Sternschanze - Ildikó von Kürthy - E-Book + Hörbuch

Sternschanze Hörbuch

Ildikó von Kürthy

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Beschreibung

«Wenn du nichts mehr zu verlieren hast, kannst du nur gewinnen!» Das ist keine Krise. Das ist eine Katastrophe! Bis eben war ich noch wohlhabend, verheiratet und gut frisiert. Und jetzt? Mein Leben ist nicht mehr wiederzuerkennen. Zurück auf Los. Neuanfang mit dreiundvierzig. Nichts, was ich mir schon immer erträumt habe. Mein Mann will die Scheidung, meinen Liebhaber möchte ich behalten, und meinen Friseur kann ich mir nicht mehr leisten. In diesem Moment sitze ich in einem sehr preiswerten Motel mit Raufasertapete und schlechter Aussicht und frage mich: War mein Betrug wirklich unverzeihlich? Was will ich retten – meine Ehe, meine Affäre oder mich? Brauche ich Hummer und eine professionelle Fußpflege zu meinem Glück? Und: Wer könnte ich werden, jetzt, wo ich niemand mehr bin? Silvester. Ein Babyphon, eine unpassende Kostümierung und extrem ungünstige Umstände haben aus Nicola Kubitt über Nacht eine Frau ohne Mann, ohne Geld und ohne nennenswertes Selbstbewusstsein gemacht. Sie kippt aus ihrem Luxusleben und fragt sich, wie man neu anfangen soll, wenn man eigentlich gar nicht aufhören will. Sie reißt alte Wunden auf, findet neue Freunde und eine Wohnung im Hamburger Stadtteil Sternschanze. Befristeter Mietvertrag. Rettung auf Zeit. Sie nimmt endlich endgültige Abschiede, erlebt die Tücken von SMS-Erotik und begreift, dass sie zum erfolgreichen Seitensprung den Liebhaber genauso dringend braucht wie den Ehemann. Sie pflückt Pusteblumen, weil sie sich für frisch verliebt hält, versucht, eine Hochzeit zu verhindern, und gelangt zu der Überzeugung: «Ich habe schon viele Fehler in meinem Leben gemacht – und es waren nicht immer die schlechtesten.» «Sternschanze» ist die Geschichte einer Frau, die wieder bei null anfangen muss. Es geht um Hoffnung und darum, wie man sie am besten aufgibt. Es geht um Sex, um Betrug, um Verzeihen, um Tod, um Schlupflider, um Geld, um Liebe und um Hornhaut an den Fersen. Um das Leben einer ganz normalen Frau eben.

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Zeit:4 Std. 46 min

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Ildikó von Kürthy

Sternschanze

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

«Wenn du nichts mehr zu verlieren hast, kannst du nur gewinnen!»Das ist keine Krise. Das ist eine Katastrophe! Bis eben war ich noch wohlhabend, verheiratet und gut frisiert. Und jetzt? Mein Leben ist nicht mehr wiederzuerkennen.Zurück auf Los. Neuanfang mit dreiundvierzig. Nichts, was ich mir schon immer erträumt habe.Mein Mann will die Scheidung, meinen Liebhaber möchte ich behalten, und meinen Friseur kann ich mir nicht mehr leisten.In diesem Moment sitze ich in einem sehr preiswerten Motel mit Raufasertapete und schlechter Aussicht und frage mich: War mein Betrug wirklich unverzeihlich? Was will ich retten – meine Ehe, meine Affäre oder mich? Brauche ich Hummer und eine professionelle Fußpflege zu meinem Glück? Und: Wer könnte ich werden, jetzt, wo ich niemand mehr bin?Silvester. Ein Babyphon, eine unpassende Kostümierung und extrem ungünstige Umstände haben aus Nicola Kubitt über Nacht eine Frau ohne Mann, ohne Geld und ohne nennenswertes Selbstbewusstsein gemacht. Sie kippt aus ihrem Luxusleben und fragt sich, wie man neu anfangen soll, wenn man eigentlich gar nicht aufhören will. Sie reißt alte Wunden auf, findet neue Freunde und eine Wohnung im Hamburger Stadtteil Sternschanze. Befristeter Mietvertrag. Rettung auf Zeit. Sie nimmt endlich endgültige Abschiede, erlebt die Tücken von SMS-Erotik und begreift, dass sie zum erfolgreichen Seitensprung den Liebhaber genauso dringend braucht wie den Ehemann. Sie pflückt Pusteblumen, weil sie sich für frisch verliebt hält, versucht, eine Hochzeit zu verhindern, und gelangt zu der Überzeugung: «Ich habe schon viele Fehler in meinem Leben gemacht – und es waren nicht immer die schlechtesten.»«Sternschanze» ist die Geschichte einer Frau, die wieder bei null anfangen muss. Es geht um Hoffnung und darum, wie man sie am besten aufgibt. Es geht um Sex, um Betrug, um Verzeihen, um Tod, um Schlupflider, um Geld, um Liebe und um Hornhaut an den Fersen. Um das Leben einer ganz normalen Frau eben.

Vita

Ildikó von Kürthy ist Journalistin und Kolumnistin bei der BRIGITTE. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in Hamburg. Ihre Romane wurden mehr als sechs Millionen Mal gekauft und in 21 Sprachen übersetzt. Zuletzt schrieb sie mit «Unter dem Herzen» ihr erstes Sachbuch, das auf Platz 1 der Bestsellerliste stand.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Illustration: Gisela Goppel / 2agenten;

ISBN 978-3-644-21181-0

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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Es ist noch nicht Mitternacht, aber mein Leben ist bereits jetzt nicht mehr das, was es mal war.

Silvester.

Eigentlich ein völlig überschätztes Datum, das noch nie meine Hoffnungen erfüllt hat. Seit ich nichts mehr erwarte, ist es etwas besser geworden. Wobei ich finde, von Silvester nichts zu erwarten, verlangt eine resignierte Klugheit, auf die man nicht wirklich stolz sein kann. Das ist, wie von der Liebe keine Ewigkeit und von Diäten keine Wunder mehr zu erhoffen. Vernünftig. Durch Erfahrungen, Freundinnen und eselsohrige Psycho-Bücher vielfach bestätigt.

Aber schöner war es, als es noch anders und jeder Kuss und jeder Jahreswechsel ein herzschlagendes Versprechen für die Zukunft war und man noch dachte, dass man im Schlaf schlank und am Neujahrsmorgen ein anderer Mensch werden könne. Früher durfte man Beziehungen und Silvesternächte noch mit Erwartungen überfrachten.

Wobei ich, das muss ich sagen, was Silvester angeht, wirklich abnorm schlechte Erfahrungen machen musste und schon mit sechs Jahren traumatisiert wurde, als ein schwererziehbarer Nachbarsjunge einen Kanonenschlag in der Kapuze meines Anoraks zündete. Ich blieb zwar unverletzt und konnte rechtzeitig mit Bier gelöscht werden, aber von da an stand ich den Feierlichkeiten zur Jahreswende mit gemischten Gefühlen gegenüber. Und Bier mag ich auch nicht.

