Teufeliaden - Michail Bulgakow - E-Book

Teufeliaden E-Book

Michail Bulgakow

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

„Teufeliaden“, der berühmte Zyklus des großen russischen Satirikers Michail Bulgakow: ein wahres Feuerwerk an literarischen Einfällen, meisterhafte, bissig-witzige Parabeln auf die grotesken Zustände im Russland der zwanziger Jahre. (Enthält u.a. "Hundeherz" und "Die verhängnisvollen Eier")

Phantastisch, sarkastisch, böse: Neben „Meister und Margarita“ haben Bulgakows Erzählungen ihren festen Platz in der Weltliteratur.

Der Straßenköter Bello, der sich nach einem genialen, aber widernatürlichen chirurgischen Eingriff in den intriganten, bösartigen und gemeingefährlichen Lumpenproletarier Genosse Bellow verwandelt, macht seinem Schöpfer das Leben schwer. Ein übereifriger Weltverbesserer züchtet mit Hilfe eines roten Strahls aus Versehen riesenhafte Schlangen und Krokodile, die einen gewaltigen Vernichtungsfeldzug starten und – ähnlich wie Napoleons Heer – erst kurz vor Moskau durch einen plötzlichen Kälteeinbruch zu besiegen sind. Oder Tschitschikow, der Gauner aus Gogols „Toten Seelen“, der im Moskau der „Neuen Ökonomischen Politik“ noch dreister sein Unwesen treiben kann als zu zaristischen Zeiten: Bulgakows Auseinandersetzung mit dem sowjetischen Alltag gerät zu witzigen, bitterbösen Parabeln. Neben „Der Meister und Margarita“ haben diese genialen, hintergründigen und unterhaltsamen Satiren ihren festen Platz in der Weltliteratur.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 405

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Erzählungen wurden nach folgenden Originalausgaben übersetzt: Hundeherz: M. Bulgakov, Sobranije sočinenij v pjati tomach, Bd. 2, Vlg. »Chudožestvennaja literatura«, Moskau 1989; alle anderen Erzählungen: M. Bulgakov, D’javoljada, Vlg. »Nedra«, Moskau 1926.
Sammlung Luchterhand
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1994 by
Volk und Welt in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München Satz: omnisatz GmbH, Berlin
ISBN 9-783-641-09937-4
www.luchterhand-literaturverlag.dewww.randomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

Die Arbeiterkommune im Elpit-HausEine chinesische Geschichte - Sechs Bilder statt einer Erzählung
1 Der Fluß und die Uhr2 Schwarzer Rauch. Kristallsaal3 Keine Träume – wir haben Wirklichkeit4 Chinesisch Kamrad5 Ein Virtuose! Ein Virtuose!6 Glanzvolles Debüt
Eine Teufeliade - Wie Zwillinge einen Geschäftsführer verderbten
1 Der Vorfall am Zwanzigsten2 Produkte der Produktion3 Der Glatzkopf erscheint4 Paragraph eins – Korotkow fliegt5 Teufelsspuk6 Die erste Nacht7 Die Orgel und der Kater8 Die zweite Nacht9 Das Grauen mit den Schreibmaschinen10 Der schreckliche Dyrkin11 Parforcekino und Abgrund
Die Abenteuer Tschitschikows - Poem in 10 Punkten mit Prolog und Epilog
PrologEpilog
Die verhängnisvollen Eier
Erstes Kapitel - Curriculum vitae des Professors PersikowZweites Kapitel - Der bunte SchnörkelDrittes Kapitel - Persikows EntdeckungViertes Kapitel - Die Popenfrau DrosdowaFünftes Kapitel - Die Geschichte mit den HühnernSechstes Kapitel - Moskau im Juni 1928Siebentes Kapitel - SchreckAchtes Kapitel - Die Geschichte im SowchosNeuntes Kapitel - Der lebende WimmelklumpenZehntes Kapitel - Die KatastropheElftes Kapitel - Kampf und TodZwölftes Kapitel - Der eisige Deus ex machina
Hundeherz
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Epilog
Copyright

