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  • Herausgeber: Heyne Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Tödliche Weihnacht überall

Sie sehnen sich nach etwas Aufregung in der Adventszeit? Sie brauchen noch ein mörderisch gutes Geschenk? Perfekt! Wir bieten festliche Spannung, die Ihnen garantiert den Atem stocken lässt. 12 renommierte Krimi-Autor*innen haben sich zusammengefunden und begeben sich mit Ihnen auf eine spannungsgeladene Reise an die schönsten Tatorte Europas. Freuen Sie sich auf mitreißende Kurzgeschichten: ob blutig oder heiter, ob gruselig oder voller Witz. Alle Autor*innen liefern zudem ein weihnachtliches Rezept zu ihrem Krimi.

Für Spannung mit weihnachtlichem Genuss sorgen: Gisa Pauly, Luis Sellano, Lilly Alonso, Sabine Thiesler, Jan Beck, Beate Maxian, Petra Ivanov, Marcel Häußler, Carine Bernard, Susanne Mischke, Fynn Jacob und Horst Eckert.

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Seitenzahl: 349

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DASBUCH

Sie sehnen sich nach etwas Aufregung in der Adventszeit? Sie brauchen noch eine Inspiration für das diesjährige Weihnachtsessen? Perfekt! Dieses Buch bietet festliche Spannung, die Ihnen nicht nur den Atem stocken, sondern auch das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Zwölf renommierte Krimi-Autor*innen nehmen Sie mit auf eine spannungsgeladene Reise an die schönsten Tatorte Europas. Und zu jedem Krimi gibt es das passende Rezept. Freuen Sie sich auf mitreißende weihnachtliche Kurzgeschichten von der Nordseeküste bis zum Atlantik: ob blutig oder heiter, ob gruselig oder voller Witz.

DIEAUTOR*INNEN

Für Spannung mit weihnachtlichem Genuss sorgen:

Gisa Pauly, Fynn Jacob, Susanne Mischke, Horst Eckert, Beate Maxian, Jan Beck, Petra Ivanov, Sabine Thiesler, Carine Bernard, Lilly Alonso, Marcel Häußler und Luis Sellano.

TATORT WEIHNACHTEN

WEIHNACHTSKRIMIS MIT REZEPTEN

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 09/2023

Copyright © 2023 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Michelle Stöger

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design

unter Verwendung von Shutterstock.com

(Natalia Hubbert, Viktor Il’yin, Valery Rybakow)

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-30855-1V001

www.heyne.de

Inhalt

Gisa Pauly Heilige Familie

Friesische Weihnachtstorte

Fynn Jacob Pakjesavond

Kruidnoten

Susanne Mischke Blackout Christmas

Weihnachtskekse, wie Gustav sie liebt

Horst Eckert Schnee in Übersee

Skrei weiß-grün-gelb (auf Erbsenpüree mit Safransoße)

Beate Maxian Leise rieselt der Tod

Husarenkrapferl

Jan Beck Die Schönbacher Weihnachtswuchteln

Die Schönbacher Weihnachtswuchteln

Petra Ivanov Die Fäden ziehen

Käsefondue moitié-moitié

Sabine Thiesler Griechischer Wein

Galopoula – gefüllter Truthahn

Carine Bernard Département Mord: Ohne die Pute wärst du tot!

Dinde aux marrons – Pute mit Maronenfülle

Lilly Alonso Der Weise und das Kindlein

Harter Turrón, weißer Mandelnougat

Weicher Turrón

Marcel Häußler Wiedersehen im Alentejo

Bacalhau à Bras

Luis Sellano Portugiesische Weihnachten

Mit Chouriço gefüllte Kalmare

Gisa Pauly  Heilige Familie

Tatort: Sylt

Die Autorin

Gisa Pauly hat zwanzig Jahre lang als Berufsschullehrerin gearbeitet, ehe sie das Unterrichten an den Nagel hängte und sich ganz dem Schreiben widmete. 1994 erschien ihr erstes Buch Mir langt’s – eine Lehrerin steigt aus!, darauf folgten zahlreiche Drehbücher und Romane. Mit den Sylt-Krimis rund um Mamma Carlotta erobert sie Jahr um Jahr die Bestsellerlisten und die Herzen der Leser*innen. Gisa Pauly zählt heute zu den erfolgreichsten Autorinnen im deutschsprachigen Raum.

Himmel, geht’s mir gut! So gut, dass ich meine Zufriedenheit unbedingt mit Ihnen teilen muss! Was hat man von dem ganzen Glück, wenn man nicht darüber reden kann? Wenn Sie mir nun noch den Gefallen tun könnten, ein wenig neidisch zu sein, wäre mein Glück vollkommen. Es ist einfach herrlich! Vor mir das Meer, über mir die Möwen, in den Haaren der Wind, in der Nase der Geruch, den es nur hier gibt. An der Nordsee, auf Sylt. Und hinter mir, auf der anderen Seite der geschlossenen Balkontür mein Mann, der hier viel leichter zu handeln ist als zu Hause. Natürlich ist er nicht wirklich zufrieden oder gar glücklich – das ist er eigentlich nie, es sei denn, Schalke hat gewonnen –, aber ihm ist natürlich bewusst, dass ich ihn heute eigentlich zu Bauer Harmsen geschickt hätte, um die Weihnachtsgans abzuholen. Dass er dieser lästigen Pflicht entronnen ist, gefällt ihm außerordentlich. Er mag Bauer Harmsen nicht, und vor allem mag er den Stress nicht, der mit dem Einzug der Weihnachtsgans in unsere Wohnung beginnt. Jahr für Jahr!

Aber in diesem Jahr nicht! Denn diesmal haben wir alles anders gemacht. Sie sollten sich das auch mal überlegen. Wir haben uns in den Strom der Weihnachtsflüchtlinge eingefügt. Keine Weihnachtsgans, keine Geschenke, kein Tannenbaum, kein Ärger mit der elektrischen Beleuchtung, keine Gäste, die bis zum zweiten Weihnachtsfeiertag bleiben. Weihnachtsboykott! Herrlich! Haben Sie sich schon mal zu diesem Wagnis durchgerungen? Denn … ein Wagnis ist es natürlich, wenn man mit einer uralten Tradition bricht. Das muss man sich vorher gut überlegen.

Allmählich wird es kalt auf dem Balkon. Besser, ich gehe wieder rein. Und dann … na, dann genieße ich, dass ich in diesem Jahr keine Arbeit haben werde, obwohl Weihnachten ist. Ich könnte einen Spaziergang machen, könnte sogar shoppen gehen. Nein, nicht einkaufen fürs Weihnachtsessen, fürs Kuchenbacken, für den Mitternachtssnack in der Heiligen Nacht, sondern durch die Geschäfte schlendern und mir all das Hübsche ansehen, was dort ausliegt. Früher war vor Weihnachten ja keine Zeit für so was. Ich muss mich nicht einmal um Weihnachtsgeschenke kümmern. Eckart und ich haben es sogar so weit getrieben, dass wir uns in diesem Jahr nichts schenken werden.

