Kein Entkommen - Still Missing - Chevy Stevens - E-Book
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Kein Entkommen - Still Missing E-Book

Chevy Stevens

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Beschreibung

Was würdest du tun, wenn dich jemand am helllichten Tag entführt? Wenn du ihm vollkommen ausgeliefert bist? Wenn es aus dieser Hölle kein Entkommen gibt? Würdest du töten? Und wäre dann wirklich alles vorbei? Ein Thriller wie ein Albtraum, der immer wieder neu beginnt.  Vancouver Island, beschaulich, naturverbunden, wer möchte nicht hier leben? Für die junge Maklerin Annie scheint es eine ganz normale Hausbesichtigung zu werden mit einem ganz normalen freundlichen Kunden. Doch im nächsten Moment liegt sie betäubt und gefesselt in einem Transporter. Als sie erwacht, findet sie sich in einer schallisolierten Blockhütte wieder, tief verborgen in den bewaldeten Bergen. Ihr Entführer übt die absolute Kontrolle über sie aus. Ein endloser Albtraum beginnt, hinter dem ein noch schlimmerer auf sie wartet … »Dieser außergewöhnliche Thriller wird Sie von der ersten Seite an in Bann halten und noch lange, nachdem Sie das Buch fertiggelesen haben.« Karin Slaughter Top-Spannung made in Kanada: der große internationale Bestseller der kanadischen Crime-Queen Chevy Stevens.

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Seitenzahl: 551

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Chevy Stevens

Still Missing – Kein Entkommen

Thriller

Roman

 

Aus dem Amerikanischen von Maria Poets

 

Über dieses Buch

 

 

Ein ganz normaler Tag, ein ganz normaler Kunde mit einem freundlichen Lächeln. Doch im nächsten Moment liegt die junge Maklerin Annie O’Sullivan betäubt und gefesselt in einem Lastwagen. Als sie erwacht, findet sie sich eingesperrt in einer völlig isolierten Blockhütte im Nirgendwo wieder. Ihr Entführer übt die absolute Kontrolle über sie aus. Ein endloser Albtraum beginnt, hinter dem noch ein schlimmerer auf sie wartet …

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

CHEVY STEVENS ist auf einer Ranch auf Vancouver Island aufgewachsen. Sie arbeitete einige Jahre als Immobilienmaklerin und kam whrend der einsamen Wartezeiten bei Open-House-Besichtigungen auf die Idee zu ihrem ersten Thriller. Die Autorin lebt mit ihrem Mann auf Vancouver Island vor der kanadischen Westkste und ist gern mit ihrem Hund in den Bergen unterwegs. Chevy Stevens schreibt gerade an ihrem zweiten Thriller.

Inhalt

Für meine Mutter, die [...]

1. Sitzung

2. Sitzung

3. Sitzung

4. Sitzung

5. Sitzung

6. Sitzung

7. Sitzung

8. Sitzung

9. Sitzung

10. Sitzung

11. Sitzung

12. Sitzung

13. Sitzung

14. Sitzung

15. Sitzung

16. Sitzung

17. Sitzung

18. Sitzung

19. Sitzung

20. Sitzung

21. Sitzung

22. Sitzung

23. Sitzung

24. Sitzung

25. Sitzung

26. Sitzung

Dank

Leseprobe – Tief in den Wäldern

Prolog

Teil I

1. Kapitel

Für meine Mutter, die mir die Phantasie schenkte

1. Sitzung

Wissen Sie, Doc, Sie sind nicht die erste Therapietante, der ich gegenübersitze, seit ich wieder zu Hause bin. Mein Hausarzt hatte mir einen Therapeuten empfohlen, gleich nachdem ich wieder da war, aber das war echt ein totaler Reinfall. Der Typ hat tatsächlich versucht, so zu tun, als wüsste er nicht, wer ich bin. So ein Idiot! Man müsste blind und taub sein, um es nicht zu wissen. Zum Teufel, sobald ich mich umdrehe, springt hinter irgendeinem Busch wieder so ein Mistkerl mit ’ner Kamera hervor. Und bevor die ganze Sache passiert ist? Da hat kein Mensch Vancouver Island gekannt, geschweige denn Clayton Falls. Wenn Sie jetzt die Insel erwähnen, wette ich mit Ihnen, dass dem anderen dazu als Erstes einfällt: »Ist da nicht diese Maklerin entführt worden?«

Selbst die Praxis von dem Typen war total daneben – schwarze Ledersofas, Plastikpflanzen und verchromter Schreibtisch. Genau das Richtige, damit die Patienten sich wohl fühlen. Und alles natürlich picobello aufgeräumt. Seine Zähne waren das einzig Schiefe in diesem verdammten Raum, und wenn Sie mich fragen, kann mit einem Typen, der auf seinem Schreibtisch die Stifte der Größe nach sortiert, aber es nicht fertigbringt, seine Zähne richten zu lassen, irgendetwas nicht stimmen.

Als Erstes fragte er mich nach meiner Mom, und dann versuchte er tatsächlich, mich dazu zu bringen, die Farbe meiner Gefühle mit Buntstiften auf einen Block zu malen. Als ich fragte, ob das sein Ernst sei, erklärte er mir, ich würde mich gegen meine Gefühle wehren und dass ich mich »dem Prozess öffnen« müsse. Zum Teufel mit ihm und seinem Prozess. Zwei Sitzungen habe ich durchgehalten. Die meiste Zeit habe ich darüber nachgedacht, ob ich ihn umbringen soll oder mich.

Es hat bis Dezember gedauert – seit vier Monaten bin ich jetzt wieder zu Hause –, um es noch einmal mit einer Therapie zu versuchen. Ich hatte mich schon fast damit abgefunden, dass ich jetzt eben nicht mehr alle Tassen im Schrank habe, aber die Vorstellung, mich für den Rest meines Lebens so zu fühlen … Der Text auf Ihrer Website ist irgendwie witzig, für ’ne Therapeutin jedenfalls, und Sie sehen nett aus – hübsche Zähne übrigens. Und was noch besser ist, Sie haben nicht tausend Abkürzungen vor Ihrem Namen, von denen kein Mensch weiß, was sie bedeuten. Ich will nicht den Größten und Besten. Das bedeutet doch nur ein fettes Ego und eine noch fettere Rechnung. Es ist mir sogar egal, dass ich eineinhalb Stunden fahren muss, um hierherzukommen. So komme ich mal aus Clayton Falls raus, und bisher habe ich noch keinen Reporter auf meiner Rückbank entdeckt.

Aber verstehen Sie mich nicht falsch, nur weil Sie aussehen wie die Großmutter von jemandem – Sie müssten eigentlich stricken, anstatt sich Notizen zu machen –, bin ich noch lange nicht gerne hier. Und Sie wollen, dass ich Nadine zu Ihnen sage? Ich bin mir nicht sicher, was das zu bedeuten hat, aber lassen Sie mich raten. Ich soll Sie mit Vornamen anreden, damit ich das Gefühl habe, wir seien dicke Freundinnen und dass es okay sei, Ihnen den Kram zu erzählen, an den ich mich nicht erinnern und über den ich erst recht nicht sprechen will. Ist es so? Sorry, aber ich bezahle Sie nicht dafür, meine Freundin zu sein. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gerne bei Doc bleiben.

Und wenn wir schon einmal dabei sind, lassen Sie uns gleich noch etwas klarstellen, ehe wir uns ins Vergnügen stürzen. Wenn wir das hier durchziehen wollen, dann machen wir es auf meine Art. Das bedeutet: keine Fragen von Ihnen. Nicht einmal ein hinterlistiges kleines »Wie fühlen Sie sich, wenn …«. Ich erzähle die Geschichte von Anfang an, und wenn ich hören will, was Sie dazu zu sagen haben, werde ich es Sie wissen lassen.

Ach, und für den Fall, dass Sie sich fragen, ob ich schon immer so eine Zicke war? Nein.

 

An jenem ersten Sonntagmorgen im August döste ich ein bisschen länger im Bett als gewöhnlich, während mein Golden Retriever, Emma, mir ins Ohr schnarchte. Ich hatte nicht oft Gelegenheit zum Faulenzen. In diesem Monat hatte ich mir den Hintern aufgerissen wegen dieses Apartmentkomplexes direkt am Wasser. Für Clayton Falls ist ein Neubau mit hundert Eigentumswohnungen eine große Sache, und ich und ein anderer Makler waren noch im Rennen. Ich wusste nicht, wer mein Konkurrent war, aber der Bauunternehmer hatte mich am Freitag angerufen, um mir zu sagen, man sei beeindruckt von meiner Präsentation und würde mir in ein paar Tagen Bescheid geben. Diesmal war ich so nah dran, dass ich schon den Champagner schmeckte. Eigentlich habe ich das Zeug nur einmal probiert, bei einer Hochzeit. Am Ende landete ich wieder beim Bier – wenn das nicht Bände spricht: Brautjungfernkleid aus Satin, aber Bier aus der Flasche trinken. Doch ich war überzeugt, dass dieser Deal mich in eine erfahrene Geschäftsfrau verwandeln würde. So wie in der Geschichte mit dem Wasser, das zu Wein wird. Oder, in diesem Fall, Bier zu Champagner.

