Sturm - Ernst-Wilhelm Händler - E-Book

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Ernst-Wilhelm Händler

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Beschreibung

Ein Buch über die Macht und ein Buch über die Gewalt der Sprache. Ein Roman über deutsche Mentalitätsgeschichte und einen vornehmlich deutschen genialen Künstlertypus. Und ein Buch über das Vordringen des Virtuellen. Suttung, studierter Mathematiker und Computerwissenschaftler, ist Sohn eines berühmten deutschen Kunsthändlers und Enkel eines noch berühmteren deutschen spätimpressionistischen Malers. Mit zwanzig verließ er seine Heimat, um in die USA zu gehen, wo er Karriere als Softwarespezialist in einem bedeutenden Computerunternehmen macht. Suttung "dachte niemals daran, nach Deutschland zurückzukehren". Während eines Kurzurlaubs an der Küste Neuenglands trifft Suttung auf eine geheimnisvolle Frau, Sieglinde, eine deutsche Architektin, die ihn einer zweiten, attraktiven Frau, Mechthild, ebenfalls eine Deutsche, vorstellt. Sie machen ihm ein Angebot: Suttung soll im Auftrag des Immobilienunternehmers Arbogast für den größten Architekten Deutschlands, Hant, eine neuartige Software entwickeln, die die menschliche Konstruktions- und Planungsleistung reproduziert und somit künftig überflüssig macht, um auf dieser theoretischen Grundlage dann Systeme und Roboter zu konstruieren, die einmal in der Lage sein werden, jegliche menschliche Arbeit zu ersetzen. Suttung nimmt das Angebot an und begibt sich auf die Reise nach Deutschland: Er gerät plötzlich in eine andersartige, eine dunkle Welt. Mechthild und Sieglinde machen ihn mit Arbogast bekannt, und endlich trifft er auf Hant, den berühmten Architekten, der ihm in ebenso faszinierenden wie unheimlichen, ausufernden Monologen seine Idee von der Welt und seiner Stellung in ihr mitteilt. Suttung ist begeistert von Hant, dem Monomanen und Perfektionisten, den ein schier unwiderstehliches Charisma umgibt. Warum jedoch verfolgt dieser ruhelose Künstler seine Ziele mit derart grausamer Konsequenz? Und wohin führt sein Genie, seine selbstgerechte und unbeugsame Art, anderen seine Ideen aufzuzwingen, seine maßlos falsche Vorstellung von Größe? Aus Suttungs anfänglicher grenzenloser Bewunderung wächst Zweifel, dann Widerwillen. Er begreift die Ideologie Hants als etwas Monströses und Bedrohliches, das zum Untergang der ihm bekannten Kultur führen würde, wenn er sich nicht selbst zum Handeln entschließt. Sturm führt den Leser ein in die Welt der Architektur und des Geschäfts mit ihr, zeigt den Künstler als Machthaber. Imponierend die Gestalt des größten Architekten aller Zeiten, Hant, der als Destillat eines bestimmten erfolgreichen, vornehmlich deutschen Künstlertypus erscheint. Hants ehrgeiziges und schließlich verzweifeltes und blindes Wüten auf der Erde, das Abreißen und Zerstören des Vorhandenen ist grausam und faszinierend zugleich. Hant repräsentiert das Funktionieren von Macht und den Mißbrauch der - deutschen - Sprache sowie einen bestimmten dunkel-deutschen Trieb. Sturm ist ein Roman über Deutschland und über dessen Vergangenheit: eine deutsche Mentalitätsgeschichte.

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STURM

Suttung ist der Sohn eines berühmten deutschen Kunsthändlers und Enkel eines noch berühmteren deutschen spätimpressionistischen Malers. Er arbeitet als Computerwissenschaftler in den USA. Während eines Kurzurlaubs an der Küste Neuenglands begegnet Suttung zwei geheimnisvollen Frauen, Sieglinde und Mechthild. Beide kommen aus Deutschland. Sie machen ihm ein Angebot: Im Auftrag des Immobilienunternehmers Arbogast für Hant, den größten Architekten Deutschlands, Roboter entwickeln, die die menschliche Arbeitskraft ersetzen.

Suttung nimmt das Angebot an, reist nach Deutschland und gerät plötzlich in eine andersartige, eine dunkle Welt. Er trifft auf Hant, der ihm in faszinierenden Monologen seine Idee von der Welt und seiner Stellung in ihr mitteilt. Suttung ist zunächst begeistert von dem Monomanen und Perfektionisten Hant, den ein schier unwiderstehliches Charisma umgibt. Aber wohin führt sein Genie, seine bedingungslose Menschenverneinung, seine maßlos falsche Vorstellung von Größe?

Sturm zeigt den Künstler als Machthaber, der sich auch die modernen virtuellen Welten zu unterwerfen sucht. Hants ebenso ehrgeiziges wie verzweifeltes Wüten auf der Erde, sein Bauen als Zerstören, ist anziehend und abstoßend zugleich. Hant verkörpert die unbeugsame Macht und den grenzenlosen Missbrauch der deutschen Sprache. Sturm ist ein Roman über Deutschland und über dessen Vergangenheit: eine deutsche Mentalitätsgeschichte.

PRESSESTIMMEN

»Selten hat ein Roman so sehr berichtet, so wenig erzählt. Jede Figur findet das ihr gemäße Ende, jede Parabel geht durch ihre feste Laufbahn, jede Formel wird ausgerechnet, und am Ende gleicht das Ganze einer gigantischen doppelten Buchführung, an deren Ende, so wie es sein muss, die Summe Null steht.«

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

»Sturm ist ein fulminantes Buch über Deutschland, genauer: erzählt vom gegenwartserdrückenden Gewicht seiner Kulturgeschichte. Es ist ein genau gearbeitetes, anspielungsreiches aber transparentes Werk, das sich mit dem wissenden Leser gelegentlich durch ein Kopfnicken verständigt.«

DIE WELT

Ernst-Wilhelm Händler

Sturm

Roman

Die Menschen…

Avner Less

Das unbewegte blaue Meer war nur ein schmaler Streifen zwischen dem weißen Sand und dem Himmel, über den Wolkenschleier zogen. Himmel und Erde konnten sich nicht ähnlich sein. Zu verschieden waren ihre Gewebe. Doch es gab etwas, das sie zusammenführte: das Licht. Es kam nicht von der Sonne hinter den Wolkenschleiern, sondern von überall her. Das Licht ließ die Erde in den Himmel und den Himmel in die Erde übergehen.

Umstrahlt von dem Licht, in dem Himmel und Erde eins wurden, blickte ein Riese auf eine Gruppe von Sommergästen herab, die den sonst völlig menschenleeren Strand belebte. Ein Mann in einem weißen Hemd spannte zwei leichte weiß und ockerfarben gestreifte Sonnenschirme auf, über einer Frau, die einen beigen Regenmantel übergeworfen hatte, und einer zweiten in einem weißen Kostüm, die beiden schienen eine angeregte Unterhaltung zu führen. Neben ihnen streckte sich ein mit einem khakifarbenen Mantel bekleideter Mann in dem glatten Sand aus. Davor hob eine Frau in einem knöchellangen blauen Kleid ein Kind auf ein Schaukelpferd aus dunklem Holz, während eine andere auf den Knien bunte Papierfähnchen um das Pferd herum in den Sand steckte. Unter einem wuchtigen hell- und dunkelgrünen Schirm rückte eine Frau in einer weißen Bluse zwei Liegestühle zurecht. Eingerahmt von den beiden kleineren und dem größeren Schirm, ging eine junge Frau zum Wasser. Sie streckte den linken Arm vor und machte mit dem rechten kurze, aber heftige Bewegungen. Whaddya do that for?

Der Riese lief am Strand von Neuengland genau dort, wo die Grasnarbe begann. Seine Schritte waren ausgreifend, aber nie hastig. Er hatte hellblondes, mittellanges Haar und blaue Augen. Das Zentrum seines Gesichtes befand sich zwischen den Augen, wie bei einem Kleinkind war die Nasenwurzel niedriger als die Stirn. Von diesem Zentrum gingen sternförmig zwei angedeutete Stirnfalten aus, die Augenbrauen, die Wülste über den Augenbrauen, die Augenlider, sie fielen jeweils leicht nach links und rechts ab, die Falten neben der Nase und die senkrechten Linien der Oberlippe.

Bis auf die junge Frau am Wasser trugen alle Strohhüte. Es wehte ein böiger Wind vom Meer landeinwärts, dennoch konnte der Riese nicht hören, daß jemand sprach. Alle drehten sich von ihm weg, nur die junge Frau wandte sich ihm zu. Der Riese lief langsamer, um die junge Frau zu beobachten. Er konnte deutlich gezeichnete Augenbrauen erkennen, die ein ovales Gesicht beherrschten. Ihr halblanges braunes Haar war zurückgekämmt, ihre Ohren schienen ungewöhnlich groß zu sein. Gefiel sie ihm, obwohl oder weil sie so ernsthaft aussah? Je näher er kam, desto höher hob sie die Arme. Weder deutete sie auf etwas vor sich, noch wies sie etwa zu ihm hin. Es sah vielmehr so aus, als zeichne sie auf einem durchsichtigen Blatt, als male sie auf einer unsichtbaren Leinwand.

Der Riese spielte einen Augenblick mit dem Gedanken, zwischen den Schirmen hindurch zum Meer zu gehen. Doch wollte er die Menschen nicht stören. Wieder schneller ausschreitend, kam er an einer großen eingezäunten Wiese vorbei, auf der sich zwei Apfelbäume gegen den stärker werdenden Wind stemmten. Der niedrigere Baum spaltete sich unmittelbar über dem Boden in drei Stämme, die von einer einzigen großen Baumkrone beschirmt wurden. Der höhere gabelte sich in Augenhöhe V-förmig, ein Stamm hatte keine Äste. Die Wiese war frisch gemäht. Auf der vom Meer abgelegenen Seite verdeckten halbhohe Büsche den Zaun.