Eckart hat gesagt: »Wenn schon, denn schon!«

Und er hat recht. Wir machen alles anders, wir feiern Weihnachten nicht zu Hause, sondern auf Sylt, und dazu gehört eben auch, dass wir bei dem Geschenkemarathon nicht mitmachen. Sollten Sie schon seit November versuchen, die richtigen Geschenke für Ihre Angehörigen zu finden, dann tun Sie mir leid. Es geht nämlich auch anders. Nehmen Sie sich ein Beispiel an mir! Während Sie sich um den Christstollen kümmern müssen, mache ich einen Strandspaziergang.

Ich wende mich ab von dem herrlichen Blick aufs Meer, um wieder hineinzugehen, da höre ich eine Stimme vom Nachbarbalkon. Eine männliche Stimme, und sie spricht ganz leise. Sie werden doch verstehen, dass ich mich da umdrehen und noch einmal ans Balkongeländer stellen muss? Neugier macht warm, plötzlich friere ich gar nicht mehr so sehr. Kennen Sie das?

»Fünfzigtausend mindestens«, flüstert die Stimme auf dem Balkon, eine lispelnde Stimme, die Schwierigkeiten mit den Zischlauten hat. »Vielleicht auch hunderttausend. Im Urlaub sind die Leute risikofreudiger. Deswegen ziehen wir das Ding ja hier auf Sylt durch.«

Leider kann ich den Mann nicht sehen, denn der Vermieter der Ferienwohnungen hat versucht, den Bewohnern durch Trennscheiben das Gefühl zu geben, sie säßen ganz allein auf ihrem Balkon. Ich würde ja gerne mal einen langen Hals machen und um die Trennscheibe herumschauen, aber das traue ich mich nicht. Wenn er mich dann sieht! Dann könnte er ja glatt meinen, ich wäre neugierig. Und kurz darauf ist es sowieso zu spät. Ich höre, dass er aufsteht und sich die Balkontür schließt. Fünfzigtausend! Wovon der wohl geredet hat?

Wie erwartet winkt Eckart nur ab, als ich ihm den Vorschlag mit dem Spaziergang mache. »Ich denke, in diesem Jahr wird alles anders? Jeder macht, was er will.« Er legt die Zeitung beiseite und greift nach der Fernbedienung. »Ich gucke jetzt ›Weihnachten bei Hoppenstedts‹.« Und dann sagt er, während ich meinen Schal hervorkrame, den verhängnisvollen Satz: »Bring mir aber keine neue Weinkaraffe mit. Und auch kein Mokkaservice. So viel Platz haben wir nicht im Kofferraum.«

Mir rutscht der Schal aus der Hand. »Was redest du da?«

Eckart grinst. »Meinst du, ich wüsste nichts von der Auktion auf der Friedrichstraße? Stand doch im Schaufenster des Auktionshauses. Ein riesiges Plakat. Das hast du auch gesehen, gib’s zu. Du willst nicht spazieren gehen, sondern irgendeinen Nippes ersteigern.«

Nein, ich hatte es nicht gesehen. Aber gut, dass ich nun Bescheid weiß. Ich liebe Auktionen! Sie auch? Was ich bei solchen Gelegenheiten schon alles ergattert habe! Eine Büste von Kaiserin Sissi, Spitzenvorhänge, kristallene Kerzenleuchter – alles spottbillig. Aber kurz vor Weihnachten? Für so was hat man dann ja keine Zeit. Es sei denn … ja, Sie wissen schon.

Dass ich jetzt, ohne den geringsten Stress und ohne mir Gedanken über die Weihnachtsgans und den Rotkohl machen zu müssen, am Schaufenster eines Sylter Auktionshauses vorbeispazieren und sogar hineingehen kann, versetzt mich in Euphorie. Man sieht Eckart an, dass er bereut, was er gesagt hat. Aber seine Reue kommt eindeutig zu spät. Nun weiß ich von der Weihnachtsauktion, nun werde ich auch hingehen.

»Aber nicht schon wieder Porzellan oder Glas«, ruft Eckart mir nach. »Das geht unterwegs zu Bruch.«

Der Laden ist gerammelt voll, denn draußen hat es zu regnen begonnen. Viele sind gar nicht daran interessiert, etwas zu ersteigern, die meisten wollen bestimmt nur im Warmen sitzen oder mal gucken, wie viel andere Leute für ein Gemälde, für Kristallvasen oder feines Geschirr auszugeben bereit sind.

Als ich komme, gehen gerade Porzellanfigürchen über die Theke. »Zum Ersten … zum Zweiten …« Hübsch, wirklich hübsch. Vermutlich aus Meißen. Danach kommen goldene Füllfederhalter zur Auktion, die niemand haben will, und dann diverses elektronisches Spielzeug. Da bieten plötzlich auch die Leute mit, die eigentlich nur zugucken wollten, wie andere ihr Geld ausgeben. Jedenfalls kommt es mir so vor. Und dann Gemälde! Eine Lithografie von Margot Laffon geht für läppische dreihundert weg, ein Adrian Ghenie beginnt dagegen mit dreizehntausend Euro Startpreis. Kennen Sie das? Wenn sich vor Ihren Augen etwas abspielt, was Sie haben könnten? Womöglich unter Wert? Ein Kunst-Schnäppchen, von dem Sie mit einem Mal wollen, dass es kein anderer bekommt? In unseren vier Wänden tummeln sich viele dieser Schnäppchen, es gibt wahrlich keinen Grund, sich um ein weiteres zu bemühen. Trotzdem vibriere ich vor Spannung, als ein Gemälde nach dem anderen weggeht. Noch nie habe ich ein Bild gekauft, da kenne ich mich nicht aus. Bei uns hängen nur gerahmte Familienfotos, die »Betenden Hände« von Albrecht Dürer und im Schlafzimmer ein großes Kreuz über dem Bett, weil wir ja schließlich fromme Menschen sind. Es gibt also echt keinen Grund, sich bei jeder Kleckserei Gedanken über den Preis zu machen.