Nach einer Woche Regen schien endlich die Sonne, und es war warm genug, dass ich mein Lieblingskostüm anziehen konnte. Es war pastellgelb und aus superweichem Stoff. Mir gefiel es, dass meine Augen darin haselnussfarben aussahen, anstatt einfach nur langweilig braun. Normalerweise trage ich keine Röcke, denn mit meinen knappen eins siebenundsechzig sehe ich damit aus wie ein Zwerg, aber dieser war so geschnitten, dass meine Beine darin länger wirkten. Ich beschloss, sogar Schuhe mit Absätzen anzuziehen. Mein Haar war gerade frisch geschnitten, so dass es perfekt mit meinem Kinn abschloss. Ich warf noch einen letzten Blick in den Spiegel im Flur, um sicherzustellen, dass ich keine grauen Haare bekommen hatte – ich war letztes Jahr erst zweiunddreißig, aber bei schwarzen Haaren tauchen die Mistdinger ziemlich früh auf –, pfiff mir selbst anerkennend zu und tätschelte Emma zum Abschied. Manche Leute klopfen auf Holz, ich klopfe auf Hunde. Dann ging ich raus.

Das Einzige, was ich an diesem Tag zu tun hatte, war eine Open-House-Besichtigung. Das Wetter war schön, und ich hätte mir gerne den Tag freigenommen, aber die Besitzer, ein nettes deutsches Ehepaar, wollten so schnell wie möglich verkaufen. Die Frau hatte extra eine bayrische Schokoladentorte für mich gebacken, und es machte mir nicht viel aus, ein paar Stunden zu opfern, um sie bei Laune zu halten.

Mein Freund, Luke, wollte zum Abendessen kommen, sobald er mit der Arbeit in seinem italienischen Restaurant fertig war. Am Abend davor hatte er die Spätschicht gehabt, und ich hatte ihm eine E-Mail geschickt, dass ich es kaum abwarten könne, ihn zu sehen. Zuerst wollte ich ihm eine dieser E-Mail-Postkarten senden, die er mir immer schickt, aber es gab nur so kitschige Dinger – knutschende Häschen, knutschende Frösche und knutschende Eichhörnchen –, also habe ich ihm doch nur eine einfache Mail geschickt. Er wusste, dass ich mit Romantik nicht viel am Hut habe, aber in der letzten Zeit war ich so mit diesem Apartmenthaus am Wasser beschäftigt, dass ich dem armen Kerl so gar nichts geboten hatte, dabei hatte er weiß Gott Besseres verdient. Aber er hatte sich nie beschwert, selbst als ich ein paarmal in letzter Minute absagen musste.

Als ich gerade dabei war, das letzte Hinweisschild für die Hausbesichtigung in den Kofferraum zu stopfen, ohne mein Kostüm schmutzig zu machen, klingelte das Handy. Mit ein bisschen Glück war das der Bauunternehmer, also kramte ich das Telefon aus der Tasche.

»Bist du zu Hause?« Hallo, Mom, dir auch einen schönen Tag.

»Ich bin unterwegs zu einer Open-House-Besichtigung.«

»Du arbeitest heute? Val hat erwähnt, dass sie in letzter Zeit viele von deinen Schildern gesehen hat.«

»Du hast mit Tante Val gesprochen?« Alle paar Monate zerstritt Mom sich mit ihrer Schwester und schwor, »nie wieder ein Wort mit ihr zu reden«.

»Sie hat mich zum Lunch eingeladen, als hätte sie mich letzte Woche nicht richtiggehend beleidigt, aber da wird sie mich noch kennenlernen, und dann, bevor wir auch nur bestellt haben, musste sie damit angeben, dass deine Cousine gerade ein paar Wassergrundstücke verkauft hat. Stell dir vor, Val fliegt morgen nach Vancouver, um mit ihr in der Robson Street Klamotten zu kaufen. Designerklamotten.« Wie schön für dich, Tante Val. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen.

»Ich freue mich für Tamara, aber sie sieht in allem großartig aus.« Tatsächlich hatte ich meine Cousine nicht mehr persönlich gesehen, seit sie direkt nach der Highschool aufs Festland gezogen war, aber Tante Val schickte ständig E-Mails mit Fotos rum, damit wir sahen, wie ihre bewundernswerten Kids sich machten.

»Ich sagte Val, dass du auch ein paar nette Sachen hättest. Du bist nur … etwas konservativ.«

»Mom, ich habe jede Menge netter Klamotten, aber ich …« Ich verstummte. Sie wollte mich in die Falle locken, und Mom ist nicht der Typ, der einen so schnell wieder laufenlässt, sobald sie einen erst einmal an der Angel hat. Das Letzte, was ich wollte, war, zehn Minuten mit ihr über angemessene Businesskleidung zu diskutieren. Und das mit einer Frau, die Schuhe mit zehn Zentimeter hohen Absätzen und Minikleid anzog, nur um die Post zu holen. Darum ging es auch gar nicht. Ich hatte es Mom mein ganzes Leben lang noch nie recht machen können.

»Ehe ich es vergesse«, sagte ich, »kannst du mir später noch meine Cappuccino-Maschine rüberbringen?«

Einen Moment war sie still, dann sagte sie: »Du willst sie heute noch haben?«

»Sonst würde ich nicht fragen, Mom.«

»Aber ich habe ein paar Nachbarinnen für morgen zum Kaffee eingeladen. Du hast dir genau den richtigen Zeitpunkt ausgesucht, wie immer.«

»Oh, Mist, tut mir leid, Mom, aber Luke kommt später noch, und ich wollte ihm einen Cappuccino zum Frühstück machen. Ich dachte, ihr wolltet euch selbst eine kaufen und meine nur mal ausprobieren?«

»Das haben wir auch vor, aber dein Stiefvater und ich sind noch nicht dazu gekommen. Ich werde wohl die Mädels anrufen und es ihnen erklären müssen.«

Klasse, jetzt kam ich mir vor wie ein Spielverderber.

»Mach dir deswegen keine Sorgen. Ich kann sie auch nächste Woche oder so abholen.«

»Danke, Annie Bear.« Jetzt war ich Annie Bear.

»Gern geschehen, aber ich brauche sie –« Sie hatte aufgelegt.

 

Ich stöhnte und schob das Telefon zurück in die Tasche. Die Frau ließ mich nicht einen gottverdammten Satz beenden, solange es nicht das war, was sie hören wollte.

An der Tankstelle an der Ecke machte ich halt, um mir einen Kaffee und ein paar Zeitschriften zu holen. Meine Mom liebt diese Schundblätter, aber ich kaufe sie nur, um etwas zu tun zu haben, falls niemand zur Besichtigung kommt. Auf einem der Cover war das Bild einer armen vermissten Frau abgebildet. Ich betrachtete ihr lächelndes Gesicht und dachte, sie hat einfach nur ihr Leben gelebt, und jetzt glaubt jeder, alles über sie zu wissen.

 

Bei der Besichtigung war nichts los. Ich schätze, die meisten Leute haben das gute Wetter ausgenutzt, so wie ich es auch hätte tun sollen. Zehn Minuten, bevor offiziell Schluss war, begann ich meinen Kram zusammenzupacken. Als ich nach draußen ging, um die Flyer im Kofferraum zu verstauen, rollte ein neuerer hellbrauner Van heran und parkte direkt hinter meinem Wagen. Ein älterer Typ, vielleicht Mitte vierzig, kam lächelnd auf mich zu.

»Mist, Sie packen schon ein! Geschieht mir ganz recht – ich warte immer bis zur letzten Minute. Würde es Ihnen große Umstände bereiten, wenn Sie mich noch einmal kurz herumführten?«

Eine Sekunde lang erwog ich, ihm zu sagen, dass er zu spät gekommen sei. Ich wollte nach Hause, und außerdem musste ich noch einkaufen, aber während ich zögerte, stemmte er die Hände in die Hüften, trat ein paar Schritte zurück und betrachtete die Vorderfront des Hauses.

»Wow!«

Ich musterte ihn rasch. Seine Khakis waren perfekt gebügelt, das gefiel mir. Meine Version vom Bügeln bestand darin, die Klamotten im Trockner zu ruinieren. Einen Moment lang fragte ich mich, warum er eine Jacke trug, selbst wenn sie fast nichts wog. Seine Laufschuhe waren strahlend weiß, und er trug eine Baseballkappe mit dem Logo des örtlichen Golfclubs auf dem Schirm. Wenn er in diesem Club Mitglied war, hatte er eine Menge Geld. Zu einer Open-House-Besichtigung kamen hauptsächlich Nachbarn oder Leute auf ihrem Sonntagsausflug, aber als ich einen Blick auf den Van warf, sah ich das Lokalblättchen mit den Immobilienanzeigen auf dem Armaturenbrett liegen. Zum Teufel, ein paar Minuten mehr würden mich schon nicht umbringen.

Ich schenkte ihm ein breites Lächeln und sagte: »Natürlich macht es mir nichts aus, dafür bin ich ja hier. Mein Name ist Annie O’Sullivan.«

Ich streckte meine Hand aus, doch als er auf mich zukam, um sie zu schütteln, stolperte er über eine Gehwegplatte. Um nicht auf die Knie zu fallen, stützte er sich mit den Händen auf dem Boden ab, Hintern nach oben. Ich wollte ihm helfen, aber er sprang schon wieder auf, lachte und wischte sich den Dreck von den Händen.