Die Arbeiterkommune im Elpit-Haus

Das war so. Allabendlich erstrahlte das fünfgeschossige mausgraue Riesenhaus mit seinen einhundertsiebzig Fenstern, die auf den asphaltierten Hof mit dem steinernen Mädchen am Springbrunnen sahen. Die grüngesichtige, stumme nackte Schöne mit dem Krug auf der Schulter blickte den ganzen Sommer über schmachtend in den runden Wasserspiegel. Im Winter legte sich ein Schneekranz auf ihre toupierten steinernen Haare. Auf dem riesigen glatten Halbrund vor den Hauseingängen tuckerten und ratterten allabendlich Autos, und an den Deichselenden der Kutschen glänzten herrschaftliche Lämpchen. Ach, es war bekannt und piekfein, das Elpit-Haus …

Einmal zum Beispiel hielt um zehn Uhr abends ein hundertpferdiger Wagen mit einem fröhlichen Mehrklanghupen vor dem ersten Aufgang. Wie Schatten entsprangen zwei Spitzel der Erde und flitzten in den Schatten, und ein weiterer schlüpfte durch die schwarze Haustür, die glatten Stufen hinunter in die Souterrainwohnung des Hausmeisters. Der Schlag des lackierten Gefährts öffnete sich, und ein teurer Gast, in einen Pelz vermummt, stieg aus.

Bis drei blieb er in der Wohnung Nr. 3 des Kavalleriegenerals de Barrein zu Gast.

Bis drei wachte, an den Fuß der grauen Karyatide gedrückt, von seinem Hundeleben zermürbt, der eine Spion. Der zweite stand bis drei auf dem halbdunklen Treppenabsatz, rauchte und horchte auf die von Teppichen gedämpfte Musik – bald eine ungarische Rhapsodie, capriccioso, bald stürmisches Zigeunergetön:

Heute zechen! Morgen zechen!Hei – die ganze Woche zechen!Und dann noch einmal!

Bis drei saß der dritte auf Kattunlumpen in der Behausung des Chefhausmeisters. Scharfe weiße Lichtkegel beleuchteten bis drei das Halbrund. Und von Etage zu Etage huschte durch unsichtbare Telephondrähte wispernd das stolze Gerücht: Rasputin ist hier. Rasputin. Der bräunliche Eigner eines Safes und Händler mit lebender Ware Boris Samoilowitsch Christi, genialster aller Moskauer Hausverwalter, schien nach der Nacht bei de Barrein noch rätselhafter, noch hochmütiger.

Funken stählernen Stolzes blinkten in seinen schwarzen Augen, und die Wohnungsmieten wurden gnadenlos erhöht.

Aber bei der Wohnung Nr. 2 spürte Christi, was sag ich, Christi … Sogar Elpit persönlich zog, ob es stürmte oder schneite, die Persianermütze, wenn er der dem spiegelnden Gefährt entstiegenen Dame im Chinchilla begegnete. Und lächelte. Die Rechnungen der Dame beglich ein Herr, der so hoch stand, daß er nicht mal einen Namen hatte. Er unterschrieb mit einem pfiffigen Schnörkel … Aber wozu reden. Das war ein Haus … Große Leute, großes Leben.

An Winterabenden, wenn der Dämon, als Schneesturm getarnt, unter den blechernen Dachrinnen heulte und kobolzte, schoben flinke Hausmeister auf dem Hof mit Schiebern Schneehaufen vor sich her und legten den blanken Asphalt frei. Vier Fahrstühle glitten geräuschlos auf und nieder. Morgens und abends füllten sich wie durch Zauberei die grauen Rohrsysteme in allen fünfundsiebzig Wohnungen mit Wärme. In den Konsolen auf den Treppenabsätzen brannten Lampen … Im Innern der Wohnungen gab es weiße Badezimmer, in den pompösen halbdunklen Dielen mattes Blinken von Telephonapparaten … Teppiche … In den Arbeitszimmern lautlose Feierlichkeit. Schwere Ledersessel. Bis hinauf zu den obersten Treppenabsätzen wohnten große schwere Leute. Ein Bankdirektor, ein gescheiter Kerl, ein Staatsmensch mit dem Gesicht des Saint-Bris aus den »Hugenotten«, nur ein wenig verdorben durch die irgendwie sonderbaren kranken oder verbrecherischen Augen, ein Fabrikant (griechische Nächte mit Blitzlichtaufnahmen), goldfunkelnde feiste Frauen, ein Baßsolist von Weltrang, noch ein General, noch … Und Kleinzeug: Rechtsanwälte in kurzem Einreiher, Fachärzte für Aborte …

Es war eine große Zeit …

Nichts davon ist geblieben. Sic transit gloria mundi!

