Tapetenwechsel - Kirsten Rick - E-Book

Tapetenwechsel E-Book

Kirsten Rick

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Beschreibung

Von der Kleinstadtidylle zum Großstadtchaos - eine spritzige Geschichte über die Redakteurin Katrin und ihren nicht ganz so leichten Tapetenwechsel! Wer aus einer Zuchtbullenprämierung ein Event machen kann, dem gehört die Welt! Nach drei Jahren bei einem kleinstädtischen Käseblatt ist Redakteurin Katrin nun dort, wo sie immer hinwollte: bei einem Hamburger Hochglanzmagazin. Was zu ihrem neuen Ich noch nicht so recht passen will, ist ihre Wohnung in dem heruntergekommenen Haus auf St. Pauli. Für ihre Nachbarn dagegen ist es der Ort, wo sie Wurzeln geschlagen haben. Als der alte Kasten abgerissen werden soll, wollen sich Jan, der erfolglose Künstler, Erna mit den zierlichen Pantöffelchen und Heidi, die esoterisch angehauchte Gärtnerin, wehren. Die patente Katrin, die es gewöhnt ist, einen Stier bei den Hörnern zu packen, ist ihre einzige Hoffnung …

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Seitenzahl: 518

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Kirsten Rick

Tapetenwechsel

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

PrologTeil 1: Anfangen1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. KapitelTeil 2: Einleben8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. KapitelTeil 3: Aushalten13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. KapitelTeil 4: Festlegen19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. KapitelTeil 5: Aufdrehen25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. KapitelEpilogDer Song zum Buch:Danksagung
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Prolog

Man muss auch mal ins kalte Wasser springen. Meine Worte. Mein Lebensmotto. Das habe ich oft genug zu anderen gesagt, ob sie es nun hören wollten oder nicht. Natürlich war das symbolisch gemeint. Nie, nie, nie habe ich dabei an echtes Wasser gedacht. Und wenn, dann vielleicht höchstens an den Pool eines Wellness-Resorts – obwohl: Wenn dort das Wasser kalt gewesen wäre, hätte ich mich wahrscheinlich sofort bei der Geschäftsleitung beschwert.

Aber jetzt bin ich in keinem Wellness-Resort, sondern auf der »New Orleans Queen«, einer Art Schaufelraddampfer, der auf der Elbe auf und ab schippert und dabei ungefähr so deplaziert aussieht wie ein Marzipanschweinchen auf einem Matjesbrötchen. Der Chefredakteur des Lifestyle-Magazins Ancilla hat den schwimmenden Touristenmagneten gebucht, um die neueste Erfolgsmeldung angemessen zu feiern: über dreihunderttausend verkaufte Exemplare! Angemessen heißt: mit Anzeigenkunden, Clarks immens wichtigen Freunden aus dem Showbiz und dem Rotlichtmilieu und mit der Redaktion. Ich bin Redakteurin bei Ancilla. Leitende Redakteurin. Vielfache Ressortleiterin. Entertainment, Lust & Liebe, Reise, Gesundheit, Essen & Trinken – alles meins. Das klingt so, als wäre ich wichtig. Bin ich auch. Zumindest in dem Ancilla-Kosmos, dieser Welt aus Glitzer und Glamour, teuren Abendroben und noch teureren Nachtcremes, Bambi-, Echo-, Gold- und Was-weiß-ich-Verleihungen, akzentuierten Verwöhnmomenten und exklusiven Genussstrategien. Ich mache mich gut in dieser Welt. Mein Kleid schmiegt sich elegant an meinen mit kostbaren Produkten gepflegten Körper, in meinem Glas prickelt Champagner, und ich lehne mich sehr dekorativ gegen die Reling. Kate Winslet in »Titanic« ist gegen mich so unscheinbar wie ausgeleierter Doppelripp. Ich passe hierher, auf diesen aufgetakelten, bunt beleuchteten Kahn, zwischen die Mediengestalter und -gestalten. Ich bin eine von ihnen. Ich bin dort, wo ich immer sein wollte. Bin das, was ich immer sein wollte.

Aber es fühlt sich nicht mehr richtig an.

Das soll alles sein? Ist mir das hier wirklich wichtig?

Ich starre ins Elbwasser. Das sieht nicht nur kalt aus, sondern vor allem dreckig. Wer weiß, wo das herkommt und was da alles drin herumschwimmt. Fische mit drei Köpfen, vor Jahrzehnten ertrunkene und von Schiffsschrauben zerkleinerte Taucher, Lack- und Lösungsmittelreste aus den Docks der Werften …

Ach was. Soll doch inzwischen ganz gut sein, das Elbwasser. Hin und wieder wird sogar ein »Elbe-Badetag« veranstaltet. Nicht, dass ich je dabei gewesen wäre. Ich meide Volksfeste. Aber ich habe mal ein Bild in der Zeitung gesehen: ein Mann mit beeindruckendem Bauchansatz und sehr kleiner Badehose vor gigantischem Containerschiff. Animierend war das Bild nicht gerade.

Ich nehme noch einen Schluck Champagner und nicke leicht abwesend Clark, meinem Chefredakteur, zu. Wir schippern an der Hafenstraße vorbei, den ehemals besetzten Häusern. Die Kolleginnen aus dem Mode-Ressort lästern.

»Hätte man einfach abreißen sollen, diese hässlichen verfallenen Dinger. Und dann die Schmierereien! Ist ja grauenhaft! Diesen Leuten fehlt jegliches Gefühl für Stil und Ästhetik!«

Ich denke an das Haus, in dem ich wohne, ein paar Straßen dahinter. Ob es noch steht, wenn ich wiederkomme? Und wenn ja, steht es dann morgen auch noch? Und nächste Woche? Nächsten Monat? Diese Fragen sind nicht unbegründet.

Geblendet von der ganzen Glitzerwelt, im Sog der Deadlines und gesellschaftlichen Verpflichtungen, hatte ich fast vergessen, was mir wirklich wichtig ist: mein Zuhause.

Mir ist, als hinge ich zwischen zwei Welten. Eine bildschön, begehrenswert, voller Annehmlichkeiten. Diese Welt braucht mich nicht, aber ich dachte immer, ich brauche sie. Die andere Welt: unvollkommen, bröckelig, leicht angeschmuddelt. Aber auch liebenswert. Eine, zu der ich nie dazugehören wollte. Die mir egal, sogar etwas lästig war – bis sie mich in ihren Bann zog. Die echte Welt. Sie ist in höchster Not, sie braucht mich jetzt. Vielleicht kann ich sie retten. Ich muss mich entscheiden.

Probeweise lasse ich das Glas ins Wasser fallen. Das geht ganz leicht – einfach den Stiel loslassen und schwups. Es ist sofort weg. Ein Containerschiff der »Grimaldi«-Linie kommt uns entgegen, groß und hässlich wie ein Baumarkt, nur höher.

Man muss auch mal ins kalte Wasser springen. Mein Motto.

Und jetzt?

Soll ich springen?

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Teil 1:Anfangen

1. Kapitel

Das ist meine große Chance: Mein Traumjob ist zum Greifen nah. Der Chefredakteur von Ancilla hat mich zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Ancilla ist die Nummer eins der Glamour-Fashion-Hochglanzmagazine. Da will ich hin.

Bislang, in meinem Job bei der »Lüneburger Landeszeitung«, konnte ich mich nicht so richtig entfalten. Hier ein kleiner Skandal im Kirchenvorstand, dort die Einweihung eines neuen Kliniktraktes, dann mal ein vergiftetes Zuchtkaninchen – so richtig glamouröse Themen waren dort selten. Daher habe ich nebenbei eine Wochenendbeilage entwickelt und mit allem gefüllt, was nichts mit dem schnöden Alltag zu tun hatte. Stars (oder solche, die zumindest im Umkreis von dreißig Kilometern leidlich bekannt waren), Mode (oder was man in der Kleinstadt dafür hält), Schminktipps – eigentlich habe ich versucht, die Ancilla nachzubauen. In Schwarzweiß auf Zeitungspapier statt in Hochglanz. Für mich war das Ergebnis ziemlich unbefriedigend, aber bei den Lesern kam es gut an. Die besten Texte daraus habe ich jetzt in meiner Mappe, die steckt in meiner Tasche, und die klemme ich mir fest unter den Arm.

Der Job ist perfekt für mich, das spüre ich. Jetzt muss ich beweisen, dass ich auch perfekt für diesen Job bin. Zeigen, dass ich mehr kann, als auf Pudel-Champion-Ehrungen eine gute Figur zu machen, enthüllende Interviews über den schlechten Zustand der Grundschulturnhalle zu führen oder über die Tatsache, dass der Kassenwart des Schützenvereins die Einnahmen veruntreut hat.

Mit hocherhobenem Kopf und gestrecktem Rücken gleite ich geschmeidig durch die Drehtür des Verlagsgebäudes. Ich bin bereit zum Sprung – wie eine Raubkatze, die ein neues Revier erobert. Zumindest äußerlich. Innerlich bin ich eher eine Hauskatze, die sich fragt, ob es ihr zusteht, auf das Sofa zu springen. Immerhin.

Die Haare der Empfangsdame schlängeln sich wie dichte Lianen um ihren Kopf. Ihre Augen funkeln wie exotische Schmetterlinge. Das mag am großzügig aufgetragenen Lidschatten liegen. Ich mache mir in meinem Kopf eine Notiz: mehr Make-up auflegen! Im Dschungel gilt es aufzufallen.

»Zu wem möchten Sie?«, fragt der Schmetterling.

»Ich bin Katrin Weilrich und ich habe einen Termin bei Ancilla. Mit dem Chefredakteur«, sage ich mit möglichst fester Stimme.