Silvester war mir nie geheuer. Zu Recht, wie sich an den dreiundvierzig Silvestern meines Lebens Jahr für Jahr herausgestellt hat. Insgesamt bin ich dreimal um kurz nach zwölf verlassen worden – zweimal hatte sich die Sache allerdings bis kurz vor eins wieder eingerenkt. Ich musste realistisch geschätzte siebenundzwanzig Fondues und Raclettes essen, was ich beides noch nie mochte, aber niemals offen kommuniziert habe, um die Chance auf eine Einladung nicht gen null zu dezimieren. Streit gab es bisher nur ein einziges Mal nicht, nämlich als ich 2007 wegen einer Magen-Darm-Grippe kurzfristig alleine zu Hause bleiben musste. Das habe ich als mein schönstes Silvester in Erinnerung. Jetzt mal abgesehen von denen, als ich noch nicht bis Mitternacht aufbleiben durfte.

Und genau das wünsche ich mir jetzt auch: Schlaf! Wäre ich doch bloß um neun ins Bett gegangen! Hätte ich doch bloß meinem Instinkt vertraut, der völlig degeneriert ist, heute jedoch laut Alarm geschlagen hatte, als ich in mein Kostüm stieg, die langen künstlichen Wimpern aufklebte, mein Gesicht bemalte und mit einem für mich eigentlich untypischen störrischen Stolz das Badezimmer verließ, um mich zu meinem Mann und in die Höhle des Löwen zu begeben.

Ich ahnte, dass irgendwas schiefgehen würde. Aber ich ahnte nicht, dass ich in dem Moment, als ich die Villa Stern betrat, unwissentlich ein verhängnisvolles Schicksal aktivierte, einer zeitgesteuerten Bombe gleich, die zwei Stunden und siebenundvierzig Minuten später detonieren und mein Leben und all das, was ich glaubte zu sein, zerstören sollte.

Dieses Silvester wird garantiert unvergesslich sein. Es wird fortan ein Davor und ein Danach geben. Jetzt beginnt das Jahr, von dem ich in Zukunft als dem Jahr sprechen werde, in dem ich noch mal von vorne anfangen musste.

Bei null, um genau zu sein.

Das habe ich nicht gewollt.

Am 31. Dezember um 19 Uhr 10,verkleidet im Penthouse: «Ich liebe lieber sehr als häufig.»

«Nicki!»

Es klopft an der Tür. Übrigens an der einzigen Tür in unserer Wohnung. Ich weiß nicht, wann Wände und Zimmer, so wie man sie früher kannte, aus der Mode gekommen sind. Die Zeiten, in denen Räume Funktionen hatten, die für jedermann nachvollziehbar durch eine Tür voneinander getrennt wurden, sind jedenfalls vorbei. Zumindest in den Penthouses und Villen Hamburgs, in denen ich seit zwei Jahren verkehren darf. Oder muss. Je nach tagesaktuellem Stand meines Selbstbewusstseins und meines Body-Mass-Indexes. Zwei Werte, die wie siamesische Zwillinge zusammengewachsen sind und sich ein Herz teilen, von dem Tag an, an dem mein Mann führender Finanz- und Steuerberater des größten Hamburger Reeders wurde.

Wenig später zogen wir um. Aus einer Dreizimmerwohnung mit fünfundneunzig Quadratmetern und fünf Türen in eine Einzimmerwohnung mit zweihundertachtzig Quadratmetern und einer Tür. Bei uns geht die offene Küche in das offene Esszimmer über, das wiederum in das offene Wohnzimmer mit angegliedertem offenem Arbeitsbereich mündet. Von dort führt eine Wendeltreppe, die betrunken und mit hochhackigen Schuhen eine echte Herausforderung darstellt, auf die Galerie mit dem offenen Schlafzimmer, an das sich ein selbstverständlich offenes Ankleidezimmer anschließt, das dreimal so groß ist wie das Kinderzimmer im Haus meiner Eltern.

«Nicki! Ich fahr dann schon mal los. Bitte sei unbedingt um zehn nach acht da.»

Wenn Hermann Stern, Gründer, Eigner und Namensgeber der Hamburger Reederei Stern, zu sich nach Hause einlädt, erwartet er von seinen Gästen, dass sie zehn bis zwanzig Minuten zu spät kommen. «Wer ein paar Minuten zu spät kommt, zeigt, dass er gesehen werden und einen großen Auftritt haben will» ist die Meinung des alten Stern. «Das zeugt von Ehrgeiz und Respekt für den Gastgeber. Wer dagegen eine halbe Stunde zu spät kommt, hat keine Termindisziplin oder ist ein Blender ohne Gespür für Stil. Und wer pünktlich ist, ist ein Langweiler.»

Bei Menschen, die zur Familie oder zum Personal gehören, geht Stern davon aus, dass sie zehn Minuten früher eintreffen, während sein Finanz- und Steuerberater eine halbe Stunde vor allen anderen da sein muss. Keine Ahnung, warum. Irgendwas gibt es bei diesen reichen Leuten ja immer zu besprechen, zu unterschreiben, oder ein herumliegendes Aktienpaket muss eilig verkauft werden. Mir soll es recht sein. So kann ich mich ungestört für meinen großen Auftritt um exakt zehn nach acht fertig machen.

Als Ehefrau eines höherrangigen Angestellten würde ich, so haben Oliver und ich nach längerer Diskussion beschlossen, mit einer Verspätung von exakt zehn Minuten nichts falsch machen.

«Keine Sorge. Ich werde pünktlich sein.»

Ich höre, wie Oliver die Treppe runtergeht. Auf halbem Weg hält er kurz inne. Ich stelle mir vor, wie er vor dem Spiegel stehen bleibt und verlegen die Krawatte und den Sitz seines Anzuges überprüft. Er mag es nicht, sich im Spiegel zu sehen. Er findet es eitel und unmännlich, und er hasst es, wenn man ihn dabei beobachtet. Im Grunde ist Oliver der Ansicht, dass ein echter Mann völlig ohne sein eigenes Spiegelbild auskommen sollte.

Dafür habe ich ihn mal geliebt. Das weiß ich noch.

Es ist eigenartig und bedauerlich, dass Gefühle im Lauf der Zeit verblassen wie Polaroids im Schuhkarton. Irgendwann fühlt man die Liebe nicht mehr, sondern kann sich nur noch daran erinnern, dass man sie mal gefühlt hat. Und im schlechtesten Fall versteht man nicht einmal mehr, warum.

Ich habe nicht oft geliebt. Das verträgt sich nicht mit meinem Hang zum großen Gefühl. Ich liebe lieber sehr als häufig, und ich hatte nie Interesse an kurzen Beziehungen, zu nichts und niemandem.

Ich tue nichts ohne viel Gefühl. Nicht mal Spaghetti essen.

Meine beste Freundin Birgit – die westfälische Aussprache ihres Namens ist wichtig, ein träges Langziehen der ersten Silbe in Richtung alkoholhaltiges Hefegetränk: «Biergit» – kenne ich, seit wir mit drei Jahren Nachbarskinder wurden. Kein Mensch versteht mich besser. Das ist nicht immer angenehm, denn verstanden zu werden, heißt auch, dass man weder dem anderen noch sich selbst besonders viel vormachen kann.

Und es kann so herrlich sein, sich ungestört etwas vorzumachen! Manchmal will man nicht hören, dass man dabei ist, einen altbekannten Fehler zu wiederholen, dass man sich gerade absolut professionell und ergiebig reinsteigert in Glück und Kummer, Eifersucht, Hass und Selbstunter- oder -überschätzung.

Deswegen hatte es mich tatsächlich Überwindung gekostet, Birgit von dem Gefühls-Tsunami zu erzählen, der mich herumwirbelte. Gerade noch ist das Meer völlig unbewegt, und Sekunden später befindest du dich in einem atemberaubenden Sturm und kannst als überrumpelter Tourist nur hoffen, dass nachher nicht alles in Trümmern liegt.

