Tänzerin des Lichts - Christine Feehan - E-Book

Tänzerin des Lichts E-Book

Christine Feehan

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Beschreibung

Fünf Jahre sind seit Viktor Prakenskijs Verschwinden vergangen. Ohne ein Wort hat der Undercoveragent seine über alles geliebte Frau in Sea Haven zurückgelassen, um einen wichtigen Auftrag zu erledigen. Indessen hat Blythe die Hoffnung bereits aufgegeben, ihren Mann jemals wiederzusehen. Sie hat sich ein neues Leben aufgebaut – ohne ihn. Doch als Viktor eines Tages wie aus dem Nichts zurückkehrt, wirft er Blythes Leben einmal mehr aus der Bahn. Wird sie bereit sein, dem Mann, der ihr das Herz schon einmal gebrochen hat, zu verzeihen?

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Seitenzahl: 650

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DAS BUCH

Viktor Prakenskij war noch ein Kind, als er den grausamen Mord an seinen Eltern mitansehen musste. Als ältester der sieben Prakenskij-Brüder wird er in die berüchtigtste aller »Schulen« von Kostya Sorbacov gebracht. Dort sollen der Wille der Kinder gebrochen und sie zu emotionslosen Tötungsmaschinen ausgebildet werden. Doch unter Viktors Leitung beginnen sich die Kinder erfolgreich zu wehren. Die 18 überlebenden Zöglinge werden zu einer Familie aus Killern, für die Loyalität untereinander an höchster Stelle steht. Als Viktor später Blythe kennenlernt, verändert sich sein ganzes Leben. Bei ihr fühlt er sich zum ersten Mal zu Hause. Ihre Liebe zueinander ist tief und leidenschaftlich, und plötzlich sieht Viktor eine Zukunft für sich, jenseits von Gewalt und Brutalität. Doch bevor er mit Blythe zusammenleben kann, muss er einen letzten großen Auftrag erledigen, der über seine und Blythes Zukunft entscheiden wird.

DIE AUTORIN

Christine Feehan wurde in Kalifornien geboren, wo sie heute noch mit ihrem Mann und ihren Kindern lebt. Sie begann bereits in jungen Jahren zu schreiben und hat seit 1999 mehr als sechzig erfolgreiche Romane veröffentlicht, die in den USA mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet wurden und alle auf die New-York-Times-Bestsellerliste gekommen sind. Auch in Deutschland ist sie mit den Drake-Schwestern, der Sea-Haven-Saga, der Schattengänger-Serie und der Leopardenmenschen-Saga äußerst erfolgreich.

Mehr Informationen über die Autorin und ihre Bücher finden sich im Anschluss an diesen Roman und auf ihrer Website www.christinefeehan.com.

CHRISTINE FEEHAN

Tänzerin des Lichts

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Heinz Tophinke

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe BOUND TOGETHER erschien 2017 bei Jove, Penguin Random House LLC, New York
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © 2017 by Christine Feehan Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Veröffentlicht in Zusammenarbeit mit The Berkley Publishing Group, an Imprint of Penguin Publishing Group, a Division of Penguin Random House LLC Alle Rechte sind vorbehalten. Redaktion: Birgit Groll Umschlaggestaltung: © Nele Schütz Design, München

Für Leslee Huber –

vielen Dank für all deine Liebe und Unterstützung.

Ich kann dir nicht sagen, wie viel mir das bedeutet.

Kapitel 1

Wenn sie hier lebend herauskämen, müssten sie Geister sein. Viktor »Zar« Prakenskij musterte die missbilligenden Mienen seiner Männer. Er hasste Kontroversen, vor allem wenn wie jetzt nur sehr wenig Zeit dafür war.

»Ich mache den Weg frei«, erklärte Savva Pajari, genannt Reaper oder »der Töter«. Sein Blick war leer und kalt. Eiskalt. Die Stimme ließ keinerlei Rührung erkennen.

Viktor wusste, dass er der Grund für diese emotionslose Stimme war. Das lastete für immer auf seiner Seele. Man konnte ihre Kindheit nicht einfach ungeschehen machen oder die Dinge zurücknehmen, die sie hatten tun müssen, um zu überleben – Dinge, die Viktor geplant hatte, wie etwa diesen Job. Alles hing an ihm, und er würde nicht zulassen, dass sie sich zu seinem Schutz um ihn scharten, wie sie es alle wollten. Er hatte das angerichtet. Er hatte es nie fertiggebracht, die Bremse zu ziehen und genug zu sagen. Für ihn war es nie genug, und wohin er ging, folgten die anderen ihm nach.

»Nichts da«, erklärte er leise und kurz angebunden. Er war zornig, aber nicht auf einen seiner Brüder. Sondern auf sich selbst. Er hatte einen Weg gewählt, und sie waren ihm einer nach dem anderen gefolgt. Sein Weg hatte geradewegs in die Hölle geführt. »Wir haben keine Zeit für Diskussionen. Wir wussten von Anfang an, dass es kein Zurück gibt. Daran hat sich nichts verändert.«

Dimitri »Storm« Koval seufzte schwer. »Wir waren alle dafür, Zar, genau wie immer. Hör auf, uns bemuttern zu wollen. Wir haben uns für dieses Leben entschieden. Jeder von uns.«

Viktor biss die Zähne zusammen. Das war eine unverfrorene Lüge. Keiner von ihnen hatte sich dieses Leben ausgesucht. Nicht einer. Sie hatten alle den gleichen Start gehabt – ein Mann namens Kostya Sorbacov hatte ihre Eltern ermordet, weil sie sich gegen ihn gestellt hatten. Die verwaisten Kinder hatte er in die brutalsten Internatsschulen gesteckt, die man sich vorstellen konnte, um aus ihnen Agenten für sein Land zu machen – zumindest hatten sie das anfangs alle geglaubt.

»Das ist Schwachsinn, aber wir haben jetzt keine Zeit für Debatten. Je länger wir warten, desto mehr Männer werden sie haben, um diesen Ort zu bewachen.«

Der Gedanke daran, was er vorfinden würde, drehte ihm den Magen um, aber so war es jedes Mal, und trotzdem machte er immer weiter. Fünf Jahre seines Lebens hatte ihn diese Mission gekostet. Evan Shackler-Gratsos war weltweit die Nummer eins im Menschenhandel. Viktor wusste, dass er nicht jeden ausschalten konnte, aber er war entschlossen, diesen Mann zur Strecke zu bringen. Dieser Entschluss hatte ihn fünf Jahre seines Lebens und wahrscheinlich seine Ehe gekostet, und dazu kam das Wissen, dass die Männer, die er Brüder nannte, sich entschieden hatten, ihm in die Hölle zu folgen, so wie sie es immer getan hatten.

Er wollte nicht weiter mit ihnen herumstreiten, nickte ihnen lediglich kurz zu und schob sich dann durch die Mauer, um seinen Einstieg zu finden. Die Lagerhalle, in der sich eine Gruppe des berüchtigten Bikerklubs der Swords eingerichtet hatte, um dort junge Mädchen, die sie sich erst vor zwei, drei Wochen beschafft hatten, zur Prostitution zu zwingen, befand sich im Industriebezirk. Sie änderten den Aufenthaltsort der Mädchen immer wieder, um der Polizei stets einen Schritt voraus zu sein.

Diesmal hatten sie mehr neue Mädchen, die meisten erst zwischen elf und sechzehn Jahren – dieses Alter war Evan am liebsten. Sie blieben länger frisch. Im Moment »trainierten« sie die armen Geschöpfe, was Schläge und Vergewaltigung bedeutete, bis diese jegliche Hoffnung aufgaben und so sehr eingeschüchtert waren, dass sie alles tun würden, was man von ihnen verlangte.

Viktor wusste, wie das war. Sie wussten es alle, und dennoch waren sie fünf lange Jahre mit diesem Abschaum mitgefahren, hatten deren Abzeichen getragen und sogar für sie gekämpft, wenn es zu Bandenkriegen gekommen war. Dafür. Für diese Momente. Um wenigstens einiges davon gutzumachen und hoffentlich Evan ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, wo sie an ihn herankommen konnten. Damit Viktor an ihn herankommen konnte. Evan Shackler-Gratsos stand für jedes dieser pädophilen, sadistischen Monster, die die Schule betrieben hatten. Die Wut, die Tag und Nacht so heiß in Viktor kochte, forderte nun endlich den Tod dieser Bestie.

Über die Jahre hatten sie genug Chaos angerichtet, dass jede Ortsgruppe der Swords wachsam blieb, vor allem wenn sie neue Mädchen anbrachten. Viktor leitete zwei Teams, und oft schlugen sie bei zwei Ortsgruppen gleichzeitig zu, aber in letzter Zeit war es schwieriger geworden. Evan wollte, dass die Mädchen Tag und Nacht, sieben Tage die Woche Geld einbrachten; deshalb ließen sie sie selbst dann arbeiten und sorgten für lange Warteschlangen, wenn sie eine Falle mit einem Köder versahen. Nichts hatte sich verändert, trotz des Sturms, der sich zusammenbraute.