Die Empfangsdame flattert mit den Schmetterlingsflügel-Augendeckeln und wendet mit ihren perfekt lackierten Fingernägeln grazil eine Liste hin und her.

»Ah ja, Sie sind angemeldet. Dritter Stock, in der Halle die Wendeltreppe hoch, rechts um die Ecke die Galerie entlang, dann die zweite Tür links. Aber erst müssen Sie dies hier ausfüllen.« Sie schiebt mir einen Block und einen Kuli zu. Ich trage meinen Namen ein, die Uhrzeit und den Grund meines Besuchs und erwäge noch kurz, den Mädchennamen meiner Urgroßmutter, meinen Aszendenten und noch ein paar wichtige Daten, die mich eindeutig als harmlosen Menschen ausweisen, hinzuzufügen. Die Rubrik »Verlassen des Gebäudes um … Uhr« irritiert mich. Woher soll ich denn das wissen? Und: Ich will doch gar nicht wieder gehen, ich will bleiben.

Die Schmetterlingsfrau kann Gedanken lesen. »Das fülle ich nachher aus«, beruhigt sie mich. »Hier ist Ihr Gästeausweis, den tragen Sie bitte deutlich sichtbar am Körper. Ich melde Sie telefonisch an. Viel Spaß!«

Ich bin zu stolz, noch mal nach dem Weg zu fragen, und gehe zum Fahrstuhl. Neben dem Knopf mit der Drei klebt ein Schild mit der Aufschrift Ancilla. Geht doch. Sobald der gläserne Fahrstuhl außer Sichtweite der Empfangsdame ist, lasse ich den Gästeausweis unauffällig in meiner Tasche verschwinden. Ich will kein Gast sein, ich will dazugehören.

 

Als ich aus dem Fahrstuhl trete, galoppiert eine Horde Gazellen an mir vorbei. Langbeinige Grazien, wunderschön anzusehen. Bestimmt aus dem Mode- oder Beauty-Ressort. Sie folgen einer Art Kreuzung aus Kaffernbüffel und Hyäne: einem nicht gerade großen Mann, dessen schlaffes Doppelkinn als eindrucksvolle Hautfalte herunterhängt. Seine für sich genommen schönen, großen, geraden Zähne dominieren sein Gesicht und bilden einen reizvollen Kontrast zu seinem nur unregelmäßig sprießenden, vermutlich einst lockigen Haupthaar, in das sich die Jahresproduktion eines Olivenölbauern verirrt zu haben scheint. Auf seinen kurzen Beinen bewegt er sich erstaunlich flink. Er scheint mich gesehen zu haben, ändert seine Laufrichtung und schnellt direkt auf mich zu.

»Na, Schätzchen, was willst du denn hier?«, fragt er frech. Er legt seinen Kopf leicht in den Nacken und bleckt die Zähne.

»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht. Gehen Sie lieber wieder mit Ihren Puppen spielen«, antworte ich kühl. Ich lächle dabei distanziert-freundlich, denn schließlich will ich potenzielle neue Kollegen nicht verschrecken. Ich bin stolz auf mich. Eine schlagfertige Antwort genau im richtigen Moment abfeuern zu können ist selten. So selten wie unrasierte weibliche Beine in der Bikinisaison. Aber es ist weitaus cooler.

Der Büffel guckt verblüfft. Die Gazellen kichern nervös. Vielleicht bin ich zu weit gegangen. Ach Quatsch. Er ist zu weit gegangen. Er grinst und dreht ab. Ich bin erleichtert. Komischer Typ. Was der hier wohl für einen Job hat? Egal. Kann ja so doll nicht sein, bei dem Benehmen. So etwas Respektloses! Innerlich zittere ich ein wenig, vor Wut und Anspannung, die sich auch nicht wieder lösen will. Aber ich lasse mir nichts anmerken. Ich muss die Nerven behalten. Ich bin ganz kurz vorm Ziel.

Meine Freundin Eva hat mir das Vorstellungsgespräch bei Ancilla vermittelt. Solche Jobs werden nicht in Zeitungen inseriert, die werden so vergeben. Über Kontakte. Bei ihrem letzten Besuch bei mir nahm sie ein paar der von mir entwickelten Wochenendbeilagen mit und zeigte sie jemandem. Sie kennt sehr, sehr viele Menschen, die »was mit Medien« machen.

»Die Dinger sind das beste Bewerbungsmaterial«, hat sie gesagt. Und dann kam die Einladung zum Vorstellungsgespräch.

 

»Hallo, bist du Katrin?«

Ich habe die Frau gar nicht bemerkt, die soeben neben mir aufgetaucht ist, und schrecke zusammen. Sie trägt ein weiches, eng anliegendes Strickkleid und ein ebenso kuscheliges Lächeln.

»Du kommst zum Vorstellungsgespräch, nicht wahr?«

»Genau«, antworte ich.

Sie reicht mir ihre Hand, das Armband daran klingelt einladend. »Ich bin Maria, Assistentin des Chefredakteurs. Ich bringe dich zu ihm.«

»Danke«, antworte ich, bin aber leicht irritiert darüber, dass Maria mich wie selbstverständlich duzt. Vielleicht hält sie mich für eine Praktikantin?

Mit kleinen, sicheren Schritten geht Maria vor mir die steile Wendeltreppe hinauf, die mitten im Foyer steht und zu einer Galerie führt. Die Treppe sieht filigran, elegant und dabei gleichzeitig tückisch aus. Wäre dies hier eine Soap, wäre dies der Ort, an dem Intrigen geschmiedet und ausgeführt werden. »I don’t do stairs« ist mein Lieblingszitat von Mariah Carey; keine Treppen, diese Regelung lässt sich die Diva angeblich sogar in alle Verträge schreiben. Durchaus sinnvoll, finde ich, als ich versuche, Maria zu folgen.

»Halt dich besser fest!«, ruft sie mir lässig über die Schulter zu. »Die Treppe ist nichts für Anfänger.«

Pah, Anfänger, denke ich, ich bin Profi, ich bin gut, ich werde doch wohl eine Treppe hinaufgehen können. Die Stufen sind durchsichtig, dazwischen sind große Löcher, es ist, als würde man auf einer Pyramide aus Champagnergläsern balancieren. Aber ich schaffe es, komme heil oben an. Auch ohne anfassen.

Ich folge Maria den Gang entlang. An den Wänden hängen riesige gerahmte Fotos. Models in extravaganten Outfits, aufgenommen an den schönsten Orten der Welt. Auf einem der Fotos steht ein unwirklich attraktives weibliches Wesen am Rande einer Klippe. Ein Hauch von Chiffon umhüllt die grazile Erscheinung. Sie hebt die Arme, ist ganz kurz davor, mit einem eleganten Kopfsprung in das Meer einzutauchen, das sich mindestens fünfzehn Meter unter ihren Füßen (und deshalb bestimmt siebzehn Meter von ihrem Kopf entfernt) geheimnisvoll kräuselt. Eisig sieht es aus, das Meer, schwere Wolken verdunkeln den Himmel auf dem Bild. Man muss auch mal ins kalte Wasser springen, denke ich und kann mich sofort mit dem Model identifizieren. Disziplin ist alles in dem Job.

Maria bringt mich in ein großes Büro, dessen eine Seite komplett verglast ist. Dahinter liegt eine Dachterrasse, von der aus man einen Blick über halb Hamburg hat. An der anderen Wand hängen mehrere Gemälde. Darauf: Frauenbeine. Die Füße der kopf-, rumpf- und unterleibslosen Damen stecken in roten Lackpumps.

»Die sind von mir«, höre ich hinter mir einen Mann sagen. Ich drehe mich rasch um – und stehe Auge in Auge mit dem Büffel. Dem Mann, den ich eben noch lässig abgefertigt habe. Hoffentlich ist er nicht nachtragend. Ich senke meinen Blick, um meine Verlegenheit zu kaschieren. Eine völlig falsche Strategie, denn ein gesenkter Blick signalisiert ja Verlegenheit, aber dabei fallen mir seine Cowboystiefel auf und ein neuer Spruch ein. Die Situation ist eh schon so peinlich, dann kann ich ja noch einen draufsetzen.

»Die Pumps tragen Sie aber nur privat, oder?«, frage ich mit meinem süßesten Lächeln und zeige dabei auf die Bilder.

Der gleiche verblüffte Blick wie vorhin. Er ist es anscheinend nicht gewohnt, dass Frauen schlagfertig sind. Ehrlich gesagt: In diesem Maße bin ich es von mir auch nicht gewohnt. Aber meinetwegen kann das so weitergehen.

Der Büffel guckt auf die Bilder, dann auf seine Cowboystiefel.

»Ich, äh, nein, privat, nein, das sind nicht meine Beine, ich meinte, ich habe die Bilder gemalt«, stammelt er. Doch dann fängt er sich wieder und streckt mir seine Hand entgegen. »Ich bin Clark. Ich bin hier der Chefredakteur. Und du bist wahrscheinlich Katrin, meine neue Entertainment-Redakteurin.«

Sein Händedruck fühlt sich an wie frischer Hefeteig.

»Ja, genau. Die bin ich«, antworte ich und hoffe, dass das stimmt. Das soll mein Vorstellungsgespräch gewesen sein? Ich hab den Job? Das ging ja schneller, als bei eBay ein gefälschtes Designerstück zu kaufen.