Er gelangte schließlich zu einer Landzunge, auf der sich ihm ein weißes Haus mit einem roten Dach in den Weg stellte. Jemand hatte einen roten Holzkahn über die Wiese vor die Eingangstür geschleift. Hinter dem Haus nahmen ihm die Segel eines an Land vertäuten Bootes die Sicht auf die Küste. An der Landzunge hatte das Meer den Sandstrand weggespült. Er mußte entweder unmittelbar am Wasser entlanggehen oder die Landzunge queren. Der rote Holzkahn wippte auf dem Kiel hin und her. Die Segel des Bootes hinter der Landzunge blähten sich lautlos im Wind.

Der Riese beschloß umzukehren. Auf dem Rückmarsch kam er an einer Siedlung vorbei, die er zuvor gar nicht wahrgenommen hatte. Mehrere aneinandergeschmiegte Häuser waren an einen Feldweg gebaut, der am Strand endete. Nur die Schmalseite des letzten Hauses mit zwei kleinen Fenstern zeigte zum Meer. Der Wind ließ die Büsche vor den Häusern und den Scheunen auf der anderen Seite des Feldweges sich landeinwärts neigen. Drei Wolken hingen wie Degen über den Häusern.

Als der Riese sich wieder der Gruppe am Meer näherte, achtete er darauf, seine Schritte nicht zu beschleunigen und nicht zu verlangsamen. In den klobigen Liegestühlen umwickelten ein jüngerer Mann und eine ältere Frau einander mit Wolldecken. Obwohl der Schirm seinen Schatten auf die Liegestühle warf, hatte das Paar die Sonnenschutzdächer aufgespannt. Die Liegestühle selbst waren hell- und dunkelbraun, die Sonnenschutzdächer weiß und blau gestreift.

Die junge Frau, die die Aufmerksamkeit des Riesen aus Deutschland erregt hatte, stand mit hochgekrempelten Hosen fast bis zu den Knien im Wasser. Sie trug Blue jeans und darüber ein weites weißes T-shirt, das im Wind flatterte und von einzelnen Windstößen immer wieder hochgehoben wurde. Während der Riese die Frau im Meer betrachtete und während die Frau im Meer den Riesen betrachtete, verspürte er den Antrieb, selbst den rechten Arm hochzuheben, damit sie seinen Verband sehen konnte. Als Entschuldigung dafür, daß er hier am Strand war, und als Versicherung, von ihm würde keine wie auch immer geartete Anmaßung ausgehen.

Ohne weiteren Menschen zu begegnen, erreichte er den Hafen des Ortes. Die Hafengebäude, ein dreistöckiges weißes Steinhaus mit einem steilen Satteldach und ein vierstöckiges, ebenfalls gemauertes rotes Haus mit einem Flachdach, hatten nur sehr kleine und sehr schmale Fenster. Eine Lehmpiste bildete die Zufahrt zur Pier. Im Vergleich zu den Baracken unmittelbar am Meer und zu den anderen Häusern des Ortes wirkten die beiden Hafengebäude sehr groß. Auf dem weißen ragte ein einziger viereckiger Schornstein unmittelbar neben dem Dachfirst hoch und schmal in den Himmel. Die beiden Schornsteine des roten Hauses, auf der der Pier zugewandten und jetzt von der Sonne beschienenen Seite, waren dagegen so niedrig, daß man sie von unten kaum ausmachen konnte. Aus dem Fenster seines Büros in Manhattan blickte Suttung auf eine ganze Serie von Kaminen: Unmittelbar vor dem Fenster war auf dem abschüssigen Dach des angrenzenden älteren und flacheren Gebäudes zuerst ein pyramidenförmiges Oberlicht angebracht, dahinter ein runder Luftauslaß aus Eisen, gefolgt von einem weiteren Oberlicht, dann kamen zwei aus Ziegelsteinen gemauerte Kamine, der eine dreieckig, der andere rechteckig, zwei verschieden hohe eckige eiserne Luftauslässe nebeneinander sowie zuletzt ein ungeheuer breiter Schornstein mit Aufsätzen wie Orgelpfeifen.

Ein Stützverband umschloß seine rechte Hand bis zu den Fingerspitzen und den Unterarm bis zum Ellenbogen. Er beugte und streckte den rechten Arm, den er kaum mehr spürte. Suttung war bei einem Computerunternehmen angestellt, zu dessen Erzeugnissen sowohl Hard- wie Software gehörten. Er hatte sich beim Basketball einen Haarriß im rechten Handgelenk zugezogen. Die Verletzung behinderte ihn weniger, als er zunächst befürchtet hatte. Es kostete ihn zwar beträchtliche Mühe, die Hand so nach unten zu drehen, daß sie sich flach über der Tastatur befand, aber er brachte es fertig.

Er ließ sich auf dem Rand der mit Baumstämmen befestigten Pier nieder, legte den rechten Arm auf das rechte Knie und massierte mit der gesunden die Fingerspitzen der verbundenen Hand und die Muskeln des Oberarmes. Suttungs Vater hatte immer erzählt, sein Sohn lerne lächerlich leicht und schieße in den naturwissenschaftlichen Fächern und in Mathematik der Klasse voraus. Wenn es um seine, Suttungs, Begabung und Neigung ging, wurde sein Vater spöttisch. Das mathematische Denken fiel Suttung tatsächlich so leicht wie seinem Vater die Einfühlung in die Welten der Maler, mit deren Bildern er handelte. Er hatte auch erzählt, sein Sohn lese unendlich viel. Suttung las keineswegs viel, jedoch sehr gründlich naturwissenschaftliche und mathematische Fachbücher. In ihm bildete sich die Einsicht heraus, die Erziehung auf den deutschen Schulen sei zu sehr auf die Anhäufung von reinem Wissen und zu wenig auf die Entwicklung von Können gerichtet. Er aber wollte den Sinn der Mathematik und der Naturwissenschaften begreifen. So beschloß er, Mathematiker zu werden und zum Studium in die Vereinigten Staaten zu gehen. Er erwarb am MIT den Bachelor und in Princeton den Master und den PhD. In seiner Freizeit spielte er in einer Basketballmannschaft der Columbia University. Er war jetzt vierzig. Er dachte niemals daran, nach Deutschland zurückzukehren.

Allen, nur sich selbst nicht, galt er als ein großer Schweiger. Doch er fühlte sich nie einsam. Immer war jemand um ihn. Wie die Frau in dem hell erleuchteten Fenster gegenüber seinem Apartment in der Nähe des Washington Square. Er blickte auf ein Eckhaus, das zusammen mit dem Haus, in dem er wohnte, um die Jahrhundertwende errichtet worden war. Die Mehrzahl der Wohnungen blieb stets dunkel. Lediglich in einem Eckzimmer brannte abends regelmäßig Licht. Wenn das Rouleau des mittleren Fensters in der runden Stirnseite des Gebäudes hochgezogen wurde und sich die Vorhänge öffneten, spiegelte sich das Licht aus dem Raum auf dem Sims davor wider. Die Rouleaus der beiden äußeren Fenster, die jeweils auf die sich kreuzenden Straßen hinausgingen, waren ständig halb heruntergelassen, die Vorhänge zugezogen. Neben dem rechten Fenster mußte es ein Möbel, einen Schrank oder eine Anrichte, geben, welches das austretende Licht schluckte, aus dem linken Fenster wehte manchmal der Vorhang heraus. Suttung konnte im Ausschnitt des mittleren Fensters einen grünen Teppich, eine kahle gelbe Wand, die Ecke eines Sofas oder eines Bettes sowie einen niedrigen braunen Heizkörper erkennen, ähnlich dem in seinem Apartment, und eine Frau, die immer den gleichen rosafarbenen Unterrock trug. Nie konnte er ihr Gesicht sehen. Er wußte nicht einmal, ob sie jung oder alt war. Suttung nahm nur dann Anteil an anderen Menschen, wenn sie auf irgendeine Weise für ihn herausgestellt wurden. Wenn ein Umstand einen Menschen heraushob, wie die Frau in dem Ausschnitt, der von dem hell erleuchteten Fenster gegenüber gebildet wurde. Wenn man ihm die Mühe, sich für den Menschen zu entscheiden, abnahm.

Er hatte kein Buch, keine Zeitschrift und nicht einmal sein Notebook nach Neuengland mitgenommen. Je länger er sich in dem kleinen Ort am Meer aufhielt, desto deutlicher wurde ihm, daß seine Verletzung nur einen Vorwand für seine Reise bildete. Er hatte sich gegen die Einsicht gewehrt, doch konnte er sich nicht länger gegen sie sperren: Nach dem letzten Besuch des Chief Financial Officers wollte er nicht mehr in seinem kleinen Büro unmittelbar über den Oberlichtern und den Kaminen sein.

Suttungs Aufgabe bestand darin, eine neuartige Steuerung für Roboter zu entwickeln. Der CFO stammte ebenfalls aus Deutschland, Mathematiker wie Suttung, jedoch zehn Jahre älter, hatte er früher den Stab geleitet, dem Suttung angehörte. Sein unglaublicher Aufstieg hatte damit begonnen, daß man ihn mit dem Aufbau einer neuen Kostenrechnung betraute. Der CFO war, im Gegensatz zu Suttung, ein Tatmensch. Wie konnte er jemals etwas anderes gewesen sein. Die Herkunft aus dem Stab verlieh ihm eine Aura des Romantischen, um so mehr, als er sich damit brüstete, gerade diese Tätigkeit habe die beste Vorbereitung auf seine späteren Aufgaben dargestellt. Breit und massig, war er auf gewinnende Weise unverschämt, ein aparter Gegensatz zu dem düsteren und unzugänglichen Chief Executive Officer. Er besuchte Suttung regelmäßig in seinem Büro, und er ging mit ihm ins Theater und in die Oper.