In dem Gebüsch überall um die Halle herum waren Wachen versteckt. Das Dach war mit einer zweiten Halle verbunden, in der hauptsächlich schweres Gerät einer Baufirma gelagert war. Von diesem Gebäude aus wollte Viktor in das behelfsmäßige Bordell der Swords eindringen. Zwischen ihm und dem Gebäude waren mindestens zwei Wachen postiert.

Die Ortsgruppe sollte sowohl das Gebäude von außen bewachen als auch dafür sorgen, dass drinnen ständig gearbeitet wurde. In der Halle mussten sich Aufpasser darum kümmern, dass die Mädchen spurten und die Kunden für das, was sie bekamen, auch bezahlten. Ferner musste die Warteschlange draußen überwacht werden, damit es nicht zu Handgemengen oder Ähnlichem kam. Und bei alldem befürchteten sie auch noch ständig, dass dieses mysteriöse Team wieder zuschlagen würde, um ihre Sklavinnen zu befreien und Mitglieder der Gruppe umzubringen.

Viktor und seine Männer hatten bereits im gesamten Swords-Klub Furcht verbreitet und sich damit einigermaßen Befriedigung verschafft, doch Evan hatte sich trotz seines mächtigen Zorns noch nicht blicken lassen. Er war mittlerweile unglaublich geheimniskrämerisch und paranoid. Von seinem Bruder, einem griechischen Schiffsmagnaten, hatte er Milliarden geerbt, und mit all dem Geld konnte er sich verstecken, solange er wollte.

Viktor hatte sich bei den Swords geduldig hochgearbeitet. Mit seinem Background galt er als großes Tier. Er konnte mit jeder erdenklichen Waffe umgehen und war dem Klub äußerst nützlich. Es machte ihm nichts aus, die Aufträge als Vollstrecker auszuführen, denn jeder, der mit ihnen Geschäfte machte, hatte so viel Dreck am Stecken wie sie selbst. Seine Männer hatten sich in den letzten zwei Jahren einer nach dem anderen ihm angeschlossen und waren ebenfalls Mitglieder der Swords geworden. Sie waren alle aus dem Schatten getreten, um ihm zu helfen.

Er wartete im Dunkeln, bis einer der Wächter so unruhig wurde, dass er seine Position preisgab. Sehr langsam begann er, sich von Schatten zu Schatten zu bewegen, immer darauf bedacht, dass die Swords gerne spitzfindige Fallen installierten und stets Nachtsichtgeräte benutzten. Hinter dem Mann richtete er sich auf und jagte ihm mit einem raschen Stoß ein Messer in die Schädelbasis, das die Wirbelsäule durchtrennte – eine für seine Leute unverkennbare Tötungsart.

Links von ihm krächzte ein Funkgerät. Die Stimme war gedämpft. Der Wachmann antwortete gelangweilt. Sobald er zu sprechen aufhörte, folgte ein dumpfes Geräusch. Viktor arbeitete sich zu der Stelle vor. Ein Toter lag am Boden, jemand zog die Leiche an den Stiefeln tiefer in den Schatten, an die Mauer der Lagerhalle. Er erkannte Reaper.

Kopfschüttelnd beobachtete Viktor, wie Reaper den Kopfhörer aus dem Ohr der Leiche nahm und in seines steckte. Er hätte es wissen sollen. Auf Reaper konnte er sich in jeder Situation verlassen, schon so lange sie sich kannten.

»Du befolgst die Befehle nicht.«

Reaper richtete sich auf. »Du hast keinen gegeben, der es wert gewesen wäre, darauf zu hören.«

Viktor musterte seinen Vollstrecker aus zusammengekniffenen Augen. Wenn es darum ging, ihn, Viktor, zu beschützen, war dieser Mann sein eigenes Gesetz. Er war skrupellos und unnachgiebig – und eine echte Nervensäge. »Verdammt, du gehst ein zu hohes Risiko ein. Ihr hättet alle draußen bleiben sollen, so lange wie möglich! Aber nein, ihr müsst mir in diesen Schlamassel folgen. Fünf Jahre eures Lebens habt ihr an diesen Abschaum verschwendet. An diese Mission. Wer weiß denn, ob wir wirklich eine Chance bekommen, den Scheißkerl auszuschalten?«

Reaper blickte mit einem Seufzer auf das Dach. »Du hast keine blasse Ahnung, weshalb wir dir alle gefolgt sind, oder?«

Viktor musterte seinen Freund. Er erinnerte in nichts an den Knirps, der damals, ein Jahr nachdem man ihn selbst seiner Familie entrissen hatte, an die Schule gekommen war. Was hatte er Savva Pajari angetan? Nichts war mehr übrig von ihm. Er war Reaper, der Töter, und sonst niemand mehr. Langsam schüttelte Viktor den Kopf, den Blick auf den Mann geheftet, auf den er sich immer verlassen konnte, den er liebte, als ob er Familie wäre.

»Ihr wart frei. So frei, wie ihr sein konntet, solange Sorbacov am Leben ist. Ihr seid rausgekommen, und ihr hättet draußen bleiben sollen.«

Reaper verneinte mit einer Geste. »Wir werden nie frei sein. Lebendig oder tot, dieser Mann hat uns gebrandmarkt, hat uns zu Killern gemacht. Du hast das verändert. Du hast uns einen Sinn gegeben.«

»Das haben wir zusammen gemacht.«

»Wir waren da drinnen Tiere, Viktor, und jeder von uns wäre bereits tot, genau wie die anderen, aber du hast uns wieder zu Menschen gemacht. Du hast uns einen Ausweg aufgezeigt.«

Das hatte allerdings etwas gekostet. Immens viel. Der Beweis stand vor ihm, in der Gestalt von Reaper, aber was von dem Menschen noch übrig war, dessen war er sich nicht mehr sicher. Er schüttelte den Kopf. »Ihr wart draußen. Sorbacov hätte eine Armee auf euch alle hetzen können, aber er hätte euch nie gefunden. Er hat euch nicht gefunden, nicht einmal, nachdem ihr aus dem Schatten kamt, um mit mir zu fahren. Keiner von euch hätte das tun sollen.«

»Du gibst uns Leben. Du gibst uns Glauben. Sieh dich um, Zar. Hier gehören wir hin, werden wir immer hingehören. Wir sind nicht wie die anderen Leute und werden es nie sein. Was sie uns angetan haben …« Er verstummte, schüttelte erneut den Kopf.

Viktor wünschte sich, eine Andeutung von Gefühl bei ihm zu sehen, eine Spur davon in seiner Stimme zu hören, doch da war nichts. Nichts als eine eiskalte, ausdruckslose Maske, die mit jedem Mord noch kälter wurde. Das hasste Viktor. Er verabscheute es, dass er das Morden in Gang gesetzt hatte. Es mochte ihnen allen das Leben gerettet haben, aber für Reaper war es absolut ungut.

»Wir können von diesem Leben wegkommen.«

»Mach dir nichts vor. Du willst, dass wir anders werden, weil du eine Frau gefunden hast, die du liebst. Du willst sie in deinem Leben haben und glaubst, dass sie dich so, wie du bist, nicht akzeptiert. Nur damit du’s weißt, mein Freund – das ist nicht Liebe. Entweder will sie dich, wie du bist, mit uns, mit dem, was wir tun müssen, oder sie ist es nicht wert.«

Reaper redete nie viel, und Ratschläge verteilte er schon gar nicht. Am liebsten hätte Viktor ihm gesagt, er solle sich zur Hölle scheren. Er wollte nicht denken, dass seine Frau nicht auf ihn wartete. Ihn nicht akzeptieren würde. Schlimmer noch – er wusste, Reaper hatte recht. Sie waren zu Killern ausgebildet worden und hatten schon seit sie Teenager waren für ihre Regierung gearbeitet, waren mit den gefährlichsten, brutalsten, abscheulichsten Fällen beauftragt worden. Sie waren ersetzbar, Verschleißteile, die nicht einmal als menschliche Wesen betrachtet wurden. Er kannte kein anderes Leben.

Das Leben musste einen Sinn haben. So viele Jahre lang hatte er gegen seinen Willen mitgemacht, war emotional erpresst worden, für Sorbacov zu arbeiten. Es war ein simpler Deal gewesen. Er hatte sechs jüngere leibliche Brüder, von denen jeder in einer anderen Schule gewesen war und die damals auch für Sorbacov gearbeitet hatten. Hätte Viktor nicht mitgemacht, wäre einer seiner Brüder gefoltert und getötet worden.

Also hatte er die schmutzigsten Jobs angenommen, sie überlebt und weitergearbeitet, bis er wusste, dass es sicher war abzutauchen. Wie die anderen hatte er einen Haufen Geld beiseitegeschafft und sich viele Identitäten zugelegt. Doch dann hatte er seine Traumfrau kennengelernt und plante, den Rest seines Lebens mit ihr zu verbringen. Aber Sorbacov hatte von ihm verlangt, Evan Shackler-Gratsos zu eliminieren, oder Viktors jüngster Bruder, der für Interpol arbeitete, würde getötet, und so konnte er nicht aufhören.

Reaper hob eine Hand und sprach in das Funkgerät. »Hier ist alles klar«, erklärte er, den Wachmann perfekt imitierend. »Alles ruhig. Ja, es kommt etwas Wind auf.«

Viktor grinste ihm anerkennend zu. Er bewunderte seine Brüder für ihre unterschiedlichen Talente, Fähigkeiten, von denen Sorbacov nie etwas erfahren hatte. Zusammen waren sie unschlagbar. Sie hatten überlebt, weil sie sich zusammengetan und diese Talente genutzt hatten.