»Na, das wollen wir erst mal sehen«, sagt der Büffel Clark mit skeptischem Oberarzt-Ton. Ich habe also keinen Grund, entspannt zu sein. Ich will den Job. Aber wenn er jetzt gleich mit »Machen Sie sich mal bitte obenrum frei« kommt, dann gehe ich. Doch Clark ist ein klitzeklein wenig seriöser. Ich reiche ihm die Mappe mit meinen Arbeitsproben, die er schnell wie ein Daumenkino durchblättert. Dann lässt er sich auf seinen Ledersessel fallen, legt die Füße auf den swimmingpoolgroßen Schreibtisch und beginnt zu reden. Am Anfang höre ich noch zu. Er entwickelt großartige Visionen, wohin er mit dem Heft will, wie glamourös und glamouröser alles werden soll, welche raffinierten journalistischen Einfälle er hat. Er redet von Reichweiten und Mediawerten, wirft mit Millionen und Namen um sich wie jemand, der nie staubsaugen muss, mit Konfetti. Vorsichtig sehe ich mich nach einer Sitzgelegenheit um, es scheint ja ein wenig länger zu dauern. Das werte ich als gutes Zeichen. Ganz langsam setze ich mich auf die Kante des Sofas. Besetzungscouch, denke ich und gebe acht, nur das Nötigste meines Körpervolumens mit dem zweifelhaften Möbel in Kontakt kommen zu lassen.

»Maaaariiiiiiiaaaaa!«, brüllt Clark plötzlich los. Ich zucke zusammen, aber mich kann er ja nicht meinen. »Kaaaaffeeeeeee!«

Clark ist immer noch in seinen Vortrag vertieft, als Maria, die Assistentin, ein Tablett mit zwei Kaffeespezialitäten hereinträgt. Clark nimmt sich den Becher mit der Aufschrift: »Bitte nicht stören – Genie beim Arbeiten«. Mir reicht Maria den anderen. Ich nippe vorsichtig. Von Kaffee bekomme ich Pickel, wortwörtlich. Das Koffein sucht sich einen denkbar ungeeigneten Weg, meinen Körper zu verlassen: durch die Poren an meinem Kinn. Morgen früh werde ich in den Spiegel gucken und eine Streuselschnecke sehen.

Clark redet weiter. Ich nicke zustimmend, sage aber kein Wort. Er ist einer dieser Männer, die sich selbst am liebsten zuhören. Schon der Klang seiner eigenen Stimme erregt ihn, das kann ich sehen, seine Hand zuckt verdächtig, er muss sich zurückhalten, damit er sich nicht die Eier krault. Ihn zu unterbrechen wäre für ihn ein Coitus interruptus, das wäre der größte Fehler, den ich machen könnte. Ich nicke also freundlich, murmle zustimmende »Hms« und warte, bis er fertig ist. Eine Taktik, die im Bett beim Liebesspiel nur in seltenen Fällen empfehlenswert ist, bei Vorstellungsgesprächen aber durchaus wirkungsvoll. Hin und wieder ist es ja auch ganz interessant, was er sagt: Er verspricht mir Interviewreihen mit Megastars an exotischen Orten (unrealistisch, das weiß ich jetzt schon), originelle Kolumnen (Plagiate aus dem Sunday Times Magazine, aber durchaus reizvoll) und das Blaue vom Himmel, als müsste er mich davon überzeugen, diesen Job doch bitte, bitte, bitte anzunehmen. Er preist den spirit von Ancilla und fragt dann, völlig ohne Zusammenhang: »Könntest du sofort anfangen?«

»Klar«, antworte ich. Ich bin baff. So leicht ist das, einen Traumjob zu bekommen?

Clark fängt meinen verdutzten Blick auf und bleckt seine schönen Zähne zu einem breiten Grinsen.

»Glaub ja nicht, dass du auch nur ein Quentchen einer Chance gehabt hättest, wenn du dich hier beworben hättest. Diese Kriecherei und Einschleimerei kann ich nicht leiden. Ich habe dich entdeckt!« Er wippt zufrieden mit seinen Cowboystiefeln.

»Okay, schreib mir bis Montagmorgen fünfzehntausend Zeichen über Paul Monnay und sein neues Weltmusikprojekt. Dein Interviewtermin mit Paul ist am Samstagabend um neunzehn Uhr in seinem Studio am Starnberger See. Und dann sehen wir weiter.«

»Heißt das: Ich hab den Job?«, frage ich.

»Ich sagte: Dann sehen wir weiter«, wiederholt Clark. »Hopp, hopp, es ist Freitagnachmittag, du hast noch einiges zu tun.« Er wedelt mit der Hand, als wollte er eine lästige Schmeißfliege vertreiben. Wäre er ein Kaffernbüffel, denke ich, hätte er dafür mit dem Schwanz gewedelt. Ich bin ganz froh, dass er kein Kaffernbüffel ist.

Als Maria mir den Schlüssel für den Firmenwagen gibt, fühle ich mich gut. Zwar muss ich ausgerechnet Paul Monnay treffen, einen ziemlich durchgenudelten Schlagersänger, der sich nach dem gescheiterten Versuch eines Imagewechsels zum Rocker jetzt der Weltmusik hingibt, aber immerhin! Mein erster Text für Ancilla!

Da fällt mir ein: Am Wochenende ziehe ich ja auch um … Aber das schaffe ich schon beides.

Irgendwie.

2. Kapitel

Nö, gute Frau, das passt nicht«, sagt der schlaksige Angestellte des Umzugsunternehmens. Er kratzt sich dabei unter seiner speckigen Baseballkappe, als wolle er ein paar Gehirnzellen aufwecken. Das scheint jedoch nichts zu nützen, er guckt weiterhin so intelligent wie ein Toastbrot mit Butter und macht keinerlei Anstalten, mein Bett in meine neue Wohnung zu tragen. Sein dicklicher Kollege grunzt zustimmend, die Entwicklungsstufe des Spracherwerbs scheint er noch nicht erreicht zu haben. Nun habe ich von professionellen Umzugshelfern auch keine anregenden philosophischen Gespräche erwartet, aber doch immerhin, dass es ihnen gelingt, meine Möbel von A nach B zu bringen. Wobei B in diesem Fall meine neue Wohnung ist, die nur durch ein zugegebenermaßen etwas enges Treppenhaus zu erreichen ist. Durch ein enges, verwinkeltes und dringend renovierungsbedürftiges Treppenhaus, in dem es ein wenig aufdringlich nach Kohlrouladen und einem Hauch Pumapisse riecht.

Ich frage mich, ob ich mir nicht doch eine vernünftige Wohnung hätte suchen sollen. Die Antwort ist leicht: hätte ich. Doch stattdessen habe ich mich von meiner Freundin Eva beschwatzen lassen und ihre Butze samt Mietvertrag übernommen. Eva musste kurzfristig nach São Paulo, sie hat dort einen Job beim Goethe-Institut bekommen und wollte schon immer dort leben. Davor wollte sie aber schon immer in St. Pauli leben, in einer, wie ich jetzt feststelle, winzig kleinen Wohnung mit schiefen Wänden und zwei Zimmern, von denen eines erst noch ein bisschen wachsen müsste, bis ich es als ein solches bezeichnen würde.

Ich hatte ihre Wohnung etwas anders in Erinnerung. Als ich sie vor ein paar Monaten besucht habe, führte Eva mich durch drei großzügige Zimmer auf eine Dachterrasse. Bodentiefe Fenster, Parkett, Fußbodenheizung, und das alles über einer gediegenen Konditorei.

»Fühl dich wie zu Hause«, hatte Eva gesagt, »ich tue es ja auch.« Ein ungewöhnlicher Satz, wenn man über sein eigenes Zuhause spricht, fällt mir im Nachhinein auf. Und dann erwähnte sie, glaube ich, mal, dass sie umziehen wolle. Oder dass sie irgendwo eine Wohnung zur Zwischenmiete hätte oder auf eine Katze aufpassen sollte oder was weiß ich. Aber ich dachte, sie meint damit São Paulo. Auf jeden Fall schwärmte sie von ihrer Wohnung, von dem Viertel und hat mir sozusagen alles als Komplettpaket mitsamt Job vermittelt.

»Da hast du alles, was du brauchst«, meinte sie. Warum hätte ich da widersprechen sollen?

Jetzt muss aber erst mal mein Bett in meine Rotlichtviertelbehausung. Es handelt sich dabei nicht um irgendein Bett, sondern um ein aus einem Stück geschweißtes Designerbettgestell. Es ist zwei Meter lang und 1,80 Meter breit, und man kann es nicht auseinandernehmen. Design eben, das muss nicht praktisch sein. Es sieht toll aus, reicht das etwa nicht?

Ich mache einen neuen Versuch, die Umzugsprofis zu motivieren (eine Reitpeitsche wäre vielleicht hilfreich), und gebe Anweisungen, nach denen sie das sperrige Gestell durch das Treppenhaus manövrieren sollen. Schließlich ist es weder ein Nadelöhr noch ist mein Bett ein Kamel, und es wird den beiden Profis doch wohl möglich sein, ihren Job anständig zu machen. Mehr will ich ja gar nicht.

Das ist gelogen. Ich will mehr. Ich will immer mehr. Ich bin nie zufrieden, denn Zufriedenheit ist Stillstand und macht träge. Und wer träge ist, verfettet und erreicht nie etwas im Leben. Und wird niemals glücklich. Zufriedenheit ist nämlich nicht dasselbe wie Glück.

»Links hinten höher! Jetzt etwas rechts um die Ecke!«, kommandiere ich. Aber sie verwechseln rechts und links, und ich befürchte, wenn sie das Bett erst mal zwischen niedriger Decke, bröckeligen Wänden und wackeligem Geländer verkantet haben, gibt es kein Vor und Zurück mehr, man muss die Bewohner evakuieren und das ganze Haus abreißen. Das will ich nicht riskieren, deshalb tue ich etwas, was ich schon immer mal tun wollte. Ich lebe meine Allmachtsphantasien aus und schmettere den unfähigen Umzugshelfern ein scharfes »Sie sind gefeuert!« entgegen. Das fühlt sich gut an, irgendwie befreiend.