Dann macht der Auktionator es spannend. Neben ihm steht auf einer Staffelei ein verhülltes Bild in einer Größe von etwa 50 mal 50 Zentimeter. Der Maler sei unbekannt, sagt er, womöglich handele es sich um einen Schüler von Tizian oder von Jacopo Palma il Vecchio, vielleicht sogar von Letzterem selbst. Vermutlich stamme es aus dem 17., vielleicht auch 18. Jahrhundert. »Dieses Bild ist wie ein Blind Date«, sagte der Auktionator. »Es kann alles werden, nur wenig oder auch unbedeutend bleiben. Der bisherige Besitzer hat jedoch eine entsprechende Expertise eingeholt und ist davon überzeugt, dass das Bild einen großen Wert besitzt. Deswegen geht das Gemälde in die Auktion für einen Eröffnungspreis von zwanzigtausend.«

Erstauntes Gemurmel ringsum und lange Hälse, als der Auktionator den Vorhang hebt. Ein Gemälde, im Stil der venezianischen Meister, kommt zum Vorschein. Ich weiß sogar, wie es heißt. Das fällt mir ein, obwohl ich vollkommen fassungslos bin: »Die Heilige Familie in Ägypten«. Woher ich das weiß? Es hat mir mal gehört. Nur ganz kurz, eigentlich war es jahrzehntelang im Besitz meiner Großmutter gewesen. Und die hatte es mir vererbt, als sie starb. Ehrlich gesagt, ich war ein bisschen sauer, dass sie mir dieses blöde Bild hinterließ, wo ich doch so viel für sie getan hatte, als sie krank wurde. Meine Geschwister hatten Bargeld bekommen und ich dieses Bild. Anfang zwanzig war ich damals, hatte mir meine ersten IKEA-Möbel gekauft, zu denen wahrlich kein Gemälde dieser Art passte. Aber Horst, mein damaliger Freund, fand es toll. Er hatte ein Faible für so was. Und so habe ich es ihm geschenkt.

Mir wird schlecht, so richtig speiübel. Wie ein Sturm fährt mir die Einsicht entgegen, dass es besser gewesen wäre, das Bild zurückzuverlangen, als er sich von mir trennte. Eiskalt wird der Sturm, als mir klar wird, dass meine Oma sich vielleicht sogar eine Menge dabei gedacht hatte, mir gerade dieses Bild zu vermachen. Zwanzigtausend? Wenn es noch mir gehörte, könnte ich endlich die Wohnlandschaft aus rotem Leder kaufen, auf die ich schon lange scharf bin. Horst, dieser Mistkerl! Ob der damals schon gewusst hat, dass das Bild so viel wert ist?

»Fünfundzwanzigtausend! Dreißigtausend!«

Ich glaube, ich werde ohnmächtig.

»Vierzigtausend!« Eine männliche Stimme, eine lispelnde Stimme. Das Z und das S zischen aus seinem Mund.

Ich drehe mich zu ihm um. Ein Mann um die fünfzig, mit dunklen Haaren und einem ebenso dunklen Kinnbart. Ein unauffälliger Typ, schlicht gekleidet, weder teuer noch bescheiden, sein Trench könnte sowohl von Karl Lagerfeld als auch von H & M sein. Jetzt ärgere ich mich, dass ich nicht um den Sichtschutz zwischen den Balkons herumgeschaut habe.

»Fünfundvierzigtausend!«

»Fünfzigtausend!«

Er hatte zu jemandem am Telefon diese Zahl genannt. Ich erkenne seine Stimme wieder. Und das Lispeln.

»Fünfzigtausend!«, wiederholt der Auktionator. »Wer bietet mehr?«

Himmel! Stellen Sie sich mal vor, wie das ist, wenn Ihnen jemand mit einem Batzen Geld vor der Nase herumwedelt, und Sie brauchten nur zuzugreifen …

»Zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten!«

Der Typ hat das Bild gekauft. Der Unauffällige mit dem Kinnbart. Und Horst? Irgendwie blicke ich nicht durch. Wie hängt Horst da mit drin? Und mit wem hatte der unauffällige Kinnbartträger telefoniert?

Ich bleibe noch eine Weile in dem Auktionsraum, so lange, bis der Mann, der mein Bild gekauft hat, aus einem Nebenraum herauskommt, in dem man ihm das Gemälde eingepackt und ausgehändigt hat. Dass der keine Angst hat, man könnte es ihm auf dem Heimweg klauen! Ein Bild im Wert von fünfzigtausend Euro! So was lässt man sich doch schicken!

Ich folge ihm unauffällig. Mittlerweile ist es dunkel geworden, die Friedrichstraße ist zwar hell erleuchtet, alle Geschäfte sind noch geöffnet, aber auch auf Sylt gibt es dunkle Seitenstraßen, in die ich kein Vermögen tragen würde. Ob er nicht befürchtet, dass ihm jemand eins über den Schädel ziehen und mit seinem Gemälde das Weite suchen könnte? Zum Beispiel eine Frau, die sich betrogen fühlt? Aber das ahnt er natürlich nicht. Trotzdem sollte er vorsichtiger sein. Denn während ich ihm nachgehe, fällt mir durchaus die eine oder andere Möglichkeit ein, ihn außer Gefecht zu setzen und mit dem Bild meiner Oma abzuhauen. Ich hätte nicht mal ein schlechtes Gewissen. Wie sehen Sie das? Finden Sie nicht auch, dass ich ein Recht auf dieses Bild habe? Es gehört mir! Okay, okay, ich habe als Kind auch gesungen »Geschenkt, genommen, in die Hölle gekommen«, aber trotzdem finde ich, dass das Bild auf keinen Fall Horst gehört. Und diesem Typen schon gar nicht! Oma hatte es mir vererbt! Mir!

Der Kerl schlägt wirklich dieselbe Richtung ein wie ich. Ziemlich langsam, ganz behäbig, als mache er einen Abendspaziergang. Das Gemälde trägt er unter dem rechten Arm, es ist gut verpackt. Wer keine Ahnung hat, woher der Mann kommt, wird nicht auf die Idee kommen, er hätte auf einer Auktion ein kostbares Gemälde erworben. Außerdem sieht der Trench, den er trägt, nun doch eher wie einer aus, der bei H & M gekauft wurde. Ein bisschen fadenscheinig und ziemlich zerknittert.

Da! Nun biegt er tatsächlich links ab. Es wird immer offensichtlicher, dass er dasselbe Haus betreten wird wie ich, dass er in dieselbe Etage hochfahren und die Apartmenttür neben unserer aufschließen wird. Er geht auf den Strandübergang Sunsetbeach zu, wandert aber nicht zum Strand, sondern – wie ich es erwartet hatte – zur Haustür des Apartmenthauses, zu dem auch ich den Schlüssel in der Tasche habe. Seinen muss er umständlich aus der Tasche ziehen, denn natürlich will er das Gemälde nicht absetzen, so gut eingepackt es auch ist. Das kann ich verstehen, das würde ich auch nicht machen.