Birgit nahm meine Emotionskatastrophe mit ihrer typischen provozierenden Unaufgeregtheit hin und sagte kaltblütig: «Warte sechs Monate. Erst dann bist du wieder zurechnungsfähig. Vorher triffst du keine Entscheidung. Verstanden?»

Zwei Monate sind vergangen.

Der Ausnahmezustand nicht.

 

Heute bleibt Oliver länger als gewöhnlich vor dem Spiegel stehen.

Ich kann mir vorstellen, wie er sich unwillig betrachtet. Er ist nervös. Verständlich. Die erste Silvestereinladung bei seinem Chef zu Hause. Ich bin auch nervös. Ich war noch nie in der Villa Stern, und ich war seit ewigen Zeiten nicht mehr auf einer Mottoparty.

Hermann Stern lädt zur festlichen Silvester-Gala in die Villa Stern.

 

Kostüm obligatorisch.

Thema: «Die Stars unserer Kindheit»

Beginn: 20 Uhr

 

Um verbindliche Zu- oder Absage wird bis zum 1. November gebeten.

So hatte es in der Einladung auf schwerem elfenbeinfarbenem Papier geheißen. Auf dem Umschlag stand: «An Oliver Kubitt und Begleitung».

Auch wenn ich den Ton etwas ruppig und die Bezeichnung Begleitung einen Hauch degradierend fand – schließlich bin ich seit zehn Jahren Frau Kubitt, ganz offiziell mit Ring und Stammbucheintrag –, so brach doch augenblicklich die Karnevalistin in mir in schier unbeherrschbare Begeisterung aus.

Ich habe wunderbare Erinnerungen an Mottopartys!

Wie ich betrunken als mopsiges Hawaii-Mädchen in den Karpfenteich der Familie Lücke in Münster-Roxel fiel. Wie ich mit Anfang zwanzig, damals noch als knackige Möhre, von einem Elvis Presley befingert wurde. Und als Hippie-Mädchen mit blonder Langhaarperücke und zwei Paar Socken im BH an einem Abend so viele Verehrer um mich scharte wie vorher in zwei Jahrzehnten nicht.

Anschließend hatte ich einen Wechsel der Haarfarbe und der Körbchengröße in Erwägung gezogen, bis Birgit mich darauf aufmerksam machte, dass keiner der Männer, denen ich an diesem Abend gefallen hatte, mir gefiel.

Ich war so mit meiner Wirkung beschäftigt gewesen, dass die, auf die ich wirkte, gänzlich nebensächlich wurden.

Ein bei Frauen im Übrigen weitverbreitetes Phänomen: Hauptsache, gut gefunden werden statt jemanden gut finden. Völlig dämlich. So wird das nichts mit der Emanzipation, ganz klar.

Birgit bin ich bis heute dankbar. Nicht auszudenken, wenn ich aus Versehen einen Typen geheiratet hätte, der auf blonde Haare und große Brüste steht. So eine Frau bin ich nun mal nicht – selbst nicht mit blonden Haaren und großen Brüsten.

Ich glaube, ich erschließe mich auf den zweiten Blick. Eventuell auch erst auf den dritten oder vierten, je nachdem wie verblendet mein Gegenüber durch konventionelle Schönheitsideale ist.

Ich bin beispielsweise nicht das, was man gemeinhin als zierlich bezeichnet. Mit etwas Wohlwollen könnte man meinen Figurtypus sportlich nennen, zumindest wenn ich Sport machen würde.

Ich bin etwas zu groß und habe etwas zu breite Schultern, um schutzbedürftig zu wirken, was ich aber eigentlich bin. Ich sehe belastbar aus und patent und wohlgenährt. Wie eine westfälische Pferdeart, deren Name mir jetzt nicht einfällt, die sich aber dadurch auszeichnet, dass sie draußen überwintern kann.

Sommersprossen auf meiner Nase und meinen Unterarmen verleihen mir stets etwas Gesundes und Fröhliches, sodass ich schon von der ersten Beziehung an meine jeweiligen Partner sehr darum bitten musste, bei einer Erkältung eine heiße Zitrone gemacht zu bekommen und bei Kummer in den Arm genommen zu werden.

Oft sehe ich besser aus, als es mir geht, und stärker, als ich bin. Ich werde auf der Straße ständig nach dem Weg gefragt oder ob ich Geld wechseln könne oder eine gute Reinigung in der Nähe kennen würde. Ich sehe so aus, als könnte ich gut kochen und als wüsste ich von jedem Flecken, wie man ihn am besten rauskriegt.

Nie käme jemand auf die Idee, mir zuliebe das Fenster zu schließen, mir galant sein Sakko über die Schultern zu legen, ein Sitzkissen unter den Hintern zu schieben oder meine Hände zwischen seinen zu reiben. Ich bin einfach zu gut durchblutet.

Deswegen habe ich leider eine sehr anziehende Wirkung auf schlimmste Versagertypen, die sich bei mir anlehnen wollen. Was in der Vergangenheit nicht selten dazu geführt hat, dass wir prompt beide umfielen.

So gesehen bin ich eine Produktenttäuschung. Von innen schmal, von außen nicht. Von außen standfest, von innen verzagt. Ich halte nicht, was mein Aussehen verspricht.

Der Erste, der sich davon nicht enttäuschen ließ, war Oliver. Der blieb einfach und liebte mich weiter. Selbst als ihm klarwurde, dass ich immer kalte Füße habe, Kuchen nur mit Unterstützung von Backmischungen zubereiten kann und oft noch die einzige Zutat vergesse, die man selbsttätig hinzugeben muss, Eier beispielsweise.

Das werde ich Oliver nicht vergessen.

Egal, was passiert. Egal, wie das hier ausgeht.

Muss es ausgehen?

Ja, wahrscheinlich. So was geht immer aus. Und meistens nicht gut.

So, ich muss los. Ich schaue noch mal in den Spiegel.

Silvester kann beginnen, ich bin bereit.

Ich finde, ich sehe großartig aus.

Und der Taxifahrer findet das auch. Er lächelt anerkennend, als ich einsteige.

«In die Elbchaussee bitte, Villa Stern. Ein Moment, die Hausnummer müsste auf der Einladung stehen.»

«Lassen Sie mal stecken, Villa Stern ist bekannt», sagt der Mann, und einen Moment lang bin ich stolz und von mir selbst beeindruckt, dass ich den Silvesterabend bei Leuten verbringe, die keine Hausnummer brauchen.

«Hätte ich nicht gedacht, dass die da solche Partys feiern.» Der Fahrer dreht den Rückspiegel so, dass er mich sehen kann. Mein Outfit scheint ihn wirklich zu begeistern. Absolut verständlich, wenn man mich fragt.

«Die Sterns sind auch nur ganz normale Menschen wie Sie und ich», höre ich mich sagen und frage mich, wer diesen unfassbaren Blödsinn eigentlich glauben soll. Der Taxifahrer tut es jedenfalls nicht.

«So normal wie Sie vielleicht, so normal wie ich bestimmt nicht», sagt er und dreht den Rückspiegel wieder in die alte Position. Genauso gut hätte er eine Panzerglasscheibe zwischen uns hochfahren lassen können.

Ich bin so beschämt, dass mir die Tränen in die Augen schießen. Jetzt bloß nicht weinen! Die falschen Wimpern und das ausgeklügelte Make-up mit den aufeinander aufbauenden Schichten verzeihen keinen Schweiß und keine Tränen. Ich schaue blinzelnd in meinen Schoß.