Zuerst hatte der CFO sich die Verantwortung für das Personalwesen gesichert. Er durchkämmte alle Gliederungen des Unternehmens und strich rücksichtslos jede Stelle, die nicht in die Ertragsrechnung paßte. Wobei er den Stab, in dem Suttung arbeitete und dem er selbst vorgestanden hatte, nicht nur verschonte, sondern sogar mit regelmäßigen Steigerungen des Budgets bedachte. Er brauchte keine Consultants zu bezahlen, er hatte sich eine Gruppe von jungen Leuten herangezogen, die die Berechnungen durchführte, welche seinen Maßnahmen zugrunde lagen. Er wütete. Er war heimtückisch und eitel. Seine Götter hießen Neutron-Jack und Chainsaw-Al. Das Wall Street Journal und die Financial Times feierten ihn als Sanierer. Seine Gegenspieler aus Controlling und Treasury trauten ihm die bedenkenlose Unbarmherzigkeit, deren Opfer sie wurden, bis zuletzt nicht zu. Man ernannte ihn schließlich zum CFO. Er war die Eiserne Hand. Der Zweite Mann, jedoch tatsächlich derjenige, der das Unternehmen auf den Weg des Profits zurückbrachte. Es hatte nichts, überhaupt nichts mit den Erzeugnissen oder mit dem Marketing des Unternehmens zu tun. Er prahlte damit, daß er die Rechner des Unternehmens nicht von den Erzeugnissen der Wettbewerber unterscheiden konnte. Er scheute nicht davor zurück zu erzählen, für Euro-Trash habe er es doch weit gebracht. Mit dem gleichen Kraftaufwand, mit dem er sie erreicht hatte, genoß er auch seine Stellung. Er besaß eine Wohnung mit unglaublich vielen Zimmern und Blick auf den Central Park, in der er ständig Feste veranstaltete. Er wohnte zwischen Möbeln von Frank Lloyd Wright und Lampen von Tiffany. Er, der Deutsche, baute eine der bedeutendsten American-Arts-and-Crafts-Sammlungen auf.

Nur Suttung wußte, daß der Tatmensch auch dazu fähig war zu leiden. Niemandem außer Suttung erzählte er, daß er nach Besprechungen mit dem CEO bis weit nach Mitternacht nichts essen konnte oder daß er nach Sitzungen des Boards Stunden unbeweglich auf seinem Stuhl verharrte. Einmal wurde der Anruf eines wichtigen Boardmitgliedes in Suttungs Büro durchgestellt. Der CFO nahm, während er mit dem Boardmitglied sprach, regelrecht Haltung an. Der Eindruck, den seine Unterwürfigkeit bei Suttung hervorrief, entging ihm nicht. Zur Ablenkung machte er sich über die Einrichtung von Suttungs Büro lustig. Sein Schreibtisch sei so klein, daß ausnahmslos alle seine Körperteile über das Möbel hinausragten. Suttung hatte erwidert, er würde den Holzschreibtisch niemals auswechseln, ebensowenig den mannshohen Karteischrank aus Blech, der alle seine Aufzeichnungen enthielt, oder die niedrige grüne Kontorlampe, die gerade eine Zeitschriften- oder Buchseite ausleuchtete, und auch nicht die alte Schreibmaschine, die er nie benutzte.

Niemand außer Suttung wußte im Unternehmen von der Medikamentenabhängigkeit des CFO. Während ihrer gemeinsamen Zeit im Stab hatte der CFO sich bei einem Skiunfall einen Wirbel gebrochen. Die Verletzung bereitete ihm auch nach der Heilung ständige Schmerzen. Solange er wütete, benötigte er keine hohe Dosis an Schmerzmitteln. Als er sich in der Unternehmensspitze eingerichtet hatte, stieg sein Verbrauch steil an. Der Rang selbst schien ihm immer weniger zu bedeuten, die Insignien jedoch um so mehr. Der CFO suchte Suttung auf, um ihm vorzuführen, daß er immer noch derselbe war wie früher, und um sich zugleich zu vergewissern, daß er tatsächlich das war, was er geworden war. Der CFO nahm keinen Einfluß auf Suttungs Laufbahn. Er hätte Suttung fast jede Stellung in dem großen Computerunternehmen verschaffen können, aber er hatte Suttung auf eine mögliche Veränderung nie auch nur angesprochen. Bis zu seinem letzten Besuch.

Der CFO kam gerade vom Schneider und vom Friseur, nach ihrem Gespräch würde er eine Vorbesichtigung bei Sotheby’s und am Abend einen Empfang der Vogue-Chefredakteurin besuchen. Er hatte sich für diesen Empfang einen Anzug machen lassen, der den berühmten weißen Anzügen von Tom Wolfe glich. Er trug ein gestreiftes Hemd, dessen Kragen bis zum Adamsapfel hinauf reichte, und zweifarbige Schuhe, er hoffte, daß Tom Wolfe ebenfalls bei dem Empfang anwesend sein und man sie zusammen photographieren würde. Er scherzte, wie oft wohl die Projektion von Tom Wolfe in seine Projektion hineinpaßte, und bot Suttung eine führende Stellung in der Marketingabteilung des Unternehmens an. Suttung nahm das Angebot des CFO ernst.

Vor dem Empfang hatte der CFO noch eine Verabredung mit einem Antiquitätenhändler, es ging um ein besonders seltenes L&G-Stickley-Möbel. Der CFO förderte über das Unternehmen großzügig mehrere Museen, deren Kuratoren berieten ihn dann auch bei seinen eigenen Ankäufen. Seine Sammlung hatte solche Ausmaße angenommen, daß der Gedanke nahelag, er habe sie durch Kickbacks finanziert. Suttung empfand die völlige Abwesenheit ethischer Erwägungen bei allen Entscheidungen des CFO nicht als abstoßend, er nahm sie hin wie ein unwillkommenes Korollar eines lange bekannten Satzes. Er hatte sich über das Wüten des CFO nie empört. Den Stab, in dem er arbeitete, konnte es nur geben, wenn das Unternehmen Gewinne machte. Er hatte den CFO einmal gefragt, ob er kein Gewissen habe. Der CFO hatte geantwortet, sein Gewissen seien die Beschlüsse des Boards.

Suttung äußerte sich zu dem überraschenden Angebot mit keinem Wort. Der CFO riet ihm wieder zu einem neuen Schreibtisch. Suttung hatte tatsächlich überlegt, wie bequem es wäre, statt an dem alten Schreibtisch an einer großen Arbeitsplatte zu sitzen, auf der alle Bildschirme, alle Tastaturen, alle Zeitschriften und alle Bücher, die er für seine Arbeit benötigte, Platz fänden. Aber der alte Schreibtisch gehörte zu dem kleinen, hohen Raum wie die von Stuckleisten eingerahmten großen Sprossenfenster und die Holzverkleidung mit den Milchglasscheiben im Eingangsbereich. Wenn er seinen Schreibtisch durch eine Arbeitsplatte ersetzen würde, wäre er gezwungen, auch den zweiten alten Schreibtisch zu entfernen, den er jetzt als Ablagefläche benutzte. Dann müßten der rotbraune Bugholzstuhl neben der Eingangstür und der dunkelbraun gebeizte Schirmständer ebenfalls zweckdienlicheren Einrichtungsgegenständen weichen. Dann wäre es gar nicht mehr notwendig, Blätter auf dem Boden auszubreiten.

Der CFO kam nicht auf sein Angebot zurück. Seine Gabe, wie ein besonders entschlossenes und schlaues Leittier unablässig seine Herde zu umkreisen, schien unbeeinträchtigt. Auch wenn er diese Fähigkeit sonst nur noch selten anwandte, jetzt übte er sie in einer Art spielerischer Rückerinnerung, in einer Weise gestellter Vergegenwärtigung dessen aus, was er einmal war. Außer Suttung gab es niemanden mehr im Unternehmen, der den CFO in seiner Anfangszeit aus der Nähe gekannt hatte. Der CFO wollte ihm zeigen, daß das Wüten, dem er seinen Aufstieg verdankte, nicht Grund und nicht Ziel seines Wesens darstellte. Während der Unterhaltung vermutete Suttung, der CFO spreche nur deshalb über einen neuen Schreibtisch, weil er davon ausging, daß Suttung sein Angebot nicht annehmen würde. Später fragte sich Suttung, ob der CFO den neuen Schreibtisch nicht in der Absicht ins Spiel gebracht hatte, einen Denkvorgang auszulösen, an dessen Ende er eher gewillt wäre, eine neue Tätigkeit in einer anderen Abteilung des Computerunternehmens aufzunehmen, als bei seiner alten Tätigkeit den Schreibtisch zu wechseln.

Am Abend desselben Tages hatte Suttung sich beim Basketball die Hand verletzt. Nach einer unruhig verbrachten Nacht, in der die Schmerzen in seinem rechten Handgelenk beharrlich zunahmen, fuhr er morgens in die Ambulanz einer nahen Klinik. Nachmittags hatte er dann, mit leichtem Gepäck ausgerüstet und trotz der Schmerzen im Arm so gelöst wie lange nicht, den Zug nach Neuengland genommen.

Der Pfad, der von den Klippen zu dem L-förmigen weißen Holzhaus mit dem rotgestrichenen Sockel und dem grauen Schieferdach inmitten der verdorrten Wiese führte, schien wie mit dem Lineal gezogen. In den zwei Fenstern zu ebener Erde des langen Schenkels spiegelte sich das gelbe Gras, in den drei Dachgauben der wolkenlose blaue Himmel. Das Fenster in der Mitte der Stirnseite des kurzen Schenkels war hochgeschoben, die Eingangstür nahe der Beuge im langen Schenkel des L, wie die beiden anderen Fenster genau unter einer Dachgaube, weit geöffnet. Es wehte kein Luftzug. Trotzdem konnte Suttung das Meer nicht hören.