Es ist schlimm zu leben, wenn Reiche einstürzen. Selbst die Erinnerung begann zu verlöschen. Hat es das überhaupt gegeben, Herrschaften? Kavalleriegeneral! Welch ein Wort!

Ja … Aber die Sachen waren geblieben. Niemand hatte etwas heraustragen dürfen.

Elpit selbst war gegangen mit dem, was er auf dem Leib hatte. Damals wurde am Tor neben der Laterne (eine leuchtende »13«) ein weißes Schild angepappt mit der seltsamen Aufschrift »Arbeiterkommune«. In sämtlichen fünfundsiebzig Wohnungen hauste ein hier nie gesehenes Volk. Die Klaviere waren verstummt, aber die Grammophone lebten und dudelten oft mit bedrohlichen Stimmen. Quer durch die Salons zogen sich Leinen mit nasser Wäsche. Primuskocher zischten wie Schlangen, Tag und Nacht zog widerlicher Brodem über die Treppen. Von sämtlichen Konsolen waren die Glühbirnen verschwunden, und allabendlich trat Finsternis ein. In der Finsternis stolperten Schatten mit Bündeln, und wehmütige Rufe ertönten:

»Manja, Maaanja! Wo bist du! Verdammt noch mal!«

In der Wohnung Nr. 50 war in zwei Zimmern das Parkett ruiniert. Die Fahrstühle … Na ja, was soll man da erzählen …

Aber ein Wunder gab es: Die Elpit-Arbeiterkommune wurde geheizt.

Dies kam, weil in der Souterrainwohnung mit ihren zwei Zimmern einer geblieben war – Christi.

Die drei Personen, denen der Löwenanteil an den Elpitschen Teppichen zugefallen war und die an der Tür de Barreins in der Beletage einen Fetzen »Hausleitung« angehängt hatten, sie wußten, daß das Haus der Arbeiterkommune ohne Christi keinen Monat stehen, sondern zerfallen würde. Darum durfte der Geschäftsmann mit der mattbräunlichen Haut und der Lackschirmmütze auf dem Kopf hinter den grünen Vorhängen im Souterrain bleiben. Es war eine ungeheuerliche Verbindung: einerseits die laute, schwielenreiche Hausleitung, andererseits der »Aufseher«! So nannte sich Christi. Aber es war die dauerhafteste Verbindung der Welt. Christi war der Mann, der nicht minder als die Hausleitung wünschte, die Arbeiterkommune möge als unversehrtes mausgraues Riesenhaus stehenbleiben, nicht aber zu Staub zerfallen.

Daher geschah Christi nicht nur kein Leids, man zahlte ihm sogar Gehalt. Ein nichtiges freilich. Vielleicht ein Zehntel dessen, was Elpit ihm zahlte, der, ohne Lebenszeichen von sich zu geben, in zwei Zimmerchen am anderen Ende von Moskau hockte. »Was scheren mich Klosettbecken, was scheren mich Stromleitungen«, sagte Elpit heftig, mit geballten Fäusten. »Wenn nur geheizt wird. Erhalten – darauf kommt es an. Boris Samoilowitsch, behüten Sie mir das Haus, bis all das vorbei ist, und ich werde es Ihnen zu danken wissen! Was? Glauben Sie mir!«

Christi glaubte ihm, nickte mit dem ergrauenden Bürstenkopf und ging finster und sorgenvoll. Als er bei dem Haus vorfuhr, sah er im Tor die Leitung des Hauses und schloß, vor Haß erbleichend, die Augen. Aber nur für einen Moment. Dann lächelte er. Er verstand sich zu gedulden.

Hauptsache, es wurde geheizt. Bezugscheine wurden beschafft, Heizöl antransportiert. Die Röhren wurden warm. Zwölf Grad, zwölf Grad! Wenn da, wo das Heizöl herkam, etwas stockte, warf Elpit mit Geld um sich. Seine Augen glühten.