Die Herren tragen es mit Fassung, der Sprachbegabte murmelt irgendwas von »Zicke«. Sie lehnen das Bettgestell im Treppenhaus an die Wand, dabei fallen kleine bis mittelgroße Brocken Putz herab. Dann gehen sie, wortlos natürlich, an mir vorbei auf die Straße, entladen erstaunlich schnell den Lkw, wobei sie meine Sachen zu einem sperrmüllähnlichen Haufen auf dem Gehweg auftürmen, und brausen davon. Mir fällt ein, dass ich sie im Voraus bezahlt habe.

Andere würden jetzt anfangen zu heulen. Ich weiß das, weil sich auch bei mir ein Kloß im Hals bildet, meine Kehle verschließt und drauf und dran ist, meinen Tränendrüsen ein »Go« zu geben. Aber ich schlucke ihn hinunter. Heulen hilft nichts. Ist auch nicht mein Stil.

Dann mache ich das eben selbst. Ich nehme mir zwei Kisten und schleppe sie hoch zu meiner Wohnung, vorbei am Engpass Bettgestell in den dritten Stock. Geht doch.

Als ich wieder nach unten auf die Straße komme, untersuchen mehrere Menschen interessiert mein Hab und Gut. Vor allem die Arne-Jacobsen-Stühle und meine Kleiderkartons scheinen großen Anklang zu finden.

»Das ist kein Flohmarkt. Und zu verschenken gibt es hier auch nichts«, raunze ich die Schnäppchenjäger an.

»Ach schade, dabei hätte ich für das hier bestimmt einen guten Preis herausgeholt«, grinst mich ein Typ frech an und zeigt auf meinen Bräter von Le Creuset. Ich bin zwar in der Küche kein Universalgenie, aber mit dem schweren, gusseisernen Qualitätsteil kriege ich einen ganz passablen Braten hin. Das ist mir immerhin vor zwei Jahren mal gelungen. Seither habe ich nicht mehr für Gäste gekocht.

»Unterstehen Sie sich!«, herrsche ich den Mann an. Dann habe ich eine Idee. Der Kerl sieht ein wenig abgerissen aus, kaputte Jeans mit Farbklecksern drauf, Schuhe, die ihre besten Jahre ungefähr zur Zeit des Ersten Weltkriegs hatten, und ein T-Shirt mit der Aufschrift »MTV Ramelsloh«. Der kann etwas Geld bestimmt gut gebrauchen. »Ich gebe Ihnen fünf Euro, wenn Sie mir helfen, meine Sachen hochzutragen.«

»Das ist ja noch nicht mal Mindestlohn«, kontert er.

Aha, ein politisch Korrekter.

»Sie schaffen das ja wohl in weniger als einer Stunde«, antworte ich.

»Und Sie schaffen das auch alleine«, behauptet er. »Ich kann ja inzwischen auf die Sachen aufpassen.«

Er hat recht. Ich kann das alleine. Ich brauche keinen Mann, schon gar keinen, der sich mir widersetzt. Das hat jetzt nichts mit Emanzipation zu tun. Ich weiß auch gar nicht, warum darum so viel Gewese gemacht wird. Die Frauen sollen einfach mal machen. So wie ich. Einfach machen und dann klappt das auch.

Nach dem fünften Mal hoch und runter bin ich ganz schön aus der Puste. Mr. Politisch-Korrekt durchwühlt in Ruhe meine Bücherkiste und schüttelt hin und wieder amüsiert-missbilligend den Kopf. Arroganter Fatzke. Schnösel im Penner-Look. Ich mag ihn nicht. Nein. Er ist mir egal.

Ich habe mal gelesen, dass Yoko Ono ein Experiment mit drei Pflanzen gemacht haben soll: Beim Gießen hat sie bei der ersten an etwas Schönes gedacht und die Pflanze, wenn auch nur im Geiste, mit Komplimenten überhäuft (ehrlich gesagt, ich wüsste nicht, was für Komplimente ich einer Pflanze machen sollte), die zweite hat sie beim Gießen innerlich verflucht, bei der dritten hat sie an gar nichts gedacht. Und welche Pflanzen wuchsen am besten? Die erste und die zweite! Das beweist also, dass Pflanzen sogar negative Energien für sich nutzen können. Und was Pflanzen können, können unsympathische Mitmenschen bestimmt erst recht, deshalb gehe ich besser nicht verschwenderisch mit meinen negativen Energien um, sondern nutze meine letzten Kräfte, um meinen Geldbaum die Treppen hochzuwuchten.

Als ich wieder auf die Straße taumele, um die endgültig letzte Kiste ins Haus zu schleppen, strahlt er mich an.

»So, und jetzt würde ich dich gerne auf einen Kaffee einladen. Oder einen Whisky, je nachdem, was du jetzt besser brauchen kannst.«

Die Einladung von meinem Hausratsbewacher kommt überraschend. Ich bin noch zu sehr außer Atem, um nein sagen zu können, deshalb schüttele ich nur den Kopf.

»Na denn …«, resigniert er und guckt ehrlich enttäuscht. Was, bitte, hat er erwartet? Dass ich ihm begeistert in die Arme falle, in die schwächlichen, spiddeligen Ärmchen, die anscheinend noch nicht mal dazu in der Lage sind, mehr als ein Buch auf einmal in die Hand zu nehmen, geschweige denn eine ganze Umzugskiste?

»Ich lass mich übrigens nicht kaufen«, murmelt er noch, das soll wohl eine Erklärung für sein unverschämtes Verhalten sein.

»Ich mich auch nicht«, behaupte ich. Dabei bin ich mir nicht so sicher, ob das stimmt.

 

Nach dem Umzug sprinte ich zum Interview. Im CD-Player das neueste Machwerk von Paul Monnay, brettere ich nonstop zum Starnberger See. Stunden später treffe ich in seinem Studio the Künstler himself, bekomme überflüssigerweise das Album noch mal in dröhnender Lautstärke vorgespielt (was allerdings keinen neuen Erkenntnisgewinn bringt), führe dann ein ganz nettes Gespräch mit Herrn Monnay, lehne dankend seine Einladung, doch über Nacht zu bleiben, ab, fahre achthundert Kilometer nach Lüneburg in meine alte Wohnung zurück, schlafe dort ein paar Stündchen auf einer Isomatte, packe die letzten Reste zusammen, übergebe den Schlüssel an den Nachmieter, gebe in Hamburg den Dienstwagen zurück (Tiefgarage des Verlags, Schlüssel in den Briefkasten, wie Maria mir erklärt hat) und stehe nun ein wenig erschöpft und neben der Spur in meiner neuen Wohnung.

Es ist grauenhaft kalt, ich mag die Jacke gar nicht ausziehen. Wo ist denn hier die Heizung?

Ich mache mich auf die Suche. Gar nicht so leicht, bei dem Karton-Chaos. Aha, im Wohnzimmer gibt es eine Art klobigen Heizkörper. Nachtspeicher, aber immerhin. Ich suche weiter.

In der Küche: Nichts, es sei denn, man lässt den alten Elektroherd als Heizelement durchgehen. Im Schlafzimmer: gar nichts. In der Ecke des Raumes mache ich auf den Dielen alte Ausbesserungen und Verfärbungen aus, da hat wahrscheinlich mal ein Ofen gestanden. Ob Eva den aus Versehen mitgenommen hat? Unwahrscheinlich.

Diese Wohnung hat nur einen einzigen Heizkörper, und ich habe keine Ahnung, wie man den anschaltet. Einen Knopf gibt es zwar an dem Apparat, aber der scheint nur zur Zierde angebracht zu sein, es tut sich jedenfalls nichts, wenn ich daran drehe. Ob das mit einer Fernbedienung funktioniert? Oder über den Sicherungskasten?

Bevor ich das herausfinden werde, muss ich aufs Klo. Eine Toilette gibt es, in einem winzigen Badezimmer. Und da ist auch das Waschbecken. Badewanne? Fehlanzeige. Dusche? Vielleicht ist da ja so eine luxuriöse Regenwalddusche unsichtbar eingelassen? Nein, anscheinend nicht. Das hätte auch nicht viel geholfen, denn ich hätte erstens gar nicht gewusst, wie man sie anstellt, und zweitens gibt es auch keinen Ablauf im Boden.

Ich war eigentlich fest davon überzeugt, dass inzwischen jede normale Wohnung (und gerade eine in innerstädtischer Lage) mit einem gewissen Standardkomfort ausgestattet ist, den man ungefragt voraussetzen kann. Außerdem erschien mir Eva durchaus immer frisch geduscht und gepflegt. Wie sie das wohl gemacht hat? Vielleicht hat sie in einem Holzbottich oder einer Zinkwanne gebadet?

Im langen Flur stoße ich auf eine Art Wandschrank. Wie praktisch, denke ich. Doch warum hängt da so ein Schlauch aus der Wand? Ich ziehe einen Feudel beiseite und stelle fest: Der hing nicht an einem Haken, sondern an einem Wasserhahn. Mein Blick richtet sich gen Boden und bleibt an einem Abfluss hängen. Messerscharf kombiniere ich: Das muss die Dusche sein. Ein ungewöhnlicher Ort, zugegeben, ich hätte dort gerne meinen Staubsauger geparkt oder Mäntel aufgehängt, aber darauf verzichte ich gern zugunsten meiner persönlichen Körperhygiene und des Inspirationsrituals, das Duschen zweifelsohne darstellt.

Doch jetzt muss es erst mal ohne Inspiration gehen, denn nun kommt die Fleißarbeit. Morgen früh muss ich den Paul-Monnay-Text abgeben. Ich setze mich an den Laptop und tippe das Interview ab. Dabei fällt mir auf: Der Mann hat nichts, wirklich gar nichts Sinnvolles, Interessantes oder gar Geistreiches gesagt. Er floskelt klischeehaft herum – das habe ich während des Interviews gar nicht so empfunden.