»O mein Gott, tut mir leid. Haben Sie sich weh getan?«

Die großen blauen Augen in dem offenen Gesicht strahlten mich amüsiert an. Er hatte Lachfalten in den Augenwinkeln und gerötete Wangen. Grübchen rahmten sein breites Grinsen und die geraden weißen Zähne ein wie Anführungszeichen. Es war das aufrichtigste Lächeln, das ich seit langer Zeit gesehen hatte, ein Gesicht, dessen Lächeln man einfach erwidern musste.

Er verbeugte sich theatralisch und sagte: »Ich weiß schon, wie man einen bühnenreifen Auftritt hinlegt, was? Gestatten, ich bin David.«

Ich deutete einen Knicks an und sagte: »Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, David.«

Wir lachten beide, und er sagte: »Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar und verspreche, dass ich nicht allzu viel Ihrer Zeit in Anspruch nehmen werde.«

»Machen Sie sich keine Sorgen – sehen Sie sich um, solange Sie möchten.«

»Sehr freundlich von Ihnen, aber Sie können es doch bestimmt kaum abwarten, von hier fortzukommen und das gute Wetter zu genießen. Ich werde mich beeilen.«

Endlich mal ein aussichtsreicher Interessent, der an die arme Maklerin dachte! Normalerweise benehmen die sich, als würden sie uns einen Gefallen tun.

Ich führte ihn hinein und quatschte ihn über das Haus voll. Es war im typischen Westküstenstil errichtet, mit gewölbten Decken, Verkleidungen aus Zedernholz und einem tollen Blick auf den Ozean. Während er mir folgte, machte er so begeisterte Kommentare, dass ich mir vorkam, als sähe ich das Haus ebenfalls zum ersten Mal. Ich war ganz versessen darauf, ihn auf die Ausstattung hinzuweisen.

»In der Anzeige stand, das Haus sei erst zwei Jahre alt, aber das Bauunternehmen wurde nicht erwähnt«, sagte er.

»Es war eine Firma aus dem Ort, Corbett Construction. Sie bieten mehrere Jahre Gewährleistung – das gilt natürlich auch für dieses Haus.«

»Großartig! Man kann nie vorsichtig genug sein bei diesen Baufirmen. Heutzutage kann man den Menschen nicht mehr vertrauen.«

»Wann, sagten Sie, wollen Sie einziehen?«

»Ich habe noch gar nichts gesagt, aber ich bin flexibel. Wenn ich gefunden habe, wonach ich gesucht habe, werde ich es wissen.« Ich erwiderte seinen Blick, und er lächelte.

»Wenn Sie einen Immobilienfinanzierer brauchen, kann ich Ihnen einige empfehlen.«

»Danke, aber ich würde bar zahlen.« Das wurde ja immer besser. »Ist der hintere Garten eingezäunt?«, fragte er. »Ich habe einen Hund.«

»Oh, ich liebe Hunde. Was für einen haben Sie?«

»Einen Golden Retriever, erstklassiger Stammbaum, und er braucht eine Menge Auslauf.«

»Das verstehe ich vollkommen. Ich habe auch einen Goldie, und sie wird ungnädig, wenn sie nicht genug rauskommt.« Ich öffnete die Glasschiebetür, um ihm den Zaun aus Zedernholz zu zeigen. »Wie heißt Ihr Hund?«

In der Sekunde, in der ich auf seine Antwort wartete, merkte ich, dass er zu dicht hinter mir stand. Etwas Hartes bohrte sich in meinen Rücken.

Ich versuchte, mich umzudrehen, aber er packte mein Haar und riss meinen Kopf so schnell und schmerzhaft zurück, dass ich glaubte, er würde mir ein Stück Kopfhaut abreißen. Mein Herz hämmerte gegen die Rippen, und das Blut dröhnte im Kopf. Ich wollte um mich treten, davonrennen – irgendetwas tun –, aber ich konnte meine Beine nicht bewegen.

»Ja, Annie, das ist eine Waffe, also hör bitte gut zu. Ich werde dein Haar loslassen, und du wirst schön ruhig bleiben, während wir hinaus zu meinem Van gehen. Und ich möchte, dass du weiterhin so hübsch lächelst, während wir das tun, okay?«

»Ich … ich …« Ich bekomme keine Luft.

Eine tiefe, ruhige Stimme direkt an meinem Ohr sagte: »Atme, Annie.«

Ich füllte meine Lungen mit Luft wie eine Ertrinkende.

»Und jetzt atme ganz ruhig und langsam wieder aus.« Ich atmete langsam aus.

»Noch einmal.« Ich konnte den Raum wieder klar sehen.

»Braves Mädchen.« Er ließ mein Haar los.

Alles schien in Zeitlupe abzulaufen. Ich spürte, wie die Waffe gegen meine Wirbelsäule drückte, als er mich damit vorwärtsstieß. Vor sich hin summend, schob er mich zur Vordertür hinaus und die Treppe hinunter. Auf dem Weg zu seinem Van flüsterte er mir ins Ohr: »Entspann dich, Annie. Pass gut auf, was ich dir sage, und wir werden gut miteinander auskommen. Und vergiss nicht zu lächeln.«

Als wir uns vom Haus fortbewegten, drehte ich mich um. Irgendjemand musste das doch mitbekommen! Aber es war niemand zu sehen. Nie zuvor war mir aufgefallen, wie viele Bäume das Haus umgaben oder dass die beiden Nachbarhäuser ziemlich weit weg standen.

»Ich bin so froh, dass die Sonne extra für uns scheint. Es ist ein wunderschöner Tag für einen Ausflug, findest du nicht auch?«

Er hatte eine Waffe und wollte mit mir über das Wetter reden?

»Annie, ich habe dich etwas gefragt.«

»Ja.«

»Ja was, Annie?«

»Es ist ein schöner Tag für einen Ausflug.« Wie zwei Nachbarn, die sich über den Gartenzaun hinweg unterhalten. Ich dachte immer noch, der Typ könne das doch unmöglich am helllichten Tag bringen. Das hier war eine Open-House-Besichtigung, um Himmels willen, am Ende der Auffahrt stand ein großes Schild, und jeden Moment konnte ein Auto kommen.

Wir waren beim Van.

»Öffne die Tür, Annie.« Ich rührte mich nicht. Er drückte die Waffe gegen meine Lendenwirbel. Ich machte die Tür auf.

»Jetzt steig ein.« Der Druck der Waffe wurde stärker. Ich stieg ein.

Als er wegging, riss ich am Türgriff und drückte mehrmals den Knopf für die Verriegelungsautomatik, aber irgendetwas stimmte nicht. Ich versuchte, die Tür mit der Schulter aufzurammen. Geh auf, verdammte Scheiße!

Er ging vor dem Van vorbei.

Ich hämmerte auf die Knöpfe, auf die Fensterscheiben und zerrte an den Handgriffen. Seine Tür öffnete sich, und ich drehte mich um. In der Hand hielt er eine Fernbedienung.

Er hob sie in die Höhe und lächelte.

Während er auf der Auffahrt zurücksetzte und das Haus immer kleiner wurde, konnte ich kaum fassen, was geschah. Er existierte nicht wirklich. Nichts von alldem passierte wirklich. Am Ende der Auffahrt hielt er eine Sekunde an und achtete auf den Verkehr. Das Schild mit dem Hinweis auf die Besichtigung, das ich auf dem Rasen aufgestellt hatte, war verschwunden. Ich schaute in den hinteren Teil des Vans, und dort lag es, zusammen mit zwei weiteren Schildern, die ich an der Straße aufgestellt hatte.

Da begriff ich. Das war kein Zufall. Er musste die Anzeige gelesen und die Straße überprüft haben.

Er hatte mich ausgewählt.

»Und, wie ist die Besichtigung gelaufen?«

Gut, bis er auftauchte.

Konnte ich den Schlüssel aus dem Zündschloss ziehen? Oder zumindest den Knopf auf der Fernbedienung drücken, der die Türen öffnete, und mich aus dem Wagen werfen, ehe er mich festhalten konnte? Langsam streckte ich meine linke Hand aus, immer schön tief …

Seine Hand landete auf meiner Schulter, und die Finger schlossen sich um mein Schlüsselbein.

»Ich versuche, mit dir über deinen Tag zu sprechen, Annie. Du bist doch sonst nicht so unhöflich.«

Ich starrte ihn an.

»Die Besichtigung?«

»Es war … nichts los.«

»Dann musst du ja froh gewesen sein, als ich kam!«

Er schenkte mir dieses Lächeln, das ich für so aufrichtig gehalten hatte. Während er darauf wartete, dass ich ihm antwortete, verschwand es, und der Griff wurde stärker.

»Ja, ja, es war nett, dass jemand vorbeikam.«

Das Lächeln war wieder da. Er klopfte mir auf die Schulter, da, wo seine Hand gelegen hatte, und tätschelte meine Wange.

»Versuch dich zu entspannen und genieß die Sonne. Du siehst in letzter Zeit so abgehetzt aus.« Als er wieder auf die Straße blickte, packte er das Lenkrad mit einer Hand und legte die andere auf meinen Schenkel. »Es wird dir dort gefallen.«

»Wo? Wo bringen Sie mich hin?«

Er begann zu summen.