Er blickte an der Seite des Gebäudes nach oben. Aus dem Westen kamen kräftige Windböen, aber bislang regnete es noch nicht. Vereinzelte Tropfen waren zu spüren, und dunkle Wolken jagten über den Himmel, doch das Klettern würde nicht allzu schwierig werden.

»Weiß deine Frau, was du machst?«, fragte Reaper.

Er nickte, noch immer die Seite des Gebäudes im Blick, und überlegte, wie er am besten hinaufkommen konnte. »Ich habe ihr alles gesagt. Das musste ich tun. Durch sie bin ich an ihren Stiefvater herangekommen. Er war ein notorischer Pädophiler, reiste um die ganze Welt und erstellte ein Netzwerk für seinesgleichen, für den Handel mit kleinen Jungen. Ich habe mich rettungslos in sie verliebt, wusste sofort, dass sie die Richtige ist. Es war ätzend, undercover zu sein, aber ich habe sie rechtmäßig geheiratet. Also musste ich ihr alles sagen. Ich musste wieder weg, aber ich versprach ihr, ich würde zu ihr zurückkommen.«

»Was hat sie gesagt, nachdem du ihren Stiefvater beseitigt hattest?«

»Ich erklärte ihr, wer er war und weshalb er nicht vor Gericht gestellt werden konnte.« Inzwischen wusste Viktor, wie er auf das Dach kommen würde.

»Was hat sie gesagt?«, wiederholte Reaper.

»Ich habe ihr alles aufgeschrieben und den Brief auf unserem Bett liegen lassen. Seither habe ich nicht mehr mit ihr gesprochen. Ich wagte nicht, Kontakt zu ihr aufzunehmen – das hätte sie zu sehr in Gefahr gebracht –, aber ich schickte ihr Hunderte SMS, in denen ich ihr versicherte, ich würde nach Hause kommen. Sie lebt in Sea Haven, dem kleinen Ort, wohin uns der Präsident schickte, um seine Ankunft dort vorzubereiten.«

Reaper schüttelte den Kopf. »Zar, du bist der gescheiteste Mensch, den ich kenne, und ich respektiere dich total, aber das ist das Dümmste, was ich je gehört habe. Du hinterlässt deinem Mädchen eine Nachricht auf dem Bett und setzt dich dann für volle fünf Jahre ab!«

Viktor blickte ihn finster an. »Sie ist kein Mädchen, sondern meine Frau! Das ist ein Unterschied.«

»Du bist völlig bescheuert. Klettere da hinauf und gib uns unsere Befehle, damit wir das hier hinter uns bringen und nach Sea Haven aufbrechen können. Ich kann es nicht erwarten, diese Frau kennenzulernen, die fünf Jahre lang auf dich wartet, ohne ein persönliches Wort von dir.«

Reaper sprach aus, was Viktor bereits wusste. Er war bescheuert. Ein paar Wochen zuvor hatte er zufällig Blythes Schwester getroffen, und sie hatte mehr oder weniger durchblicken lassen, dass Blythe ihr Leben weiterlebte.

»Wenn Evan endlich aus seinem Versteck kommt und mit den Swords nach Sea Haven fährt, wird die Sache ein Ende finden, und ich kann alles mit ihr klären.« Er befürchtete allerdings, dass es so einfach nicht gehen würde. »Da wohnt sie mit den anderen.«

Das wusste Reaper natürlich. Alle siebzehn Mitglieder des Klubs wussten es genau. Sie hatten alle geschworen, sich im Falle seines Todes um Blythe Daniels zu kümmern. Sie lebte mit fünf anderen Frauen auf einer Farm in Sea Haven.

Das Signal »alles ruhig«, auf das Viktor gewartet hatte, kam. Er zog sich an den Fingern hoch, bis er mit den Zehen einen Halt fand, und kletterte dann rasch nach oben. Er war groß und unglaublich stark und kam sehr gut voran. Wie sie alle hielt er sich stets so fit wie möglich und trainierte regelmäßig.

Oben angekommen, überquerte er das flache Dach rasch in geduckter Haltung bis zu dem riesigen Ventilator, der in der abendlichen Hitze rotierte, und verschwand dort im Schatten der Nacht. Er wartete eine Sekunde und deutete dann mit einem Kopfnicken die genaue Position der drei Männer an, die, ausgerüstet mit automatischen Gewehren und Nachtsichtgeräten, auf dem nächsten Dach saßen.

Drei Mann auf dem Dach. Sie erwarten uns, teilte er seinem Team telepathisch mit. Nachtsichtgeräte. Sie haben das Gebäude umstellt. Reaper, du bist dran. Ice, du und Storm, ihr nehmt euch die beiden auf der Westseite vor. Wenn wir das durchziehen wollen, brauchen wir einen Fluchtweg. Von seinem Aussichtspunkt auf dem Dach aus dirigierte Viktor die Aktion.

Der Wind hatte zugenommen, er zerrte an seiner Kleidung und wirbelte Schmutz um ihn herum auf. Die Wolken zogen dunkel und schwer über den Himmel, sie drohten, dass gleich die Hölle losbrechen werde – und so kam es auch.

Unter ihm bewegte sich Isaak »Ice« Koval durch das Dunkel und tauchte hinter einem der beiden Wachmänner an der entfernten Ecke des Gebäudes auf. Reaper würde wie Viktor an der Seite des anderen Gebäudes hochklettern müssen, ehe er die drei Wachen auf dem Dach ausschalten konnte. Eigentlich waren es keine Wachen – sie waren nur da, um Viktors Team zu töten. Die beiden mussten sich um die Swords kümmern, die das Gebäude im Westen absicherten.

Einer erledigt, berichtete Ice.

Zwei erledigt, korrigierte Dimitri »Storm« Koval.

Transporter, du gehst mit Alena an die Ostseite, zur Front des Gebäudes. Bleibt in Position. Wir wollen, dass keiner irgendetwas mitkriegt, bis es zu spät ist. Alena Koval war die kleine Schwester von Isaak und Dimitri, eine der nur zwei weiblichen Überlebenden der Schule. Natürlich passten die Männer extrem auf die beiden Frauen auf, und auch wenn sie zum Team gehörten und über eigene, einzigartige Talente verfügten, wurden sie in jeder Situation so gut wie irgend möglich beschützt. Pytor »Transporter« Bolotan wusste, dass sein Job für sie alle einer der wichtigsten war.

Gehe auf Position, Zar, berichtete Transporter.

Viktor hatte das schon so oft gemacht, hatte gefährliche Missionen organisiert und durchgeführt, seine Brüder wieder und wieder in die Schusslinie gestellt. Was es jetzt jedes Mal so schwer für ihn machte, war das Wissen, dass sich die anderen alle aus freien Stücken den Swords angeschlossen hatten, einzig um ihn zu unterstützen. Reaper mochte versuchen, es ihm zu erklären, und irgendwie verstand er es auch, aber das beseitigte weder sein Schuldgefühl noch das Wissen, dass, falls heute Nacht einer von ihnen umkäme, dieser Tod schwer auf ihm lasten würde.

Seine Brüder attackierten zwei Ortsgruppen gleichzeitig. Sein Vizepräsident Lyov »Steele« Russak hatte ein eigenes Team aus acht Männern und einer Frau und versuchte, exakt das Gleiche zu machen, was Viktor hier tat. Sie griffen zweihundert Meilen weit weg eine andere Gruppe der Swords an, so wie sie es in den letzten drei Jahren immer gemacht hatten. Ein Doppelleben zu führen, undercover, dem Tod immer einen Schritt voraus, war für sie normal, aber es forderte auch seinen Tribut.

Storm und Ice, folgt Reaper nach oben und wartet, bis er euch grünes Licht gibt. Viktor bemerkte einen Geschmack im Mund, der mit Furcht um seine Brüder zu tun hatte.

Die drei Männer würden die Wachen an der Rückseite der Lagerhalle eliminieren, in der die Swords-Gruppe die Mädchen gefangen hielt. Reaper würde als Erster hinaufklettern, die drei mit Nachtsichtgeräten und Teleskopen ausgerüsteten Männer töten und dann das restliche Team nachholen. Er würde also wieder einmal den gefährlichsten Teil übernehmen. Doch das war schon so, seit er fünf Jahre alt gewesen war.

Savage und Absinth, ihr übernehmt die Wand im Norden. Ein Mann sitzt am Steuer eines auf der Straße geparkten Lieferwagens, er gibt vor zu schlafen, und zwei weitere verstecken sich in der langen Hecke knapp zehn Meter vom Gebäude weg. Savin »Savage« Pajari, »der Wilde«, war der jüngere Bruder von Reaper und wie dieser ein sehr Furcht einflößender Mensch. Er rasierte sich den Schädel, hatte mehr Tattoos als die meisten von ihnen, und manchmal schüttelte es Viktor innerlich, wenn er ihn mit seinem leeren Blick ansah – und das schaffte so leicht keiner.