Suttung hatte die junge Frau vom Strand in der einzigen Bar des Ortes getroffen. Sie war eine Deutsche und hieß Sieglinde. Sie hatte ihm sofort erzählt, sie sei Architektin, und unverzüglich begonnen, ihm zu erklären, warum sie Architektur studiert hatte und welche Art von Architektur sie schaffen wollte. Die junge Frau war wirklich sehr ernsthaft. Sie kam jedoch nicht weit mit ihrem Vortrag, denn das Footballspiel auf dem Bildschirm wurde auf einmal spannend, der Bartender stellte den Ton lauter und die anderen Gäste feuerten die Mannschaften an, so daß ein Gespräch unmöglich wurde. Sie hatte ihm beschrieben, wo sie wohnte, und ihn eingeladen, am nächsten Tag auf einen Drink vorbeizukommen. Die junge Frau erwartete ihn im dunklen Flur des Hauses. Sie fuhr mit der linken Hand durch ihre Haare und hielt die rechte an die Stirn. Suttungs Augen waren noch an das helle Sonnenlicht gewöhnt, dennoch konnte er sehen, daß sie ihn anlächelte.

Die Einrichtung des Hauses verriet nicht, ob es ganzjährig bewohnt wurde oder ob es lediglich als Ferienhaus diente. Das Aquarell über dem hellbraunen Sofa im Aufenthaltsraum zu ebener Erde zeigte eine Hügellandschaft mit Wiesen genauso gelb wie das Gras um das Haus. Ein Telephonmast mit sechs Querstreben nahm rechts von der Bildmitte fast zwei Drittel der Bildhöhe ein. Links von der Mitte ragten zwei weitere Telephonmasten in das Bild hinein, von dem vorderen waren gar keine Querstreben mehr zu sehen, von dem hinteren lediglich zwei. In einer Senke, vor einem stillen Fluß oder einem See, konnte man einen spitzen Dachgiebel erkennen. Dunkle, eher blaue als grüne Büsche bedeckten den Hügelkamm im Hintergrund.

Als die junge Frau sah, daß das Bild Suttungs Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, ging sie zu dem Fenster neben dem Sofa und zog die Vorhänge auf. Die verdorrte Wiese grenzte an einen Wald an. Die kugelförmigen Baumkronen über den schmalen und niedrigen Stämmen trugen außergewöhnlich viele Blätter. Zwischen den annähernd gleich großen Bäumen lagerte ein schwarzes, undurchdringliches Dunkel. Über der fast geraden Linie der dunklen Baumwipfel leuchtete jäh der blaue Himmel.

– Ich will die Anziehungskraft der Erde überwinden. Erst wenn ich die Anziehungskraft der Erde besiegt habe, bin ich wirklich frei! Alles Körperliche ist ein Schrecken …. Ah, ich will im Weltall meine Bahnen ziehen! Allein zwischen Sonnen und Planeten… das Bild eines Gegenstandes, den ich aus dem Weltall sehe, ist tief, – das Bild eines Gegenstandes, den ich aus dem Weltall sehe, ist unendlich, – das Bild eines Gegenstandes, den ich aus dem Weltall sehe, ist unbekannt, – das Bild eines Gegenstandes, den ich aus dem Weltall sehe, ist geistig, – das Bild eines Gegenstandes, den ich aus dem Weltall sehe, ist historisch, – die Farben des Gegenstandes, den ich aus dem Weltall sehe, sind theoretisch, – die Farben des Gegenstandes, den ich aus dem Weltall sehe, sind die absolute, feierliche Wahrheit!

Ummm –

Sieglinde hockte sich vor dem Sofa auf den Boden, schlug die Beine übereinander und lehnte das Kinn auf die waagerecht übereinandergelegten Hände. Ihre Lippen glänzten dunkelrot. Ihre Augen waren blau wie die Suttungs.

– Ein Würfel aus Stein und Glas. Das Gebäude darf keinerlei Verzierungen aufweisen! Der Haupteingang ist verschlossen, alle Menschen, die in das Gebäude hineinwollen, werden durch einen Nebeneingang eingelassen. Nur zu bestimmten Zeiten und nur in bestimmten Gruppen. In dem Gebäude gibt es nur eine einzige Farbe! Alle Wände und Decken, alle Böden, alle Fenster und alle Einrichtungsgegenstände haben dieselbe Farbe. Wenn jemand in dem Gebäude etwas trinken will, bekommt er eine farblose Flüssigkeit …. In der Flüssigkeit sollte sich nur die Farbe abbilden, die ich dem Inneren des Gebäudes geben wollte. Die erste Farbe war Grün. Die zweite Farbe war Blau. Die dritte Farbe war Ocker. Die vierte Farbe war ein helles Rot. Ich ließ die Wände und Decken spachteln, damit sich überall glatte Oberflächen ergaben und die Farben in einem hohen Glanzgrad aufgebracht werden konnten, und ich wählte die Einrichtungsgegenstände so aus, daß sie ebenfalls möglichst glatte Oberflächen besaßen. Ich versuchte es mit einem dunklen Blau, mit einem dunklen Ocker und mit Gelb, und ich ging von den glatten Oberflächen und den hohen Glanzgraden ab, ich ordnete an, das Blau und den Ocker körnig aufzutragen, das Gelb derart, daß Risse auftraten, und ich suchte für die Einrichtung des Gebäudes wieder Gegenstände aus, die ähnliche Oberflächeneigenschaften besaßen. Ich ließ die Wände schwarz streichen, nicht von einer Fachfirma, sondern von ungelernten Hilfskräften, so daß man alle Spuren des Streichvorganges sah, und ich verwendete Möbel aus unbehandeltem Metall eines berühmten österreichischen Bildhauers, – ich dachte, ein Orangeton sei die Lösung, – ich machte Experimente mit Mischfarben, über die ich nicht sprechen will, – ich ließ den Putz abschlagen und ein Signalrot auf die unbehandelten Mauern auftragen, – ich ließ die Wände erneut verputzen und hellgrün streichen, – ich versuchte es mit einem dunklen Rot und mit Rosa, um wieder zu Blau zurückzukehren …. – Als Eingeständnis meines Versagens habe ich schließlich vor dem Eingang einen blauen Baldachin angebracht. Ich habe das Gebäude nicht zu Ende gebaut. Der letzte Bauabschnitt war der blaue Baldachin.

In all den Jahren hatte nur der CFO mit Suttung deutsch gesprochen, Suttung hatte sonst nie die deutsche Sprache gehört. Während Sieglinde sprach, schloß Suttung die Augen, und er öffnete sie auch nicht, als Sieglinde geendet hatte. Er merkte gar nicht, daß sie den Raum verließ. Nach einiger Zeit rief sie aus der Küche nach ihm, wo sie zwei Drinks zubereitete. Sie fragte ihn nach seiner Hand, und er schilderte ihr, wie er bei einem Dunking gegen den Korb geschlagen hatte. Sie fragte ihn auch nach seiner Arbeit. Er erzählte ihr bereitwillig, daß er sich eine einfache Steuerung für einen Roboter ausgedacht hatte, die auf zellulären Automaten aufbaute. Er entwickelte sie weiter, indem er die Werkzeugarme der zellulären Automaten menschlichen Armen und Händen anglich. Seine Steuerung besaß schließlich auch anspruchsvollere Anwendungen. Von einem bestimmten Punkt an führten die zellulären Automaten wieder vom Menschen weg. Sie erledigten immer schwierigere Aufgaben, wurden dabei jedoch menschlichen Armen und Händen ständig unähnlicher. Wie die zellulären Automaten ihre Anschaulichkeit verloren, erschienen in Suttungs Träumen zunehmend Arme und Hände. Er wußte danach nie, ob er von Menschenarmen und Menschenhänden oder von Werkzeugarmen geträumt hatte. Sieglinde sagte Suttung auf den Kopf zu, daß er diese Träume in Neuengland nicht mehr hatte.

Suttung paßte in die roten Schalenstühle aus Kunststoff mit den grünen Stuhlbeinen und den gelben Gleitern nicht hinein. Sieglinde stellte den rechten Fuß auf ihren Stuhl und verschränkte die Hände über dem Fuß. Sie trug nur ein Paar weiße Boxershorts und ein übergroßes hellgraues T-shirt. Ihre Oberarme wirkten unter den geraden Schultern auffällig schmal, sie hatte ungewöhnlich schlanke Oberschenkel.

– Nachdem ich das Bürogebäude nicht zu Ende bauen konnte, habe ich immaterielle Gebäude geplant. Welchen Unterschied macht es, ob ein Entwurf ausgeführt wird oder ob er nicht ausgeführt wird… ? Wenn man jederzeit bauen kann, warum muß man dann noch bauen… ? Ich habe nicht nur Zeichnungen angefertigt und Baubeschreibungen erstellt! Ich habe Orte ausgewählt, an denen die immateriellen Gebäude stehen sollten, ich habe mit möglichen Nutzern der immateriellen Gebäude verhandelt, und ich vergab Aufträge für die Errichtung der immateriellen Gebäude. Ich habe Anteilsscheine aufgelegt und meine Freunde und Bekannten haben Anteile an den immateriellen Gebäuden gekauft. Sie haben für die Anteilsscheine bezahlt! – Ich ging als junge Architektin zu dem berühmtesten Architekten Deutschlands, weil ich glaubte, an großen Vorhaben mitwirken, große Dinge verwirklichen zu können. Ich war früher sicher. Ich hatte keine Schwierigkeiten, mich zu entscheiden. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, einen Baldachin an ein Gebäude anzubringen. Es ist alles ein Irrweg gewesen, der Baldachin, die Oberflächen, die Farbe… das Gebäude… alle anderen Gebäude. – Das Leben gehört den Menschen nicht. Man muß das Leben kaufen! Die einzige Währung, die der Mensch anhäufen kann, ist Empfindsamkeit! Man muß alles tun, um der Phantasie freien Lauf zu lassen. Denn die Quelle der Empfindsamkeit ist die Phantasie.

Immer Suttung anblickend, stieg sie in einen ärmellosen schwarzen Overall mit über den Knöcheln gerafften Hosenbeinen und streifte dicke hellgrüne Socken über. Während sie die breiten Riemen ihrer schwarzen Sandalen schloß, sagte sie, die Empfindsamkeit, mit der man sich das Leben erkaufe, sei nicht an den Menschen gebunden, die Empfindsamkeit sei in der Welt, es gehe darum, Orte zu finden, wo es mehr Empfindsamkeit gebe als an anderen, an diesen Orten könne man das Leben leichter erwerben, sie suche die Empfindsamkeit in der Welt und sie teile die Welt entsprechend ein –

Whew!