Nach einer Weile bog er in einen kleinen Seitenweg ab und hielt an. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren. Er stellte den Motor ab, drehte sich zu mir und lächelte, als wollte er mit mir flirten.

»Jetzt dauert es nicht mehr lange.«

Er stieg aus, ging vor dem Van herum und öffnete meine Tür. Ich zögerte einen Moment. Er räusperte sich und hob die Augenbrauen. Ich stieg aus.

Er legte mir einen Arm um die Schultern, die Waffe in der anderen Hand, und wir gingen zur Rückseite des Vans.

Er atmete tief ein. »Mmh, riech nur diese Luft! Unglaublich!«

Es war vollkommen still; die Stille eines heißen Sommernachmittags, wenn man die Libellen in zehn Schritt Entfernung summen hört. Wir kamen an einem riesigen Heidelbeerstrauch vorbei, der dicht neben dem Van stand. Die Beeren waren fast reif. Ich begann zu weinen und zu zittern, so dass ich kaum noch laufen konnte. Er schlang beide Arme um meinen Oberkörper und hielt mich aufrecht. Wir gingen immer noch weiter, aber ich spürte meine Beine nicht mehr.

Er nahm seine Hände einen Moment fort, um die hintere Tür des Vans zu öffnen. Ich begann zu rennen. Er packte mein Haar und schleuderte mich herum, so dass ich ihm das Gesicht zuwenden musste, und zog mich an den Haaren hoch, bis ich nur noch auf Zehenspitzen stehen konnte. Ich versuchte, ihn zu treten, aber er war fast dreißig Zentimeter größer als ich und hielt mich mit Leichtigkeit auf Abstand. Alles, was ich tun konnte, war, in die Luft zu treten und gegen seine Arme zu boxen. Ich schrie, so laut ich konnte.

Mit der freien Hand schlug er mir auf den Mund und sagte: »Was soll dieser Unsinn?«

Ich klammerte mich an den Arm, mit dem er mich festhielt, und versuchte, mich daran hochzuziehen, damit der Schmerz an meiner Kopfhaut nachließ.

»Lass es uns noch einmal versuchen. Ich lasse dich los, und du kletterst hinein und legst dich auf den Bauch.«

Langsam senkte er den Arm, bis ich wieder Boden unter die Füße bekam. Einer meiner Schuhe war runtergerutscht, als ich versucht hatte, ihn zu treten. Jetzt verlor ich die Balance und taumelte zurück. Die Stoßstange des Vans drückte gegen meine Kniekehlen, und ich landete auf meinem Hintern im Wagen. Auf der Ladefläche war eine graue Decke ausgebreitet. Ich saß da und starrte ihn an. Dabei zitterte ich so heftig, dass meine Zähne klapperten. Die Sonne hinter seinem Kopf schien hell, sein Gesicht lag im Schatten, und ich konnte nur die Konturen erkennen.

Er stieß kräftig gegen meine Schulter, drückte mich auf den Rücken und sagte: »Dreh dich um!«

»Warten Sie … können wir nicht einen Moment reden?« Er lächelte mich an, als sei ich ein Welpe, der gerade an seinen Schnürsenkeln knabberte. »Warum tun Sie das?«, sagte ich. »Wollen Sie Geld? Wenn wir zurückfahren und mein Portemonnaie holen, kann ich Ihnen die PIN-Nummer für meine Bankkarte geben – ich habe ein paar tausend Dollar auf dem Konto. Und meine Kreditkarten, ich habe einen ziemlich hohen Kreditrahmen.« Er hörte nicht auf, mich anzulächeln.

»Wenn wir reden, könnten wir uns schon irgendwie einigen, das weiß ich! Ich könnte …«

»Ich brauche dein Geld nicht, Annie.« Er griff nach der Waffe, die er in den Hosenbund gesteckt hatte. »Ich möchte die hier nicht benutzen, aber …«

»Halt!« Ich streckte die Hände aus. »Es tut mir leid, ich habe mir nichts dabei gedacht, ich weiß nur nicht, was Sie wollen. Wollen Sie … wollen Sie Sex? Ist es das, was Sie wollen?«

»Um was habe ich dich gebeten?«

»Sie … Sie sagten, ich soll mich auf den Bauch legen.«

Er hob eine Augenbraue.

»Das ist alles? Sie wollen, dass ich mich umdrehe? Was machen Sie, wenn ich mich umgedreht habe?«

»Ich habe dich jetzt zweimal höflich darum gebeten.« Mit den Fingern liebkoste er die Waffe.

Ich drehte mich auf den Bauch.

»Ich verstehe nicht, warum Sie das tun.« Meine Stimme überschlug sich. Verdammt. Ich musste ruhig bleiben. »Haben wir uns vorher schon einmal getroffen?«

Er kniete hinter mir, eine Hand auf meinem Rücken, und hielt mich am Boden fest.

»Es tut mir leid, falls ich Sie irgendwie beleidigt habe, David. Wirklich. Sagen Sie mir, wie ich es wiedergutmachen kann, okay? Es muss doch eine Möglichkeit geben …«

Ich hielt den Mund und lauschte. Ich hörte leise Geräusche hinter mir und wusste, dass er irgendetwas vorbereitete. Ich wartete auf das Klicken, mit dem er die Waffe spannte. Vor Entsetzen zitterte ich am ganzen Körper. War es das für mich? Würde mein Leben mit dem Gesicht nach unten auf der Ladefläche eines Vans enden? Ich spürte den Einstich einer Nadel in meinem Oberschenkel. Ich zuckte zusammen und versuchte, nach hinten zu greifen. Mein Bein schien in Flammen zu stehen.

 

Bevor wir diese Sitzung hier zu Ende bringen, Doc, ist es vermutlich nur fair, wenn ich Ihnen noch etwas erzähle – wenn ich mich schon auf diesen Jetzt-aber-mal-im-Ernst-Trip einlasse, dann will ich auch das volle Programm. Als ich sagte, ich hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank, meinte ich eigentlich: Ich bin total durchgeknallt. Mit Jede-Nacht-im-Schrank-Schlafen und so.

Am Anfang war das höllisch kompliziert, als ich bei meiner Mom in meinem alten Zimmer schlief und jeden Morgen rechtzeitig rauskriechen musste, damit keiner was merkt. Jetzt, wo ich wieder in meinem Haus bin, ist manches einfacher, weil ich alle Variablen kontrollieren kann. Aber ich würde nie einen Fuß in ein Gebäude setzen, ehe ich nicht weiß, wo der Ausgang ist. Es ist verdammt gut, dass Ihre Praxis im Erdgeschoss ist. Ich würde nicht hier sitzen, wenn die Räume höher lägen, als ich springen könnte.

Nachts … na ja, nachts ist es am schlimmsten. Ich kann keine Leute um mich haben. Was, wenn sie die Tür nicht abschließen? Oder ein Fenster offen lassen? Wenn ich nicht schon bekloppt wäre, würde ich es garantiert werden, wenn ich andauernd rumrennen und alles kontrollieren müsste, ohne dass irgendjemand anders es mitbekäme.

Als ich nach Hause kam, dachte ich zuerst, ich müsste nur einen Menschen finden, der genauso empfindet wie ich … Ich war sogar so dämlich, nach einer Selbsthilfegruppe zu suchen. Es stellte sich heraus, dass es kein AOBE gibt, keine Anonymen Opfer von beschissenen Entführern, weder online noch offline. Egal, das ganze Konzept von Anonymität ist eh für die Katz, wenn man in Zeitschriften, auf Titelbildern und in Talkshows zu sehen ist. Selbst wenn ich eine Gruppe ins Leben riefe, möchte ich wetten, dass die wunderbar mitfühlenden Mitglieder meinen Dreck zu Geld machen würden, sobald sie aus der Tür raus wären. Sie würden meinen Schmerz irgendeinem Schundblatt verkaufen, damit sie eine Kreuzfahrt buchen oder sich einen Plasma-Fernseher kaufen können.

Außerdem hasse ich es, mit Fremden darüber zu reden, besonders mit Reportern, die einem anschließend jedes Wort im Mund umdrehen. Aber Sie wären überrascht, wie viel manche Zeitschriften und Fernsehshows für ein Interview zu zahlen bereit sind. Ich wollte das Geld nicht, aber sie haben es trotzdem immer wieder angeboten, und verdammt, ich brauche es. Ich kann schließlich nicht mehr als Maklerin arbeiten. Was ist denn das für eine Maklerin, die Angst hat, mit fremden Männern allein zu sein!

Manchmal gehe ich zurück zu dem Tag, an dem ich entführt wurde. Ich gehe alles, was ich bis zur Besichtigung getan habe, noch einmal Schritt für Schritt durch, wie bei einem endlosen Horrorfilm, wo man das Mädchen nicht davon abhalten kann, die Tür zu öffnen oder das verlassene Gebäude zu betreten. Und dann erinnere ich mich an das Titelbild von dieser Zeitschrift im Laden. Ein komisches Gefühl, dass jetzt eine andere Frau mein Bild sieht und denkt, sie wüsste alles über mich.