Er war so charmant. So einnehmend. So ein Gentleman. Hat mir sogar in die Jacke geholfen, was sicher nicht leicht war, da er mir nur bis zum Ellbogen reicht. Er hätte dafür fast auf ein Höckerchen steigen müssen. Ich war wie verzaubert von ihm. Dabei stehe ich gar nicht auf Schlagersänger, die auf Weltmusikrocker machen …

Ich bin so gnadenlos dumm und dämlich! Das Interview ist grauenhaft.

Ich komme nicht weiter. Ich brauche eine Pause. Und einen Tee.

In der Küche finde ich eine einzige Steckdose, da schließe ich meinen Wasserkocher an. Mein wichtigstes Küchengerät. Mit heißem Wasser lassen sich viele Probleme lösen – man wird damit Schnupfen los, kann Wärmflaschen befüllen, hartnäckigen Schmutz lösen, jemanden ernsthaft verletzen … Wenn ich mir jetzt heißes Wasser über beide Hände kippe, dann muss ich nicht weiterschreiben, sondern erst mal ins Krankenhaus.

Nein, das ist auch keine Lösung. Man muss auch mal ins kalte Wasser springen, das ist mein Lebensmotto, und das mache ich jetzt. Zähne zusammenbeißen und durch. So ein alberner kleiner Text über Paul Monnay, das wird doch wohl zu schaffen sein.

Als ich mir meine zweite Tasse Tee eingieße, sehe ich am Küchenschrank einen bunt verzierten Zettel. »Gebrauchsanweisung für die Wohnung« steht darauf. Eva hat mir eine Anleitung für die Wohnung dagelassen? Als ob ich nicht wüsste, wie man eine Wohnung benutzt! Aber diese hier scheint wirklich ein paar Besonderheiten zu haben, die sie auf drei dichtbekritzelten Blättern beschreibt.

Ich lerne, dass man die Heizung erst mal Wärme speichern lassen muss, bevor sie welche abgibt. Dass die Dusche im Flur ist (und angeblich funktioniert). Dass es in der Küche nur eine einzige Steckdose gibt, die auf gar keinen Fall überlastet werden darf, weil sonst entweder die Hauptsicherung rausknallt oder das ganze Gebäude in Flammen aufgeht (sie beschreibt nicht, welcher Fall mit größerer Wahrscheinlichkeit eintritt). Sie erklärt, wie man die Fenster öffnet und wieder schließt (manche besser nicht anfassen), dass der winzige Balkon wegen akuter Einsturzgefahr gesperrt ist und was die roten Aufkleber im Flur bedeuten. Dort hat sie auf dem Fußboden eine Art Parcours markiert, damit man weiß, wo die Dielen am wenigsten knarzen. Dann gibt es noch eine gelbe Markierung, aber was es damit auf sich hat, kann ich nicht lesen, weil mir dort ein wenig Tee hingetropft und die Schrift nun zu verschwommen ist.

Ich gehe über die roten Markierungen nach vorne ins Wohnzimmer und schaue aus dem Fenster. Es sind erstaunlich viele Leute auf der Straße. Von unten dröhnt Musik. »Abschied ist ein scharfes Schwert« von Roger Whittaker. Immer wieder. Nicht gerade inspirationsfördernd. Das muss aus der Kneipe unten im Haus kommen. Die Kneipe heißt »Zur gemütlichen Ecke«, obwohl sie weder an einer Ecke liegt noch ansatzweise gemütlich aussieht.

Der Tee war schon mal gut, aber nicht gut genug.

Ich versuche, an Ancilla zu denken und den faszinierenden Glamour, der damit verbunden ist. Wenn du den Text schreibst, bekommst du den Job und kannst dir auch eine anständige Wohnung leisten, versuche ich mich zu motivieren.

Auch das hilft noch nichts. Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist. Sonst fällt mir das Schreiben nie schwer, selbst wenn es mir an Material mangelt. Ich kann noch auf einer Glatze Locken drehen. Und genau das müsste ich hier auch machen. Es ist halt nur – der Text ist für Ancilla. Das ist was anderes als so ein kleinstädtisches Käseblatt.

Aber warum eigentlich? Ich stelle mir die Leserinnen vor, wie sie in schicken Cafés sitzen und gelangweilt die Hochglanzillustrierte durchblättern. Dann höre ich wieder ein bisschen vom Paul-Monnay-Interview. Er labert und salbadert …

Vielleicht hilft es, wenn ich mich nicht nur von innen, sondern auch von außen auftaue? Bei einer weniger lebensfeindlichen Außentemperatur würden meine Gedankengänge eventuell doch noch auf Touren kommen.

Ich brauche mehr Wasser, um meine Gehirnzellen anzuregen. Also erst mal in den Schrank und duschen.

 

Das Wasser der Dusche spült mir tatsächlich eine Idee zu: Ich erinnere mich an eine Zuchtbullen-Prämierung, zu der mich mein früherer Chefredakteur geschickt hatte. Ich trat in einen Kuhfladen, und als ich den Dreck mit einem Ästchen von der Schuhsohle kratzte, sah mich einer der Bullen mit seinen großen, warmen Augen an. In dem Moment hat es bei mir klick gemacht. Ich war fasziniert von seinem Charme und verfasste kurzentschlossen eine leichtfüßige Ode. Mein Chef war begeistert.

»Da will man doch spontan zur Kuh werden«, rief er. »Genau so! Die Leute wollen nicht lesen, wie etwas ist – sie wollen lesen, wie etwas perfekt sein könnte.«

Nun hat Paul Monnay zwar eher wenig Ähnlichkeit mit einem Rind (abgesehen von den Augen vielleicht), aber die beklemmende Ehrfurcht vor Ancilla und meine Schreibblockade sind weg. Ich hülle mich in Bademantel, Yogahose und Winterjacke und tippe los. Plötzlich ist alles ganz leicht, die Sätze fließen, ich komme mit meinem noch nicht mal semiprofessionellen Zwei-Finger-Tippsystem kaum hinterher. (Kurze Gedankennotiz: dringend Maschinenschreibkurs belegen!) Über den journalistischen Ehrenkodex mache ich mir besser keine Gedanken. Ich weiß schon, dass das nicht korrekt ist. Aber was soll ich denn machen? Einen Text abgeben, der selbst in dreifachen Espresso getaucht noch zum Mittagsschlaf animiert? Den guten Herrn Monnay als hübschen kleinen Langweiler dastehen lassen? Ist das etwa nett? Nein. Na also.

Im Interview steht: »Die Zusammenarbeit mit den anderen Musikern war sehr harmonisch. Wir hatten unheimlich viel Spaß miteinander, die Stimmung war immer gut, wir haben unsere gemeinsamen Sessions genossen blablabla.«

Daraus wird: »So ein verrückter Haufen Musiker aus der ganzen Welt ist schwieriger zu bändigen als ein Netz voller Schmetterlinge. Der eine wollte zur Inspiration immer duschen, die andere verknotete sich in Yogapositionen, und der nächste hat alle Bäume auf meinem Grundstück umarmt. Ich kam mir vor wie in einem Selbstfindungs-Camp und wundere mich selbst, dass wir überhaupt dazugekommen sind, eine Platte aufzunehmen.«

Es klopft. Nicht in meinem Kopf, wie ich zuerst denke, sondern an der Wohnungstür. Ich erwarte keinen Besuch. Ich erwarte nur selten Besuch, und wenn, dann auf gar keinen Fall unangemeldeten, denn für Überraschungen bin ich gar nicht zu haben. Die einzigen Menschen, die es wagen würden, mich überraschend zu besuchen, sind meine Eltern. Aber auch die müssten mittlerweile begriffen haben: Überraschungen finde ich grauenhaft. Ich will wissen, was mich erwartet, und notfalls darauf Einfluss nehmen.

In diesem Fall besteht mein Einfluss darin, das Klopfen zu ignorieren. Es wird schon irgendwann wieder aufhören. Ich schreibe konzentriert weiter.

Klopf, klopf. Klopf, klopf, klopf.

Es hört nicht auf. Nein, es entwickelt sich zu kleinen Trommelrhythmen, als hätte der Klopfende Spaß daran.

Genervt eile ich zur Tür. Ich drücke die Klinke runter, aber nichts tut sich.

Wie war das noch mit den Markierungen? Die gelbe hatten wir noch nicht. Ich trete probeweise mit Schmackes drauf. Aha! Die Tür springt auf, die Klinke knallt mir gegen den linken Arm und fällt dann schuldbewusst ab.

»Aua!«

»Ist was passiert?« Hinter meiner Wohnungstür steht der Typ, der mir bei meinem Einzug NICHT geholfen hat. Prince Charming persönlich. Er grinst, obwohl ich das in dieser Situation nicht angemessen finde. Oder liegt das an mir? Mir wird bewusst, dass ich in Bademantel plus Winterjacke aussehe wie ein frierender Schneemann. Na toll.

»Was ist nun?«, blaffe ich ihn an.

Wortlos geht er an mir vorbei zu meiner frisch entdeckten und ausprobierten Dusche. Er macht sich an diversen Hähnen zu schaffen, die ich vorher noch nicht entdeckt hatte, weil sie unter weiteren Feudeln verborgen waren, dreht hier, fummelt da und sagt dann: »Das müsste reichen.«

»Wie? Reichen? Wofür?« Ich bin mir bewusst, dass auch ich schon mal eloquenter gewirkt habe, aber ich möchte unbedingt vermeiden, dass sich meine frisch motivierten Hirnregionen mit aller Kraft den brennend interessanten Themen »Sanitärinstallationen« und »So klappt’s auch mit dem Nachbarn« zuwenden und die mühsam konstruierten Paul-Monnay-Textideen in unerreichbare Gefilde verdrängen. Verdammt. Kann der jetzt mal gehen?