»Gut, ich bezahle. Geben Sie allen beiden und dem Sekretär auch. Was? Nicht heizen? Auf keinen Fall! Keine einzige Minute.«

Christi war genial. Im mittleren Aufgang, vierter Stock, belegte er eine Wohnung, in der früher ein Studio gewesen war, mit Tabu.

»Da könnten wir Jegor Niluschkin reinsetzen …«

»Aber nein, Genossen, seien Sie vernünftig. Ohne Lagerraum komme ich nicht zurecht. Es ist ja für das Haus, für euch.«

Es war eigentlich lauter Plunder. Irgendwelche blöden Dekorationen, Armaturen. Aber … Aber da waren auch dreißig Kannen mit Elpitschem Benzin und noch dies und jenes Eingewickelte, was Christi für bessere Tage aufhob.

Und so lebte denn die graue Arbeiterkommune Nr. 13 unter einem immer wachen Auge. Freilich, im linken Flügel ging dauernd das Licht aus. Der Elektriker, der im Januar 1918 zu trinken begonnen hatte, der wie ein Filzlatschen abgewetzte, vertierte Elektriker schrie die Weiber an:

»Krepieren sollt ihr! Schmeißt nur immer weiter die Türen zu hier beim Schaltkasten! Bin ich ein Zuchthäusler für euch? Bezahlt mir die Überstunden.«

Und die Weiber heulten ingrimmig und wehmütig in der Finsternis:

»Manja! Maaanja! Wo bist du?«

Wieder gingen sie zum Elektriker:

»Du Mistkerl! Saufloch! Wir werden uns bei Christi beschweren.« Und allein von dem Namen Christi ging wie durch Zauberei das Licht an.

Jawohl, Christi war ein Mensch.

Er setzte der Hausleitung so lange zu, bis sie ihm eines ihrer Mitglieder, Jegor Niluschkin, mit dem Titel »sanitärer Beobachter« beigab. Jegor Niluschkin ging zweimal in der Woche durch sämtliche fünfundsiebzig Wohnungen. Er hämmerte mit den Fäusten an verschlossene Türen, trat ungeniert in unverschlossene Zimmer, ob da nackte Weiber waren oder nicht, kroch unter den nassen Unterhosen herum und schrie heiser und drohend:

»Wer hier Dreck macht, fliegt sofort raus!«

Und von Ertappten kassierte er Tribut.

So ging das Leben hin, doch im Februar beim schlimmsten Frost stockte wieder einmal die Heizölzufuhr.

Auch Elpit konnte nichts ausrichten. Sie nahmen sein Schmiergeld, sagten aber:

»Wir liefern nächste Woche.«

Christi rapportierte bei Elpit und sprach stöhnend:

»Ach, bin ich müde! Wenn Sie wüßten, wie müde ich bin, Adolf Jossifowitsch! Wann ist all das vorbei?«

Tatsächlich, der stählerne Christi hatte wehmütige, verhärmte Augen.

Elpit antwortete eindringlich:

»Boris Samoilowitsch, vertrauen Sie mir? Nun, dann sage ich Ihnen: Dies ist der letzte Winter. Und genauso mühelos, wie ich diese Zigarette aufrauche, schmeiß ich die alle im Sommer raus zu des Teufels Großmutter. Was? Glauben Sie mir. Ich bitte Sie nur inständig, halten Sie diese Woche die Augen offen. Gott verhüte, daß Öfchen aufgestellt werden. Die Ventilation … Das läßt mir keine Ruhe. Und daß mir keine Löcher in die Scheiben geschnitten werden. Die werden doch in einer Woche nicht krepieren? Vielleicht sind’s ja bloß sechs Tage. Ich fahr morgen selber zu Iwan Iwanowitsch.«

Am Abend sagte Christi, weißlichen Dampf ausatmend, in der Arbeiterkommune:

»Was soll man machen? Wir müssen’s aushalten. Vier, fünf Tage. Aber ohne Öfchen!«

Die Hausleitung stimmte zu.

»Natürlich. Nicht auszudenken! Das sind ja keine Rauchabzüge. Wie leicht kann ein Unglück passieren.«

Christi machte persönlich jeden Tag einen Rundgang, vor allem im vierten Stock. Scharfäugig wachte er darüber, daß keine schwarzen Kanonenöfchen aufgestellt, keine Rohre in die Ventilationsöffnungen gesteckt würden, die tückisch und einladend in den Zimmerecken von der Decke herabblickten.