2. Sitzung

Auf dem Weg hierher kam ein Krankenwagen mit lauter Sirene hinter mir her – der Typ muss mindestens hundertsechzig gefahren sein. Ich hätte beinahe einen Herzschlag gekriegt. Ich hasse Sirenen. Wenn sie mir nicht einen Heidenschreck einjagen, was im Moment nicht besonders schwer ist – selbst Chihuahuas sind im Gegensatz zu mir die Ruhe selbst –, lösen sie einen Erinnerungsschock aus. Ein Herzinfarkt wäre mir lieber. Ehe Sie anfangen, sich geifernd zu fragen, auf welche verborgenen Probleme meine Abneigung gegen Krankenwagen wohl hinweisen könnte, und glauben, Sie könnten mich in null Komma nichts in Ihre Psychiater-Falle locken, entspannen Sie sich. Wir haben gerade erst angefangen, uns durch meinen Haufen Scheiße zu graben. Ich hoffe, Sie haben eine große Schaufel dabei.

Als ich zwölf war, holte mein Dad meine ältere Schwester Daisy von der Schlittschuhbahn ab, wo sie Eiskunstlauf machte. Das war während Moms französischer Phase, in der sie für die französische Küche geschwärmt hat. Während wir warteten, hat sie Zwiebelsuppe zubereitet. Der Großteil meiner Kindheitserinnerungen ist in die Düfte und den Geschmack der Küche aus dem Land gehüllt, für die meine Mutter sich jeweils begeisterte, und die Frage, ob ich bestimmte Sachen runterbringe oder nicht, hängt von der Erinnerung ab. Französische Zwiebelsuppe kann ich nicht essen. Ich kann das Zeug nicht einmal riechen.

Als die Sirenen an jenem Abend vor unserem Haus vorbeifuhren, stellte ich den Fernseher lauter, um sie zu übertönen. Später stellte sich heraus, dass die Sirenen Daisy und meinem Dad gegolten hatten.

Auf dem Heimweg hatte Dad an einem Eckladen gehalten, und als sie wieder auf die Kreuzung fuhren, hat ein betrunkener Fahrer die rote Ampel übersehen und sie volle Kanne gerammt. Das Arschloch hat unseren Kombi zusammengeknüllt wie ein gebrauchtes Taschentuch. Jahrelang habe ich mich gefragt, ob sie noch leben würden, wenn ich meinen Dad nicht angebettelt hätte, Eiscreme zum Nachtisch mitzubringen. Für mich bestand die einzige Möglichkeit zum Weitermachen darin, dass ich mir sagte, ihr Tod sei das Schlimmste, was mir in meinem Leben passieren könnte. Irrtum.

 

Nach der Injektion in mein Bein und bevor ich das Bewusstsein verlor, erinnere ich mich an zwei Dinge: das Gefühl der kratzigen Decke an meinem Gesicht und den schwachen Parfümduft.

Als ich aufwachte, wunderte ich mich, warum mein Hund nicht neben mir lag. Dann machte ich die Augen auf und sah einen weißen Kissenbezug. Meine waren gelb.

Ich setzte mich so hastig auf, dass ich fast ohnmächtig wurde. In meinem Kopf drehte sich alles, und beinahe hätte ich mich übergeben. Mit weitaufgerissenen Augen und gespitzten Ohren, um mir keinen Laut entgehen zu lassen, überprüfte ich meine Umgebung. Ich befand mich in einer Blockhütte von vielleicht fünfzig Quadratmetern, und den größten Teil davon konnte ich vom Bett aus überblicken. Er war nicht da. Doch meine Erleichterung hielt nur wenige Sekunden an. Wenn nicht hier, wo war er dann?

Ich konnte einen Teil des Küchenbereichs sehen. Vor mir stand ein Holzofen, und links davon entdeckte ich eine Tür. Ich glaubte, es sei Abend, aber ich war mir nicht sicher. Die beiden Fenster rechts vom Bett hatten Läden oder waren zugenagelt. Ein paar Deckenleuchten waren eingeschaltet, und eine weitere Lampe war an die Wand beim Bett montiert. Mein erster Impuls war, in die Küche zu rennen und nach irgendeiner Art Waffe zu suchen. Aber die Wirkung von dem Zeug, das er mir gespritzt hatte, war noch nicht verflogen. Meine Beine hatten sich in Wackelpudding verwandelt, und ich knallte auf den Boden.

Ich lag ein paar Minuten still, dann kroch ich weiter und zog mich schließlich hoch. Die meisten Schubladen und Schränke – selbst der Kühlschrank – hatten Vorhängeschlösser. Auf die Arbeitsplatte gestützt, durchwühlte ich die einzige Schublade, die ich öffnen konnte, aber ich fand keine tödlichere Waffe als ein Geschirrtuch. Ich holte ein paarmal tief Luft und versuchte, irgendwelche Hinweise darauf zu finden, wo ich war.

Meine Armbanduhr war weg, es gab keine Uhr und keine Fenster, so dass ich nicht einmal sagen konnte, welche Tageszeit wir hatten. Weil ich nicht wusste, wie lange ich bewusstlos gewesen war, hatte ich auch keine Ahnung, wie weit ich von zu Hause weg war. Mein Kopf fühlte sich an, als hätte ihn jemand in einen Schraubstock gespannt. Ich schwankte zu der äußersten Ecke zwischen Bett und Wand, zwängte mich, so weit es ging, hinein und starrte auf die Tür.

Ich hatte das Gefühl, stundenlang in der Ecke dieser Hütte zu kauern. Mir war total kalt, und ich konnte nicht aufhören zu zittern.

Stand Luke schon bei mir in der Auffahrt, rief mich auf dem Handy an, versuchte mich anzupiepen? Was, wenn er glaubte, ich würde wieder einmal länger arbeiten und hätte nur vergessen, ihm Bescheid zu sagen, und einfach nach Hause ging? Hatte man mein Auto gefunden? Was, wenn ich schon seit Stunden verschwunden war und niemand nach mir suchte? Hatte überhaupt schon jemand die Cops gerufen? Und was war mit meinem Hund? Ich sah Emma vor mir, allein zu Hause, hungrig und winselnd, weil sie rauswollte.

Die Krimiserien aus dem Fernsehen gingen mir durch den Kopf. CSI – die Las-Vegas-Staffel – war meine Lieblingsserie. Grissom müsste nur in das Haus gehen, in dem ich entführt worden war, und nachdem er sich einmal gründlich umgeschaut und einen Dreckfleck von draußen analysiert hätte, wüsste er genau, was passiert war und wo ich steckte. Gab es in Clayton Falls überhaupt eine Spurensicherung? Die Royal Canadian Mounted Police war nur im Fernsehen zu sehen, wenn sie auf einer Parade mitritten oder eine Marihuana-Plantage aushoben.

Jede Sekunde, die der Psycho – so nannte ich ihn im Stillen – mich länger allein ließ, malte ich mir immer brutalere Tode aus. Wer würde meiner Mom die Nachricht überbringen, wenn man meinen verstümmelten Leichnam fand? Was, wenn meine Leiche nie gefunden wurde?

Ich erinnere mich noch an ihre Schreie, als der Anruf wegen des Unfalls kam, und von da an sah ich sie nur noch selten ohne ein Glas Wodka. Aber ich kann mich nur an wenige Gelegenheiten erinnern, bei denen ich sie vollkommen betrunken erlebt habe. Im Allgemeinen ist sie nur benebelt. Sie ist immer noch schön, aber sie wirkt, auf mich sowieso, wie ein Bild, dessen Farben einst kräftig geleuchtet haben und jetzt ineinandergelaufen sind.

Ich dachte an die Unterhaltung, die vielleicht unsere letzte gewesen war. Ein Streit über eine Cappuccino-Maschine. Warum habe ich ihr das verdammte Ding nicht geschenkt? Ich war so sauer auf sie gewesen, und jetzt würde ich alles tun, um diesen Moment noch einmal erleben zu dürfen.

 

Meine Beine waren verkrampft, weil ich zu lange in derselben Stellung gehockt hatte. Zeit, aufzustehen und die Hütte zu untersuchen.

Sie sah alt aus, wie eine dieser Hütten der Fire-Ranger, die es in den Bergen gibt, aber diese hier war individuell ausgebaut worden. Der Psycho hatte an alles gedacht. Das Bett hatte keine Sprungfedern. Es gab nur zwei weiche Matratzen aus einer Art Schaumstoff, die in einem stabilen Holzrahmen lagen. Ein riesiger Holzschrank stand rechts neben dem Bett. Er hatte ein Schlüsselloch, aber als ich versuchte, die Türen aufzuziehen, rührten sie sich kein Stück. Der Holzofen und die steinerne Feuerstelle befanden sich hinter einem mit einem Vorhängeschloss gesicherten Schirm. Die Schubladen und alle Schränke waren aus einer Art Metall, das jedoch so beschichtet war, dass es wie Holz aussah. Ich hätte die Türen nicht einmal eintreten können.

Es gab weder einen Keller noch einen Dachboden, und die Hüttentür war aus Stahl. Ich rüttelte am Türgriff, aber sie war von außen abgeschlossen. Ich tastete die Tür nach irgendwelchen Leisten oder Scharnieren ab, nach irgendetwas, das ich ablösen könnte, doch da war nichts. Ich presste meinen Kopf flach auf den Boden, doch nicht der kleinste Lichtschimmer drang unter der Tür hindurch. Als ich mit dem Finger am unteren Rand der Tür entlangfuhr, spürte ich keinen Luftzug. Das Ding musste verdammt gut isoliert sein.