Was soll ich tun? Gegen die imaginäre Panzerglasscheibe trommeln und theatralisch rufen: «Das stimmt nicht! Ich bin nicht reich, ich tu nur so. Bis vor zwei Jahren wusste ich noch sehr genau, was ein Liter Milch kostet. Okay, in meinem Schrank hängt ein Kleid, das zweitausend Euro gekostet hat. Aber wenn ich es trage, habe ich Angst, dass ich entführt werde, weil die Entführer Lösegeld für das Kleid erpressen wollen. Ich komme vom Dorf, und der einzige Schminktipp, den mir meine Mutter mit auf den Weg gegeben hat, lautet: ‹Du kannst Lippenstift auch als Rouge benutzen.› Hallo, lieber Taxifahrer, bitte glauben Sie mir, meine Zieladresse passt nicht zu mir. Ich bin ganz anders!»?

Ich schweige selbstverständlich und schicke eine SMS an den einzigen Menschen, von dem ich dieser Tage den Eindruck habe, dass er weiß, wie ich wirklich bin oder wie ich war oder wie auch immer.

«Bin auf dem Weg. Ob ich das durchhalte: der alte Stern, seine hauchdünne Tochter, Blick auf die Elbe und Hummer ohne Ende? Ich gehöre da nicht hin. Und das wissen die. Das riechen die. Du fehlst mir!!!»

Die Antwort kommt innerhalb von Sekunden:

«Du riechst phantastisch! Und natürlich gehörst du da nicht hin. Zum Glück! Halt durch. Ich esse Pizza statt Hummer und schaue in den Fernseher statt auf die Elbe. Du fehlst mir auch.»

Ich lösche die Nachricht sofort. So viel habe ich gelernt in den letzten zwei Monaten: keine Nostalgie, keine Spuren, bloß nichts aufbewahren.

Ich halte das Handy noch ein paar Sekunden in der Hand wie einen kraftspendenden Talisman – und denke, dass ich manchmal selbst nicht mehr weiß, wer ich eigentlich bin.

Pünktlich um 20 Uhr 10

«Frau Nicola Kubitt.»

Ich werde angekündigt wie bei Hofe, und als ich den fußballplatzgroßen Salon der Sterns betrete, wird mir blitzartig klar: Das wird mit Sicherheit kein angenehmer Abend für mich!

Wenn du in Hamburg auf einer Mottoparty eingeladen bist, tust du gut daran, vorher das Folgende zu bedenken: Diese Menschen haben keine Ahnung von Karneval, lustigen Kostümen und Mut zur Hässlichkeit.

Was ich sehe, trifft mich wie ein Schlag. Und was die sehen, trifft sie auch wie ein Schlag. Das kann ich den Gesichtern deutlich entnehmen.

«Die Stars unserer Kindheit» sind ausschließlich Cinderellas, Sissis, Anna Kareninas und Audrey Hepburns. Frauen in kostbaren Abendroben, mit tiefen Ausschnitten, in denen echter Schmuck und falsche Brüste aufeinandertreffen.

Die Männer sehen im schlechtesten Fall aus wie Pan Tau, meist jedoch wie der große Gatsby, John F. Kennedy oder ein Kriegsheld der Royal Navy in Ausgehuniform.

Man muss es ganz klar sagen: Als Biene Maja bin ich hier deplatziert!

So würdevoll, wie es mir meine gelb-schwarz gestreiften Lack-Plateau-Pumps erlauben, durchschreite ich den Salon. Um mich herum verstummt die Konversation. Ich fühle mich wie in einer Zeitlupe gefangen. Und beginne zu schwitzen unter meinem puscheligen Plüsch-Einteiler mit angenähten Flügeln und integrierter Fühler-Kapuze.

Ich habe Oliver entdeckt. Er steht mit dem Rücken zu mir und sagt etwas in Lavinias Ohr.

Lavinia, die falsche Natter! Ich habe die Tochter des Hauses bei meiner Kostümwahl als Einzige zu Rate gezogen, und sie hat mir versichert, dass ich mit meiner Wahl goldrichtig läge. Sie selbst würde noch schwanken zwischen Wilma Feuerstein und Klementine, der Ariel-Waschfrau in weißer Latzhose und rot-weiß karierter Bluse. Ihr Vater würde voraussichtlich als Pu der Bär gehen.

Ich muss hier und jetzt einsehen, dass ich in eine üble Falle gelockt worden bin. Hermann Stern ist kein Geringerer als Julius Cäsar, und Lavinia verkörpert eine Mischung aus Kleopatra und Prinzessin Lillifee.

Die Hand meines Mannes liegt auf Lavinias nackten Schultern. Ihr Rückenausschnitt zieht sich hinunter bis zum Steißbein. Einen Büstenhalter braucht Madame selbstverständlich nicht. Der Büstenhalter der Hamburger Gesellschaft heißt Dr. Roland Zielinsky und macht in seiner Privatklinik am Neuen Wall bis zu zwölf Brustvergrößerungen am Tag. Außerdem hat er sich auf die Wiederherstellung von Jungfernhäutchen spezialisiert. Väter aus dem arabischen Raum zahlen angeblich jeden Preis, wenn es darum geht, ihren sündigen Töchtern vor der Hochzeitsnacht die Unschuld zurückzugeben.

Lavinia stößt ein perlendes Lachen aus. Oliver muss irgendwas Lustiges gesagt haben, oder, was ich für wahrscheinlicher halte, Lavinia möchte ihm das Gefühl geben, er habe etwas Lustiges gesagt. Diese Frau ist eine Meisterin darin, jedem beliebigen Trottel – und mit Trottel meine ich ausdrücklich nicht meinen Mann – vorzugaukeln, er sei etwas Außergewöhnliches.

Sie gurrt und schnurrt und reißt die braunen Augen voller Bewunderung auf, allerdings nur, solange sie Interesse an dem Spiel oder dem Mann hat. Ich durfte schon Zeugin werden, wie sie Typen abservierte, denen sie vortags noch zu Füßen gelegen hatte.

Mich betrachtet Lavinia als kurioses Accessoire, als ulkiges Anhängsel eines Mannes, der plötzlich für ihre Familie wichtig geworden ist.

Wenn ihr gerade der Sinn danach steht, tut sie so, als sei sie die Vorsitzende der Hilfe-für-Nicki-Charity. Dann schickt sie mir Adressen von guten Friseuren, zuverlässigen Caterern und neuen Clubs, in denen sie mich auf die Gästeliste setzen lässt.

Offiziell ist Lavinia zweiunddreißig, aber Oliver kennt sämtliche Geburtsurkunden der Familie Stern und hat mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit verraten, dass sie bereits siebenunddreißig ist und ihr Vorname nicht Lavinia, sondern Petra lautet, nach der früh verstorbenen Mutter des alten Stern.

Dieses Wissen hat mir manches Mal über Situationen hinweggeholfen, in denen mein Selbstwertgefühl einen dramatischen Tiefstand erreichte, weil ich mir wieder einmal vorkam wie eine, die nirgends mehr dazugehört.

Ich atme tief ein.

«Guten Abend», sage ich so beherrscht, als hätte ich keine gelbe Nase und keinen schwarz-gelben Puschel am Po.

Oliver dreht sich zu mir um, und ich weiß, dass er mir das, was er sieht, niemals verzeihen wird.