Am nächsten Tag wachte Suttung sehr früh auf. Schon im Morgengrauen begab er sich zum Meer. An der Stelle, an der er Sieglinde das erste Mal gesehen hatte, konnte er die Abdrücke der Sonnenschirme und der Liegestühle im Sand noch deutlich erkennen.

Es ging Suttung nie darum, mit seinen im Wettbewerb stehende Ansätze zu widerlegen. Auch angesichts offensichtlichster, unversöhnlichster Widersprüche zwischen dem, was ein anderer vertrat, und dem, was er selbst gerade vorgebracht hatte, versuchte er immer, zwischen dem anderen und sich zu vermitteln, als ob er selber ein wohlwollender, jedoch unbeteiligter Dritter wäre. Suttung sagte, I want to discover a new way of seeing, und ließ alles andere weiter gelten. Er sagte, I want to discover something else, und er brauchte die anderen nicht zu überzeugen, die Dinge so zu sehen, wie er sie sah. Suttung wußte nicht, was Sieglinde von ihm erwartete, und er konnte nicht sagen, was er von ihr erwartete. Er ahnte jedoch, Sieglinde würde ihn dazu bringen, Dinge zu tun, die er niemals vorher in Erwägung gezogen hatte.

Der aus dem schmalen, im gleichen Rot wie der Sockel des Hauses angemalte Schornstein aufsteigende Rauch strebte danach, den tiefhängenden grauen Wolken so ähnlich wie möglich zu werden. Sieglinde hatte die Tür und alle Fenster geöffnet. Es war völlig windstill, dennoch wehte ein leichter Luftzug durch das Haus. Suttung hatte die Empfindung, als erzeuge die zwischen den ockerfarbenen, grünen, roten und gelben Kissen auf dem Sofa ausgestreckte Sieglinde den Luftzug, indem sie mit ihrem Gesicht, mit ihren Armen, mit ihren Beinen atmete.

Sieglinde hatte mit dem besten Bauleiter des Architekturbüros zusammengearbeitet. Sie beschrieb Suttung ein schlankes Gesicht mit einem ausgeprägten Kinn und einer schmalen Nase unter einer hohen Nasenwurzel, mit tiefliegenden, stahlblauen Augen und hellblondem, aber weichem Haar. Das schlanke Gesicht machte ihn größer und ließ ihn trotz einer leichten Neigung zur Korpulenz sportlich erscheinen. Er verkörperte die Überzeugung von der Allmacht des technischen Denkens. Die Bauaufgabe, die nicht ausgeführt werden konnte, gab es für ihn nicht. Er ging mit den Menschen nicht anders um als mit technischen und geschmacklichen Parametern. Sein Auftreten entsprach dem Musterbild des deutschen Architekten. Missoni-Jacke, Hornbrille und dunkle Hemden. Er lebte das Klischee in einer riesigen, mit allem Komfort versehenen Jugendstilwohnung. Weiße Wände, Parkett, Marmor und neue deutsche Kunst. Obwohl er sich gab, als sei er sich seiner Sache so sicher, wie das irgendeinem Menschen möglich sein konnte, war er eine verlorene Seele. Die zur Schau getragene Gefühlskälte verbarg eine Existenz, die bereits mit sich abgeschlossen hatte. Denn hinter der Fassade war alles entschieden: Er, das Musterbild des Architekten, war kein Akademiker. Er hatte nicht einmal das Abitur. Er war Maurerpolier und hatte sich alles andere selbst beigebracht. Es gab nichts, was ihm ein Architekt oder ein Bauingenieur wirklich voraushaben könnte. So setzte er unter anderem seinen Ehrgeiz darein, statische Berechnungen selber zu überprüfen. Sein Vater war ebenfalls Polier. Der Sohn wurde auf der Grundschule Klassenbester, und die Lehrer und der Pfarrer verwendeten sich für ihn. Doch der Vater führte an seinem Sohn weiter, was man ihm selbst zugefügt hatte. Außer seinem Vorgesetzten und ein oder zwei anderen wußte niemand, daß er weder Architekt noch Ingenieur war. Sieglinde kannte als einzige nachrangige Angestellte die Wahrheit. Weil ihm dieser Makel anhaftete, war er ein um so wertvollerer Mitarbeiter. Er mußte dem ersten Architekten Deutschlands ewig dafür dankbar sein, daß er ihn aufgenommen hatte. Sieglinde sagte ihm immer wieder, er habe doch alles erreicht, was man erreichen könne, da sei kein Unterschied zwischen dem, was er machte, und dem, was jemand tat, der die Ausbildung und das Herkommen hatte. Ihr Zuspruch tat ihm im Augenblick wohl. Aber sie konnte ihm auf die Dauer nicht helfen. Er war unfähig, innezuhalten und abzuwägen. Gegen alle Vernunft glaubte er, wenn er das Herkommen und die Ausbildung gehabt hätte, gäbe es einen Punkt für ihn, von dem aus er die Welt beobachten könnte, ohne in ihr Getriebe einzugreifen. Er schlief wenig und trank viel. Er spielte sehr gut Klavier. Wenn er eine neue Baustelle übernahm, suchte er als erstes den besten Jazzclub am Ort auf. Dort spielte er dann die Nächte durch. Dennoch traf er am Morgen als erster auf der Baustelle ein.

Suttung fragte sie, ob sie in den Bauleiter verliebt gewesen sei. Überrascht von seiner Frage, drehte sie sich um, richtete sich auf und kniete sich auf dem Sofa hin. Sie streckte die Arme senkrecht in die Höhe, legte die Handflächen aneinander und antwortete, das Gesicht zur Seite wendend, selbstverständlich sei sie in ihn verliebt gewesen. Suttung fragte nach, in welche Seite seines Wesens sie sich verliebt hatte. Sie erklärte, er sei so natürlich überlegen gewesen. Sie fügte leise hinzu, sie habe sicher auch geglaubt, eine Beziehung zu ihm könne ihrer Karriere nützen, sie habe von ihm lernen wollen. Suttung fragte weiter, ob der Bauleiter ein guter Liebhaber gewesen sei. Sie antwortete, er sei ein sehr guter Liebhaber gewesen. Suttung erzählte ihr von dem CFO des großen Computerunternehmens, in dem er arbeitete. Sieglinde fragte Suttung, ob er mit dem CFO in ihrer gemeinsamen Anfangszeit oder später geschlafen habe. Er verneinte lächelnd, denn er fand die Frage berechtigt. Ein Vertrauter oder eine Vertraute des CFO, dem er von ihm, Suttung, erzählte, mochte dieselbe Frage stellen. Welche Wirkung hätte die Frage wohl auf den CFO? Suttung glaubte, der CFO würde sich in seinem Männlichkeitswahn geschmeichelt fühlen, wenn jemand vermutete, daß seine Männlichkeit auch diese Seite besaß.

Der Ehrgeiz des Bauleiters griff so hoch, wie seine Vernichtungsangst tief wurzelte. Sieglinde erzählte von einem Abend, den sie zusammen in einem Jazzclub einer deutschen Kleinstadt verbracht hatten. Er ging nicht für sie auf die Bühne. Sondern für zwei Frauen mit langen blonden Haaren, die er danach an ihren Tisch einlud. Sieglinde wußte, die beiden würden sein Programm für die nächste Woche sein. Sie lachte und stieß mit den beiden Frauen sogar noch an. Später, im Hotel, schlief er mit ihr, als ob nichts gewesen wäre. Während er duschte, suchte sie in seiner Aktentasche nach Plänen. Dabei stieß sie auf mehrere dünne Aktenordner mit handschriftlichen Aufzeichnungen. In diesen Aufzeichnungen, sie konnte sie nur überfliegen, waren Fehler von anderen Mitarbeitern des Büros festgehalten, die zu Beanstandungen der Bauherren führen konnten. Es ging auch um Baustellen, mit denen der Bauleiter überhaupt nichts zu tun hatte. Er mußte ein Netz von Zuträgern aufgebaut haben, die ihn mit Nachrichten versorgten. Sie hielt einen der Aktenordner in der Hand, als er aus dem Bad zurückkam. Sie versuchte nicht, den Ordner zu verbergen. Sie fragte ihn nichts, und er fragte sie nichts.

Sie nahm die Arme herunter und setzte sich zunächst auf die Sofakante. Dann ließ sie sich nach hinten fallen. Sie breitete die Arme aus und streckte die Unterarme hoch, die Finger der rechten Hand spreizte sie, die linke Hand ballte sie zur Faust. Sie trug ein ärmelloses weißes Unterhemd. Suttung fand ihre völlig geraden Schultern angenehm. Der Bauleiter war zutiefst davon überzeugt, daß alle Menschen ebenso ehrgeizig wie feige seien. Wenn er die hinterhältigsten Mittel als erster erwog und wenn er grundsätzlich die verschlungensten Wege als die zielstrebigsten betrachtete, dann konnte ihn nichts mehr überraschen. So hatte er zwar keinen Punkt erreicht, von dem aus er die Welt beobachten konnte, jedoch einen Boden, der trug. Nicht die Entdekkung der Aufzeichnungen hatte sie beide einander entfremdet. Sie wußte immer, Aufrichtigkeit stellte für ihn eine Unmöglichkeit dar. Wie konnte jemand ein bestimmtes Gefühl haben und äußern, daß er genau dieses Gefühl habe? Wie konnte jemand äußern, daß er ein bestimmtes Gefühl habe, und er hatte es? Suttung fragte, ob der Bauleiter die gesammelten Informationen verwendete. Es schieden immer wieder Mitarbeiter aus dem Büro aus, aber diese Veränderungen bewegten sich im Rahmen des Üblichen. Der Bauleiter vermittelte den Eindruck, er würde jeden Versuch, ihm in die Quere zu kommen, im Keim ersticken. Es schien nur vernünftig, ihm freie Bahn zu lassen. Er mußte sein Wissen gar nicht gebrauchen. Suttung wandte ein, der Erfolg hätte ihm ein Gefühl der Sicherheit geben müssen. Als der Bauleiter und Sieglinde sich das nächste Mal trafen, wieder im Hotel, stellte er seine Aktentasche geöffnet auf das Bett. Sie sollte in die Aktentasche greifen, sie sollte die Aufzeichnungen hervorziehen, sie sollte ihn fragen. Beide hatten sie an dem Abend sehr viel getrunken. Sie kauerte auf dem Bett. Er beobachtete sie im Spiegel, während er sich auszog. Sie beachtete die Aktentasche nicht. Er entkleidete sich weiter. Sie machte keinerlei Anstalten, in die Aktentasche zu greifen. Da schleuderte er voller Zorn seinen Gürtel mit der schweren Metallschließe in den Spiegel, so daß der zerbarst.