Als ich gegen die Fensterläden klopfte, klang es wie Metall. Ich konnte keine Schlösser oder Angeln entdecken. Ich tastete die hölzernen Fensterrahmen nach Spuren von Fäulnis ab, aber die Balken waren alle in gutem Zustand. Unter der Fensterbank im Badezimmer spürte ich an einer Stelle einen kühlen Luftzug. Ich schaffte es, ein paar Krümel von der Isolierung abzupulen, dann presste ich mein Auge an das bleistiftgroße Loch. Ich sah einen verschwommenen Fleck dunstigen Grüns und schloss daraus, dass es früher Abend war. Ich stopfte die Isolierung zurück und vergewisserte mich, dass keine Krümel auf dem Boden herumlagen.

Zuerst wirkte das Badezimmer mit der älteren weißen Badewanne und der Toilette völlig normal, bis mir auffiel, dass es keinen Spiegel gab. Als ich versuchte, den Deckel auf dem Spülkasten der Toilette anzuheben, bewegte er sich nicht. Ich schaute hinter den Kasten und entdeckte ein Stahlband, das um den Deckel herumreichte und fest mit der Wand verschraubt war. An einer Metallstange hing ein Duschvorhang, der über und über mit kleinen Rosen bedruckt war. Ich zerrte kräftig an der Stange, aber sie war ebenfalls fest verschraubt. Das Badezimmer hatte zwar eine Tür, aber kein Schloss.

An einem Tresen in der Mitte des Küchenbereichs waren auf jeder Seite je zwei Barhocker fest am Boden verschraubt. Die Haushaltsgeräte waren aus Edelstahl – nicht gerade billig – und sahen brandneu aus. Die weiße Emaille der Doppelspüle und die Arbeitsflächen glänzten, und die Luft roch nach Bleichmittel.

Als ich versuchte, eine der Flammen des Gasherds – vermutlich arbeitete er mit Propangas – anzumachen, hörte ich nur ein Klicken. Er musste das Gas abgestellt haben. Ich überlegte, ob ich den Herd nicht irgendwie zerlegen könnte, aber ich bekam die Brenner nicht ab, und als ich den Backofen öffnete, stellte ich fest, dass die Roste und Bleche fehlten. Die Schublade unter dem Herd war mit einem Vorhängeschloss gesichert.

Ich hatte keine Möglichkeit, mich zu schützen, und ich konnte nicht fliehen. Ich musste auf das Schlimmste vorbereitet sein, aber ich wusste nicht einmal, was das Schlimmste sein mochte.

 

Ich zitterte schon wieder. Ich holte tief Luft und versuchte, mich auf die anderen Fakten zu konzentrieren. Er war nicht hier, und ich lebte immer noch. Irgendjemand musste mich bald finden. Ich ging zur Spüle und hielt meinen Kopf unter den Wasserhahn, um etwas zu trinken. Doch bevor ich einen Schluck nehmen konnte, hörte ich den Schlüssel im Schloss – zumindest hielt ich das Geräusch dafür. Als sich die Tür langsam öffnete, setzte mein Herzschlag aus.

Er hatte die Baseballkappe abgesetzt. Sein Haar war wellig und blond, die Miene vollkommen unbewegt. Ich musterte seine Gesichtszüge. Wie hatte er es geschafft, mir sympathisch zu sein? Die untere Lippe war voller als die obere, was ihm einen leichten Schmollmund verlieh, aber davon abgesehen sah ich nur ausdruckslose blaue Augen und ein nettes Gesicht. Aber es war die Art von Gesicht, die man zuerst gar nicht richtig wahrnimmt, geschweige denn wiedererkennt.

Als sein Blick auf mich fiel, blieb er stehen, und sein ganzes Gesicht begann zu lächeln. Ich sah einen vollkommen anderen Mann vor mir. Da kapierte ich, dass er zu den Leuten gehörte, die sich aussuchen können, ob sie bemerkt werden oder nicht.

»Wie schön, du bist aufgestanden! Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, ob ich dir vielleicht zu viel gegeben habe.«

Mit federnden Schritten kam er auf mich zu. Ich rannte zurück in die hinterste Ecke der Hütte neben das Bett und kauerte mich zusammen. Abrupt blieb er stehen.

»Warum versteckst du dich?«

»Wo zum Teufel bin ich?«

»Ich verstehe, dass du wahrscheinlich noch nicht hundertprozentig wiederhergestellt bist, aber geflucht wird hier nicht.« Er ging zur Spüle.

»Ich hatte mich auf unsere erste gemeinsame Mahlzeit gefreut, aber du hast leider das Abendessen verschlafen.« Er nahm einen Schlüsselring aus der Tasche, sperrte einen der Schränke auf und nahm ein Glas heraus. »Ich hoffe, du hast keinen allzu großen Hunger.« Er ließ das Wasser eine Weile laufen und füllte das Glas. Er drehte den Hahn zu, wandte mir das Gesicht zu und lehnte sich an die Arbeitsplatte.

»Ich kann die Regel für das Abendessen nicht missachten, aber ich bin bereit, heute nicht ganz so streng zu sein.« Er hielt das Glas in die Höhe. »Dein Mund muss ziemlich trocken sein.«

Sandpapier war weicher als meine Kehle in diesem Moment, aber von ihm würde ich nichts annehmen. Er schwenkte das Glas. »Es geht doch nichts über kaltes Quellwasser aus den Bergen.«

Er wartete ein paar Sekunden, hob fragend eine Augenbraue, dann zuckte er die Achseln und drehte sich um. Langsam goss er das Wasser aus, dann hielt er das Glas erneut in die Höhe und klopfte mit dem Fingerknöchel dagegen. »Ist es nicht erstaunlich, wie echt Kunststoff wirken kann? Die Dinge sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen, nicht wahr?«

Sorgfältig trocknete er den Becher ab und stellte ihn zurück in den Schrank, den er anschließend wieder abschloss. Dann ließ er sich seufzend auf einem der Barhocker am Tresen nieder und streckte die Arme in die Höhe.

»Das tut gut, sich endlich zu entspannen!«

Entspannen? Dann wollte ich nicht wissen, was er machte, wenn ihm nach Aufregung zumute war.

»Was macht dein Bein? Spürst du die Einstichstelle noch?«

»Wo bin ich?«

»Ah. Sie spricht.« Er stützte den Ellenbogen auf den Tresen und verschränkte die Finger unter dem Kinn. »Das ist eine großartige Frage, Annie. Einfach ausgedrückt, hast du ein ziemliches Glück, Mädchen.«

»Ich halte es für keinen großen Glücksfall, entführt und unter Drogen gesetzt zu werden.«

»Manchmal ist das, was man für ein schlechtes Ereignis in seinem Leben hält, in Wirklichkeit ein besonders gutes Ereignis. Aber das merken die Menschen meistens erst, wenn sie die Alternativen kennen.«

»Alles wäre besser als das hier.«

»Alles, Annie? Selbst wenn die Alternative dazu, ein wenig Zeit mit einem netten Kerl wie mir zu verbringen, darin bestünde, auf dem Rückweg von der Besichtigung einen Unfall zu haben – sagen wir, mit einer jungen Mutter, die gerade vom Einkaufen nach Hause kommt – und eine ganze Familie umzubringen? Oder vielleicht auch nur eines ihrer Kinder, ihren Liebling?«

Schlagartig musste ich an Mom denken, wie sie auf der Beerdigung Daisys Namen geschluchzt hatte. Kam dieser Widerling aus Clayton Falls?

»Keine Antwort?«

»Der Vergleich ist nicht fair. Sie wissen nicht, was mir vielleicht passiert wäre.«

»Siehst du, und da irrst du dich. Ich weiß es. Ich weiß genau, was mit Frauen wie dir geschieht.«

Das war gut, ich musste ihn dazu bringen weiterzureden. Wenn ich herausfände, wie er tickte, könnte ich auch herausfinden, wie ich ihm entwischen konnte.

»Frauen wie ich? Haben Sie vorher schon einmal jemanden wie mich getroffen?«

»Hattest du schon Gelegenheit, dich umzuschauen?« Lächelnd sah er sich in der Hütte um. »Ich finde, es ist ziemlich gut geworden.«

»Wenn irgendeine andere Frau Ihnen weh getan hat, dann tut es mir wirklich leid, ganz ehrlich, aber es ist nicht fair, mich dafür zu bestrafen. Ich habe Ihnen nie etwas getan.«

»Du glaubst, das hier sei eine Strafe?« Erstaunt riss er die Augen auf.

»Sie können nicht einfach jemanden entführen und ihn wer weiß wohin bringen. Das können Sie doch nicht einfach machen!«

Er lächelte. »Ich weise dich nur ungern auf das Offensichtliche hin, aber genau das habe ich getan. Sieh mal, wie wäre es, wenn ich ein paar Geheimnisse für dich lüfte. Wir sind auf einem Berg, in einer Hütte, die ich sorgfältig für uns ausgesucht habe. Ich habe mich um jedes Detail gekümmert, so dass du hier ganz sicher bist.«

Der Scheißkerl entführt mich und erzählt mir anschließend, ich sei sicher?