Ich trete hinter ihn, mit dem Schlüssel in der Hand. »Warten Sie, ich öffne Ihnen.«

Hocherfreut bedankt er sich und lässt mir den Vortritt. Ich drücke auf die Taste, die den Aufzug ins Erdgeschoss holt und hätte gerne eine kleine Plauderei begonnen, aber leider fällt mir nichts ein, was man in so einer Situation sagen kann. Dass der Kerl fünfzigtausend Euro unter dem Arm trägt, verursacht mir echte Hemmungen. Und wenn ich daran denke, dass dieses Vermögen eigentlich mir zusteht, muss ich mich schon ganz schön zusammenreißen.

Ich trete vor ihm in den Aufzug und frage, nachdem ich den Knopf für die zweite Etage gedrückt habe: »In welchen Stock müssen Sie?«

Er lächelt. »Auch in den zweiten.«

Wir verabschieden uns freundlich, während jeder von uns die Wohnungstür aufschließt. Kurz darauf lasse ich sie ins Schloss fallen und lehne mich aufatmend dagegen. Omas Bild! Fünfzigtausend! Ich bin noch immer fix und fertig.

Aus dem Wohnzimmer dringt der Lärm des Fernsehers, sein Licht flackert durch den Türspalt. Eckart liegt im Sessel und schnarcht. Sieht so aus, als läge er dort schon länger. Nun gut, wir hatten ja gesagt, jeder darf machen, was er will. Weihnachten ohne Zwänge, nicht zu Hause, sondern auf Sylt, so war es abgemacht. Wenn Eckart darunter versteht, dass er vor der Glotze einschlafen will – meinetwegen.

Ich trete auf den Balkon, weil ich unbedingt frische Luft brauche. Die Nähe zu diesem Mann und zu dem Gemälde, das mir gehört, setzt mir ganz schön zu. Können Sie das verstehen? Ja, ich bin sicher, das können Sie. Momentan wäre es mir beinahe lieber, mich um die Weihnachtsgans zu kümmern als um meine Wut auf Horst. Ich hatte diesem Kerl ein Vermögen geschenkt! Und wofür? Für ein paar Liebesschwüre, feuchte Küsse und einfallslosen Sex. Was Männer sich so einbilden! Wahrscheinlich hat der noch geglaubt, er wäre es wert.

In diesem Augenblick höre ich nebenan die Balkontür gehen. Der lispelnde Kinnbartträger betritt also auch den Balkon. Natürlich sehe ich ihn nicht, aber diesmal kann ich mir sicher sein. Mucksmäuschenstill ziehe ich mich zurück, lehne mich so dicht wie möglich an die Trennwand. Es könnte ja sein, dass er wieder telefoniert.

Und richtig! Da höre ich schon seine leise Stimme. »Ich bin’s! Frido.«

Jetzt kenne ich auch seinen Namen. Eigentlich nicht wichtig, aber trotzdem ist mir so, als wäre ich ihm dadurch nähergekommen. Frido. Ein schöner Name, schöner jedenfalls als Horst.

»Ich habe das Bild. Für fünfzigtausend. Danach hat keiner mehr mitgeboten.«

Ein Stuhl rückt, als hätte Frido sich niedergelassen. »Alles Weitere wie geplant? Okay, ich verdrücke mich gleich. Matjes mit Bratkartoffeln bei Gosch und zwei oder drei Bierchen. Die Zeit muss reichen. Danach rufe ich die Polizei.«

Während er spricht, tritt er mit der Fußspitze gegen die Balkonbrüstung, immer wieder. Dann höre ich den Stuhl scharren, er scheint aufgestanden zu sein. »Morgen früh um elf. In der Braderuper Heide. Weiß Alex Bescheid?« Er grunzt zustimmend, während er der Antwort lauscht. »Also gut. Wir treffen uns auf dem Parkplatz Üp di Hiir.«

Als seine Balkontür zufällt, wage ich es doch, um die Trennwand herumzublicken. Er knipst das Licht an, und ich kann sehen, wie er das Bild nimmt, als wollte er es auspacken und betrachten. Aber er wirft es achtlos aufs Sofa und holt ein Schnapsglas aus dem Schrank. Damit geht er zum Kühlschrank, in dem er wohl Hochprozentiges untergebracht hat. Ich erkenne das Etikett auf der Flasche. Küstennebel. Er kippt ihn und dann gleich noch einen zweiten. Kann man verstehen, oder? Ein Gemälde für fünfzigtausend ersteigern, so was zerrt an den Nerven.

Kennen Sie sich aus auf dem Kunstmarkt? Vermutlich nicht. Einen guten Ratschlag kann ich von Ihnen also wohl nicht erwarten. Trotzdem können Sie mir vielleicht sagen, was Sie an meiner Stelle tun würden. Momentan neige ich dazu, Horst zu finden und ihn zur Rede zu stellen. Was meinen Sie? Der soll mir erklären, wie ein Fremder an mein Bild kommt, an das Bild meiner Oma! Fatalerweise lässt sich nicht beweisen, dass Oma mir dieses Bild vermacht hat und dass ich dumme Pute es Horst geschenkt habe. Trotzdem … versuchen muss ich es. Schon wegen Oma. Vorausgesetzt, Eckart meint es mit unserem Entschluss, Weihnachten ganz anders zu verbringen, ernst. Aber da bin ich zuversichtlich. Dass Eckart mich auf anstrengenden Spaziergängen oder Radtouren begleiten will, ist ziemlich unwahrscheinlich. »Jeder macht, was er will« – das bedeutet für Eckart, dass er vor der Glotze rumhängt und nur aktiv wird, wenn er was zu essen haben will. Eine Radtour in die Braderuper Heide gehört garantiert nicht dazu.

In dem Apartment nebenan geht das Licht aus. Mein Kopf fährt um die Trennscheibe herum, und ich sehe gerade noch, wie der Mann, der Frido heißt, sich seinen Trench schnappt und die Wohnungstür öffnet. Das Licht im Treppenhaus geht an, so kann ich sicher sein, dass er sein Apartment verlässt. Und das Bild? Liegt das etwa noch auf dem Sofa?

Ich blicke über das Balkongeländer nach unten. Zweite Etage! Höher, als man so denkt. Darunter die erste und noch eine weitere Etage mit Garagen. Wie viele Meter? Das will ich gar nicht wissen. Jedenfalls zu viele, um einen Sturz unversehrt zu überstehen. Andererseits … der Fußhocker, der auf dem Balkon steht, könnte mir helfen, über die Balkonbrüstung zu klettern. Und hinter dem unteren Querbrett ist genug Platz für meine Füße. Selbst wenn es auf dem Nachbarbalkon keinen Fußhocker gibt, müsste ich mich nur über das Geländer schwingen und auf der anderen Seite einfach fallen lassen. Schwingen? Na ja, vielleicht eher wälzen. Aber egal. Sollte ich dort auf der Nase landen, muss ich wenigstens nicht mit schweren Verletzungen rechnen.