«Nicki!», kreischt Lavinia unnötig laut. «Du siehst phantastisch aus! Ich dachte natürlich, du machst einen Scherz, als du mir von deinem Biene-Maja-Kostüm erzählt hast. Oliver, also wirklich, du hast eine so witzige Frau. Den Mut hätte ich nie! Papi, schau mal, wer da ist!»

Lavinia küsst den feindlichen Luftraum neben meinen umpuschelten Wangen und schiebt mich vor Julius Cäsar, von dem ich im ersten Moment befürchte, er wolle mich zertreten wie ein lästiges Insekt.

«Frau Kubitt, Sie sind ja kaum wiederzuerkennen. Ich hoffe, Sie kommen gut ins neue Jahr», sagt er, wobei er sich, noch während er mit mir spricht, zu einem uniformierten Herrn neben sich wendet.

Meine Hand, die ich in Erwartung einer konventionellen Begrüßung ausgestreckt habe, ragt ins Leere wie ein knorriger Ast inmitten einer vegetationslosen Wüste.

Nein, ich muss mir eingestehen, dass es bisher nicht besonders rund gelaufen ist. Der Abend ist bedauerlicherweise noch verdammt jung, und das Blöde an Silvestereinladungen ist, dass du unmöglich vor zwölf gehen kannst. Ich kann hier nicht weg, das würde meinen Mann noch mehr kompromittieren als mein Kostüm.

«Was soll das?» Oliver schiebt mich am Ellenbogen vor sich her in eine unbelebte Ecke. «Findest du das etwa komisch?» Er sieht mich so hasserfüllt an, dass ich erschrecke. Er trägt die Uniform von Tom Cruise in Top Gun. Aber er sieht viel markanter aus als Tom Cruise. Seine Schläfen sind grau, sein Gesicht ist scharfkantiger als noch vor zwei Jahren. Zwei unfassbare Hingucker sind nach wie vor seine grünen Augen unter den dunklen Brauen, die so eigenwillig geschwungen sind, dass ich ihn im Dunkeln alleine durch das Nachziehen seiner Brauen mit dem Zeigefinger erkennen würde.

Oliver ist neunundvierzig, und nach fast zehn Jahren Ehe und zwei Monaten Ehebruch finde ich ihn immer noch schön.

Er mich augenscheinlich nicht.

Ich lächle ihn zaghaft an. Ein Angebot, das Ganze hier als die Farce zu begreifen, die es ist. Eine Anekdote, die wir später einmal am Küchentisch unter Freunden erzählen werden. Eine weitere gemeinsam erlebte und durchlittene Kuriosität, die uns verbindet und ein Teil unserer Vergangenheit sein wird.

Oliver nimmt das Angebot nicht an.

«Kapierst du eigentlich gar nicht, was hier für mich auf dem Spiel steht?», zischt er mich an wie eine gereizte Kobra. «Es geht um meine Zukunft! Das hier ist kein Pillepalle-Karneval, und du bist nicht mehr in deinem Heimatkaff. Da drüben stehen die zehn Geschäftspartner von Stern, auf die es wirklich ankommt. Hier geht es um was! Verstanden?»

Oliver lässt meinen Ellenbogen so abrupt los, dass ich fast ins Torkeln gerate. Er atmet tief ein und aus und schließt kurz die Augen.

«Außerdem stinkst du nach Schweiß!», sagt er und lässt mich stehen.

Champagner, der letzte fürs Erste, um 21 Uhr 55

Das Unangenehme an Feierlichkeiten in Privathaushalten ist, dass die Anzahl der Toiletten, selbst in größeren Anwesen wie diesem, überschaubar ist. Du kannst dich also nicht stundenlang auf einem anonymen Klo einschließen und auf einen geeigneten Zeitpunkt zum Verschwinden warten.

Seit einer guten Stunde husche ich zwischen den vier Gästetoiletten und diversen Abseiten hin und her auf der Suche nach einem Raum, in dem ich ungestört die Zeit bis Mitternacht verbringen könnte. Doch egal, wohin ich mich zurückziehe, es dauert nie länger als drei Minuten, bis mich ein energisches Klopfen an der Tür oder ein diensteifriges Mitglied des Servicepersonals aufschreckt und weitertreibt.

«Liebchen, so wie Sie aussehen, sollten Sie ein Glas Champagner trinken. Ach, was sag ich, eine Flasche wäre besser.» Ich schaue in ein Paar unglaublich freundliche, unglaublich blaue Augen.

Ich hoffte, zwischen einem pompösen Rosengesteck und dem Abgang zum Gartengeschoss – die Zeiten, in denen Keller noch Keller hießen, sind ja auch vorbei – einigermaßen sicher zu sein. Doch gegen die Übermacht an fürsorglichen Kellnern bin ich wehrlos.

«Warten Sie hier», sagt die Stimme zu den blauen Augen, eine seltsam hohe Stimme, die mir Vertrauen einflößt.

Ich warte also. Kurz darauf kommt der Kellner mit einer Flasche Ruinart Rosé zurück, die er mir in die Hand drückt.

«Danke», murmele ich.

«Ich finde übrigens, Ihr Kostüm ist mit Abstand das beste des Abends. Ich bin großer und bekennender Biene-Maja-Fan.»

Der Kellner, ein moppeliger, untersetzter Türke, macht ein paar Tanzschritte und singt: «Und diese Biene, die ich meine, nennt sich Maja, süße kleine freche Biene Maja. Maja fliegt durch ihre Welt, zeigt uns das, was ihr gefällt.»

Ich muss ein wenig weinen, was dazu führt, dass ich Schluckauf und eine ziemlich genaue Vorstellung davon bekomme, wie verstört ich auf jeden normalen Menschen wirken muss. Aber der Kellner scheint einiges gewohnt zu sein.

«Hören Sie, Kindchen, ich kann nicht bei Ihnen bleiben, weil ich hier bedauerlicherweise berufliche Verpflichtungen habe. Aber wenn Sie Ihre Ruhe haben wollen, dann gehen Sie diese Treppe runter. Unten sind nur leere Gästezimmer und der Klimaraum für die Weine. Machen Sie dort aber bitte nichts kaputt.» Er öffnet die Tür und nickt aufmunternd in Richtung Treppe. «Und vergessen Sie nicht, Schätzchen, was auch immer Ihnen gerade passiert ist, in zwei Stunden beginnt ein neues Jahr – auch für Sie.»

Die Ruinart-Flasche im Arm, gehe ich nichtsahnend meinem sich unerbittlich erfüllenden Schicksal entgegen.

Ich finde, Untreue ist relativ.

Ich betrüge meinen Mann und bin total überrascht, wie gut ich mich verstehen kann. Ich mache mir nur selten Vorwürfe. Der Betrug kommt mir vor wie eine Selbstverständlichkeit, nein, wie eine Notwendigkeit. Seit ich eine Frau mit einem Liebhaber bin, habe ich meine ursprünglich etwas konservativeren Ansichten bezüglich des Ehebruches einer strengen Prüfung unterzogen und sie an einigen wesentlichen Stellen liberalisiert.

Ich betrüge meinen Mann und finde, er hat es verdient. Und ich mir auch. Meine Affäre ist meine lebensnotwendige Medizin. Sie stärkt mein Immunsystem und mein Rückgrat, füllt die leeren Tanks, strafft die Zellen, schient mein Ego und versorgt mich mit Sonnenlicht.

Es ist nicht so, dass ich Oliver gar nicht mehr liebe. Ich kann ihn bloß nicht mehr ertragen. Vielleicht kann ich auch mich selbst nicht mehr ertragen. Das kommt manchmal aufs Gleiche raus und ist nicht immer leicht auseinanderzuhalten.