Am Tag darauf lieferte er sich in seinem roten Porsche Carrera auf der Autobahn ein Duell mit einem Aston Martin. Man konnte nicht erkennen, wer am Steuer saß, denn der andere Wagen hatte stark getönte Fenster. Der Bauleiter befand sich auf der rechten Spur, der andere auf der linken. Er fuhr mit großer Geschwindigkeit auf einen Lastwagen zu, schneller als der andere. Als sie hinter dem Lastwagen angelangt waren, beschleunigte der andere überraschend, so daß der Bauleiter nicht mehr auf die linke Spur wechseln konnte und auf den Lastwagen prallte. Er überlebte seine schweren Verletzungen an Kopf und Rückgrat, doch er blieb im Wachkoma. Er aß und trank, wenn man ihn fütterte, er erhob sich und ging herum, wenn man ihn führte. Er nahm die Anwesenheit von Menschen wahr, aber man wußte nicht, ob er zwischen ihnen unterschied. Der Unfall hatte sein Gesicht nicht entstellt. Die Augen lagen nicht mehr so tief, das verlieh ihm ein gutmütiges und friedfertiges Aussehen. So ereignislos sich seine Tage hinschleppten, so getrieben verbrachte er die Nächte. Seine Gliedmaßen zuckten, er wälzte sich während seiner Träume hin und her, und seine Augen vollführten hinter den geschlossenen Augenlidern rasende Bewegungen.

Nachdem Sieglinde das Bürogebäude nicht zu Ende gebaut hatte, zeichnete sie nur noch Details für andere Vorhaben des Architekturbüros. Sie besuchte den Bauleiter jeden Tag. Sie flößte ihm Mahlzeiten ein, wusch ihn und lief mit ihm durch die Gänge des Krankenhauses. Die Ärzte konnten nicht völlig ausschließen, daß er aus dem Koma zurückkehren würde, wollten ihr jedoch auch keinerlei Hoffnung machen. Als er aus dem Krankenhaus in ein Pflegeheim verlegt wurde, war sie am Ende ihrer Kräfte und einem Zusammenbruch nahe. Ihre Freundin Mechthild, die ebenfalls für das Architekturbüro arbeitete, überredete sie, mit ihr in die Vereinigten Staaten zu reisen. Sie hatten einige Tage gemeinsam hier in Neuengland verbracht, Mechthild war dann nach Kalifornien weitergeflogen, um dort an einem Kongreß über Städtebau teilzunehmen. Wenn sie, Sieglinde, sich das Bild vor Augen führe, wie der Bauleiter sich im Schlaf hin und her warf, glaube sie manchmal, ihr ganzes Leben sei einer seiner Träume.

Sieglinde wollte nichts mehr erschaffen, sondern natürliche Felder und Ströme nachvollziehen. Sie wollte nicht mehr gestalten, sondern Gebiete der Empfindsamkeit außerhalb ihrer selbst und auch außerhalb aller anderen Menschen aufspüren und hervorheben. Suttung glaubte, der Mensch könne nicht leben ohne ein dauerhaftes Vertrauen in etwas, das unzerstörbar in ihm war. Wobei der Mensch keinen Zugang zu dem Unzerstörbaren zu haben brauchte, und auch das Vertrauen vor ihm verborgen sein mochte. Suttung kannte nur eine Weise, wie sich die Verborgenheit äußerte: als Glauben. Sieglinde wollte glauben. Sie strebte danach, zu einer Ganzheit zu gelangen, bevor ihr Bewußtsein sich auf irgendwelche Einzelheiten richtete. Sie wollte sich in einen Zustand versetzen, in dem keine menschliche Begrenzung Platz greifen konnte. Sieglinde liebte alles, was ihr nicht gehörte. Sie mußte ihr Leben über alles lieben. Nichts, woran Sieglinde glaubte, verwies sie auf sich zurück. Suttung zerbrach sich den Kopf. Wie konnte sie leben ohne jede Hoffnung auf ein Unzerstörbares in den Menschen, ohne jegliches Vertrauen in ein Unzerstörbares in sich selbst?

Suttung, der jahrelang fast nie die deutsche Sprache gebraucht hatte, sprach jetzt, mit Sieglinde, nur noch deutsch. Kurz vor seinem Sportunfall hatte er in der Tonight Show verfolgt, wie Billy Crystal, der kein Wort Deutsch konnte, seine deutsche Synchronstimme nachahmte. Billy Crystal, der auch als Conférencier bei der Verleihung der Academy Awards auftrat, war gerade von einer Reise nach Deutschland zurückgekehrt, er hatte dort seinen neuen Film vorgestellt, in dem er einen Sporttrainer spielte. Er stieß Kehllaute aus, er zischte und er spuckte. Jay Leno ermutigte ihn zu immer lauteren und immer gröberen Darbietungen, die Zuhörer klatschten und johlten wie bei keinem anderen Gast. Der Schauspieler besuchte Deutschland, um dort für seinen Film zu werben, um die Deutschen dazu zu bringen, seinen Film zu besuchen – jetzt machte er sich nicht nur über die Deutschen lustig, sondern er verhöhnte sie. Jay Leno war kein Zyniker, seine schlechten Scherze waren für gewöhnlich besser als die schlechten Scherze der anderen, und es gelang ihm auch, einen gewissen Abstand zu seinen Gästen zu bewahren. Nicht so an diesem Abend. Er beugte sich vor und federte zurück, er patschte mit den Händen auf das Pult, er trampelte mit den Füßen, er brüllte vor Lachen und verschluckte sich beim Sprechen. Suttung schaltete enttäuscht den Fernseher ab.

Suttung war kein Leser. Er überflog die New York Times, er blätterte im New Yorker, und er griff seit einiger Zeit häufiger zum Wall Street Journal, um sich dann meistens mit den Schlagzeilen zu begnügen. Ab und zu ging er in Buchläden, um Bücher in die Hand zu nehmen, deren Umschläge ihn anzogen. Suttung las keine Romane. Er wollte keine Geschichte haben. Wie konnten andere eine Geschichte haben? Was sollte er mit den Geschichten anderer? Hin und wieder kaufte er sich Lyrik-Anthologien, doch kam er nie über die Einleitung und die allerersten Gedichte hinaus. Als Suttung den amerikanischen Schauspieler und dessen Publikum beobachtete, fragte er sich, wie wohl neue deutsche Gedichte aussähen und klängen. Er hatte sich vorgenommen, bei seinem nächsten Besuch einer Buchhandlung nach einer zweisprachigen Anthologie neuer deutscher Lyrik zu fragen. Der Buchladen in dem kleinen Ort in Neuengland führte natürlich auch weniger ausgefallene Bücher nicht. Wie er mit Sieglinde deutsch sprach, mußte er über seine Absicht lächeln, eine zweisprachige Anthologie zu kaufen. Er brauchte ja gar keine zweisprachige Ausgabe. Und ihm kam tatsächlich zum ersten Mal in den Sinn, die gemeinsame Muttersprache mochte eine Rolle dabei gespielt haben, daß der CFO trotz seines Aufstieges die Verbindung zu ihm nicht abreißen ließ.

Nach den englischsprachigen Gegenwartsdichtern, deren Namen Suttung immer vergaß, konnte es noch tausend, ja zehntausend Dichter geben. Sie würden alle in Anthologien veröffentlicht werden wie in denjenigen, die zu lesen er sich immer wieder vornahm. Wie konnten nach den deutschen Gedichten aus der Zwischenkriegszeit, die er aus dem Schulunterricht kannte, auch nur zehn neue deutsche Gedichte geschrieben werden? Neue deutsche Gedichte wären nur Abwandlungen. Oder sie würden die Sprache zerstören, die sie hervorgebracht hatte. Wie das Deutsch des Schauspielers, der nicht deutsch sprach. Die deutsche Sprache war genauer als die englische Sprache. Es schien Suttung, wenn etwas einmal in der deutschen Sprache gesagt war, war es unzweideutig gesagt. Dann konnte es so nicht noch einmal gesagt werden, dann mußte es gänzlich anders gesagt werden. Auch die neuen englischsprachigen Gedichte, die Suttung kannte, stellten Abwandlungen dar. Aber in der englischen Sprache durfte man Dinge noch einmal sagen, die schon gesagt waren. Die deutsche Sprache zwang ihre Sprecher zum Handeln. Dagegen erlaubte es die englische Sprache, zu sprechen und zu handeln oder zu sprechen und nicht zu handeln. Sie verpflichtete zu nichts. Nicht einmal dazu, sie richtig zu sprechen. Die englische Sprache vergab demjenigen, der sie schlecht sprach, sie erkannte schon die gute Absicht dessen an, der sprach. Die deutsche Sprache wendete sich im Mund und in der Feder dessen, der sie nicht vollkommen beherrschte, gegen ihn. Die deutsche Sprache wollte keine Verständigung. Der Schauspieler, der die deutsche Sprache verspottete, er hatte etwas getroffen, die Leute, die ihm zujubelten, sie hatten etwas erfaßt. Ihre Sprache zeigte sich freundlich und bot Hoffnung. Aber es machte Spaß zu verfolgen, wie eine andere Sprache andere Sprecher unterjochte und versklavte. Die deutsche und die englische Sprache mußten sich einst ähnlich gewesen sein, die englische Sprache konnte nicht immer so weich und vergebend gewesen sein und die deutsche Sprache nicht immer so hart und so fordernd. Die deutsche Sprache war auch die Sprache der philosophischen Systeme der Neuzeit. In der neuesten Zeit gab es keine philosophischen Systeme mehr. Es schien Suttung, als räche sich die deutsche Sprache dafür, daß sie nicht mehr fähig war, die Welt in ihrer Gesamtheit einzufangen. Die deutsche Sprache wollte, daß jede Wirklichkeit an ihr scheiterte.