Absinth war ein wenig entspannter, aber nicht weniger todbringend. Aleksei »Absinth« Solokov hätte vielleicht ein großer Staatsmann sein können, ein Mann, der viel für sein Land bewirkt hätte. Aber Sorbacov hatte sich nie gefragt, welche Potenziale in den Söhnen und Töchtern seiner politischen Gegner schlummerten; er hatte einfach verfügt, wer von ihnen als Agent eingesetzt werden sollte und wen er aus seiner Verachtung für die Eltern heraus »nur« als medizinisches Versuchskaninchen und Folteropfer benutzen wollte. Absinth mochte das Töten nicht, aber er hatte es gelernt, und da er in allem, was er tat, hervorragend war, war er auch darin gut.

Ihr müsst erst die beiden in der Hecke erledigen und dann den im Lieferwagen kaltmachen, ehe er Alarm schlagen kann. Viktor suchte weiter die Gegend im Norden ab. Aus Erfahrung wusste er, dass jede Ortsgruppe eine gewisse Anzahl von Mitgliedern hatte. Bislang hatten sein Team und er die Mitglieder der Swords jedes Mal, wenn sie neue Mädchen anbrachten, eiskalt getötet. Und jedes Mal, wenn er von einem neuen Kontingent hörte, erstellte er zusammen mit Steele einen Plan, um die Mädchen zu befreien und bei möglichst geringem Risiko für sie selbst möglichst viele der Swords kaltzumachen. Das hatte den Klub über die Jahre schwer mitgenommen; deshalb waren die Sicherheitsmaßnahmen erhöht worden und die Risiken für Viktors Leute somit gestiegen.

Sein Blick suchte weiter den Norden ab, während Savage und Absinth die beiden Swords in der Hecke beseitigten und hinter den Büschen verschwinden ließen. Dann ging Savage in Position und wartete auf Viktors Signal, um über die offene Fläche zu dem Lieferwagen rennen zu können. Natürlich würde die gefährlichste Rolle wieder er einnehmen.

Viktor musste dafür sorgen, dass die drei Scharfschützen auf dem Dach des nächsten Gebäudes nicht nach Norden blickten und der Kerl im Lieferwagen nicht darauf achtete, was sich vor ihm abspielte. Er schien nervös zu sein, er schaute ständig hinter sich und um den Wagen herum, aber nicht nach vorne. Fast hätte Viktor »Alles klar« signalisiert, doch plötzlich ließ die Art und Weise, wie der Mann den Kopf schief legte, um auf den Rücksitz zu schauen, ihm sämtliche Körperhaare zu Berge stehen.

Es ist eine Falle, Savage, in dem Lieferwagen ist nicht nur der Fahrer!

Verstanden.

Etwas bewegte sich, ein Schatten huschte von der Hecke zu einem Busch – Reaper kam seinem Bruder und Absinth zu Hilfe. Natürlich Reaper, wer sonst. Eigentlich hatte Viktor dieses Mal gezögert, ihn und Savage mitzunehmen. Er hatte sich in den letzten Monaten Sorgen um die beiden Männer gemacht, mit denen er aufgewachsen war. Sie waren schon als Kinder sehr anders gewesen, doch nun entwuchsen sie der Bruderschaft. Sie waren ruhiger, kälter, ihr Blick wie Eis. Sie lächelten nie, nicht einmal wegen Lana oder Alena, Frauen, die für sie wie jüngere Schwestern waren. Dabei konnte Lana, wenn sie zu singen begann, mit ihrer so sanften wie hinreißenden Stimme selbst in den härtesten Zeiten jedem anderen ein Lächeln abringen.

Es war seine Schuld. Wenn Savage oder Reaper etwas zustoßen sollte, dann würde das schwer auf ihm lasten. Die Bruderschaft hatte einen Pakt geschlossen zu verschwinden, und die anderen hatten das einer nach dem anderen getan. Sie hatten ihre Namen geändert, waren zu Chamäleons geworden und hatten sich in die Welt eingefügt, wie es ihnen von Kindesbeinen an beigebracht worden war. Nicht so Viktor. Er hatte einen letzten Auftrag angenommen, weil Evan Shackler-Gratsos ihn krank machte und weil er seine leiblichen Brüder beschützen musste. Monster wie Evan sollten gar nicht leben dürfen. An Sorbacov, den Mann, der seine Eltern ermordet und ihm seine Brüder weggenommen hatte, kam Viktor nicht heran, aber er hatte die Chance, Evan kaltzumachen.

Loyalität war etwas Seltsames, ein Charakterzug, den er bei anderen suchte, und er hatte ihn gefunden in der Schule, in die Sorbacov ihn gesteckt hatte. Nur achtzehn der zweihundertsiebenundachtzig Schüler hatten die Ausbildung überlebt – ihrer Loyalität wegen. Sie hatten sich unter Viktors Führung zusammengetan und waren durch ihr Überleben zu Brüdern und Schwestern geworden. Trotz Folter, unmenschlichem Training, Töten und der ständigen Gefahr, getötet zu werden. Und es waren Reaper und Savage gewesen, die am meisten gemordet hatten, damit die anderen leben konnten.

Obwohl die anderen in alle Winde verstreut waren, sodass Sorbacov sie unmöglich finden konnte, waren sie ihm einer nach dem anderen gefolgt bei seiner Mission, die Welt von Evan Shackler-Gratsos zu befreien, dem internationalen Präsidenten der Swords, der berüchtigtsten Bikergang überhaupt. Evan hatte ein milliardenschweres Unternehmen aufgebaut – mit Menschenhandel. Junge Frauen, Mädchen, Jungen. Menschenleben bedeuteten ihm nichts, für ihn zählten nur Macht und Geld.

Viktor hatte das Torpedo-Ink-Abzeichen, das Abzeichen seiner Bruderschaft, abgelegt und das verhasste Swords-Abzeichen getragen. Er hatte alles getan, was nötig war, um in diesen Klub einzusteigen und sich darin hochzuarbeiten. Dabei hatte es ihm oft den Magen umgedreht – und dazu brauchte es eine ganze Menge –, doch er hatte sein Ziel stets im Auge behalten und so viele der Menschenhändlergruppen wie möglich zerschlagen, ohne seine Mission zu gefährden.

Was ist der Plan, Zar, fragte Reaper.

Habt ihr Schalldämpfer an euren Knarren? Viktor kannte die Antwort. Natürlich hatten sie welche. So ziemlich jeder Mord, den die beiden Brüder begingen, geschah still und leise. Sie waren sozusagen die Stille in Person.

Aber sicher doch.

Wenn Absinth den Fahrer erledigt, übernehmt ihr beide den Rücksitz des Wagens. Ihr müsst schnell und gründlich sein. Kein Laut. Zeitgleich mit Absinth.

Kein Problem, meldete Savage.

Viktor beobachtete die Szene, und obwohl er seinen Körper hervorragend beherrschte, pochte sein Herz spürbar. Das Beste, was er für sie tun konnte, war, ihnen vom Dach aus Deckung zu geben, und das tat er, wenngleich er die Wachen im Auge behalten musste, um sicherzustellen, dass sie nicht gesehen wurden.

Ich brauche ein bisschen Unruhe, Transporter, du und Alena müsst dafür sorgen, aber passt auf, dass ihr dabei keinerlei Aufmerksamkeit auf euch lenkt.

Transporter war ein menschlicher Computer. Seine Auge- Hand-Koordination war erstaunlich, aber er konnte auch innerhalb von Minuten ein Buch lesen und sich den Inhalt komplett merken. Was Sprachen anbelangte, funktionierte er ebenso. Bei all ihren Plänen, sesshaft zu werden, wenn dies einmal vorbei war, spielte er eine maßgebliche Rolle. Außerdem erledigte er mit einigen anderen die Feinarbeit an ihren Autos und Motorrädern.

Kein Problem, Zar. Gleich kommt was.

Zwei Minuten später brach am Ende der Schlange wartender Freier ein handgreiflicher Streit aus. Alle drei Wachen rannten hinüber, um zu sehen, was los war, die Waffen schussbereit.

Das sollte uns ein wenig Zeit verschaffen, meinte Transporter.

Jetzt. Jetzt. Viktor gab das Zeichen.

Er schob das Gewehr an die Schulter. Dies war ein brisanter Augenblick. Wenn die Wachen auf dem Dach wieder ihrer Routine folgten, ehe Absinth, Reaper und Savage die Besatzung des Lieferwagens eliminiert hatten, und Viktor ihnen den Rücken zuwandte, würde alles verloren sein und ein irrsinniges Feuergefecht ausbrechen.

Seine drei Brüder bezogen Stellung. Er sah Reaper den Befehl geben. Reaper und Savage traten an die Türen des Lieferwagens, rissen sie auf und feuerten sofort. Viktor wusste aus langer Erfahrung, dass jede abgegebene Kugel ihr Ziel traf. Gleichzeitig erschien Absinth vor der Windschutzscheibe und jagte dem Mann hinter dem Steuer eine Kugel in den Kopf. Reaper und Savage schlossen leise die Wagentüren und verschwanden in den Hecken längs der Lagerhalle. Absinth folgte ihnen, und dann kehrte Reaper zu seinem Aufstiegspunkt zurück.

Viktor ging auf seine ursprüngliche Position, um von dort die Wachen zu beobachten. Los, Reaper, ordnete er an.