Ich schaue ins Wohnzimmer, sehe Eckart im Sessel liegen und schnarchen und entschließe mich, mutig zu sein. Auf den Hocker, das Bein über das Geländer, gut festhalten und dann Halt auf der anderen Seite suchen. Das klappt. Sogar ziemlich gut. Nun die Fußspitzen zur Seite bewegen, ganz langsam, schön vorsichtig. Schon bin ich auf der Außenseite des Balkons der Nachbarwohnung angekommen. Bloß nicht nach unten gucken! Das könnte tödlich enden. Aber so ein Wagnis gehe ich natürlich nicht ein. Ich wälze mich bäuchlings auf das Balkongeländer, ziehe mich hoch, werfe mich auf die andere Seite … und lande schmerzhaft auf dem Fußhocker, den ich dort nicht erwartet hatte.

Mühsam rapple ich mich hoch. Gott sei Dank, ich scheine mich nicht verletzt zu haben. Arme, Beine, Kopf … alles funktioniert noch. Aber jetzt die Balkontür. Das hätte ich mir vielleicht vorher überlegen sollen. Frido hat die Tür natürlich geschlossen. Verdammt! Aber jetzt bin ich so weit gekommen, da lasse ich mich nicht mehr zurückhalten. Ich nehme den Fußhocker und versuche mein Glück. Rums! Die Verglasung ist stärker, als ich dachte. Noch einmal! Wieder rums! Erst beim dritten Mal bekomme ich ein Klirren zur Antwort. Die gläserne Tür ist kaputt. Halleluja!

Kurz lausche ich. Hat jemand was gehört? Ruft eine Stimme nach der Polizei? Nein. Ich greife gerade durch das Loch in der Nähe der Türklinke, da höre ich nebenan die Tür aufgehen, Schritte auf unserem Balkon und dann Eckarts Stimme. »Ist da jemand?«

Himmel, mein Mann wird doch jetzt nicht die Polizei verständigen! Oder sich gar selbst auf Verbrecherjagd begeben. Aber das ist unwahrscheinlich. Dazu ist er viel zu feige. »Hallo?«

Er geht zurück in die Wohnung, ohne die Balkontür zu schließen. Was mag er jetzt tun? Sich einreden, dass er nichts gehört hat oder dass es ihn nichts angeht, was er gehört hat? Vermutlich wird er erst mal nach mir rufen, damit ich erledige, was getan werden muss. »Marion?«

Wusste ich es doch! Jetzt also schnell zurück. Ich schnappe mir das Bild und hoffe, dass Frido nicht die Wohnungstür von außen abgeschlossen hat. Das wäre fatal. Hat er aber nicht. Ich kann ohne Schwierigkeiten raus, lasse sie hinter mir zufallen und habe schon den Schlüssel in der Hand, um in unser Apartment zu gelangen. »Da bin ich wieder.« Mit einer schnellen Bewegung schiebe ich das Bild hinter den Vorhang, der die Garderobennische verdeckt. »Was war das für ein herrlicher Spaziergang!«

Eckart ist total aufgeregt. »Ich glaube, nebenan ist eingebrochen worden. Hast du was gesehen?«

»Nein!« Ich gebe mich verwundert. »Das glaube ich nicht.«

Zum Glück ist Eckart schnell zu beruhigen. Die Polizei rufen, eine Aussage machen, das ist ihm alles viel zu aufwendig. Und am Ende müsste er sich womöglich noch anhören, dass er sich geirrt und den sowieso schon überlasteten Ordnungshütern ihre Zeit gestohlen hat? Nein, das sind Konfusionen, denen Eckart gern aus dem Weg geht.

»Ich habe aber Glas klirren hören«, macht er einen letzten Versuch.

»Da wird jemandem ein Sektkorken in die Lampe geflogen sein.« Ich zeige auf das gläserne Ungetüm über dem Esstisch.

Ich sehe Eckart an, dass er nicht daran glaubt, aber ich sehe auch, dass er zufrieden ist, weil er sich um diese Angelegenheit nicht weiter kümmern muss. Und ich erst! Soll Frido das doch erledigen. Besser, Eckart und ich werden da nicht mit reingezogen. Ich stutze, weil mir gerade einfällt, was Frido am Telefon gesagt hat. Er wolle jetzt zu Gosch und später die Polizei anrufen. Wie konnte er wissen, dass ich ihm in der Zwischenzeit das Bild klaue? Seltsam …

Ich schlage Eckart vor, am Abend Schollenfilets mit Kartoffelsalat zu essen. Wie erwartet stimmt er freudig zu. »Ich gehe zu Gosch und hole welche.«

Da stimmt er noch freudiger zu. Vermutlich hat er damit gerechnet, dass ich ihn danach schicke. So wie nach der Weihnachtsgans. Aber in diesem Jahr ist ja alles anders. Ich glaube, wenn es nach Eckart geht, werden wir es auch in den nächsten Jahren anders machen …

Bei Gosch sticht mir Frido sofort ins Auge. Er lässt es sich schmecken. Während ich auf meine Bestellung warte, blickt er kurz auf, erkennt mich und nickt mir lächelnd zu. Ein netter Typ! Aber irgendwie auch rätselhaft. Wie kann er wissen, dass ich die Absicht hatte, das Gemälde an mich zu nehmen? So sympathisch er einerseits rüberkommt, so unheimlich ist er mir auch.

Eckart und ich sind gerade mit dem Kartoffelsalat und den Schollenfilets fertig, da wird es lebhaft nebenan. Keine Frage, die Polizei ist da.

»Also doch ein Einbruch«, flüstert Eckart. »Ich hab’s doch gewusst.«

Das Loch in der Balkontür ist jetzt echt praktisch. Auf unserem Balkon ist jedes Wort zu verstehen, was in Fridos Apartment gesprochen wird. Sogar Eckart holt sich seine dicke Jacke, stellt sich zu mir ans Balkongeländer und tut so, als wolle er die kalte Abendluft genießen. Die Polizisten bemerken uns natürlich, als sie rekonstruieren, wie der Dieb auf den Balkon und in Fridos Apartment gekommen sein muss. Mir wird heiß und kalt, als sie erst Eckart und dann mich mit sehr nachdenklichen Blicken betrachten. Aber nur kurz, dann ist für sie klar, dass wir als Verdächtige ausscheiden. Manchmal wäre ich ja gerne schlanker, schicker und würde für mein Leben gern so aussehen wie eine Frau, der alles zuzutrauen ist. Aber jetzt bin ich ganz froh, dass niemand etwas Verrücktes von mir erwartet.