Auch Jegor Niluschkin ging herum.

»Wehe … Das sind keine Rauchabzüge. Ihr fliegt sofort raus!«

Am sechsten Tag wurde die Folter unerträglich. Die Geißel des Hauses, Annuschka Pyljajewa, stand barhäuptig im Treppenhaus und schrie dem sich entfernenden Jegor Niluschkin durch den Schacht hinterher:

»Ihr Mistpack! Fett werdet ihr auf unsern Knochen! Ihr könnt bloß eins – Selbstgebrannten saufen. Aber um die Heizung kümmern ist nicht drin! Ihr Hundeseelen! Ich will hier festwachsen, wenn ich heut nicht heize. So ’n Gesetz gibt’s nicht, daß man nicht heizen darf! Dieser schieläugige Satan« (das galt Christi), »dem ist ja bloß darum zu tun, das Haus nicht zu verräuchern! Der wartet, daß sein Herr zurückkommt, wir wissen alles! Wenn’s nach ihm geht, kann der arbeitende Mensch glatt verrecken!«

Jegor Niluschkin wich Stufe um Stufe abwärts und murmelte verwirrt:

»Ach, diese Nervensäge … So was von Nervensäge!«

Aber dann drehte er sich doch um und bellte hallend zurück:

»Paß auf, daß ich dir nicht einheize! Sofort fliegst du raus!«

Von oben:

»Hurensohn! Ich geh zu Karpow! Was? Einen arbeitenden Menschen erfrieren lassen!«

Man verurteile sie nicht. Frost ist eine Folter. Er macht jeden zum Tier …

Um zwei Uhr nachts, als Christi schlief, als Jegor Niluschkin schlief, als in allen Zimmern die Menschen schliefen, unter Pelzen und Lumpen zusammengerollt wie Hündchen, wurde die Wohnung Nr. 50, Zimmer 5, zum Paradies. Vor den schwarzen Fenstern tobte der Schneesturm, in dem winzigen Öfchen aber tanzte ein feuriger kleiner Prinz und fraß Parkettwürfel.

»Ach, wie schön er zieht!« rief Annuschka Pyljajewa begeistert und blickte bald auf das Teekesselchen, dessen Deckel klapperte, bald auf das schwarze Rohr, das in der Ventilationsöffnung verschwand, »wie herrlich er zieht! Diese Hunde, verzeih mir’s Gott! Warum gönnen die uns das nicht? Na schön. Es weiß ja keiner.«

Und der Prinz tanzte, und die Funken rasten durch das schwarze Rohr hinein in die geheimnisvolle Öffnung … in die schwarzen Windungen des schmalen Ventilationsrohrs, das mit Filz umwickelt war … und auf den Dachboden.

Als erstes flackerten die zitternden Lichter der Feuerwehr vom Arbat heran. Christi riß mit einer Hand den Telephonhörer vom Haken, seine andere fetzte den grünen Vorhang herunter … »Gib mir die Feuerwehr von der Pretschistenka! Heilige Mutter Gottes! Genossen!« Neunhundertdreißig Menschen wachten gleichzeitig auf. Sie sahen blutrote Schlangen die Fenster entlangzüngeln. Alle Heiligen! Geheul! Türen schlugen, es klang wie unregelmäßiges Maschinengewehrgeknatter … »Fräulein! Oh, Fräulein! Eins – oh, zweiundzwanzig – achtzehn. Achtzehn … Gib mir die Feuerwehr von Krasnaja Presnja!«

Kaskaden fluteten vom vierten Stock die Treppen herunter. Ein Niagara im Treppenschacht, in den Fahrstühlen, bis zum Keller. Hilfe! »Gib mir die Chamownitscheskaja!«

Hei, Prachtjungen, die Feuerwehrleute! Furchtlose Ritter mit rotgoldenem Helm, in Segeltuch gekleidet. Sie kurbelten ihre Leitern hoch, graue Schläuche krochen wie Riesenschlangen. Verdammt! Verflucht! Haken rissen Dachbleche los. Äxte schlugen fürchterlich zu wie im Kampf. Wasserstrahlen zischten nach rechts, nach links, in den Himmel. Verflucht! Verflucht! Verflucht! Und Tosen, Tosen, Tosen. In der zwanzigsten Minute erschien die Städtische mit Funkeln, Lichtern, Helmen …

Aber das Benzin, meine Lieben, das Benzin! Das Benzin! Die armen Schweine sind verloren. Benzin! Benzin! Neben Annuschka Pyljajewa, neben dem Zimmer 5, ein fürchterlicher Schlag: krach. Noch einmal: krrrach!