Der Ehebruch rettet meine Ehe. So sieht es aus.

Nein, ich habe kein schlechtes Gewissen. Ich habe keine Wahl.

Und auch diese Frage muss erlaubt sein: Wer hat hier eigentlich wen betrogen? Darf man sich erst dann hintergangen fühlen, wenn zwei Geschlechtsorgane unbefugt aufeinandertreffen, von denen sich mindestens eines in einer festen Beziehung befindet?

Warum wiegt sexuelle Untreue automatisch schwerer als emotionale, als seelische, als zeitliche? So gesehen bin nämlich ich die Betrogene.

Ich habe vor zehn Jahren einen Mann geheiratet, der als Steuerberater in einer schrabbeligen Kanzlei mit fünf Angestellten in der Kieler Innenstadt arbeitete. Er kam abends gegen sieben nach Hause, ging einmal in der Woche Fußball spielen, und am Wochenende lasen wir die Zeitung im Bett, hatten Sex oder auch nicht, schauten manchmal schon nachmittags DVDs, machten den Wocheneinkauf und freuten uns aufs gemeinsame Kochen und den Tatort am Sonntag.

Wir gingen oft Arm in Arm oder Hand in Hand, manchmal gingen wir essen oder ins Kino oder fuhren an einen Badesee. Wir stritten uns, ich schimpfte auf ihn ein, er zog sich wortkarg zurück, ich schimpfte daraufhin noch lauter. Irgendwann vertrugen wir uns wieder, und den Anlass des Streites hatte ich dann meist schon aus den Augen verloren.

Manchmal schnitt Oliver sich die Zehennägel in der Küche, was mich zur Weißglut brachte. Manchmal brachte er ohne Anlass Blumen mit, was mir ausnehmend gut gefiel. Wenn ich im Restaurant etwas bestellt hatte, was ich dann nicht mochte, tauschte er klaglos.

Hin und wieder schauten wir bis drei Uhr morgens DVDs, weil keiner von uns ein Ende finden konnte, und wenn wir an unserem Hochzeitstag fein essen gingen, freuten wir uns tagelang darauf, diskutierten aufgeregt die Speisekarte, ließen uns gegenseitig probieren und sprachen noch Wochen später über das Aroma der Trüffelspaghetti wie andere Leute über das Wetter im letzten Urlaub.

Wir waren ein gutes Paar. Vielleicht nichts Besonderes. Aber das wollten wir auch gar nicht sein.

Seit zwei Jahren aber bin ich mit einem Mann verheiratet, dem ich nicht mehr gut genug bin: zu stämmig, zu brünett, zu laut, nicht stilsicher, nicht parketttauglich, nicht präsentabel.

Kann kein Tennis, weiß nie, wie viel Trinkgeld angemessen ist, und wenn ich etwas aus Seide anhabe, dauert es todsicher keine drei Minuten, bis ich mir an maßgeblicher Stelle einen Klecks draufmache. Wohingegen ich meine Stretch-Leggings von Zara oft tagelang trage, ohne sie auch nur ansatzweise zu beschmutzen.

Teure Sachen fühlen sich nicht wohl an mir. Die wollen lieber in die Reinigung. Das war schon immer so. Mit meinem Kommunionskleid setzte ich mich auf eine frischgestrichene Bank, leider unmittelbar vor der Kommunion, sodass ich die Feierlichkeiten im Seidenkostümchen meiner Cousine Karin über mich ergehen lassen musste, in dem ich aussah wie ein Bernhardiner im Negligé.

Oliver trägt jetzt Maßanzüge von Tom Reimer und sieht darin aus, als habe er noch nie etwas anderes getragen. Er geht zur Pediküre und selten nach Mitternacht ins Bett. Er betrügt mich, das ist offensichtlich. Dafür brauche ich ihm nicht nachzuspionieren, heimlich seine SMS zu lesen, an seinem Hemdkragen zu schnuppern oder seine Unterhosen nach Spermaresten abzusuchen.

Er betrügt mich mit seinem Chef, mit dem er mehr Abende verbringt als mit mir. Er betrügt mich mit seinem Smartphone, das in den letzten vierundzwanzig Monaten keine einzige Sekunde ausgeschaltet war.

Er betrügt mich mit Kunden, die nachts um drei aus Singapur anrufen.

Er betrügt mich mit Lavinia Stern, mit der er manchmal rein beruflich mittagessen geht und die aussieht, als würde sie viel besser zu ihm passen als ich.

Im Sommer habe ich zufällig beobachtet, wie die beiden in der HafenCity auf der Terrasse des Restaurants Carls aßen. Sie sahen aus wie ein Paar, mit dem man für Yachten, Hochkaräter oder nahezu unsichtbare Slipeinlagen werben könnte.

Das Bild war so stimmig, so harmonisch, dass es mich schmerzte. Sie warf ihr langes dunkelblondes Haar in den Wind, er goss ihr Wasser nach, und dann, ich dachte, ich sehe nicht recht, stand er auf, um ihr sein Sakko über die Biafra-Schülterchen zu legen.

Kein Wunder, dass die Kackbratze friert, die isst ja nie was, dachte ich und hätte kotzen können. Rein beruflich! Ist mir doch egal. Man kann auch rein beruflich fremdgehen und seine Frau rein beruflich so lange vernachlässigen, bis sie irgendwann selbst glaubt, es läge alles nur an ihr, und ihr Selbstbewusstsein irgendwo im Kohlenkeller suchen gehen kann.

Seit einem Jahr bemühe ich mich redlich, zu einer Frau zu werden, die an der Seite ihres Mannes nicht aussieht wie ein Haflinger neben einem Lipizzaner. Aber es will mir nicht recht gelingen. Ich habe sieben Kilo abgenommen, trage Kleidergröße achtunddreißig wie zuletzt als Neunzehnjährige und einen flotten, halblangen Haarschnitt. Das satte, schimmernde Mahagonibraun meiner Haare wird alle drei Wochen bei Marcello aufgefrischt.

Ich habe ein Theater-Abo, besuche regelmäßig Vernissagen und Finissagen in Hamburger und Berliner Galerien und habe in der Vorweihnachtszeit mit den fünf Vorstandsfrauen der Reederei Stern Kindermützchen für einen Benefiz-Basar gestrickt. Mit Vorstandsfrauen meine ich übrigens die Ehefrauen von Vorstandsmitgliedern der Reederei Stern. Das Thema Frauenquote hat sich bis zu denen noch nicht rumgesprochen.

Ich lasse mir regelmäßig die Wimpern verlängern und trage relativ konsequent schöne Unterwäsche, weil ich gelesen habe, dass man Selbstbewusstsein und Erotik ausstrahlt, wenn sich bei jedem Schritt hautschmeichelnde Seide und teure Spitze über Hintern und Busen spannen.

Mir rutschen die dünnen Läppchen leider meist in die Arschritze, wo sie weniger für ein Gefühl von Erotik als für Sehnsucht nach meinen alten Baumwollschlüpfern sorgen.

Ist es nicht absurd, dass Frauen sich mit Unterwäsche plagen, die ihr Leben verkompliziert, statt es, wie es die ursprüngliche Funktion von Unterwäsche einmal vorsah, zu erleichtern?

Wie kann man den Feminismus glaubwürdig vertreten und vorantreiben, wenn man ständig damit beschäftigt ist, sich Wäschefetzchen aus den Körperöffnungen unterhalb der Gürtellinie zu fischen?