Irgendwann ziehen die Beamten wieder ab, nicht ohne Frido zu versichern, dass sie jemanden schicken werden, der die zerschlagene Balkontür repariert. »Wenigstens notdürftig, damit Sie heute Nacht nicht frieren.«

Ich bleibe noch eine Weile ans Balkongeländer gelehnt stehen und mache weiter damit, versonnen in die Dunkelheit zu schauen und hingerissen dem Rauschen der Brandung zu lauschen.

Nebenan ertönt Fridos Stimme: »Alles klar! Die Polizei war da, Montag rufe ich die Versicherung an. Alex bringt dir das Bild morgen in die Braderuper Heide.«

Wer ist dieser Alex? Was hat er mit dem Bild zu tun? Ich versteh’s nicht. Aber ich will es wissen, soviel ist klar. Finden Sie mich neugierig? Nein, ich bin sicher, das würden Sie jetzt auch wissen wollen.

Also verkünde ich am nächsten Morgen schon beim Frühstück, dass ich eine Radtour in die Braderuper Heide machen möchte. Wozu habe ich mir ein Fahrrad geliehen? Eckart hat sich nicht mal von der Aussicht auf ein E-Bike verführen lassen. Nein, im Winter will er nicht Fahrrad fahren, das bringt nur klamme Finger und eiskalte Ohren.

Haben Sie auch einen Mann, bei dem Sie genau vorhersagen können, wie er regieren wird? Ziemlich langweilig, oder? In diesem Fall bin ich jedoch ganz froh. Dass Eckart niemals zustimmen würde, mit dem Fahrrad in die Heide zu fahren, ist wirklich nicht schlecht. Alles andere wäre fatal gewesen.

Der Parkplatz ist ausgeschildert, ich finde ihn schnell. Ich stelle mein Fahrrad ab und verhalte mich so wie eine Spaziergängerin, die sich an der Ruhe in der Heide erfreuen möchte. Einen herrlichen Blick aufs Watt hat man hier. Sollten Sie mal die Gelegenheit haben, durch die Braderuper Heide zu spazieren, ich kann es Ihnen empfehlen. Blöde allerdings, dass man sich hier nicht verstecken kann. Nur weite Heideflächen und gelegentlich mal niedriges Gehölz, in der Nähe des Parkplatzes gibt es keine Bäume oder dichte Büsche. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als mich hinter eins der geparkten Autos zu ducken, natürlich erst, nachdem ich mich vergewissert habe, dass in keinem Wagen jemand sitzt, der mich beobachten könnte. Hoffentlich kommt der Besitzer des Volvos, hinter dem ich hocke, nicht ausgerechnet in der nächsten halben Stunde von seinem Spaziergang zurück. Und hoffentlich halten meine Kniegelenke durch!

Zum Glück muss ich nicht lange warten. Ein Wagen fährt langsam auf den Parkplatz, ein unauffälliger Golf, der in meiner Nähe parkt. Mein Herz beginnt zu rasen. Wenn der Fahrer gleich aussteigt, wird er nur wenige Meter von mir entfernt sein.

Und er tut es. Langsam hievt er sich von dem Fahrersitz und bleibt neben der offenen Tür stehen. Horst! Ich bin ganz sicher. Zwar habe ich ihn jahrzehntelang nicht gesehen, aber der flache Hinterkopf, der nun unbehaart ist, kommt mir bekannt vor, von dem flachen Hintern ganz zu schweigen. Warum war mir damals nicht aufgefallen, dass an Horst alles flach war? Sogar seine Witze, wenn ich mich recht erinnere.

Er lässt die Fahrertür offen, scheint sicher zu sein, dass er nicht lange wird warten müssen. Und er hat recht. Schon ein paar Augenblicke später biegt ein weiterer Wagen auf den Parkplatz ein. Pünktlich auf die Minute. Der Fahrer bleibt mitten auf dem Platz stehen und springt aus dem Auto. Wütend, das sieht man gleich.

Mit wenigen Schritten ist er bei Horst. »Was soll der Mist?«

Horsts Stimme hat sich nicht verändert, sie klingt noch so lahm wie früher. »Wo ist das Bild?«, fragt er zurück, als ginge ihn die Wut seines Gegenübers nichts an.

Dieser andere muss Alex sein. Er ist drauf und dran, Horst am Schlafittchen zu packen. »Das Bild? Das war weg! Balkontür eingeschlagen! Bild nicht mehr da! Wer hat mir da die Show gestohlen? Und was soll das überhaupt?«

Horst guckt so entgeistert wie damals, als ich glaubte, von ihm schwanger zu sein. Noch heute bin ich froh, dass das blinder Alarm war. »Willst du damit sagen …?«

Und ob Alex das will! »Ihr habt mich verarscht!«

Horst bleibt die Ruhe selbst. Das hat mich früher schon regelmäßig in Rage gebracht. Als ich mich für Eckart entschied, bin ich wohl meinem Typ treu geblieben. »Oder du«, meint Horst. »Hast du das Bild kassiert, statt es zurückzubringen? Du weißt, wie mein Plan war. Du klaust es und gibst es mir.« Horst klopft auf die linke Seite seiner Jacke. »Hier stecken die zweitausend Euro für dich. Wie abgemacht.«

»Als wüsste ich nicht, was geplant war!«, ereifert sich Alex. »Ihr wollt es gestohlen melden, und die Versicherung soll euch die fünfzigtausend erstatten.«

»Richtig«, entgegnet Horst. »Der Wert des Bildes war ja völlig unklar. Nun wissen wir, wie hoch er ist. Die Versicherung wird keine Zicken machen.« Seine Augen werden zu Schlitzen. »Dass du allerdings Zicken machen würdest, habe ich nicht erwartet.«

»Ich?« Alex geht auf Horst los.

Aber der bekommt unerwartet Hilfe. »Stopp!«

Mein lispelnder Nachbar! Er wirft sich zwischen die beiden. »Was soll das, Alex?«, fragte er, als die beiden endlich Ruhe geben. »Wieso die zerschlagene Scheibe? Wir hatten verabredet, dass du mit einem Dietrich reinkommst.«

Alex wird schon wieder handgreiflich. Er packt sich Frido, weil der ihn angeblich verarscht hat, dann stürzt er sich auf Horst, weil der ihn angeblich auch verarscht hat, schließlich muss er feststellen, dass zwei Männer, die Gewalt nicht gewöhnt sind, immer noch stärker sind als einer allein. Die drei wälzen sich auf dem Boden, ich sehe Metall blitzen, fürchte, dass einer der drei ein Messer gezückt hat, höre einen Schrei, ohne zu wissen, von wem er kommt, einen weiteren Schrei von einer anderen Stimme … und beschließe, schleunigst abzuhauen. Das wird mir hier zu heiß.

Die drei sind derart ineinander verkeilt, dass sie mich nicht bemerken. Ich setze mich auf mein Fahrrad, bin so aufgeregt, dass ich mehrmals von den Pedalen abrutsche, schaffe es aber schließlich, mich vom Acker zu machen. So schnell wie möglich. Am Ende wäre ich da noch reingezogen worden.