Einer Spinne gleich kletterte Reaper die Seitenwand hinauf. Er war stark. Unglaublich stark. Er kam rasch voran, doch wenn er still hielt, wurde er wie Viktor unsichtbar. Was allerdings wesentlich schwieriger war, wenn der Feind über Nachtsichtgeräte verfügte.

Nachtsichtgläser, erinnerte Viktor ihn, damit Reaper nicht leichtsinnig wurde.

Bin auf dem Dach, berichtete dieser.

Er war nicht zu sehen, musste aber absolut leise vorgehen, denn ansonsten würden die in der Halle gewarnt, die gerade die neu eingetroffenen Mädchen gewaltsam auf ihr neues Leben vorbereiteten. Reaper konnte vollkommen lautlos operieren. Wenn er sagte, er sei auf dem Dach, dann war er dort.

Ice, Storm, klettert hoch, aber haltet euch zurück, bis ich euch Zeichen gebe.

Zwei weitere seiner Torpedo-Ink-Brüder folgten Reaper auf das Dach hinauf. Ice und sein Zwillingsbruder Storm gingen schnellstmöglich auf Position. Sobald Reaper die Wachen ausgelöscht hatte, würden sie über das Dach in die Räumlichkeiten darunter einsteigen.

Ice hatte drei Tränen ins Gesicht tätowiert. Er hatte seit dem Alter von drei Jahren nicht mehr geweint; damals hatten ihn die abscheulichen Ausbilder Viktor weggenommen, obwohl er sich schreiend und mit Händen und Füßen gewehrt hatte. Zurückgekommen war er still und blutbesudelt, mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen und psychisch schwer angeschlagen. Er konnte die Temperatur in einem Raum rasch absenken oder sie ebenso schnell ansteigen lassen. Bei Storm vermutete Viktor, dass etwas Unkontrollierbares, Wildes in ihm entfesselt worden war, als die Ausbilder ihn sich holten, und wenn nun das Bedürfnis nach Rache in ihm wütete, brach diese Wildheit aus ihm heraus und nährte die Stürme um ihn herum.

Reaper tauchte gleich einem Gespenst hinter der ersten Wache auf. Der Mann drehte noch den Kopf und sah ihn durch sein Nachtsichtgerät an. Viktor hatte seine Waffe im Anschlag, zielte und konnte sich gerade noch davon abhalten abzudrücken, als der Wachmann den Blick abwandte. Wie machte Reaper das? Er redete nicht viel, deshalb war es unmöglich zu begreifen, wie er mit seinen Tricks immer davonkam.

Viktor fluchte leise in seiner Muttersprache und wünschte sich, er könne die Befehle, die er am Morgen ausgegeben hatte, zurücknehmen. Nicht dass er Reaper für leichtsinnig hielt – das war er nie. Eher war er aufmerksamer und bewusster denn je. Aber er zog sich immer mehr in sich selbst zurück und wurde zunehmend kälter. Doch immer noch kälter zu werden, das ging einfach nicht.

Reaper trat hinter den Wachmann, direkt im Gesichtsfeld der beiden anderen, falls sie sich umdrehten. Ein Geräusch, ein Fehler, und es würde vorbei sein. Viktor wusste, dass sich Reaper nie einen Fehler leistete. Auf Reaper hatte er immer zählen können. Er war stets für seine Brüder und Schwestern eingestanden. Er sprach nie darüber, aber seinen ersten Mord hatte er begangen, um einen Jungen zu schützen, der ihn später verriet. Damals hatte Reapers langsamer Rückzug von den anderen angefangen.

Nun waren sie noch achtzehn. Reaper und Savage beschützten sie noch immer, töteten noch immer für sie, aber sie taten es jetzt etwas abseits von den anderen. Viktor verstand, weshalb das so sein musste, aber es gefiel ihm nicht. Reaper und Savage war stets klar, sollte es noch einmal zu einem Verrat kommen, dann würden sie es sein, die töten mussten. Zögern konnten sie dabei nicht, nicht, wenn sie die anderen in Sicherheit wissen wollten.

Reaper tötete einfach, indem er sein Messer in die Schädelbasis des Opfers rammte und die Wirbelsäule durchtrennte. Er fing das Gewehr und die Leiche auf und ließ beides langsam auf das Dach des Gebäudes sinken. Eine Szene, die fast etwas von Schönheit hatte, dachte Viktor. Reaper tötete mit maximaler Effizienz und minimalem Aufwand. Er drohte nicht. Er warf sich nicht in Pose. Man fürchtete ihn wegen seiner Ausstrahlung, welche besagte: Leg dich nicht mit mir an. Die meiste Zeit sah man ihn nicht einmal – bis er gesehen werden wollte. Er blieb im Hintergrund, hinter Viktor, bis er, so wie jetzt, an die Arbeit ging.

Viktor beobachtete die anderen beiden Wachen aufmerksam. Ice und Storm blieben an der Mauer, oben, aber außer Sicht, und warteten auf Reapers Signal. Mechaniker, sobald du am Ventilator dran bist, übernimmst du die Rolle des Wachmanns. Wir brauchen einen Fluchtweg. Nikolaos »Mechaniker« Bolotan war Transporters älterer leiblicher Bruder.

Alles klar.

Absinth und Savage, Mechaniker, klettert los.

Die drei kamen rasch zu ihm herauf, geduckt, damit die beiden verbliebenen Wachen sie nicht entdeckten.

Reaper ging den zweiten Mann an und senkte ihn langsam auf das Dach des Gebäudes. Der letzte wandte noch immer nicht den Kopf. Brachte Reaper ihn telepathisch dazu, in die andere Richtung zu schauen? Wenn ja, dann hatte er den anderen nie von dieser Fähigkeit erzählt. Er bewegte sich wie das Gespenst, das er war, ein Todbringer, richtete sich hinter dem dritten Wachmann auf und vollführte dasselbe Ritual, jagte ihm das Messer unter den Schädel und durchtrennte die Wirbelsäule.

Wieder fluchte Viktor, als Reaper über das Dach blickte und perfekt den Ruf einer Eule imitierte, ein gelegentlich zu hörender Laut, bei dem man unwillkürlich fröstelte. Für Viktor bedeutete dieser ominöse Ruf Tod. Reaper rief das Team zusammen, nachdem er gemordet hatte. Er konnte alles und jeden imitieren, wie auch sein Bruder Savage.

Kaum war der Eulenruf verklungen, waren Ice und Storm, die beiden Brüder, bei Reaper auf dem Dach angelangt. Viktor lief bereits in vollem Tempo von einem Dach zum nächsten, begleitet von Mechaniker, Savage und Absinth. Sie erreichten es, blieben geduckt, um nicht ins Blickfeld der unten versteckten Männer zu kommen, die darauf warteten, dass die nächste Ladung junger Mädchen von irgendwo aus dem Land herangeschafft würde. Ohio. Arizona. Kalifornien.

Oberhalb des Einstiegs stießen Ice und Storm zu ihnen. Die großen Blätter des Ventilators drehten sich mit hohem Tempo hinter einer Abschirmung. Auf der Rückseite des Geräts war dasselbe Gitter, und dieses musste verschwinden, bevor sie in das Gebäude eindringen konnten.

Mechaniker kauerte bereits neben dem Ventilator, um es zu beseitigen. Er hatte seinen Spitznamen nicht ohne Grund, und nicht nur wegen der Bikes und der Schlitten, die er Sonderwünschen entsprechend umbaute, sondern weil er jede Art der Metallbearbeitung und Elektronik beherrschte. Schon in der Schule hätten sie ohne ihn nicht überlebt, und er wurde eine umso wertvollere Hilfe, je besser er lernte, seine Gabe zu kontrollieren und zu fördern.

Storm wartete, eine Hand auf die Schulter seines Bruders gelegt, bis der riesige Ventilator immer langsamer wurde. Sie mussten rasch vorgehen, damit im Gebäude niemand mitbekam, was vor sich ging. Doch dazu musste der Ventilator weitersurren; wie bei einem Kühlschrank würde man erst bemerken, dass etwas nicht stimmte, wenn das Geräusch nicht mehr da war. Während Mechaniker daran arbeitete, den Ventilator zum Stehen zu bringen, erzeugte Storm das entsprechende Geräusch und projizierte es in das Gebäude unter ihnen.

Viktor schaute zu, wie sie perfekt zusammenarbeiteten, etwas, das seine Brüder seit ihrer Jugend praktizierten. Durch ihre Kunst, ihre Talente nahtlos ineinanderfließen zu lassen, hatten sie den Wahnsinn, in dem sie aufgewachsen waren, überstehen können. Die Gaben, über die jeder Einzelne verfügte, hatten ihn immer erstaunt.

Der Ventilator wurde langsamer und blieb schließlich stehen. Ice hatte inzwischen das Schutzgitter nach hinten gebogen und war hinter Storm durchgeklettert. Er musste so schnell wie möglich das nächste Gitter abmontieren, während Mechaniker dafür sorgte, dass sich der Ventilator nicht bewegte. Das war nicht leicht, und die Anstrengung machte sich bemerkbar. Kleine Schweißperlen rannen ihm über das Gesicht, doch er hielt durch, bis Ice und Storm das zweite Gitter entfernt hatten.