Suttung hatte von Völkern der Südsee gelesen, bei denen der Brauch herrschte, daß jemand, der eine schwere Krankheit überstanden hatte, sich anders nannte. Alle symbolischen Darstellungen, in denen der alte Name vorkam, wurden geändert oder vernichtet, und alle nannten den Genesenen bei seinem neuen Namen, als hätte er diesen Namen schon immer getragen. Er hatte sich nicht schwer verletzt. Sein Name blieb als einziger der gleiche. Alles andere wurde neu benannt. Er sprach über alles andere neu, er beschrieb alles andere neu. Die deutsche Sprache hatte ihre Sprecher ausgenutzt und verschlissen. Sie mußte sich andere, unverzagte Sprecher suchen. Wie ihn, Suttung, der sie zwanzig Jahre fast nie gesprochen hatte.

Sieglinde und Suttung rangen darum, sich in dem, was sie benannten, möglichst nahe zu sein. Beide richteten die Genauigkeit der gemeinsamen Sprache – Suttung unbewußt, Sieglinde überlegt – nicht nach innen, sondern nach außen, nicht gegen sich selbst und nicht gegen den jeweils anderen. Wie die Sprache einen Kreis um ihn und Sieglinde zog und alle anderen daraus verbannte, entdeckte Suttung: Indem die deutsche Sprache so genau sagte, was die Sprechenden und Schreibenden in ihr sagen wollten, schnitt sie zugleich mitleidlos in das Ungesagte ein und machte sich auch das viel wichtigere Reich des Nichtausgesprochenen und des Nichtgeschriebenen untertan.

Sie erkundeten gemeinsam den Ort und seine Umgebung. Als Suttung nach Neuengland aufgebrochen war, hatte er sich vorgenommen, jeden Leuchtturm zu besteigen, an dem er vorbeikäme. Doch es gab im Ort und in der näheren Umgebung keinen Leuchtturm. Sie besichtigten die im Hafen liegenden Fischkutter und bestaunten die Vielzahl der unvertrauten Vorrichtungen und Gerätschaften auf den alten Seglern und Dampfern. Doch Suttung sollte nicht auf den Atlantik hinausfahren, sondern zur Pazifikküste fliegen. Der Städtebau-Kongreß ging auf sein Ende zu, Sieglinde wollte noch einige Tage mit ihrer Freundin Mechthild in Kalifornien verbringen, ehe sie gemeinsam nach Deutschland zurückkehren würden. Suttung willigte freudig ein, als Sieglinde vorschlug, er solle sie nach Kalifornien begleiten.

Am Tag der Abreise stieg Suttung das erste Mal zu Sieglindes Schlafzimmer im ersten Stock hoch. Vor einer Kommode mit einem Spiegel las sie in einer Zeitung, die auf ihren Knien lag. Sie stützte sich mit den Füßen auf der Querstrebe des Stuhls ab und beugte sich mit im Schoß verschränkten Armen weit nach vorne. Suttung verweilte auf der Treppe. Er konnte in dem Spiegel nur die Haare über der Stirn sehen, nicht ihr Gesicht. Sie trug ein hautfarbenes Unterhemd. Unter den Gegenständen auf der Kommode stach eine rote Puderdose hervor. Sieglindes Koffer rahmten die Kommode ein, an der Seite lehnte eine Aktenmappe. Suttung hatte keinen Verband mehr, er konnte die rechte Hand benutzen, allerdings durfte er mit dem rechten Arm nichts heben. Er hoffte, sie würde nicht alle Koffer mitnehmen.

Suttung hatte in Neuengland alle Zeit, um soviel Zeitung zu lesen wie noch nie. Im Wall Street Journal war er auf einen Artikel gestoßen, der die Aussichten des großen Computerunternehmens beleuchtete. Der Verfasser hob die breite Palette von zukunftsfähigen Erzeugnissen hervor, führte jedoch zugleich aus, daß das Unternehmen wieder Kostenprobleme hatte. Suttung, der schnell gelesen hatte, legte die Zeitung verwundert beiseite: Der CFO wurde in dem Artikel übergangen. Suttung las noch einmal, langsam, und entdeckte den Namen des CFO in einem Nebensatz. Er las den Artikel ein drittes Mal. Für die Stärken des Unternehmens zeichneten andere verantwortlich, die Schwächen des Unternehmens traten in den Ressorts auf, die der CFO leitete. Suttung mußte sich eingestehen, daß er auf ein solches Zeichen wartete. Der CFO hatte ihn einmal zur Präsentation einer neuen Unternehmensorganisation eingeladen, die in einem alten Theater stattfand. Suttung hatte sich in der Zeit geirrt und war eingetroffen, lange bevor die eigentliche Veranstaltung beginnen sollte. Der CFO beaufsichtigte die letzte Probe. Seine massige Gestalt lehnte an der steinernen Balustrade, die den U-förmigen Zuschauerraum abgrenzte. He had a back like a Jersey bull. Die Unterseite des Balkons wölbte sich zur Wand hin, in die Decke eingelassene runde Leuchten sandten durch rote, spinnennetzartige Verzierungen hindurch warmes gelbes Licht aus. In den Gängen lag ein grüner Teppichboden. Für jede Gliederung des Unternehmens wurde ein Mitarbeiter gezeigt, der jeweils alle anderen aus dieser Gliederung darstellte. Der CFO hatte zu diesem Zweck auf der Bühne eine riesige, aus Hunderten von Bildschirmen bestehende Wand errichten lassen, auf der der Mitarbeiter, den der CFO erst vorstellte und der sich dann selbst beschrieb, und natürlich der CFO zahlreich und in verschiedenster Größe erschienen. Der CFO führte Suttung die Wirkung vor, indem er einen Mitarbeiter sein Sprüchlein aufsagen ließ. Der erledigte seine Aufgabe verschüchtert. Weil noch keine Zuschauer anwesend waren, gab der CFO Anweisung, Beifall vom Tonband für sich und den Mitarbeiter einzuspielen. Der Mitarbeiter wiederholte seinen Text, der CFO ließ ihn durch vereinzelten Beifall unterbrechen und bedachte ihn am Ende mit einem höheren Beifallspegel. Der Mitarbeiter wirkte jetzt überzeugender, jedoch immer noch gehemmt. Er mußte seinen Part mehrmals en suite spielen, von immer stärkeren Beifallskundgebungen unterbrochen. Den Schluß bildete ein nicht enden wollender, tosender Beifallsorkan, den der CFO allein entgegennahm, der Mitarbeiter hatte nach einem entsprechenden Wink eilig die Bühne verlassen. Suttung ging vor Beginn der eigentlichen Veranstaltung. Er hatte das Gefühl, bereits alles gesehen zu haben, was er sehen mußte. Anwesende bestätigten ihm später, die Veranstaltung sei ein überragender Erfolg für den CFO gewesen.

Beifallsstürme vom Tonband und die überlebensgroße Selbstdarstellung auf einer Bildwand würden dem CFO nicht helfen, wenn sich seine Ertragsrechnung verschlechterte. Suttung wußte nicht, wie sich die Entscheidungsfindung in der Spitze des großen Computerunternehmens abspielte. Auf welche Weise man dort an Einfluß verlor. Ob man totgeschwiegen oder wie sonst man angegriffen wurde. Vielleicht gab es Sitzungen, in denen man ohne Vorwarnung über die Vorlagen des CFO herfiel? Bekam auch ein CFO Schreiben, in denen ihm Zuständigkeiten und Mitarbeiter entzogen wurden? Offenen Vorhaltungen würde er empört begegnen, ohne ihn gäbe es das Unternehmen nicht mehr, was richtig, aber nicht mehr wichtig war. Der Board mußte dafür sorgen, daß es das Unternehmen weiter gab, diesmal ohne ihn. Der CFO würde poltern, man suche einen Prügelknaben für die falsche Strategie des CEO. Er würde gönnerhaft hinzufügen, es nütze ja nichts, einen Schwachen zum Sündenbock zu machen, der Board könne die Verantwortung für das eigene Versagen glaubhaft nur einem Starken zuschieben. Und er würde sich bitterlich über den CEO beklagen, der ihn, obwohl er ihm alles verdankte, kaltblütig opferte. Darauf würde er zum Essen ins Pierre fahren, zwar keinen Bissen herunterbekommen, jedoch anschließend noch zu einem Empfang oder einer Einladung gehen.

Nach der Begegnung mit Sieglinde war Suttungs Welt aus den Fugen. Alles, was Suttung nun erlebte, empfand er als ebenso phantastisch wie unvermeidbar. Aber Sein und Bewußtsein fielen für ihn nicht mit einem Mal auseinander. Dort, wo sich jetzt die Ränder von Suttungs Welt befanden, hatten sich schon vorher die Ereignisse seines Lebens vielfach gebrochen.

Mechthild war Soziologin. Das Architekturbüro beauftragte sie regelmäßig mit Untersuchungen, wenn städtebauliche Vorhaben in Angriff genommen wurden. Sie trug eine schmale schwarze Gesichtsmaske. Ihre Augen waren grün. Sie war sorgfältig geschminkt. Ein gerader Scheitel ordnete ihre über den Ohren ausgeschnittenen hellblonden Haare zu einer Männerfrisur. Sie hatte kurze, enge Shorts aus einem mit schwarzen Pailletten besetzten Stoff an, ein Oberteil, das den Nabel frei ließ, und eine Weste mit einem aufgesetzten Smokingkragen und Fransen, jeweils aus dem gleichen Stoff.