Als ich zurückkomme, bin ich fix und fertig. Hoffentlich liegt Eckart wieder im Sessel und schläft oder starrt in den Fernseher und nimmt mich nur am Rande zur Kenntnis. Aber ausgerechnet diesmal ist er hellwach. Und nicht nur das, er ist sogar erstaunlich aufgekratzt. So was kommt selten vor. Eckart ist so, wie auch Horst gewesen ist: phlegmatisch und bequem. Dass er aus dem Haus geht, wenn es nicht unbedingt nötig ist, kommt nur sehr selten vor. Aber nun steht er tatsächlich mitten im Raum und zeigt mir ein Weihnachtsbäumchen, das ihm bis zur Brust reicht. Er muss zu Feinkost Meyer gegangen sein, wo vor dem Eingang ein Stand aufgebaut ist, an dem Weihnachtsbäume verkauft werden.

Ich bin baff. »Wir wollten in diesem Jahr keinen Baum.«

Nun wird Eckart sogar neckisch. Er zwinkert mir zu. »Wenn du mich überraschen willst, tu’ ich es eben auch.«

Ich verstehe nur Bahnhof. Überraschen? Was meint er? Von Überraschungen habe ich zurzeit echt die Nase voll, mehr brauche ich nicht. Ich habe in den letzten Tagen so viele Überraschungen gehabt wie sonst in einem ganzen Jahr nicht.

»Endlich mal ein Bild!«, sagt Eckart jetzt. »Nicht immer Mokka- und Teetassen, Spitzenvorhänge und Porzellanfiguren. Das Gemälde ist wirklich schön. Es war gut versteckt, aber nicht gut genug. Dabei wollten wir uns doch in diesem Jahr nichts schenken.«

Nun fällt mir das große Quadrat auf, das neben dem Sofa steht. Nicht mehr besonders sorgfältig eingepackt, man sieht, dass das Papier schon einmal entfernt worden ist.

Eckart wehrt meine Erklärungen ab. »Ich habe mich an unsere Abmachung gehalten. Aber wenn du mir was schenkst, will ich dich wenigstens mit einem kleinen Weihnachtsbaum überraschen.« Er zeigt auf eine große Einkaufstüte. »An Schmuck habe ich auch gedacht. Ein paar bunte Kugeln, Kerzen und Lametta. Morgen ist Heiligabend, wir können schon heute damit beginnen, den Baum zu schmücken.«

Können Sie sich vorstellen, wie ich mich jetzt fühle? Eckart ist total hingerissen von dem Bild, endlich hätte ich mal seinen Geschmack getroffen. Es kommt mir so vor, als ahnte er, wie teuer das Bild ist, und findet es vor allem deswegen schön. Aber das ist ja nicht möglich, das kann er nicht ahnen. Ein Bild für fünfzigtausend! Das übersteigt Eckarts Vorstellung.

Er will es in seinen Hobbykeller hängen, damit es nur für ihn ist. Lieber Himmel, fünfzigtausend im Hobbykeller! So was muss natürlich im Wohnzimmer präsentiert werden, damit jeder es sieht. Aber noch besser, man behält es gar nicht und verkauft das Ding. Vielleicht auf einer Auktion. So hatte ich mir das gedacht. Möglich, dass es dann sechzigtausend bringt. Aber wie soll ich das jetzt noch bewerkstelligen? Alex engagieren, damit er es klaut? Wer weiß schon, ob der auf dem Parkplatz in der Braderuper Heide berufsunfähig geprügelt wird? Und Frido? Ich trete auf den Balkon und stelle fest, dass es in dem Nachbarapartment ruhig ist. Ein Blick um die Trennscheibe zeigt mir, dass er noch nicht zurück ist. Ich denke an Horst. Der war immer unsportlich, aber vorhin hat er sich mit einer Verve ins Getümmel geworfen, dass es mich wundert. Bei der Aussicht auf viel Geld wird wohl jeder stark und mutig.

Himmel, geht’s mir mies! Mein alternatives Weihnachtsfest läuft total aus dem Ruder. Omas Bild, das Wiedersehen mit Horst, die Prügelei der drei Männer … und nun muss ich den Traum von der roten Ledergarnitur auch noch begraben. Ich war dicht dran. Wenn Eckart das Bild nicht gefunden hätte …

Den Gedanken kann ich nicht zu Ende denken. Es klingelt, und Eckart geht öffnen. Ein Polizist und sein Kollege stehen vor der Tür. Dieselben, die von Frido gerufen worden waren, als er den Diebstahl des Bildes angezeigt hat.

Eckart lässt sie herein, aber sie haben nur Augen für mich. Nun kommen sie sogar zu mir auf den Balkon und drängen mich ins Wohnzimmer zurück, als hätten sie Angst, ich könnte mich aus der zweiten Etage stürzen. Was soll das?

Der ältere der beiden wirft einen langen Blick zu dem nachlässig verpackten Bild. Dann macht er ein, zwei Schritte darauf zu und reißt das Papier ab. Er wirft seinem Kollegen einen vielsagenden Blick zu. »Aha!« Dann scheinen ihm die Spuren am Balkon wieder einzufallen, er geht zurück, betrachtet sie und sagt noch einmal: »Aha.«

Nun spielt er mit den Handschellen, die an seinem Gürtel baumeln, richtet seinen Oberkörper auf und wartet, bis sein Kollege sich an seine Seite stellt, mit dem gleichen wichtigen Gesichtsausdruck. »Es hat eine Auseinandersetzung gegeben«, berichtet er knapp. »Auf dem Parkplatz in der Braderuper Heide. Drei Männer. Zwei sind tot, der dritte wurde in die Nordseeklinik eingeliefert. Eine Messerstecherei.« Er legt eine bedeutungsvolle Pause ein, ehe er fortfährt: »Sie sind gesehen worden. Eine Frau hat Sie erkannt. Kellnerin bei Gosch. Sie sagt, Sie hätten gestern bei ihr Schollenfilets und Kartoffelsalat geholt. Angeblich sind Sie gefahren wie der Teufel …« Er wirft einen langen Blick zu der »Heiligen Familie«. »Sie kommen jetzt mit. Auf der Wache klären wir den Rest.«

Ich wehre mich, sträube mich, als einer nach meinem Arm greift, beschimpfe die Polizeigewalt, versuche es mit Erklärungen … aber es hilft nichts. Ich werde abgeführt. Und das, nachdem ich Ihnen so viel von unseren alternativen Weihnachtsplänen erzählt habe. Wenn ich also noch mal auf den Anfang zurückkommen dürfte … das mit dem Weihnachtsboykott nehme ich zurück. Vielleicht bleiben Sie doch besser zu Hause und feiern Weihnachten wie immer. Traditionen sind womöglich dafür da, dass man an ihnen festhält. Ich jedenfalls werde mir nächstes Jahr die Sache mit Weihnachten sehr gut überlegen. Vorausgesetzt, ich kriege Bewährung.