Die beiden beeilten sich durchzuklettern, Viktor bildete die Nachhut und wartete, bis auch Reaper, als Letzter, durch war. Mechaniker blieb als Wache auf dem Dach zurück und stellte sicher, dass sie notfalls einen Fluchtweg hatten. Sobald Viktor den langen Speicher betrat, begann sich der Ventilator hinter ihm wieder zu drehen.

Kapitel 2

Masken. Denkt daran, auch die Ärmel runterzuziehen, damit absolut keine Möglichkeit besteht, dass jemand erkannt wird. Lasst die Handschuhe an – ihr kennt die Routine. Viktor erteilte Befehle. Es kam darauf an, schnell hinein- und wieder hinauszukommen. Ein Blitzschlag, und sie wurden zu Phantomen.

Er wartete, während sich die anderen, lautlosen Gespenstern gleich, an den Balken über den schmutzigen Räumen entlang bewegten, in denen die Frauen untergebracht waren. Sie hatten das schon so oft gemacht, dass es wie am Schnürchen klappte. Als Erstes nahmen sie sich immer die einzelnen Kabinen vor. Sie mussten absolut leise sein und darauf vertrauen, dass die Mädchen ruhig blieben. Dann stellten sie die Monitore in den Fluren ab. Als Nächstes war der »Schulungsraum« dran, und danach schalteten sie so viele der in einer Schlange anstehenden Freier wie möglich aus, um sich schließlich aus dem Staub zu machen.

Er gab Handzeichen, und seine Männer verteilten sich, ein jeder nahm sich eines der Zimmerchen vor. Es waren keine richtigen Zimmer, eher provisorische Kabinen, vier Wände mit offener Decke, die der Swords-Klub mit einem Lkw von einem Einsatzort zum nächsten transportierte. Sie konnten die klapprigen Dinger innerhalb einer Stunde auf- und abbauen. Das geschah immer nachts, der Ortswechsel wurde jeweils über das Internet bekannt gegeben, und Stammkunden bekamen eine Mitteilung per SMS – nur eine Adresse.

Viktor gab das Signal, und jeder seiner Männer verschwand in einem der winzigen Räume. Er ließ sich hinter seinem Opfer fallen, rammte ihm das Messer tief in die Schädelbasis und zog die Leiche gleichzeitig von der jungen Frau weg. Sie riss vor Schreck Mund und Augen auf, er legte ihr eine Hand auf die Lippen. »Wir holen dich hier raus.«

Er wartete, bis sie es begriffen hatte. Einen Moment lang leuchtete Hoffnung in ihrem Blick auf, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Sie haben Männer, die schon auf euch warten. Sie reden die ganze Zeit von nichts anderem.« Sie sprach leise. »Wir haben nie geglaubt, dass ihr kommen würdet.«

Es hatte sich also schon bis zu den Mädchen herumgesprochen. Das machte seinen Job leichter. Manchmal war es schwierig, ihnen klarzumachen, dass sie befreit wurden. Natürlich benachrichtigte er jedes Mal anonym die Polizei, aber das war immer Glückssache. Die Swords hatten Geld, mehr Geld als jeder andere Klub hier im Westen, seinen eingeschlossen, obwohl sein genialer Schatzmeister in den letzten vier Jahren viel auf die Konten des Torpedo-Ink-Klubs abgezweigt hatte, und wenn dies hier vorbei war, dann würden sie Evans Geld haben.

»Still. Ich hole dich, wenn es vorbei ist.« Er wartete ihr Nicken ab, sprang dann auf und zog sich an der Kante der dünnen Bretterwand zum Deckengebälk hoch.

Am Dachbalken entlangschreitend sah er, dass sein Team gut vorangekommen war. Er kletterte noch ein zweites und drittes Mal in eine Kabine, dann hatten sie alle Mädchen befreit. Der Korridor war immer der gefährlichste Teil. In den Kabinen hatten sie den Feind in weniger als zwei Minuten ausgelöscht, aber die Wachen auf dem Flur konnten jeden Moment bei einer der Frauen nachsehen. Also mussten sie noch schneller arbeiten.

Jeder seines Teams gab ihm zu verstehen, welche der Wachen im Gang er sich vornehmen würde. Sie waren zwei Mann weniger, weil Transporter den Haupteingang bewachte und Mechaniker den Weg nach draußen. Reaper und Savage signalisierten, sich die beiden überzähligen vorzuknöpfen. Das überraschte Viktor nicht weiter. Sie waren blitzschnell. Es wunderte ihn auch nicht im Mindesten, dass sich die beiden, die sie ausgesucht hatten, in der Nähe der Zielperson aufhielten, die er sich auserkoren hatte. Reaper stand immer hinter ihm.

Viktor lief flink den Balken entlang und wartete dann direkt über seinem Opfer, bereit zuzuschlagen. Sobald sie alle in Stellung waren, gab er das Zeichen, und sie stürzten sich alle koordiniert auf den Feind und trennten den Männern unter dem Schädel die Wirbelsäule durch. Viktor drehte sich noch zu den beiden um, die sich Reaper und Savage zusätzlich vorgenommen hatten, aber sie sanken bereits beide zu Boden, fast wie in Zeitlupe.

Er duckte sich, sprang zur Wand, zog sich daran hoch und lief über den Dachbalken zurück zum Schulungsraum. Sein Bauch krampfte sich zusammen; die Wut, die darin glühte, begann sich bemerkbar zu machen. Er konnte es nicht ausstehen, die jungen Frauen so fertig und teilnahmslos zu sehen, dass sie sich nicht einmal mucksten, wenn ein Mann nach dem anderen zu ihnen kam, doch die »Ausbildung«, die Vergewaltigungen und Schläge, warfen ihn immer in seine eigene Kindheit zurück. Wäre es ihm möglich gewesen, er hätte sämtliche Mitglieder der Swords von der Erde getilgt.

Viktor. Absinth berührte seinen Arm, unterbrach seine Gedanken. Lass das dieses Mal uns machen. Du nimmst dir den Schulungsraum jedes Mal vor.

Viktor entgegnete nichts. Er konnte nichts erwidern. Es ging absolut nicht an, dass er nichts tat, wenn die anderen ihr Leben riskierten, um das zu tun, was zu tun er sich geschworen hatte – Evan Shackler-Gratsos davon abzubringen, Frauen und Kinder zu verschachern. Reaper und Savage nahmen ihn in ihre Mitte.

Viktor blickte in die Kabine unter ihnen. Obwohl die Swords mit Problemen rechneten, arbeiteten sie weiter mit den neuen Mädchen. Und arbeiten bedeutete, sie immer wieder zu schlagen, zu vergewaltigen und einzuschüchtern. Er hatte solche Szenen oft genug beobachtet und meinte, er müsse eigentlich inzwischen gegen jegliche Emotionen immun sein, oder zumindest abgestumpft, aber er war es nicht. Bei dem Anblick wurde ihm nicht nur übel, sondern diese nagende Wut in seinem Bauch gedieh zu einem rasenden Sturm.

Viktor konnte es nicht aushalten, die verhärmten, geschwollenen Gesichter der Mädchen anzusehen, ihre hoffnungslosen, leeren Blicke, während sie dalagen und den nächsten gesichtslosen Mann erwarteten, der sie benutzte, um sie dann ihrem Schicksal zu überlassen. Einen Moment lang schloss er die Augen, und sofort überfluteten ihn Bilder aus seiner eigenen Kindheit, derselbe hoffnungslose Blick in so vielen Gesichtern. Die Wut steigerte sich von einem Feuerinferno zu einem vollen Vulkanausbruch.

Er sah seine Männer nicht an. Er konnte es nicht. Bestimmt hatten auch sie Albträume, genau wie er. Und er wusste, in ihnen tobte dieselbe Wut auf jene Typen, die gegen Kinder, junge Männer und Frauen derartige Gewaltakte verüben konnten.

Sieben Mädchen im Alter von etwa elf bis fünfzehn Jahren lagen auf schmutzigen Matratzen in der Ecke, weinten leise und versuchten, ihr Schluchzen zu unterdrücken, während vier Kerle einem achten Mädchen Gewalt antaten. Dieses kam ihm vor wie ein Baby, nicht älter als elf, vielleicht noch jünger. Sie hatte sich gewehrt, aber jeglicher Widerstand war aus ihr herausgeprügelt worden. Doch auch das half ihr nicht; die Männer um sie herum hörten nicht auf.

Alle Mädchen zeigten Anzeichen von Vergewaltigung und Schlägen. Sie blickten schockiert, verstört und schon jetzt völlig hoffnungslos. Drei von ihnen schienen Kämpfernaturen zu sein; vor allem eine sah aus, als habe sie mehrmals versucht, dem Mädchen, das gerade »in Arbeit« war, zu helfen. Während Viktor weiter beobachtete, versuchte sie es noch einmal und wurde dafür brutal niedergeschlagen. Als sie am Boden lag, trat einer der Kerle ihr so heftig in den Bauch, dass Viktor zusammenzuckte und ihn aus den Augenwinkeln musterte, sobald er sich wieder dem Mädchen zuwandte, das gerade vergewaltigt wurde.

