Inhalt abgespalten. Problematisch an diesem psychischen Schutzmechanismus ist, dass das traumatische Erlebte im Anschluss nicht in das persönliche Narrativ überführt wird und somit nicht als vollständige Geschichte mit Anfang, Mittelteil und Ende verarbeitet werden kann. Parallel zu Erinnerungslücken entstehen Erinnerungsinseln: Oft werden nach Überleben der jeweiligen Situation einzelne Details noch sehr genau erinnert, während weite Teile des Erlebten der Erinnerung komplett unzugänglich bleiben.

Diese psychischen Folgen extremer Bedrohung sind neurophysiologisch verstehbar. Drei Gehirnstrukturen sind im Wesentlichen beteiligt: der Thalamus, die Amygdalae und der Hippocampus.