Friesische Weihnachtstorte

Zutaten

Für den Teig:

250 g Mehl1 Messerspitze Backpulver2 Tüten Vanillezucker150 g Crème fraîche175 g Margarine

Für die Streusel:

150 g Mehl75 g Zucker1 Tüte Vanillezucker1 Messerspitze Zimt100 g Margarine

Für die Füllung:

600 ml Schlagsahne25 g Zucker2 Tüten Sahnesteif1 Tüte Vanillezucker450 g Pflaumenmusetwas Puderzucker

Zubereitung

Teig: Mehl, Backpulver, Vanillezucker, Crème fraîche und Margarine verrühren und den Teig in vier gleich große Teile aufteilen.

Streusel: Aus Mehl, Zucker, Vanillezucker, Zimt und Margarine Streusel herstellen und ebenfalls in vier gleich große Anteile aufteilen.

Den Boden einer Springform einfetten und den ersten Teil der vier Teigteile darauf ausrollen. Den ersten Teil der vier Streuselteile gleichmäßig darauf verteilen. Den Boden bei 180 Grad ca. 12–15 Minuten backen. Die übrigen Böden ebenso backen, den letzten sofort nach dem Backen in 12 gleich große Stücke schneiden.

Alles gut auskühlen lassen.

Füllung: Sahne mit dem Sahnesteif steif schlagen und nach und nach Zucker und Vanillezucker einrieseln lassen. In einen Spritzbeutel füllen und kurz kühl stellen.

Die drei Böden mit Pflaumenmus, anschließend mit der Sahne bestreichen. Die einzelnen Böden aufeinandersetzen, zum Schluss den bereits in Stücke geschnittenen Boden auflegen. Die Torte mit etwas Puderzucker bestäuben.

Fynn Jacob  Pakjesavond

Tatort: AMSTERDAM

Der Autor

Fynn Jacob heißt im richtigen Leben Christian Kuhn und lebt in Langenfeld in der Nähe seiner Geburtsstadt Köln. Schon als Kind fuhr er gemeinsam mit seiner Familie den Rhein hinab, um mit dem Segelboot der Eltern die Nordsee und ihre Inseln zu erkunden. Bisher erschienen unter seinem Realnamen bei Heyne die Kriminalromane Nordseedämmerung und Nordseedunkel um BKA-Hauptkommissar Tobias Velten. Der neueste Roman Die Toten von Friesland unter dem Pseudonym Fynn Jacob ist der Auftakt einer neuen Krimireihe, die an unterschiedlichen Orten der deutsch-niederländischen Nordseeküste spielt.

Vor mir steht Lisanne, mit ausgestrecktem Arm legt sie auf mich an. In ihrem Rücken schwappen dunkle Wellen an den Strand, weiter hinten sehe ich umherfahrende weiße, rote und grüne Positionslichter kleiner Schiffe. In der Ferne leuchtet das Dämmerlicht der Innenstadt. Ein schöner letzter Anblick. Ich will noch etwas sagen, aber ich sehe Lisanne an, dass sie nicht mehr zurückziehen wird.

Ihr Finger krümmt sich um den Abzug. Ich erkenne ein minimales Zittern, er überwindet den letzten mechanischen Widerstand der Waffe. Ein Licht blitzt grell auf, helles Weiß überstrahlt die Stelle, wo eben noch der Lauf der Pistole war. Ich weiß, dass Lisanne treffen wird. Sie hat direkt auf meine Stirn gezielt.

Stille.

Das also ist der Moment, an dem es endet. Jeder Muskel ist gespannt bis zum Zerreißen, mein Körper geflutet von Adrenalin. Die Urinstinkte suchen verzweifelt, aber viel zu spät, nach einer Möglichkeit zu überleben. Einen letzten, aktiven Moment lang. Dann kommen die Erinnerungen. Habe ich einen Fehler begangen?

***

Es war genau ein Jahr her, dass ich mit Sarah und Floris unterwegs nach Hause war, als der Unfall geschehen ist: Am 5. Dezember, pakjesavond. Die beiden glaubten längst nicht mehr an Sinterklaas, Sarah war als ältere Schwester schon vor sieben Jahren von ihren Mitschülern »aufgeklärt« worden, in der zweiten Klasse muss das gewesen sein. Dann hatte sie auch an Floris weitergegeben, dass der heilige Nikolaus nicht wirklich im ganzen Land Geschenke verteilt. Dass alles, was sie bislang kannten, seine Fahrt aus Spanien mit seinem Dampfschiff, seine bejubelte Ankunft, sogar seine Begleiter, die geliebten Zwarte Pieten, dass das alles nicht echt sei. Dass auch die ganzen Abenteuer, von denen in der Nachrichtensendung Het Sinterklaasjournaal im Kinderkanal berichtet wird, allesamt nur erfunden waren. Die beiden waren aber nicht sonderlich schockiert gewesen: Entscheidend war für sie die Tradition, dass es an pakjesavond Geschenke gab.

Ich hatte zusammen mit den Kindern das Wochenende an der Nordsee verbracht, in einem Mobilheim auf dem Campingplatz. Drachen steigen lassen, lange Strandspaziergänge, gemütliche Spieleabende bei Kerzenlicht. Marina hatte an dem Freitagabend noch eine Weihnachtsfeier mit der Firma gehabt und den Samstag dazu nutzen wollen, das Haus in Ordnung zu bringen. »Dann kommt ihr am pakjesavond zurück, und wir warten gemeinsam auf Sinterklaas«, hatte sie vorgeschlagen. Eine Nachbarin würde wie immer den Geschenkesack vor die Tür stellen, dreimal laut klopfen und dann schnell verschwinden.

Wir hatten die Autobahn schon verlassen und auch die Schnellstraße, die in den Vorort von Amsterdam führte. Drei Ampeln trennten uns nur noch von zu Hause, Sarah schwärmte gerade von dem Smartphone, das sie sich so sehr gewünscht hatte, als Floris wegen irgendetwas anfing zu schreien. Ich blickte kurz zurück, eigentlich schien alles in Ordnung zu sein, drehte mich wieder um, als die Lichter des entgegenkommenden Autos heranrasten. Ich sah noch die junge Frau hinter dem Steuer, wie sie gerade von ihrem Handy aufblickte. Ich versuchte auszuweichen … Ein Schrei von Sarah, dann der brutale Aufprall des Autos, das Schleudern, der Airbag, der ausgelöst wurde.