Zeitgleich ließen sich Viktor, Reaper, Savage und Absinth von hinten auf den Feind fallen; Ice und Storm gaben ihnen von oben Deckung. Der, den sich Viktor ausgesucht hatte, musste ein Aufblitzen von Hoffnung oder Schock in den Augen seines Opfers erkannt haben, denn er wollte sich umdrehen. Er hatte die Jeans bis zu den Knöcheln hinuntergelassen, stolperte und fiel auf den Mann neben ihm. Noch ehe er einen Laut von sich geben konnte, stach Viktor ihm das Messer in die Kehle und durchtrennte ihm dann beide Halsschlagadern. Savage wandte sich den Mädchen zu, einen Finger auf die Lippen gelegt. Trotzdem schrien zwei der jüngsten auf. Eine, die Kämpferin, kroch blitzschnell zu ihnen und bedeckte ihre Münder.

»Wir holen euch hier raus«, versicherte Viktor ihnen. »Aber erst müssen wir noch die Wachen draußen beseitigen. Seht zu, dass sie ruhig bleiben, und wartet, bis ihr ein Zeichen bekommt. Alles klar?«

Behutsam zog er das Mädchen unter den vier toten Männern hervor und trug es zu jenem, das noch einen Rest von Kampfgeist in sich hatte.

»Zoe«, flüsterte die Kämpferische mit Tränen in den Augen, drückte die Kleine sanft an sich und wiegte sie. Zoe erwiderte nichts. Sie hatte sich innerlich an einen anderen Ort begeben. Zu oft schon hatte Viktor eine solche Szene gesehen.

»Kümmere dich um sie. Und ihr bleibt alle ganz still und versucht, nicht auf die Toten zu schauen.«

Die kleine Kämpferin nickte. Viktor nahm sich vor, später noch einmal nach ihr zu schauen, nur um sich zu versichern, dass sie alles verstanden hatte. »Wie heißt du?«

Sie hob das Kinn an, wissend, was er sah und auch, dass er wusste, was diese Männer ihnen angetan hatten. »Darby. Darby Henessy.«

»Haltet durch, wir holen euch hier raus.« Er hasste es jedes Mal wieder, sie allein zurückzulassen. Aber er konnte nicht die Welt retten, sondern lediglich sein Bestes tun. Er hatte sie befreit, und nun war es an ihnen, ihr Leben wieder auf die Reihe zu bekommen. Das würde nicht leicht sein, das wusste er besser als die meisten anderen.

Über die Dachbalken gelangten sie rasch zurück zu ihrem Einstieg. Geschafft, informierte er Mechaniker und Transporter.

Mechaniker brachte sofort den Ventilator zum Stehen, dieses Mal, ohne sich darum zu kümmern, das Geräusch zu imitieren. Jeder in dem Gebäude, der noch ein Problem hätte darstellen können, war bereits tot. Sie hatten die ganze Operation in weniger als fünf Minuten durchgeführt. Sobald sie auf dem Dach erschienen, warf Mechaniker jedem ein Gewehr zu. Jeder suchte sich eine möglichst gute Deckung, und sie nahmen die Masken ab, um besser sehen zu können.

Dann eröffneten sie das Feuer, jeder suchte sich eine Zielperson aus – zuerst die noch verbliebenen Mitglieder der Swords und dann die Kerle, die dumm genug waren, noch immer in der Warteschlange zu stehen. Jeder Schuss war tödlich. Sie vergeudeten keine Kugeln. So wie Viktor und seine Männer es sahen, waren diejenigen, die die Mädchen kauften, so schuldig wie jene, die sie anboten. Schließlich sahen diese Kerle die Verfassung der Mädchen, ihr Alter und ihre Verletzungen und unternahmen trotzdem nichts, um ihnen zu helfen.

Jetzt blieben ihnen nur Minuten, um die Mädchen zu holen und von hier wegzuschaffen. Trotz oder vielleicht auch wegen all der Leichen riefen eventuelle Überlebende, die es schafften, sich davonzustehlen, nie die Polizei, doch Viktor ging mit seinen Männern kein Risiko ein.

Alena, du bist dran. Setz dir eine Maske auf und denk daran, komplett in Deckung zu bleiben.

Er sah, wie Alena rasch auf die Tür der Lagerhalle zuschritt, ohne sich von den herumliegenden Leichen beirren zu lassen. Sie war groß und kurvenreich, ihr Haar meist ein Wirrwarr aus dicken, platinblonden Wellen und so wild wie das ihres Bruders. Alena war einer ihrer größten Trümpfe; sie fuhr als seine Partnerin im Swords-Klub mit. Ice und Storm bewachten sie mit Adleraugen, wenngleich die anderen Torpedo-Ink-Mitglieder, Viktor eingeschlossen, ihnen darin kaum nachstanden. Sie nahm diesen Schutz gelassen hin, doch ihren Respekt und ihre Bewunderung forderte sie als ihr Recht ein.

Sobald Alena ihre Deckung verließ, wurden sie alle hyperwachsam und suchten alles nach einem möglichen Versteck eines eventuell unentdeckt gebliebenen Swords-Bikers ab, der vielleicht auf sie schießen würde. Transporter folgte ihr Rücken an Rücken in perfekter Übereinstimmung ihrer Bewegungen, obwohl er mit einem automatischen Gewehr im Arm rückwärts ging. Er war breiter und größer als Alena und konnte so jede Attacke von hinten von ihr abhalten.

Mit der Stiefelspitze schob sie eine Leiche beiseite und trat in die Halle. Es würde nur Minuten dauern, bis sie die Mädchen beruhigt hatte und herausführen konnte. Sie machte ihnen deutlich, nicht über ihre Retter zu sprechen und darauf zu bestehen, dass sie niemanden gesehen hätten. Sie könnten nur sagen, die Männer hätten Kapuzen getragen. Als die Mädchen herauskamen und über die Toten steigen mussten, war es Darby, die sie anführte und half, sie zu beruhigen. Das jüngste Mädchen, Zoe, trug sie in den Armen. Viktor verständigte die Polizei, und sie verschwanden, bevor irgendwelche anderen Mitglieder der Swords oder die Polizei eintrafen.

Sie spielten gerade Poker in Viktors Motelzimmer, als der Präsident ihrer Ortsgruppe zusammen mit zwei weiteren Mitgliedern der Swords hereinplatzte. Sie trugen ihr Abzeichen, das bluttriefende Schwert quer über dem Rücken mit dem Namen ihres Klubs darüber. Unter dem Schwert stand, dass sie einer Gruppe aus New Orleans, Louisiana, angehörten. Viktor hatte sichergestellt, nur der Gruppe beizutreten, bei der Evan einmal Mitglied gewesen war.

»Hast du’s schon gehört, Zar?«, fragte Habit.

Viktor wandte langsam den Kopf. Man kannte ihn als einen Mann, der nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen war. Er war locker bis zu einer gewissen Grenze, und darüber hinaus kam ihm lieber keiner in den Weg. »Was gehört?«

»Es sind wieder zwei unserer Gruppen überfallen worden, die Hälfte der Leute ist tot.«

Viktor lehnte sich zurück. »Das muss ein anderer Klub sein, Habit. Jemand will anscheinend den Handel übernehmen. Wer würde denn in die Fußstapfen der Swords treten, wenn wir nachgäben?«

Habit zog einen Stuhl zu sich heran und setzte sich breitbeinig darauf. »Ich bin nicht gern weit weg von unserem Klubhaus und unserem Territorium. Ich weiß nicht, wieso Evan nicht eine Ortsgruppe aus dieser Gegend beauftragt hat, seine Arbeit zu machen.«

Viktor zuckte die Achseln und tat, als würde die ganze Unterhaltung ihn einfach nur langweilen. »Ich glaube, das verstehe ich schon. Er hat in der Louisiana-Gruppe angefangen, und dort fing auch die Fehde mit Jackson Deveau an. Er will sie selbst zu Ende bringen, mit uns, nicht mit einer anderen Gruppe.«

Habit nickte ein paar Mal, musterte die anderen am Tisch, und Viktor machte sofort eine Geste in Richtung Tür. Die Männer legten wortlos die Karten nieder und verließen den Raum.

Habit grinste kopfschüttelnd. »Du machst das mit einer Selbstverständlichkeit, als wärst du der geborene Anführer. Eigentlich sollte ich mich von dir bedroht fühlen, aber das tue ich nicht. Es scheint, dass du nie weiter aufsteigen willst als bis da, wo du bist.«

Viktor hatte Evan sorgfältig studiert und bemerkt, dass dieser sich an Jackson Deveau rächen wollte, jedoch nicht, weil der ihm etwas angetan hatte, sondern weil Evan als Teenager den jungen Deveau und seine Mutter quasi zu Monstern deklariert hatte. Nach Evans Meinung hatten die beiden Jackson Deveau Sr. davon abgehalten, seine Mutter und ihn zu lieben. Davon, sie beide zu wählen.

Jackson Deveau Sr. war früher einmal mit den Swords gefahren. Er hatte eine Frau und einen Sohn, die er liebte, doch dann bekam seine Frau Krebs. Er hielt es nicht aus zusehen zu müssen, wie sie dahinsiechte, also fuhr er mit seinem Klub, und irgendwann fuhren Evans Mutter und Evan selbst mit, als gehörten sie zu ihm. So einfach war das gewesen. Nichts Großartiges. Kein großes Ereignis hatte Evan auf seinen Weg gebracht, der so voller Hass war, dass er davon innerlich verrottete. Deveau Sr. besuchte weiterhin seine Frau und sein Kind in den Bayous. Er ließ sich nie scheiden und entschied sich nie vollends für Evan und seine Mutter. Evan glaubte, Deveau Sr. habe die beiden anderen ihm vorgezogen.