»Es hat etwas länger gedauert, als ich wollte – aber während der Vorbereitungen habe ich dich nur umso besser kennengelernt. Ich würde sagen, ich habe die Zeit gut genutzt.«

»Allerdings. Ich habe Sie nie gesehen. Ist David Ihr richtiger Name?«

»Gefällt dir David nicht?«

Es war der Name meines Vaters, aber ich hatte nicht vor, ihm das zu sagen. Ich versuchte, meine Stimme ruhig und freundlich klingen zu lassen. »David ist ein schöner Name, aber ich glaube, Sie verwechseln mich mit irgendeiner anderen Frau. Warum lassen Sie mich nicht einfach gehen?«

Langsam schüttelte er den Kopf. »Ich bringe hier gar nichts durcheinander, Annie. Im Gegenteil, noch nie in meinem Leben war ich mir meiner Sache so sicher.«

Er zog einen riesigen Schlüsselbund aus der Tasche, schloss einen der Küchenschränke auf, holte eine große Schachtel mit der Aufschrift »Annie« heraus und trug sie zum Bett. Er zog Flyer daraus hervor, alle von Häusern, die ich verkauft hatte. Auch ein paar Zeitungsannoncen waren darunter. Eine davon hielt er in die Höhe. Es war die Anzeige für die Open-House-Besichtigung.

»Das hier ist die beste. Die Hausnummer passt perfekt zu dem Datum, an dem ich dich das erste Mal sah.«

Dann reichte er mir einen Stapel Fotos.

Sie zeigten mich, beim Morgenspaziergang mit Emma, auf dem Weg ins Büro, wie ich mir aus dem Eckladen einen Kaffee holte. Auf einem Bild hatte ich noch längere Haare – und das Hemd, das ich darauf anhatte, besaß ich gar nicht mehr. Hatte er das Foto aus meinem Haus geklaut? Er wäre niemals an Emma vorbeigekommen, also musste er es aus meinem Büro gestohlen haben. Er nahm mir die Bilder aus der Hand, streckte sich auf dem Bett aus, stützte sich auf einen Ellenbogen und breitete die Fotos aus.

»Du bist sehr fotogen.«

»Wie lange spionieren Sie mir schon nach?«

»Ich würde es nicht nachspionieren nennen. Beobachten vielleicht. Ich habe mich nie der Illusion hingegeben, du könntest mich lieben, falls du dich fragst, ob ich ein typischer Stalker bin.«

»Ich bin sicher, dass Sie echt ein netter Kerl sind, aber ich habe bereits einen Freund. Es tut mir leid, wenn ich unbeabsichtigt irgendetwas getan habe, was Sie durcheinandergebracht hat, aber ich empfinde nicht auf die gleiche Weise wie Sie. Vielleicht können wir Freunde sein …«

Er lächelte mich freundlich an. »Du zwingst mich, mich zu wiederholen. Ich bin absolut nicht durcheinander. Ich weiß, dass Frauen wie du keine romantischen Gefühle für Männer wie mich entwickeln – Frauen wie du sehen mich nicht einmal.«

»Ich sehe Sie. Ich glaube nur, dass Sie eine Frau verdienen, die …«

»Die was ist? Bereit, mit mir zusammen eine Familie zu gründen? Vielleicht eine pummelige Bibliothekarin? Das ist das Beste, was ich erwarten kann, meinst du das?«

»Nein, das meine ich nicht. Ich bin sicher, dass Frauen ziemlich auf Sie abfahren …«

»Ich bin nicht das Problem. Frauen behaupten gerne, sie wollten jemanden, der immer für sie da ist – einen Lover, einen Freund, einen ebenbürtigen Partner. Aber sobald sie ihn haben, werfen sie alles hin für den erstbesten Mann, der sie wie ein Stück Dreck behandelt. Und egal, was er ihnen antut, sie kehren immer wieder zu ihm zurück.«

»Manche Frauen sind so, aber viele nicht. Mein Freund ist mein Partner, und ich liebe ihn.«

»Luke?« Er hob die Augenbrauen. »Du glaubst, Luke sei dir ein ebenbürtiger Partner gewesen?« Er lachte kurz auf und schüttelte den Kopf. »Den hättest du doch entsorgt, sobald ein richtiger Mann aufgekreuzt wäre. Du hast dich doch schon gelangweilt.«

»Woher kennen Sie Lukes Namen? Und warum sprechen Sie in der Vergangenheitsform von ihm? Haben Sie ihm etwas angetan?«

»Luke geht’s gut. Was er im Moment durchmacht, ist nichts im Vergleich zu dem, was du ihm schon zugemutet hast. Du hast ihn nicht respektiert. Nicht dass ich dir daraus einen Vorwurf mache – du hättest noch respektloser sein können.« Er lachte. »Wie gerade eben zum Beispiel.«

»Ich respektiere Sie, weil Sie ein ungewöhnlicher Typ sind, der das hier eigentlich nicht tun will, und wenn Sie mich gehen lassen, können wir …«

»Bitte behandle mich nicht so von oben herab, Annie.«

»Was wollen Sie dann? Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wo ich bin.«

Er begann zu singen. »Time is on my side, yes it is. Time, time, time, is on my side, yes it is.« Ich wusste, dass es ein alter Song der Rolling Stones war, aber an den Rest des Textes konnte ich mich nicht erinnern. Die Zeit ist auf meiner Seite … und weiter?

»You want time? Time with me? Time to talk?« Du willst Zeit? Zeit mit mir? Zeit zum Reden? Zeit, um mich zu vergewaltigen? Zeit, um mich zu töten?

Er lächelte nur.

Wenn irgendetwas nicht funktioniert, probiert man etwas anderes aus. Ich verließ meine sichere Ecke, stand auf und baute mich vor ihm auf.

»Hör zu, David – oder wie immer du heißt –, du musst mich gehen lassen.« Er schwang die Beine vom Bett, setzte sich auf die Kante und sah mir gerade in die Augen. Ich beugte mich direkt über sein Gesicht.

»Menschen werden nach mir suchen – viele Menschen. Es wäre wesentlich besser für dich, wenn du mich auf der Stelle freilässt.« Ich deutete mit dem Finger auf ihn. »Ich will dein krankes Spiel nicht mitspielen. Das ist verrückt. Du musst doch einsehen …«

Seine Hand schoss nach vorn und packte mein Gesicht so fest, dass es sich anfühlte, als rieben meine Zähne aufeinander. Stück für Stück zog er mich näher zu sich. Ich verlor das Gleichgewicht und saß praktisch auf seinem Schoß. Das Einzige, das mich aufrecht hielt, war seine Hand an meinem Kiefer.

Mit vor Wut zitternder Stimme sagte er: »Sprich nie wieder in diesem Ton mit mir, hast du mich verstanden?« Er zwang meinen Kopf hoch und runter und verstärkte seinen Griff jedes Mal, wenn mein Gesicht unten war. Ich hatte das Gefühl, der Kiefer würde mir ausgerenkt.

Er ließ mich los.

»Sieh dich um! Glaubst du etwa, es war einfach, das alles so herzurichten? Meinst du, ich hätte nur mit den Fingern geschnippt, und alles war fertig?«

Er packte meine Kostümjacke, zog mich nach unten und drückte mich auf das Bett. Die Adern an seiner Stirn traten hervor, und sein Gesicht lief rot an. Halb auf mir liegend, packte er meine Kehle und drückte zu. Aus funkelnden Augen starrte er mich an. Sie würden das Letzte sein, das ich sah, bevor ich starb. Um mich herum wurde es schwarz …

Dann war aller Zorn aus seinem Gesicht verschwunden. Er ließ mich los und küsste meine Kehle, die er noch vor wenigen Sekunden mit den Fingern umklammert hatte.

»Warum zwingst du mich dazu, so etwas zu tun? Ich gebe mir so viel Mühe, Annie, wirklich, aber meine Geduld hat ihre Grenzen.« Er strich mir übers Haar und lächelte.

Ich schwieg und rührte mich nicht.

Er erhob sich und ging davon. Aus dem Badezimmer hörte ich Wasser rauschen. Mit meinen Fotos um mich herum ausgebreitet starrte ich an die Decke. Mein Kiefer pochte. Tränen rannen mir aus den Augenwinkeln, aber ich wischte sie nicht fort.

3. Sitzung

Wie ich sehe, haben Sie keinen Weihnachtsschnickschnack hier drin, nur den Adventskranz an der Eingangstür. Das ist gut! Angeblich soll die Selbstmordrate über die Feiertage ja am höchsten sein, und die meisten Ihrer Patienten stehen vermutlich ohnehin schon schwankend am Rand des Abgrunds.

Wenn jemand verstehen kann, warum die Leute zu dieser Zeit des Jahres ausflippen, dann bin ich das. Als Kind hat mich Weihnachten genervt. Es war echt hart, weil meine Freunde alle einen Haufen Zeug gekriegt haben, den ich mir nur im Schaufenster oder im Katalog anschauen konnte. Aber das Jahr, bevor ich entführt wurde, war ein gutes Jahr. Ich habe ein Heidengeld für kitschigen Weihnachtsschmuck und Lichterketten ausgegeben. Natürlich konnte ich mich nicht für ein Thema entscheiden, so dass am Ende jedes Zimmer anders aussah, wie Festwagen bei so einer komischen Weihnachtsparade.