Wer hat bestimmt, dass Unterhosen den Hintern nicht mehr bedecken dürfen, sondern aussehen müssen, als seien sie bis auf ein schmales Bändchen vom Arsch aufgefressen worden?

Wann wurde die visible slip line zum Merkmal von Stillosigkeit und Unweiblichkeit erklärt?

Die Slip-Linie ist eine Sollbruchstelle der Emanzipation. An ihr scheitern Frauen auf dem Weg nach oben. Sie verläuft wie eine Front zwischen Macherinnen und Mitmacherinnen. Die Zukunft gehört den Frauen, die sich erhobenen Hauptes für bequeme Unterhosen entscheiden und sich nicht kleiden, als rechneten sie ständig damit, in eine Radarkontrolle zur Überprüfung ihrer Slip-Sexyness zu geraten.

Wenn ich meine eigenen, vormals strengen Maßstäbe an mich selbst anlege, so bin ich derzeit von einer emanzipierten Frau so weit entfernt wie Bangladesch von einem Industriestaat. Ich bin zu einhundert Prozent finanziell von meinem Mann und zu einhundert Prozent geschmackstechnisch von meiner Inneneinrichterin abhängig. Ich kaufe kein Küchenhandtuch mehr, ohne mich vorher mit Bärbel von Wilamovitz abzustimmen, der Stil-Päpstin von Hamburg-Harvestehude.

Die Frau mit dem unglaublich guten und unglaublich teuren Geschmack hat unser neues Penthouse mit geschickt platzierten Unikaten in einen Showroom distinguierter Wohnkultur verwandelt. Jeder Besucher muss annehmen, dass dort zwei Menschen wohnen, deren unschlagbares Stilempfinden sich nur in jahrelanger Geschmacksverfeinerung bilden konnte.

In Wahrheit ist natürlich jedem sofort klar, dass hier eine hochbezahlte Einrichterin am Werk gewesen ist, ganz genauso wie in all den anderen perfekt unperfekt gestylten Wohnungen und Stadtvillen in Harvestehude, in denen die Kunst an den Wänden von diskreten Downlights angeleuchtet wird, der Nachwuchs in herzerwärmenden Kojen-Konstruktionen schläft, die an norwegische Kinderfilme erinnern, und die Gästetoiletten die Gäste beeindrucken.

In unserer Bulthaup-Küche hat Bärbel von Wilamovitz ein Ensemble aus Jugendstil-Fliesen anbringen lassen, die sie auf einer antiquarischen Auktion in Wien ersteigert hat. Das Ganze gleicht einer Installation und wird natürlich von Downlights diskret angeleuchtet.

Unsere langweiligen weißen Bornhold-Regale im Wohnzimmer hat sie mit zweihundert Jahre alten Schranktürchen, jede einzigartig in Form und Farbe, in ein Kunstwerk verwandelt. Und bei ihrem letzten Besuch hat sie mich, sichtbar enerviert, beiseitegenommen und gefragt, ob es sich bei diesem obszön hässlichen Kerzenleuchter auf dem Esstisch um ein Geschenk der Schwiegermutter oder des Arbeitgebers handele. Andernfalls würde sie dringend empfehlen, den das fragile Gesamtbild ruinierenden Gegenstand schnellstmöglich zu entsorgen.

Ich schämte mich still und schenkte den Leuchter aus pinkfarbenem Glas unserer polnischen Putzfrau. Er hatte mir recht gut gefallen, bis ich von Bärbel von Wilamovitz eines Besseren belehrt wurde.

Ich hatte ihn in einem unbeaufsichtigten Moment für kleines Geld in einem Geschäft an der Hoheluftchaussee gekauft, wo ich früher, als es in unserer Wohnung noch kein von einer Expertin überwachtes Gesamtbild gab, häufig Kundin gewesen war.

Füße, Hände, Haare, Wohnung – für nichts mehr bin ich selbst zuständig. Ich bin frappierend unselbständig und beschäftige mich hauptberuflich damit, nicht aus der Rolle zu fallen, in besagtes Gesamtbild zu passen und so Frauen für mich einzunehmen, die genauso nutzlose, wohlstandsverwahrloste Maniküre-Pediküre-Existenzen sind wie ich.

Ich sehe objektiv betrachtet viel besser aus als früher, aber Oliver schläft nur noch mit mir, wenn er sehr betrunken ist. Das kommt leider auch längst nicht mehr so häufig vor wie früher. Was war das schön, zwei Flaschen Wein miteinander zu leeren und dann kichernd aufs Bett zu fallen.

Heute trinkt Oliver maximal zwei Gläser, wenn überhaupt. Er muss ja morgens immer früh raus. Halb sieben in zügigem Tempo eine Runde um die Alster joggen, acht Uhr fünfzehn Arbeitsbeginn im fünfzehnten Stock der Reederei in der HafenCity.

Blick auf die Elbe. Schiffe, Kräne, Möwen. Die weite Welt liegt ihm zu Füßen.

Oliver ist jetzt ganz oben. Mich hat er dabei aus den Augen verloren.

Ich hätte wissen müssen, dass es mit uns vorbei ist, als Oliver anfing zusammenzuzucken, wenn ich lachte, laut lachte, wie es nun mal meine Art ist. Oder war. Denn das habe ich mir schließlich auch noch abgewöhnt.

Ich fühle mich schon lange von meinem Mann betrogen. Lange bevor ich Tom an einem Dienstagvormittag vor zwei Monaten auf dem Isemarkt traf. Ich prüfte gerade den Reifegrad einer Mango – ich hatte mich widerwillig daran gewöhnt, Obst als ein Hauptnahrungsmittel zu akzeptieren –, als jemand hinter mir rief: «Nicki, bist du das? Ich werd verrückt!»

Als ich mich umdrehte, befand ich mich bereits in der Umarmung eines Menschen, dessen Lächeln mich über manche vergeigte Mathe-Klausur hinweggetröstet hatte: Thomas Weber. Ich erkannte ihn sofort und fühlte mich augenblicklich bei ihm wie zu Hause. Ein Gefühl, das ich zu Hause lange nicht mehr gehabt hatte.

«Nicki! Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Du siehst phantastisch aus! Wie geht es dir? Bist du Tierärztin geworden? Bist du verheiratet, hast du Kinder? Wie geht es deinen Eltern?»

Keine halbe Stunde später saß ich mit Tom auf dem riesigen Ledersofa unseres Penthouse. Wir tranken Weißwein und aßen Paprika-Chipsletten – wir hatten das alles unterwegs gekauft, denn in unserem Kühlschrank befanden sich lediglich Obst, Sojamilch und fettarmer Biojoghurt.

Tom und ich waren Schulfreunde gewesen und hatten uns mehrfach aneinander vorbei verliebt. Einmal hatten wir hinter den Mülltonnen auf dem Schulhof geknutscht und uns dann, als er zum Studium nach Köln zog, aus den Augen verloren.

Wir rechneten aus, dass wir uns zum letzten Mal vor sechsundzwanzig Jahren auf einer Party vor Heiligabend gesehen hatten.

Wir feierten an diesem Tag ein Fest der Erinnerungen und breiteten unsere Leben voreinander aus wie Picknickdecken.

Wir sprachen über Klassenkameraden, Drogenvorfälle, Grillabende im Garten meiner Eltern, Petting in Pfarrhäusern und Freundschaften, die nicht gehalten hatten. Ich hörte mich laut lachen, wie zu alten Zeiten.