Und noch viele, viele Male …

Und jetzt spielte dort, schon gefährlich, kein kleiner Prinz mehr seine Rhapsodie, nein, ein Feuerkönig. Und nicht capriccio, sondern ganz fürchterlich – brioso. Da, von der Gasse her die Feuerwehr aus der Sretenka! Pumpen, Pumpen! Und das Feuer begrüßte die neue Mannschaft mit Salut! Es krachte derart, daß im linken Flügel sämtliche Scheiben barsten. Der mittlere Aufgang war ein einziger Feuerschlund, darüber flogen wie Trauermäntel Dachbleche.

Die Kupferhelme stürmten den linken Flügel, im mittleren Aufgang aber wütete der Dämon dermaßen, daß die alte Sahnebonbonhändlerin aus dem dritten Stock, Wohnung Nr. 49, die Pawlowna, nicht mehr herauskam! Mit gellendem Todesschrei sprang sie aus dem Fenster, die gelben Beine entblößend. Erste Hilfe! 1-22-31! Eine blutige Masse behandeln! Ach ihr heiligen Märtyrer! Wanja ist verbrannt! Wanja! Wo ist Papa? Oje! Oje! Die Nähmaschine, die Nähmaschine, ach Gottchen! Rums, Bündel aus den Fenstern auf den Asphalt! Halt! Nicht werfen! Genossen! Im rechten Flügel, vierter Stock, elf ehemals bourgeoise Fayenceteller in einem Bündel – klatsch! Es war einmal ein Jegor Niluschkin, doch den Jegor Niluschkin gab’s nicht mehr. Sein Kopf war ein Brei, die Fayenceteller ein Paket Scherben. Genossen! Oje! Wir haben Tanja vergessen! Von der Gasse her einkreisen! Zurücktreten! Verdammt! Verflucht!

Einer der furchtlosen Ritter erlag im Keller einem elektrischen Schlag. Ein zweiter starb einen ruhmreichen Tod in einem Benzinrinnsal, das, von wütenden Flämmchen umspielt, abwärts raste. Ein Träger riß sich los, zerschlug einem dritten die Wirbelsäule.

In der einen Hand einen Samowar, in der andern das Bildnis eines stillen blassen Greises, Serafim von Sarowskaja, im Silberornat. Nur mit Hemd bekleidet. Gekreisch, Gekreisch. Durch das Gekreisch Axtschläge, Axtschläge. Zurücktreten! Die Decke! Krachend und polternd stürzt sie vom zweiten in den ersten Stock, vom ersten Stock ins Parterre.

Nun ist die Hölle los, die reinste Hölle. Der mittlere Aufgang lodert, daß sich die Haare sträuben. Die letzten Fensterscheiben  – klirr! Klirr!

Der Löschtrupp erstickt im Qualm, die Männer wanken, der Druck reißt ihnen das Strahlrohr aus den Händen. Reserve her! Doch wozu! An den mittleren Aufgang ist auf zwei Dutzend Meter nicht mehr heranzukommen! Die Augen platzen …

Zum erstenmal in seinem Leben weinte Christi, der ergrauende, stählerne Christi. Er stand bei einem nassen Baumstamm in einem Vorgarten der Gasse, und es war so hell, daß man Kleingeschriebenes hätte lesen können. Der Schafpelz hing ihm von der Schulter, gab die nackte Brust frei. Aber es war ja nicht kalt. Christi hatte ein Gesicht, als brenne er selber im Feuer, doch er war stumm und brachte keinen Schrei hervor. Unverwandt starrte er dorthin, wo zwischen huschenden schwarzen Schatten die unbeweglichen Gesichter der Karyatiden loderten. Tränen krochen ihm über die bläulichen Wangen. Er wischte sie nicht weg, er starrte, starrte.