Luke und ich haben lange Winterspaziergänge gemacht, mit Schneeballschlacht und allem Drum und Dran, haben Popcorn und Cranberrys auf Schnüre gezogen und an den Baum gehängt, heiße Schokolade mit Rum getrunken und uns beschwipst Weihnachtslieder vorgesungen, natürlich völlig falsch. Es war wie in einem beschissenen Weihnachtsspecial fürs Fernsehen.

In diesem Jahr gebe ich einen Dreck auf die Feiertage. Aber es gibt ohnehin nicht viel, um das ich mich kümmere. Wie gerade eben vor der Sitzung, als ich auf Ihrer Toilette war und mich zufällig im Spiegel gesehen habe. Bevor der ganze Mist passiert ist, konnte ich an keinem Schaufenster vorbeigehen, ohne einen Blick auf mein Spiegelbild zu werfen. Wenn ich jetzt in den Spiegel schaue, sehe ich eine Fremde. Die Augen der Frau sehen aus wie getrockneter Schlamm, und ihr Haar hängt lasch auf die Schultern. Ich sollte mir die Haare schneiden lassen, aber allein der Gedanke daran macht mich schon müde.

Noch schlimmer, ich bin eine von denen geworden – den weinerlichen, deprimierenden Leuten, die kein Problem damit haben, einem haarklein zu erzählen, wie tief sie in der Scheiße sitzen. Und das alles in einem Ton, der klarmacht, dass sie absolut nichts dafür können und dass man selbst ihnen den Platz weggenommen hat, der ihnen eigentlich zusteht. Zum Teufel, wahrscheinlich habe ich jetzt auch wieder genau diesen Ton drauf. Ich wollte sagen, wie hübsch all die Läden mit den ganzen Lichtern aussehen und wie freundlich alle zu dieser Zeit des Jahres sind, und das sind sie wirklich, aber ich kann anscheinend nicht aufhören, nur verbittert rumzupöbeln.

Letzte Nacht habe ich wieder im Schrank geschlafen, obwohl meine innere Einstellung oder die dunklen Ringe unter den Augen davon vermutlich nicht besser werden. Zuerst habe ich im Bett gelegen – habe mich rumgewälzt und rumgezappelt, bis es wie ein Schlachtfeld aussah –, aber ich habe mich einfach nicht sicher gefühlt. Also bin ich in den Schrank gekrochen und habe mich auf dem Boden zusammengerollt, mit Emma direkt vor der Tür. Der arme Hund, sie denkt, sie würde auf mich aufpassen.

 

Als der Psycho aus dem Badezimmer kam, hob er drohend den Finger, lächelte und sagte: »Die Zeit vergesse ich nicht so leicht.«

Er summte eine Melodie – ich könnte nicht sagen, was es war, aber wenn ich sie noch einmal höre, muss ich kotzen – und zog mich vom Bett hoch. Dann wirbelte er mich herum und warf mich über sein Knie. In einem Moment versuchte er, mir den Kiefer zu brechen, und in der nächsten Minute war er wie der bescheuerte Fred Astaire. Lachend zog er mich wieder hoch und führte mich ins Badezimmer.

Teelichter flackerten auf der Ablage, und die Luft war erfüllt vom Geruch nach brennendem Wachs und Blumen. Das Wasser in der Badewanne dampfte, und darauf schwammen Rosenblätter.

»Zeit, sich auszuziehen.«

»Ich will nicht.« Es war nicht mehr als ein Flüstern.

»Es ist Zeit.« Ohne zu blinzeln, starrte er mich an.

Ich zog meine Kleider aus.

Er legte sie ordentlich zusammen und brachte sie aus dem Raum. Mein Gesicht brannte. Einen Arm hielt ich vor meine Brüste, den anderen vor meinen Schritt. Als er zurückkam, nahm er meine Hände fort und führte mich zur Badewanne. Als ich zögerte, bekam er ein rotes Gesicht und trat näher.

Ich stieg in die Wanne.

Mit diesem Riesenschlüsselbund öffnete er einen der Schränke und holte ein Rasiermesser raus – ein altmodisches, megascharfes Rasiermesser.

Er hob mein rechtes Bein und legte es auf den Badewannenrand, dann strich er langsam mit der Hand über meine Wade und den Schenkel. Es war das erste Mal, dass mir seine Hände auffielen. Sie hatten kein einziges Haar, und die Fingerkuppen waren weich, als wären sie verbrannt. Ich spürte mein Entsetzen mit jeder Faser meines Körpers. Was ist das für ein Mensch, der sich die Fingerkuppen verbrennt?

Ich konnte nicht aufhören, das Messer anzustarren und zuzusehen, wie es sich meinem Bein näherte. Nicht einmal weinen konnte ich.

»Deine Beine sind so kräftig – wie bei einer Tänzerin. Meine Mutter war eine Tänzerin.« Er sah mich an, aber ich starrte wie gebannt auf die Klinge. »Annie, ich rede mit …« Er hockte sich auf die Fersen. »Fürchtest du dich vor dem Rasiermesser?« Ich nickte.

Er hob es in die Höhe, so dass es das Licht reflektierte. »Die neumodischen Rasierer schneiden nicht halb so gut.« Achselzuckend lächelte er mich an. Dann beugte er sich wieder vor und begann, meine Wade zu rasieren. »Wenn du dich dieser Erfahrung öffnest, wirst du eine Menge über dich erfahren. Jemandem ausgeliefert zu sein, der die Macht hat, dich zu töten, kann die erotischste Erfahrung deines Lebens sein.« Er starrte mich an. »Aber du weißt bereits, wie befreiend der Tod sein kann, nicht wahr, Annie?« Als ich nicht antwortete, schaute er zwischen dem Rasiermesser und mir hin und her.

»Ich … ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Du hast doch bestimmt die Geschichte mit Daisy noch nicht vergessen.«

Ich starrte ihn an.

»Wie alt warst du noch gleich? Zwölf, oder? Und sie war sechzehn? So früh jemanden zu verlieren, den man liebt …« Er schüttelte den Kopf. »So etwas kann einen Menschen wirklich verändern.«

»Woher wissen Sie von Daisy?«

»Dein Vater starb auf dem Weg ins Krankenhaus, war es nicht so? Und Daisy, wie ist sie noch gestorben?« Er wusste es. Der Bastard wusste es.

Auf ihrer Beerdigung fand ich heraus, wie sie gestorben war, als ich eine Tante belauschte, die jemandem erklärte, warum Mom nicht wollte, dass ihre wunderschöne Tochter im offenen Sarg aufgebahrt wurde. Monatelang verfolgte meine Schwester mich danach in meinen Träumen, hielt sich ihr blutendes Gesicht und flehte mich an, ihr zu helfen. Monatelang bin ich schreiend aufgewacht.

»Warum tun Sie das?«, fragte ich.

»Dir die Beine rasieren? Findest du es nicht entspannend?«

»Das meinte ich nicht.«

»Von Daisy zu sprechen? Es ist gut, über diese Dinge zu reden, Annie.«

Wieder überkam mich das Gefühl, das alles könne nicht wirklich passieren. Es konnte nicht sein, dass ich in einem warmen Bad lag, während ein Irrer mir die Beine rasierte und dabei verlangte, ich solle meine Gefühle rauslassen. Was war das für eine Welt, in der so eine Scheiße passierte?

»Steh auf und stell das Bein auf den Badewannenrand, Annie.«

»Es tut mir leid, wir können gerne noch weiter reden. Aber bitte zwingen Sie mich nicht, das zu tun …« Seine Miene wurde ausdruckslos. Ich hatte diesen Blick schon einmal gesehen.

Ich stand auf und stellte mein Bein auf den Rand der Badewanne.

In der kühlen Luft zitterte ich und sah zu, wie der nach Rosen duftende Wasserdampf von mir abperlte. Ich hasste den Geruch von Rosen, schon immer. Und der Psycho?

Er begann zu summen.

Ich wollte ihn fortstoßen. Ich wollte ihm mein Knie ins Gesicht rammen, aber ich blickte wie gebannt auf die funkelnde Klinge des Rasiermessers. Er tat mir nicht körperlich weh, nur ein wenig mit den Fingernägeln, als er meinen Po packte, um mich festzuhalten, trotzdem hatte ein ungeheures Entsetzen mich gepackt, als drohte eine riesige Faust, meine Brust zu zerreißen.

Vor Jahren war ich einmal bei einem Gynäkologen, einem alten Kerl, bei dem ich vorher nur einmal gewesen war. Dieses Mal musste er einen PAP-Abstrich machen, und ich erinnerte mich noch gut, wie ich auf dem Rücken lag, seinen Kopf zwischen meinen Beinen. Er war Hobbypilot, und überall in dem Raum hingen Fotos von Flugzeugen. Als er das kalte Instrument in mich hineinstopfte, sagte er: »Denken Sie an Flugzeuge.« Und das tat ich jetzt, als der Psycho mich rasierte. Ich dachte an Flugzeuge.

Als er fertig war und mich abgeduscht hatte, musste ich aus der Wanne steigen, und er trocknete mich vorsichtig ab. Dann schloss er den Schrank auf, holte eine große Flasche Lotion heraus und begann, meinen Körper damit einzucremen.

»Das fühlt sich gut an, was?«