«Du bist mir so vertraut, Nicki. Deine Art zu sprechen. Wie du dir mit beiden Händen durch die Haare fährst oder die Stirn in Falten legst, wenn du nachdenkst. Und du lachst immer noch lauter als jede andere Frau, die mir jemals begegnet ist. Es ist, als sei keine Zeit vergangen. Du hast dich überhaupt nicht verändert.»

Wenn das doch nur stimmen würde.

Bis zu welchem Tag würde ich die Uhr zurückdrehen, wenn ich könnte? Wann nahm das Unheil seinen Lauf? Und was hätte ich dagegen tun können?

«Geht es dir so gut, wie du aussiehst?»

«Nein», antwortete ich.

«Das dachte ich mir. So war es ja schon immer. Was ist denn los?»

Was für eine Frage! Auf einmal war ich mir selbst wieder vertraut. Und Tom kam mir vor wie der Erlöser, der Chipsletten und noch so manch andere in Vergessenheit geratene Vertrautheit zurück in mein Leben bringen würde.

Ich war überwältigt und entsetzt, als ich begriff, was mir alles fehlte. Meine Güte, was hatte ich mir eigentlich vorgemacht? Und warum? Bequemlichkeit, Kummer, zunehmende Einsamkeit zu zweit bei zunehmender Angst, alleine noch viel einsamer zu sein: eine fatale Mischung.

«Ich wohne seit einem Jahr in dieser Wohnung, und heute esse ich hier zum ersten Mal Chips.» Ich kämpfte mit den Tränen.

«Verstehe, das ist ein Problem.»

«Hier ist alles so edel und geschmackvoll. Ich finde, ich passe nicht zu den Möbeln.»

«Das stimmt. Aber du hast sie dir doch ausgesucht, oder?»

Ich schüttelte den Kopf und schämte mich, als ich mich den Satz sagen hörte: «Wir haben eine Inneneinrichterin. Und die Wohnung gehört dem Chef meines Mannes. Vielleicht hast du von ihm gehört, Hermann Stern, der reichste Reeder der Stadt.»

«Spielt er eine wichtige Rolle in deinem Leben?»

Ich nickte.

«Du hattest mit Tiermedizin angefangen. Was arbeitest du?»

Ich merkte, dass ich selbst fast vergessen hatte, was ich einmal werden wollte. Es war nicht angenehm, von Tom daran erinnert zu werden, welche Träume ich aufgegeben hatte.

«Ich habe das Studium nach ein paar Monaten abgebrochen und auf Germanistik umgesattelt – was mich hervorragend qualifizierte für mein Jahr als Kassiererin im Baumarkt. Anschließend habe ich in Agenturen Werbung und PR gemacht, zuletzt in einem Sachbuchverlag in Kiel gearbeitet. Dort habe ich Oliver kennengelernt. Seit zwei Jahren bin ich für ihn tätig, quasi als Mädchen für alles.» Meine Stimme klang, als müsste ich mich verteidigen.

«Klingt doch alles ganz okay. Warum fühlst du dich angegriffen?»

«Ich weiß, entschuldige. Es ist nur so, dass ich zwischen allen Stühlen sitze, seit Oliver für Stern arbeitet. Der Finanzchef des bedeutendsten Hamburger Reeders darf natürlich nicht rumlaufen und leben, wie er will. Und seine Frau auch nicht. Das Zauberwort heißt angemessen. Meine Güte, wie ich dieses Wort hasse! Ich muss mich angemessen kleiden und ausdrücken, angemessen wohnen und ernähren, damit ich ein angemessenes Gewicht halte.»

«Ganz ehrlich, Nicki, wenn ich mich hier so umschaue, finde ich, dass es Schlimmeres gibt. Du jammerst buchstäblich auf allerhöchstem Niveau», sagte Tom und deutete auf die Kunst an den Wänden und die Panoramaaussicht hinter der Fensterfront. Draußen wurde es langsam dunkel.

«Das weiß ich doch! Das macht es aber nicht besser! Ich müsste eigentlich dankbar und glücklich sein – aber ich bin es nicht. Kein Mensch versteht, dass ich mich nach unserer alten Dreizimmerwohnung zurücksehne, in der es nur einen Fernseher gab und nicht wie hier vier. Niemand begreift, dass ich mich wie ein mäßig gut getarnter Alien fühle, wenn ich bei Feinkost Lindner Garnelenschwänze in Limettenschaum einkaufe oder auf der Terrasse des Tennisclubs Bellevue einen Hugo trinke.»

«Du spielst neuerdings Tennis?»

«Natürlich nicht! Man ist in diesem Club, um Verbindungen zu knüpfen. Wir pflegen jetzt Kontakte statt Freundschaften. Der Club hätte uns natürlich nie aufgenommen, wenn Stern nicht für uns gebürgt hätte. Ich bin ein Emporkömmling aus Roxel bei Münster. Nichts qualifiziert mich für das Leben, das ich führe.»

«Na und? Immerhin bist du jetzt reich. Warum entspannst du dich nicht, isst Chipsletten auf deinem gigantischen Sofa und machst nur noch, was du willst?»

«So einfach ist das nicht, denn ich weiß schon lange nicht mehr, was ich will. Außerdem will ich Oliver zuliebe kein Außenseiter sein. Er möchte, dass wir zu den Kreisen gehören, für die er arbeitet.»

«Bist du glücklich mit ihm?»

Es gab eigentlich keinen Grund, Tom die Wahrheit zu sagen. Es gab aber auch keinen Grund, ihm nicht die Wahrheit zu sagen. Ich ahnte, dass sie, einmal ausgesprochen, etwas anrichten würde.

«Nein, bin ich nicht. Und er mit mir auch nicht. Wir sind nicht mehr die, die wir mal waren. Als ich Oliver kennenlernte, klaute er nachts in Vorgärten Blumen und zwang mich, an Wochenenden sämtliche Star Wars-Filme anzuschauen, deren Dialoge er minutenlang mitsprach. Wir aßen Nudeln, die heute Pasta heißen, und grillten auf unserem winzigen Balkon mit zehn Freunden. Heute haben wir eine tennisplatzgroße Dachterrasse mit einem unbenutzten Gasgrill und Perserteppiche im Wohnzimmer, die so teuer sind, dass wir Gäste am liebsten bitten würden, die Schuhe auszuziehen. Und glaub mir, auf diesem Boden hier», ich deutete auf das makellose Räuchereichen-Parkett, «willst du auch keine fünfzehn Betrunkenen Pogo tanzen sehen. Außer auf Socken.» Ich kicherte bei der Vorstellung hysterisch vor mich hin.

«Du bist immer noch die, die du mal warst», sagte Tom. «Möchtest du noch ein Stück Schokolade? Du scheinst mir ein bisschen dünn zu sein.»

Ich betrachtete ihn hingerissen, und mein Herz verwandelte sich in ein warmes, blubberndes, zuckersüßes Schokoladenfondue. Ich war seit einem Jahr immer hungrig und hatte immer gewusst, dass es um mich geschehen sein würde, sobald mich mal einer zu dünn finden würde. Wer mir Süßwaren anbietet, dem schenke ich mein Herz. So weit war es schon gekommen.

Als wir auf dem Boden des Wohnzimmers miteinander schliefen, hatte ich nicht die geringsten Bedenken, dabei den teuren Perserteppich, meine Beziehung oder auch mein Leben zu ruinieren.

Das Unheil nimmt seinen Lauf um 23 Uhr 10