»Ich wollte nie Präsident werden«, erklärte Viktor. »Das ist nicht mein Ding.« Der »Zar« oder Präsident seines Klubs, des Torpedo-Ink-Klubs, war er schon fast seit seinem zehnten Lebensjahr. Damals hatten sie noch nicht geahnt, dass sie eines Tages Motorräder fahren und den Wind im Gesicht spüren würden, nur um sich lebendig und für einen kleinen Moment in der Zeit frei zu fühlen. Für seine Männer würde er immer der Präsident sein, der Mann, dem sie folgten, ob er es wollte oder nicht.

Evan hatte sich immer in Konkurrenz zu den Präsidenten anderer Ortsgruppen gesehen und ständig das Gefühl gehabt, er müsse beweisen, dass er das Sagen habe. Viktor war ein Vollstrecker, ranghoch genug, dass Evan Notiz von ihm nahm, aber nicht in der Position, ihn zu bedrohen. Er hatte sich im Swords-Klub in Rekordzeit vom Kandidaten zum Vollstrecker hochgearbeitet und sich für Habit unentbehrlich gemacht, ohne dabei dessen Position zu gefährden. Er hatte einige neue Kandidaten eingebracht, gute Leute, die der Gruppe in allem eine Hilfe waren – von Waffenschiebereien bis zu Auftragsmorden –, sich jedoch vehement weigerten, in den Menschenhandel einzusteigen. Doch da sie für andere Dinge zu unverzichtbar waren, nahm Habit das hin.

Er rieb sich das Kinn. »Evan ist paranoid. Komplett, absolut durchgeknallt.« Er blickte sich um, als könne jemand ihn hören. »Er hasst Frauen, und er will immer, dass alle um ihn herum seiner Meinung sind. Ich habe gesehen, wie er einen zuverlässigen Stellvertreter erschoss, nur weil der Mann nicht schnell genug Ja sagte. Ich rede von jemandem, den er jahrelang gekannt hatte. Je mehr Geld und Macht er angehäuft hat, desto schlimmer ist er geworden. Als er internationaler Präsident wurde, ist er irgendwie übergeschnappt. Er wurde so paranoid, dass er sich von seinen engsten Vertrauten trennte, und damit meine ich, er hat sie umgelegt, weil sie seine Geheimnisse kannten. Er sagte allen, er habe eine Verschwörung gegen ihn aufgedeckt, aber jeder von uns wusste, dass er einfach nur voller Scheiße ist.«

Viktor erwiderte kein Wort. Er wusste das alles. Er hatte alles in Erfahrung gebracht, was es über Evan zu erfahren gab, ehe er der Louisiana-Ortsgruppe beigetreten war.

»Ich sage dir das, weil du die Sorte Mann bist, auf die er aufmerksam werden wird, und das willst du nicht, Zar. Du stehst total auf deine Alte. Alena ist schön, und er wird sie haben wollen. Wenn er eine Frau im Klub haben will, dann nimmt er sie sich. Es ist ihm egal, ob sie zu jemandem gehört oder ob es eine der Klubnutten ist. Er nimmt sie sich, und er ist knallhart. Rabiat. Die Frau ist danach nicht mehr dieselbe. Manche haben das Zusammensein mit ihm nicht überlebt. Er war einige Zeit in Europa, deshalb hatten wir dieses Problem hier nicht, aber wenn er wirklich zurückkommt, und danach sieht es aus, dann wird er auf Alena ein Auge werfen.«

Viktor starrte Habit an, ohne zu blinzeln. »Wer versucht, mir meine Frau zu nehmen, ist ein toter Mann, Habit. Das weißt du. Das habe ich absolut klargemacht. Dasselbe gilt für Lana. Nicht, dass die beiden Schutz bräuchten. Du hast sie noch nicht in Aktion gesehen, aber sie sind gut. Sie reden nicht über Klubangelegenheiten, und sie können und werden uns verteidigen.«

»Das spielt für Evan keine Rolle.« Habit wirkte erregt, er fuhr sich durch die graumelierten Haare. »Ich sage dir, du kannst nicht vernünftig mit ihm reden. Er benutzt die Frauen für Drogenschiebereien und Sex. Für ihn haben sie sonst kaum einen anderen Zweck. Ich rate dir als dein Freund, die beiden Frauen irgendwo zu verstecken, nur so lange, bis er wieder weg ist. Er wird nicht lang bleiben. Er hat unseren Klub bereits gebeten, diesen Deveau aufzuspüren, aber unbehelligt zu lassen, und einen Ort zu finden, wo sich der Klub verstecken kann, bis er selbst aufkreuzt. Er will den Scheißkerl persönlich kaltmachen, und dann wird er wieder verschwinden. Er ist nie länger als einen oder zwei Tage hier.«

Der Mann tat Viktor beinahe leid. Beinahe. Habit führte die Gruppe nach den Regeln, die Evan aufgestellt hatte, was bedeutete, dass sie Mädchen und ab und zu sogar Jungen versklavten. Viktor hatte ihre Gruppe einmal überfallen, doch öfter konnte er das nicht tun, ohne Verdacht auf seine Leute zu lenken. Er hatte gewartet, bis man ihn auf eine besonders gefährliche Mission schickte, für die er mehrere seiner Leute mitnahm. Die Auftragsmorde hatten sie in Rekordzeit ausgeführt, dann das mobile Bordell aufgesucht, dabei so viele der Männer erledigt, wie sie konnten, und die Frauen befreit.

Habit war ausgeflippt, er hatte wegen des Verlusts seiner Männer getobt und verlangt, dass Viktor und die anderen ihm beim schnellen Aufbau der Kabinen halfen, damit Evan nicht auf sie aufmerksam würde. Viktor hatte ihn einfach nur kühl angeblickt und den Kopf geschüttelt. Jede andere Arbeit würde er für Habit tun, aber nicht diese. Habit war hinausgestürmt, doch er hatte Viktor und die anderen in Ruhe gelassen, weil sie für ihn zu wertvoll waren, vor allem weil ja ziemlich viele seiner Leute gestorben waren.

»Warum machst du ihn nicht einfach kalt?«, fragte Viktor, als sei es normal, jemanden, den man nicht mochte, einfach umzubringen – für ihn war es das ja. Zu töten war zu leicht geworden. Zu sehr Routine. Das sollte ihm Sorgen machen. Tat es aber nicht.

»Er hat so eine komische …« Habit verstummte und blickte wieder um sich, als sei Evan hier, mitten im Zimmer des Motels, präsent.

Viktors Miene blieb unverändert, doch er spürte, wie das Adrenalin durch seine Adern jagte. Endlich. Die eine Sache, über die er nie etwas herausgefunden hatte. Evan Shackler-Gratsos verfügte also über eine übersinnliche Fähigkeit. Sein Bruder Stavros Gratsos, der verstorbene Schiffsmagnat, war in dieser Hinsicht definitiv sehr begabt gewesen. Viktor glaubte, dass die meisten Menschen solche Talente hatten, sich aber dessen nicht wirklich bewusst waren oder nicht daran glaubten. Sie achteten nicht darauf, wenn sie merkten, dass gleich das Telefon klingeln würde, oder wenn sie das ungute Gefühl hatten, dass ein Kind in Gefahr war.

Die Menschen glaubten nicht an übersinnliche Dinge, also existierten sie nicht. Er wusste es besser. Jeder seiner Mitschüler in Russland hatte irgendeine derartige Gabe besessen. Sie hatten Tag und Nacht daran gearbeitet, sie zu verbessern, nicht so, dass ihre grausamen Lehrer es mitbekamen, sondern wenn sie in dem dunklen Keller eingesperrt waren, wo sie verrückt geworden wären, wenn sie den Geist nicht beschäftigt und gestärkt hätten.

Viktor wartete geduldig, ohne sich zu verraten oder eifrig zu erscheinen. Habit wollte etwas mitteilen. Er fürchtete Evan und noch mehr, Viktor an Evan zu verlieren. Viktor war für ihn wichtig geworden.

»Er kann einem Angst einjagen mit dem, wozu er fähig ist. Ich habe gesehen, wie er Leute dazu gebracht hat, Dinge zu tun, die sie sonst nie gemacht hätten – einfach indem er sie anstarrte. Er kann Leute auch dazu bringen, alles Mögliche zu glauben. Einmal ärgerte ihn jemand, und im nächsten Moment kratzte sich der arme Kerl selbst die Haut vom Leib in dem Glauben, überall würden Spinnen an ihm herumkriechen. Das war gar nicht der Fall, aber er wollte es nicht glauben. Am Ende hat Evan ihn einfach erschossen und dabei gelacht.«

»Was hat er gegen Deveau? Wieso kommt er den ganzen Weg in die Vereinigten Staaten, nur wegen eines Hilfssheriffs? Er bräuchte doch nur einen Killer anzuheuern. Verdammt, ich könnte es selbst machen!«