»Man muss vor dem Duschen diesen Hebel hier umlegen und diesen Stöpsel dort hineinstecken. Und nach dem Duschen alle Hähne ganz, ganz fest zudrehen. Sonst tropft es bei mir durch die Decke. Hat Eva dir das nicht gesagt?«

Ich schüttele stumm den Kopf und spüre, wie sich die geistreichen Sätze zum Thema Paul Monnay in meinem Kopf auflösen wie Kakaopulver in heißer Milch.

»Sicherheitshalber habe ich unten einen Eimer aufgestellt. Der ist jetzt aber voll«, sagt er noch. Dann geht er.

Endlich!

Ich stürze wieder zum Computer.

Da klopft es schon wieder.

Ich reagiere nicht.

»Willst du nicht mal dein Bett hochholen?«, ruft er.

»Jetzt nicht!«, schreie ich.

»Ich dachte nur. Ich könnte dir ja dabei helfen.«

Ach so. Ach ja. Na klar.

Beim Einzug hätte er mir helfen können. Als ich ihn darum gebeten habe. (Gebeten ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort.) Hat er aber nicht. Deshalb habe ich meine Matratze, die zum Glück komplett in die Originalverpackung aus Plastikfolie gehüllt ist, nur notdürftig ins Treppenhaus gezerrt und neben dem Bettgestell angelehnt. Wenn ich wieder bei Kräften bin und endlich mal diesen Text geschrieben habe, dann ziehe ich sie Stufe für Stufe hoch. Oder so. Das wird gehen, das muss gehen, denn ich muss ja irgendwo schlafen.

Was aus dem Bettgestell werden soll, kann ich mir ja später überlegen. Man muss Prioritäten setzen.

»Nein! Geh weg!«, wehre ich mich gegen seinen Vorschlag und tippe weiter. Nachher liebend gerne, denke ich, aber ich mach das hier jetzt erst mal fertig. Die Arbeit geht vor.

»Wie du meinst. Ich bin übrigens Jan und wohne unter dir«, antwortet mein aufdringlicher Nachbar und verkrümelt sich endlich. Der hat doch bestimmt was zu tun. Wassereimer ausleeren oder so.

 

Ist denn hier immer so ein Lärm? Jetzt klingelt etwas ganz aufdringlich. Nach ein paar Sekunden fällt mir ein: Das könnte mein Wecker sein. In Ermangelung eines Bettes habe ich mich auf dem Sofa zusammengerollt. Den Text habe ich natürlich vorher fertiggeschrieben, und beim nochmaligen Überfliegen der Zeilen finde ich: Der ist okay. Hat zwar nichts mehr mit der Realität zu tun, aber ich will ja schließlich Redakteurin sein, keine Journalistin.

Ich lösche noch schnell das Wort »Zuchtbulle«, das mir da irgendwie hineingeraten ist, speichere den Text auf einem USB-Stick, drucke die acht Seiten aus, ziehe meine Lieblingsteile aus dem Jil-Sander-Lagerverkauf an (very, very last season, aber vielleicht kann ich mir ja bald etwas aus der aktuellen Kollektion leisten), fahre mit den Händen durch meine Haare, um sie irgendwie in Form zu bringen, schminke mich kurz in dem Witz von Badezimmer (in erster Linie Augenringe und Kaffee-Pickel mit einem Concealer tarnen). Dann will ich schwungvoll die Wohnung verlassen – und pralle gegen etwas Weiches. Meine Matratze hat anscheinend alleine den Weg zu ihrem neuen Zuhause gefunden. Unterwegs hat sie auch schreiben gelernt, denn es hängt ein kleiner Zettel daran, auf dem steht: »Schlaf gut!«

Na prima, denke ich, zum Schlafen habe ich jetzt doch überhaupt keine Zeit. Ich zerre das widerborstige Ding in meine Wohnung, lasse sie im Schlafzimmer umkippen, würde am liebsten hinterherfallen, renne dann aber los.

Zur Arbeit.

Die Karriereleiter hochklettern.

 

»Willkommen im Team«, sagt Clark, nachdem er den Text gelesen hat. »Paul Monnay hat auch schon angerufen. Er sagte, er ist gespannt, was du aus seinem Gelaber machst. Und dieser Text ist mindestens so gut wie deine Pudel-Champion-Reportage für das Käseblatt.«

»Dabei habe ich diesmal eher an Zuchtbullen gedacht«, bemerke ich trocken. Clark denkt, ich hätte einen Witz gemacht, und wirft sich vor Lachen fast unter den Tisch.

»Der war gut!«, schnauft er und brüllt dann unvermittelt nach Maria, die sofort im Türrahmen steht.

»Zeig Katrin mal ihren Schreibtisch und gib ihr einen Schlüssel«, weist er sie an. Und dann, an mich gewandt: »Von dir bekomme ich nachher die Themenlisten für die Musik- und Filmseiten.«

 

Am nächsten Tag gebe ich meinen Einstand. Das heißt: Ich versuche es. Ich schleppe einen großen Karton mit portugiesischen Vanilletörtchen an und gehe von Büro zu Büro, um mich vorzustellen. Bei den »Edelfedern«, den Star-Autoren, klopfe ich vergeblich. Die scheinen ausgeflogen zu sein. Aus der Grafik gehe ich rückwärts wieder raus, denn dort macht die Art Directorin ihr Team gerade zur Schnecke. Ausdrücke wie »nichtsnutzige Versager« gehören da noch zu den Schmeicheleien. Die Reiseredakteurin ist verreist, die Lust-&-Liebe-Redakteurin mitten im Dildo-Test. Also nur theoretisch.

»Bisschen orale Befriedigung zwischendrin kann nicht schaden«, meint sie lächelnd, nimmt sich ein Törtchen und fegt mit dieser Bewegung den Dildo-Wald vor sich vom Tisch. Sie scheint nett zu sein, ein bisschen verhuscht vielleicht.

»Du bist also die Neue?« Drei Moderedakteurinnen mustern mich von oben bis unten.

»Sie sieht so … unverbraucht aus«, sagt die erste.

»So … retro«, befindet die zweite.

»Fast schon rustikal«, urteilt die dritte.

So, wie sie es gesagt haben, könnten es Komplimente sein. Oder Beleidigungen. Ich bin mir da nicht sicher.

Als ich ihnen den aufgeklappten Karton mit Törtchen unter die Nase halte, zucken sie zusammen, als hätte ich sie mit einer Faustfeuerwaffe bedroht.

»Die Modewochen stehen bevor«, zischt die eine, als hätte das was mit meinem Gebäck zu tun.

»Wir sind nicht nur auf Low-, wir sind auf Zero-Carb«, erklärt die zweite.

»Nichts schmeckt so gut, wie sich dünn anfühlt«, flötet die dritte. »Das hat schon Kate gesagt.«

»Kate Bush?«, frage ich irritiert, doch die drei Grazien starren nur hohlwangig auf die Törtchen und huschen dann auf ihre Plätze, als eine elfengleiche Erscheinung in den Raum weht und vor mir zum Stehen kommt. Für eine Elfe hat sie ein erstaunlich strenges Gesicht.

»Ich bin die neue Entertainment-Redakteurin«, stelle ich mich vor.

»So?« Das klingt nicht wirklich wie eine Frage, sondern wie eine gelangweilte Antwort.

Sie wiegt sich hin und her, als würde sie gleich in Trance fallen.

»Ihr«, sie wedelt mit einer vagen Handbewegung in meine Richtung, »ihr spuckt Wörter aus. Wir«, ihre Hände greifen theatralisch ans Herz, »wir fühlen die wahre Schönheit und visualisieren sie.«

»Ich habe hier ein paar Törtchen …«, versuche ich noch vorsichtig anzubringen, aber sie macht eine eindeutige »Hinfort!«-Handbewegung. »Die Törtchen stelle ich in die Küche, für später«, murmle ich beim Hinausgehen.

Dort begegne ich Maria.

»Na, warst du bei den Grazien in der Moderedaktion?«, fragt sie, als sie die noch so gut wie volle Schachtel sieht. Sie nimmt sich ein Gebäckstück und beißt hinein. »Hm, lecker! Lass dich bloß nicht von diesen Tusneldas einschüchtern. Sie denken, sie machen das Heft und wir sind nur der störende Bodensatz. Arrogantes Pack. Aber leider nicht unwichtig, da sie so gut mit den Anzeigenkunden können.«

Ich betrachte kritisch meine Schuhe. Flache Bowlingschuhe aus blauem Leder.

»Vielleicht sollte ich mein Outfit überdenken?«

»Das würde auch nichts helfen«, meint Maria und rennt Richtung Clark, der ihren Namen durch die Gänge brüllt.

Als ich später wieder in die Küche gehe, sind die Törtchen weg. Vor der Tür des Mode-Ressorts liegen ein paar Krümel auf dem Teppich.

Die muss ich wohl vorhin dort verloren haben, oder?

3. Kapitel

Es ist Sonntag, und in meiner Küche gibt es nur ein Paket mit Nudeln und eines mit Reis. Die Fertigsoßen sind aufgebraucht, die Gurke (ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, eine Gurke gekauft zu haben) ist so schlapp, dass sie nicht mal mehr als Dildo-Parodie taugen würde. Müsli ist da, aber die Milch ist alle. In großzügiger Menge vorhanden sind Salz, Pfeffer und eine etwas verstaubte Kräuter-in-Gläsern-Sammlung, die Eva noch zu D-Mark-Zeiten gekauft hat. Ich könnte mir also Nudeln kochen und mit Kräutern bestäuben. Pasta im Dialog mit historischen Kräutern der Provence.

Klingt grauenhaft.