Nur einmal wandte er den Kopf, als Elpit ihn an der Schulter berührte und heiser sagte:

»Nun, was sollen wir noch … Fahren wir, Boris Samoilowitsch. Sie werden sich erkälten. Kommen Sie.«

Aber Christi schüttelte den Kopf.

»Fahren Sie nur … Ich komme gleich.«

Elpit versank unter den Schatten und Fackeln, durch geschmolzenen Schnee stapfte er zu seiner Droschke. Christi blieb zurück, er wandte den Blick hinauf zum fahlen Himmel, an dem ein heißes orangefarbenes Tier sich wallend streckte …

Auch Annuschka Pyljajewa blickte zu dem Tier auf. Mit gedämpftem Seufzen und Stöhnen lief sie durch stille verschneite Gassen, und ihr mit Ruß und Tränen verschmiertes Gesicht machte sie einer Hexe ähnlich.

Sinnlos flüsterte sie vor sich hin:

»Sie sperren mich ein … Sie sperren mich ein, mich Unglückskrähe …«

Zwischendurch schluchzte sie auf.

Lange schon, längst waren Geheul und Geschrei und nackte Menschen und der schreckliche Glanz auf den Helmen hinter ihr zurückgeblieben. In der Gasse war es still, und es schneite sacht. Der Tierwanst aber hing noch immer am Himmel. Alles flimmerte und schillerte. Und die Annuschka Pyljajewa war ganz zerquält und verhärmt von dem finsteren Gedanken »Unglück«, von dem feurigen Wanst, der triumphierend am Himmel zerfloß, dermaßen zermürbt, daß eine stumpfe Ruhe über sie kam, doch vor allem wurde es in ihrem Kopf zum erstenmal in ihrem Leben licht.

Sie blieb stehen, um zu verschnaufen, stieß auf eine Stufe, setzte sich. Und ihre Tränen trockneten.

Sie stützte den Kopf in die Hand und überlegte zum erstenmal in ihrem Leben klar:

Unwissend sind wir. Unwissend. Lehren muß man uns dumme Menschen …

Nachdem sie verschnauft hatte, stand sie auf und ging langsam davon, ohne noch zu dem Tier aufzublicken, nur den Ruß verschmierte sie im Gesicht und schniefte.

Das Tier aber, wie der Himmel verfahlte, wurde auch fahl, dunstiger, immer dunstiger, schrumpfte, kräuselte als schwarzer Rauch, verschwand.

Und am Himmel war kein Zeichen mehr, daß das berühmte Haus Nr. 13, die Elpit-Arbeiterkommune, abgebrannt war.

1922

Eine chinesische Geschichte

Sechs Bilder statt einer Erzählung

1 Der Fluß und die Uhr

Er war ein großartiger Chinese, ein richtiger safrangelber Vertreter des Reiches der Mitte, 25 Jahre alt, vielleicht auch 40? Weiß der Teufel! Ich glaube, er war 23.

Niemand weiß, warum der geheimnisvolle kleine Chinese ein paar tausend Werst durchflogen hatte wie ein dürres Blatt und nun am Flußufer unterhalb der angeknabberten gezackten Mauer stand. Er trug eine Mütze mit zottigen Ohrenklappen, einen kurzen Schafpelz mit geplatzter Naht, eine Wattehose mit zerfetztem Hinterteil und prachtvolle gelbe Schuhe. Es war zu sehen, daß er etwas krumme, doch sehnige Beine hatte. Geld besaß er keinen Groschen.

Ein unangenehmer Wind, so zottig wie die Ohrenmütze, blies unterhalb der gezackten Mauer. Ein Blick auf den Fluß genügte, um zu wissen, daß es ein teuflisch kalter, fremder Fluß war. Hinter dem kleinen Chinesen war eine leere Straßenbahn, vor ihm poriger Granit, hinter dem Granit lag auf der Böschung ein Boot mit zerschlagenem Boden, hinter dem Boot kam dieser verfluchte Fluß, hinter dem Fluß war wieder Granit, und hinter dem Granit standen Häuser, Steinhäuser, der Teufel mochte wissen, wie viele. Aus irgendwelchen Gründen floß der blöde Fluß mitten durch die Stadt.