Sie kamen spätabends an, Mechthild brachte sie vom Flughafen unmittelbar zu einem Restaurant in Santa Monica. Die Wände und die Decke des riesigen Speisesaales lagen im Dunkeln, um jeden Tisch drehte sich langsam ein Kreis von beleuchteten Nebelsäulen. Neben ihrem Tisch ragte eine Eisenstange in die Höhe, an der sich eine fast unbekleidete Japanerin herunterließ. Die schlanke, aber muskulöse Artistin hatte ihre langen Haare in einem strengen Knoten zurückgebunden. Als sie an ihrem Tisch Platz nahmen, beugte sie gerade ihren Oberkörper nach unten von der Stange weg. Sie hielt sich mit dem rechten Bein an der Stange, indem sie sie zwischen Ober- und Unterschenkel klemmte, und streckte beide Arme und das linke Bein weg. Dann legte die Artistin das linke Bein wieder an die Stange an und rutschte kopfüber die Stange hinunter. Auf dem Boden machte sie einen Handstand mit gespreizten Armen und Beinen, den Schoß an die Stange gelehnt. Sie führte die Beine zusammen, die Stange zwischen den Beinen, bewegte sie sich auf den Händen von der Stange weg, bis sie mit dem Oberkörper fast den Boden berührte. Immer noch die Stange im Schritt, drehte sie sich auf die rechte Seite, richtete sich auf und streckte das linke Bein über den Kopf. Danach winkelte sie beide Beine an, rollte sich ab und erhob sich. Sie ging mit kurzen, schnellen Schritten, dabei breitete sie die Arme aus. Aus dem Blickwinkel Suttungs teilte die Eisenstange ihren Körper in der Mitte entzwei, bevor er im Hintergrund verschwand.

Hinter Suttung führten zwei Mädchen, eine Weiße und eine Farbige, Aerobicübungen vor. Sie hatten kurze Hosen und Büstenhalter aus dunkelgrauem Stretch an, dazu weiße Gürtel. Vor Suttung stellten zwei Boxer, der eine in einer roten Boxerhose mit einem weißen Gürtel, der andere in einer gelben Boxerhose mit einem schwarzen Gürtel, einen Boxkampf nach. Beide trugen rote Boxhandschuhe. Zwei Scheinwerfer warfen die Schatten ihrer Körper übermenschlich groß an die Wand. Die Mädchen trugen zu ihren Aerobicoutfits die gleichen Schnürstiefel mit Plateauabsätzen wie Mechthild, jedoch aus mattem Leder.

Es wurde pazifisches Essen serviert, eine Mischung aus chinesischer, japanischer und US-amerikanischer Küche. Die Boxer traten ab, nun kämpften die Mädchen wie vorher die Boxer. Neben ihnen tanzte die Artistin, jetzt in einem hochgeschlossenen schwarzen Trikot.

Mechthilds Stimme war viel tiefer als die Sieglindes. Der Geräuschpegel in dem Restaurant nahm ständig zu, was Mechthild jedoch nicht dazu veranlaßte, lauter zu sprechen. Suttung ließ seinen Blick schweifen, trotzdem verstand er mühelos alles, was Mechthild sagte. Sie war während des Städtebau-Kongresses nach Deutschland zurückgeflogen, um in der deutschen Hauptstadt ihre letzte Studie zu präsentieren. Während sie wieder die Koffer für Amerika packte, hörte sie im Radio, daß man gerade Hanshans, einen berüchtigten Immobilienspekulanten, erschossen hatte. Ihre nächste Studie beschäftigte sich mit dem Stadtteil, in dem Hanshans geherrscht hatte. Sie erzählte Sieglinde und Suttung, wie sie sofort zum Tatort gefahren war. Um die Leiche des schlanken, jugendlichen Mannes, der nur mit Blue jeans bekleidet war, kein Hemd und nicht einmal Schuhe anhatte, versammelte sich ein Dutzend weinender Kinder. Fünf junge Frauen, augenscheinlich Geliebte von Hanshans, warfen sich auf die Leiche mit den aufgerissenen Augen und beklagten, sich die Haare und die Kleider raufend, den Toten. Aus den umliegenden Geschäften ertönte lautes Lachen. Man hob das Glas, man trank auf den Tod des Immobilienhais. Eine gepanzerte Mercedes-Limousine mit verspiegelten Scheiben fuhr langsam heran und hielt neben den Trauernden. Heraus stieg der mutmaßliche Mörder, nur wenig älter als der Ermordete, mit einem wirren Bart und langen Haaren. Es handelte sich um Schelchshorn, einen anderen Immobilienhai. Schon mit zwölf Jahren Gehilfe eines bekannten Maklers, hatte Hanshans gelernt, wie man Häuser freizieht, indem man Ausscheidungen in den Hausgang und vor die Wohnungstüren karrt, indem man Brände legt und Drogenabhängigen und Obdachlosen freie Wohnungen anbietet. Noch nicht einmal volljährig, gehörten ihm und seinen Strohmännern schon mehrere Wohnblöcke, mit Mitte Zwanzig ganze Straßenzüge. Er hatte auch gelernt, wie man diejenigen, derer man sich bedient, um Häuser zu räumen, in Zaum hielt. Seine Häuser waren für immer befriedet. Das Gesetz des Schweigens verbot es den Mietern, schlecht über ihn zu sprechen. Wer schlecht über Hanshans sprach, fiel die Stufen hinunter oder über das Geländer. Je mehr sein Besitz wuchs, desto weniger bemäntelte er. Eine unter hohem Blutdruck leidende Frau, die er als Zuträgerin der Polizei verdächtigte, starb, nachdem seine Helfer sie gezwungen hatten, zwei Pfund Salz zu essen. Als die Eltern einer jungen Frau nicht erlauben wollten, daß ihre Tochter in einem seiner Porsches abgeholt wurde, ließ er die Eltern herbeischaffen. Seine Helfer schaufelten ein großes Loch und zwangen den Vater und die Mutter, sich hineinzulegen. Er überschüttete die Eltern vor den Augen der Tochter mit Benzin und ließ sie verbrennen. Die Polizei konnte nichts gegen ihn unternehmen. Denn er war zugleich auch Wohltäter. Er verwendete einen Teil seiner Gewinne dazu, in seinem Stadtteil ein Krankenhaus zu errichten und zu unterhalten. Das Krankenhaus wurde gut geführt, die Ärzte waren keine Quacksalber, Mittellose wurden umsonst behandelt. Er veranstaltete auch Straßenfeste. Er stellte Zelte auf, bestellte Musik und ließ Lastwagen voller Fleisch und Bier heranfahren. Das letzte Fest hatte Hanshans genau an der Stadtteilsgrenze feiern lassen. Das Straßenfest hatte viele Menschen aus dem benachbarten Stadtteil angezogen. Hanshans wollte in den Herrschaftsbereich von Schelchshorn eindringen. Von seiner Unangreifbarkeit überzeugt, wurde Hanshans unvorsichtig. Er hatte in der Nacht zuvor im anderen Stadtteil Häuser besichtigt. Es mußte eine große Schießerei stattgefunden haben. Die Leibwächter von Hanshans waren der Garde von Schelchshorn unterlegen, Hanshans wies Dutzende von Einschüssen aus einer Maschinenpistole auf. Was aus seinen verletzten Leibwächtern geworden war, wußte man nicht. Auch unter Schelchshorns Helfern mußte es Opfer gegeben haben.

Mechthild erklärte, auf diese Weise werde die Stadt erneuert. Die alten Häuser würden hergerichtet oder abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Diejenigen, die die neuen, teuren Mieten zahlten, würden von den Stadtteilsherrschern verschont. In der Übergangszeit, bevor ein Haus umgebaut oder geschleift wurde, kämen die Einwohner zumindest in den Genuß eines niedrigen Mietzinses. Bei Wohlverhalten könnten sie in ein anderes Haus zu ebenfalls günstigen Bedingungen ziehen. Suttung wunderte sich, wie sehr sich die deutsche Wirklichkeit einem Tarantino-Film angenähert hatte.

Während sie aßen, wurde eine glänzende schwarze Treppe in den Speisesaal gefahren und silberfarbene Vorhänge heruntergelassen. Zunächst erhoben sich nur einzelne Gäste, schließlich immer mehr, und sie schritten, von rhythmischer Musik begleitet, vor den in buntes Licht getauchten Vorhängen die Treppe herunter. Als Mechthild die Maske ablegte und die Weste auszog, wirkte das auf Suttung wie eine Aufforderung, sie ausführlich zu mustern. Mechthild hatte ein regelmäßiges, sehr wandlungsfähiges Gesicht. Die langen schwarzen Wimpern gaben ihrem Blick eine Klarheit, die er nicht erwartet hatte. Sie war gleich groß wie Sieglinde, hatte jedoch viel muskulösere Oberschenkel und Oberarme. Sie lief zur Bühne und stieg, von gelben und roten Nebelschwaden umweht, im Takt der Musik die Treppe hinunter. In dem Augenblick, als sie unten ankam, blickte Suttung Sieglinde an. Sie bewunderte Mechthild glühend. Wie Sieglinde merkte, daß Suttung zu ihr hinsah, strahlte sie auch ihn an.

Einzelne Gäste begannen nun, vor der Treppe zu tanzen. Mehrere gutaussehende Männer, offensichtlich Eintänzer, zogen Mechthild an sich und taten so, als ob sie sie an sich pressen oder ihren Kopf zwischen ihren Brüsten reiben würden, sie krochen zwischen ihren Beinen hindurch und ließen sie auf ihren Oberschenkeln reiten. Der Gesichtsausdruck blieb ausnahmslos der von Tanzenden. Da kam Mechthild zum Tisch zurück, faßte Suttung an der Hand und führte ihn zur Tanzfläche. Suttung war überzeugt, daß er auf die Zuschauer wirkte, als habe man Roger Rabbit zwischen die Tanzenden hineinkopiert. Bis Mechthild sich mit dem Rücken an ihn anlehnte, seine Hände ergriff und sie, weiter tanzend, auf ihre Brüste und in ihren Schoß legte.

Who framed