Aber wer weiß, vielleicht gibt es hier in der Gegend Restaurants, die noch Schlimmeres zu bieten haben? Ich habe noch nie darauf geachtet. Ich esse normalerweise nicht zu Hause. Schon als Kind nicht, meine Mutter hatte es nicht so mit dem Kochen. Ich hole mir eben was aus einer Bäckerei, bestelle mittags was vom Thailänder, werde abends auf Veranstaltungen mit Fingerfood fast beworfen.

Fliegendes Fingerfood kann ich jedoch hier nirgendwo entdecken. Immerhin: Mein Blick, der die Straße auf und ab schweift, registriert zwischen Dreck und Müll, vielen Menschen und beschmierten Wänden eine unverhoffte Vielfalt. Ich gehe los, die Wohlwillstraße hoch, und passiere eine Eisdiele, einen Fischimbiss, ein Café und drei Döner-Läden. Dazwischen gibt es eine Galerie, einen Plattenladen und ein Geschäft mit dem rätselhaften Namen »Lockengelöt«. Geradeaus an der T-Kreuzung hängt über einem Schaufenster ein Schild, auf dem »Käse und Wein« steht. Das wäre jetzt genau richtig, doch der Laden hat zu. Dann links um die Ecke in die Clemens-Schultz-Straße, noch tiefer rein nach St. Pauli. Da gibt es einen winzigen Imbiss mit dem Namen »Mini-Grill«, ein indisches Restaurant und drei türkische. Vor allen stehen Tafeln, darauf werden in schon halb verwischter Kreideschrift die Tagesgerichte angepriesen. Eines der türkischen Restaurants lockt auf der emotionalen Schiene: »Gefühlte Paprika« gibt es dort. Gefühlte Paprika. Ich bin ja weder ein romantischer noch ein besonders emotionaler Mensch, man könnte auch sagen: Ich bin tough und kein bisschen weichlich, und es macht mir überhaupt nichts aus, alleine essen zu gehen, ich genieße es geradezu. Aber diese gefühlten Paprika sprechen mich an. Das klingt irgendwie nach mehr als bloß einer warmen Mahlzeit. Das ist was für die Seele – so ich denn eine habe, aber man weiß ja nie.

Normalerweise regiert bei mir der Wille, gesteuert von rationalem Denken. Doch heute handele ich eher instinktiv. Wie soll man auch nachdenken, wenn man Hunger hat? Ich gehe rein, setze mich auf ein winziges Höckerchen an ein niedriges Tischchen, auf dem meine Hände für immer festkleben würden, wenn ich sie drauflegte (was ich natürlich nicht tue), und bestelle beim Kellner, der elegant mit einem Tuch über den Tisch wedelt, den dabei wirklich restlos säubert und dann noch eine Kerze anzündet und hübsch vor mir arrangiert, also: Bei diesem Kellner bestelle ich, als er mit seiner Zeremonie fertig ist, die gefühlten Paprika. Ich spreche es auch genauso aus, mit ganz langem »ü«, aber er zuckt nicht mit der Wimper und lächelt auch nicht, sondern fragt nur: »Was möchten Sie dazu trinken?«

»Was empfehlen Sie mir denn?«

»Ayran. Türkisches Spezialgetränk. Sehr erfrischend. Heute im Angebot.«

»Gerne.«

Gut, dann also gefühlte Paprika und ein erfrischendes Spezialgetränk. Ich hole mein Notizbuch heraus, natürlich von Moleskine, und schreibe mir ein paar Themenideen für das nächste Heft auf. Ein Istanbul-Special könnte man mal machen, in dem prominente Deutschtürken Reisetipps geben. Und was ist überhaupt mit Orient-Pop? Ging da eigentlich nach Ofra Haza noch was? Aber die war ja gar nicht aus der Türkei, sondern aus Israel.

Dann serviert der Kellner die gefühlten Paprika und einen Blechbecher voll flüssigem Joghurt, und es geschieht etwas Ungewöhnliches: Ich höre auf, an die Arbeit zu denken, und denke stattdessen an meine neue Wohnung. An mein Bettgestell, das immer noch im Treppenhaus steht. An meine Nachbarn. Wie die wohl sind? Werde ich sie kennenlernen? Was für Menschen leben hier?

Aufgewachsen bin ich in Einfamilienhäusern. Wir sind oft umgezogen, mein Vater wurde andauernd versetzt. Länger als drei Jahre waren wir selten an einem Ort. Ich habe gelernt, mich auf mich selbst zu verlassen anstatt auf soziale Bindungen. Was wird denn aus Kinderfreundschaften? Man geht auf verschiedene Schulen, und dann sieht man sich nie wieder. Und falls man sich doch wiedersieht, stellt man fest, dass die eine Vorsitzende des Landfrauenvereins in Hückelsdorf, die andere drogenabhängig und die dritte Millionärsgattin mit Hang zu Versace-Kitsch geworden ist. Das kann man alles nicht brauchen.

Bei den Häusern meiner Kindheit gab es keine Nachbarn. Es gab Gärten, die von hohen Mauern umgeben waren. Oder von hohen Hecken. Manchmal auch von beidem. Man hatte, schätzte und pflegte seine Privatsphäre. Man war allein in seinem Glück – und in seinem Elend, das war noch wichtiger. Niemand sollte wissen, was hinter den Mauern und Hecken vor sich ging. Niemand sollte neidisch werden – oder schadenfroh. Gefühlte Paprika gab es bei uns nie.

 

Am nächsten Tag gehe ich auf dem morgendlichen Weg zur Redaktion an dem »Käse und Wein«-Laden vorbei. An »Renates Käse und Wein«-Laden, genauer gesagt.

Warum sollte ich nicht mal ganz normal Lebensmittel erwerben? Ich weiß zwar nicht, was ich in der Redaktion mit Käse soll, auch Wein scheint mir nicht angebracht, aber vielleicht gibt es in dem Laden auch noch etwas anderes. Ich weiß es nicht, und genau das ist es, was mich jetzt dort hineinzieht: Neugier, journalistisches Erkenntnisinteresse, zumindest gaukele ich mir das vor. Dabei ist es ebenso unwahrscheinlich, dass Ancilla einen Käseladen vorstellt, wie die Möglichkeit, dass Karl Lagerfeld die Arbeitskleidung für die Hamburger Stadtreinigung entwirft. Obwohl das eine reizvolle Idee ist, vielleicht müsste ihm das nur mal jemand nahelegen? Ich mache mir eine kleine Notiz in mein Moleskine-Büchlein.

»Na, schreibst du jetzt noch schnell einen Einkaufszettel?« Eine Stimme, die Käse zum Schmelzen bringen könnte und eher nach luftgetrocknetem Schinken klingt, lässt mich hochschrecken. Hinter dem Glastresen sind Käseberge aufgebaut, dahinter steht eine Frau, die aussieht, als sei sie gerade reingekommen und hätte die Jahre vorher im Freien verbracht, auf dem Deich oder woanders, wo man erst ab Stärke acht überhaupt von Wind spricht. Wettergegerbt bis in die Locken. Das muss Renate sein.

»Na, was willste denn?«, fragt sie mich.

»Ich … äh … weiß es nicht.« Ich kann ja schlecht sagen: keinen Käse.

»Das ist das Problem mit euch jungen Leuten: Nie wisst ihr, was ihr wollt. Dabei solltet ihr das wissen, sonst bekommt ihr es nicht. Oder was ganz anderes. Und was machst du mit Ziegengouda, wenn du doch eigentlich Bavette wolltest?«

Wollte ich Bavette? Was sind Bavette? Und warum duzt die mich überhaupt?

»Ich schau mich mal ein bisschen um«, sage ich, um Zeit zu gewinnen.

Das zarte Pling einer kleinen Glocke, das einen interessanten Kontrast zur kräftigen Stimme der Inhaberin bildet, meldet einen neuen Kunden. Ein Mann betritt den Laden.

Das Ciabatta im Korb sieht wirklich gut aus.

»Ich nehme das Brot da und auch etwas von dem Pesto«, bestelle ich schnell in Richtung Verkäuferin. Der Mann sieht mich wütend an. Habe ich was Falsches gesagt?

Renate nimmt das Brot und erklärt: »Tut mir leid, Schätzchen, das Brot ist für Oliver reserviert.« Mit dem Ciabatta deutet sie auf den Mann, dessen Gesicht sich wieder erhellt. »Ihr könntet euch das aber auch teilen.«

Was soll ich? Mit einem fremden Mann ein Brot teilen? Warum nicht gleich das Bett und alles andere?

Dieser Oliver guckt genauso entsetzt. Er sieht hungrig aus.

»Ich schneide euch das durch. Muss aber nicht«, beschwichtigt Renate.

»Na gut«, lenkt Oliver großzügig ein.

»Ein Gentleman«, lobt Renate. Ich finde, da gehört ein wenig mehr zu. Immerhin komme ich so zu einem halben Ciabatta und einem Töpfchen Pesto.

»Du solltest dir noch ein paar Tomaten dazuholen. Die besten gibt es bei Thorsten«, empfiehlt Renate, als sie mir mein Wechselgeld über den Tresen reicht.

Thorsten? Wer ist das nun wieder? Auch so ein Brot-Reservierer wie dieser Oliver?

»Das ist der Gemüsehändler. Ein paar Meter die Straße runter, in der Paul-Roosen. Vitamine würden dir guttun.«

»Danke«, sage ich verwirrt und frage mich, warum sich Renate über meinen Vitaminhaushalt Gedanken macht. Die kennt mich doch gar nicht. Sehe ich so blass aus?

4. Kapitel

Ich könnte mal wieder eine Affäre haben, denke ich mir. Nichts Ernstes, nur ein wenig körperliche Entspannung mit einem attraktiven Mann, der sich mit einem kleinen Teil meiner ohnehin knappen Freizeit zufriedengibt und keinerlei anstrengende Ansprüche stellt. (Also nicht: gemeinsam auf Gomera einen Trommel-Workshop besuchen. Auch nicht: sonntagmorgens zusammen joggen. Auf keinen Fall: dieser ganze »Lass uns heiraten, Kinder haben, und du gibst deinen Job auf«-Quatsch. Igitt!) Ich könnte die Liste der Dinge, die ich NICHT gemeinsam mit ihm machen möchte, ins Unendliche fortsetzen. Aber mal wieder knutschen, das wäre ganz schön. Oder machen das nur die mich sanft umwummernden Bässe?

Ich nehme einen Schluck aus einem Glas, das ich nicht abstellen kann, weil es so mit Schirmchen und Obstspießen überladen ist, dass es ohne meine stützende Hand umfallen würde. Ich möchte gerne ein wenig durch den Raum gehen, um zu sehen, ob ein geeigneter Kandidat anwesend ist, bei dem ich meine Negativliste abhaken kann, aber bei jedem Schritt riskiere ich, dass mir Sand in die Schuhe rieselt. Und das Gefühl von Sand in den Schuhen kann ich nicht leiden. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich Gummistiefel angezogen. (Das ist rein hypothetisch gedacht, denn ich besitze gar keine Gummistiefel.) Aber wer konnte das ahnen? Der Psychotherapeut eines Eventmanagers hätte darauf kommen können. Ich dagegen habe mich noch nicht ganz an die ach so originellen Ideen der Partyveranstalter gewöhnt.

Ich befinde mich bei einer sogenannten Goldverleihung. In diesem speziellen Fall soll den Protagonisten eines Hits eine gerahmte goldfarbene Schallplatte überreicht werden, also mit zwei schlanken blonden Damen mit zwar unsichtbaren, aber für jeden deutlich wahrnehmbaren »Fick mich hier, jetzt und sofort«-Tätowierungen auf der Stirn und einem muskulösen dunkelhäutigen Herrn, der dieser Aufforderung symbolisch in ausdrucksvoll eindeutigen Tanzschritten nachkommt. Der Partyveranstalter hat das Naheliegende getan und den Veranstaltungsort, die Garage hinter dem Mojo-Club, zu einer riesigen Indoor-Sandkiste für Erwachsene herausgeputzt. An künstlichen Palmen baumeln erschreckend echt aussehende Kokosnüsse.

»Wusstest du, dass weltweit jährlich mehr Menschen von Kokosnüssen erschlagen werden, als durch Haibisse sterben?«, sagt jemand neben mir. Optisch ist er eher Junge als Mann, schmal, nur knapp größer als ich. Sein Gesicht sieht aus wie aus Porzellan, echtes Meißner, ganz fein geformt und handbemalt. Dabei nicht kitschig, sondern einfach rührend bezaubernd. Er wäre eine ganz hübsche Marionette in einem historischen Puppentheater. Seine Augen scheinen auszuweichen, ob ungewollt oder absichtlich ist nicht ganz klar. Er wirkt völlig unnahbar, ich kann kaum glauben, dass er das eben zu mir gesagt hat.

»Dann geh mal lieber in Sicherheit«, rate ich ihm und ergänze auf meiner Negativliste: keine Anmachsprüche, in denen es um Tod und/oder Statistiken geht. Schade, denn er sieht wirklich reizend aus. Wenn er schweigen würde, wäre vielleicht alles okay.

Er rührt sich nicht, sagt aber auch nichts mehr, denn die Musik donnert los. Der »Sommerhit« in voller Lautstärke. Darin geht es um Kokosnüsse, soweit ich den Text richtig deute. Ich habe den Song bestimmt schon so oft gehört, wie ich in diesem Winter die Kühlschranktür geöffnet habe. Er läuft überall, in fast jeder Kneipe auf dem Kiez, vor allem auch in der »Gemütlichen Ecke« unter meiner Wohnung, obwohl sich die Kneipe sonst eher mit Roger-Whittaker-Abenden zu profilieren versucht. Der »Sommerhit« ist eines von diesen hirnlosen Liedern, die gleichzeitig Bedürfnisse zu wecken und zu befriedigen scheinen, die offensichtlich viele Menschen haben: nach guter Laune, nach Sonne, nach einem total öden Pauschalurlaub, bei dem einem das Gehirn schrumpft und der IQ auf die Konfektionsgröße absinkt. Ein Song, der einen zum Zucken bringt, ob man will oder nicht, selbst wenn man sich dafür vor sich selbst schämt. Genial. Eine Gelddruckmaschine. Die Schirmchen auf den Cocktails, die inzwischen gereicht wurden, zittern vor Ehrfurcht. Und die Kokosnüsse sitzen bedrohlich locker. Ich halte Abstand von den bewaffneten Kunstpalmen und gucke zur Bühne, die das Trio im Gänsemarsch hinter einem schmerbäuchigen Mann betritt. Der hat den rosigen Charme einer morbiden, bröckeligen Putte und scheint der Produzent zu sein.

»Hach, den Guido muss ich dir nachher vorstellen. Das ist ein ganz Netter! Und was er anfasst, wird zu Gold«, dringt eine selbst im Flüsterton noch schrille Stimme in mein Ohr. Gerlinde, die Presse-Promoterin der Plattenfirma, hat sich unbemerkt von hinten an mich herangeschlichen. Auf der Bühne nimmt Guido die Auszeichnung entgegen und hält die Goldene Schallplatte so, dass sie das Licht der Scheinwerfer effektvoll reflektiert.

»Siehst du«, flüstert Gerlinde bestätigend. Ich verkneife mir die Bemerkung, dass die Goldene Schallplatte ja wohl auch schon vorher golden war. »Und er hat da ein paar ganz heiße Projekte am Laufen. Du MUSST ein Interview mit ihm machen!«

Die Dankrede, die der nette Gold-Guido gerade auf der Bühne hält, ist Gerlinde egal, sie macht hier und bei jeder Gelegenheit ihren Job: ihre Schützlinge in die Presse bringen, möglichst in die Ancilla, und das auf möglichst vielen Seiten. Egal, ob es passt oder nicht. Und Guido passt nun wirklich gar nicht.

»Und da haben wir ja auch Alex«, fährt Gerlinde fort. Sie arbeitet immer die Liste der aktuellen Veröffentlichungen ab. Jetzt zeigt sie auf die hübsche »Marionette« mit der Haistatistik und versucht, dessen Hand zu ergreifen, die er ihr jedoch entzieht. »Der macht ganz wundervolle Remixe. Er ist auf dieser Wahnsinns-Compilation, die wir nächsten Monat rausbringen. Und er ist hier nebenan im Mojo Resident DJ.«

Ich lächle Alex professionell zu. Ein DJ, der nebenbei ein wenig an Remixen herumbastelt, so, so. Ja, das könnte schlimmer sein. DJ, das hat einen gewissen Glamour-Faktor. Er schaut abwesend in die Kokosnuss-Deko, während Gerlinde weiter die Veröffentlichungen der nächsten Wochen anpreist. Sie wird mir alle CDs zuschicken, es werden sechsundzwanzig sein, ich werde in alle brav reinhören, zu jeder einzelnen mindestens einmal von ihr angerufen werden, und am Ende kommt im Laufe des Monats mit Glück eine dreizeilige Rezension dabei heraus. Gerlinde hat äußerst selten richtige Stars zu promoten, sie macht seit fast zwei Jahrzehnten die Drecksarbeit in ihrer Abteilung. Das scheint allerdings keine Auswirkungen auf ihre immerzu brillante Laune zu haben. Ist das normal, oder steht das in ihrer Stellenbeschreibung?

Irre ich mich, oder hat der DJ-Alex mir da eben zugeblinzelt? Vielleicht schielt er auch? Doch, er ist sehr hübsch, ich mag dieses Marionettenhafte und könnte mir gut vorstellen, ein wenig an seinen unsichtbaren Fäden zu ziehen.

Inzwischen kullert Gold-Boy Guido von der Bühne, nicht ohne vorher seinen beiden blonden Grazien einen Klaps auf den jeweiligen Hot-Pants-Hintern verpasst zu haben. Statt zurückzuhauen, kichern die beiden nur. Die müssen noch was lernen, denke ich. Gerlinde schnellt, so gut es in dieser Sandkiste eben geht, auf Guido zu, greift ihn sich und zerrt ihn in meine Richtung. Guido schenkt mir ein zahniges Lächeln, auf einem seiner Schneidezähne funkelt ein kleiner Brillant. Es sieht aus, als hätte er in die Auslage eines Juweliers gebissen oder wäre beim Handkuss einer Reedersgattin nicht angemessen zurückhaltend gewesen. Zurückhaltung scheint in seinem Wesen sowieso nicht vorgesehen zu sein, merke ich bald. Wir werden einander vorgestellt, ich als Entertainment-Chefin von Ancilla. Als er das hört, funkeln seine Augen mit seinem Gebiss um die Wette.

»Geiler Song, was?«, fragt er rhetorisch und streicht sich dabei über Brust und Bauch, beides nicht nur vom Stolz, sondern offensichtlich auch von Bier und Muckibude angeschwollen. Dann greift er meine Hand, ich denke, er will sie schütteln, aber er beugt sich nach vorne zum Handkuss. Da ich keinen Schmuck trage, habe ich nichts zu befürchten, aber unangenehm ist mir der feuchte Schmatz auf dem Handrücken schon.

»Was für ein Gentleman«, fiept Gerlinde entzückt.

Guido lässt meine Hand einfach nicht wieder los, obwohl ich sie mit Kraft zurückziehe. Alex sieht immer noch zu mir. Könnte der mich mal bitte retten, statt nur dumm dazustehen? Jetzt lehnt er sich auch noch an die Deko-Palme.

»Lass uns zusammen einen Drink nehmen«, raunt Guido mich an.