Nachdem der kleine Chinese die hohen roten Schornsteine und die grünen Dächer betrachtet hatte, richtete er den Blick auf den Himmel. Nun, der war schlimmer als alles andere. Grau in grau, Dreck in Dreck … und ganz niedrig, so daß sie die Adler und die Zwiebeltürme hinter der Mauer streiften, glitten fette Wolken mit vorgerecktem Bauch über den grauen Himmel. Dieser Himmel gab dem kleinen Chinesen den letzten Schlag auf die zottige Mütze. Es war ganz offenkundig, daß, wenn nicht sofort, so doch binnen kurzem von diesem Himmel kalter, nasser Schnee fallen mußte und unter so einem Himmel nichts Gutes, Sättigendes und Angenehmes geschehen konnte.

»O-o-oh!« murmelte der kleine Chinese vor sich hin und fügte wehmütig ein paar Worte in einer Sprache hinzu, die niemand verstand.

Der kleine Chinese kniff die Augen zu, und sogleich schwebte vor ihm eine sehr heiße runde Sonne, er sah eine sehr gelbe staubige Straße und seitlich davon eine goldene Wand aus Hirse, sodann zwei ausladende Eichen, die ein Schattenfiligran auf die rissige Erde warfen, und die Lehmschwelle eines Bauernhauses. Der Chinese, ganz klein noch, hockt da, kaut einen leckeren Fladen und streichelt mit der freien linken Hand die glutheiße Erde. Er möchte sehr gern trinken, ist aber zu faul aufzustehen und wartet, bis die Mutter hinter der Eiche hervorkommt. Die Mutter hat am Tragjoch zwei Eimer hängen, darin ist eiskaltes Wasser.

Der kleine Chinese spürte innerlich einen messerscharfen Schmerz und beschloß, die Riesenstrecke zurückzufahren. Fahren – aber wie? Essen – aber was? Wird schon klappen. Bin Chines … Laßt mich in Waggon.

Hinter einer Ecke der gezackten Riesenmauer erklang in hohen Tönen ein Glockenspiel. Die Glocken bimmelten unverständlich durcheinander, aber es war offenkundig, daß sie harmonisch und sieghaft eine Melodie wiedergeben wollten. Der Chinese stapfte um die Ecke, äugte in die Ferne und aufwärts und überzeugte sich davon, daß die Musik in einer runden schwarzen Uhr mit Goldzeigern an einem hohen grauen Turm entstand. Die Uhr spielte eine Weile und verstummte. Der Chinese holte tief Luft, folgte mit dem Blick einem ratternden schäbigen Motorrad, das direkt in den Turm hineinfuhr, zog die Mütze fester und ging in unbekannter Richtung davon.

2 Schwarzer Rauch. Kristallsaal

Am Abend war der Chinese weit weit weg von der schwarzen Uhr mit dem musikalischen Zaubertrick und den grauen Schießscharten. Er war am schmutzigen Stadtrand in einem zweigeschossigen Häuschen auf einem zweiten Durchgangshof, hinter dem sich unmittelbar ein Ödplatz auftat, bedeckt mit Streifen faulig-grauen Schnees und roten Ziegeltrümmern. Im hintersten Zimmerchen längs des stinkenden Korridors, hinter der Tür mit dem zerfetzten Wachstuchbeschlag, brannte in einem Öfchen mit drohend rötlicher Flamme ein Holzfeuer. Vor der Ofenklappe mit den glühenden runden Löchern hockte ein uralter Chinese. Er war an die Fünfundfünfzig, vielleicht aber auch Achtzig. Sein Gesicht sah aus wie Baumrinde, und die Augen schienen, wenn er die Ofenklappe öffnete, böse wie bei einem Dämon, wenn er sie schloß hingegen – traurig, tief und kalt. Der kleine Chinese saß auf einem verbogenen Klappbett mit speckiger Flickendecke, in welchem kühne große Wanzen hausten, und sah verschreckt, argwöhnisch zu, wie rote und schwarze Schatten über die verräucherte Decke wallten und wogten. Immer wieder ruckte er mit den Schulterblättern, schob die Hand hinter den Kragen, kratzte sich wütend und horchte auf das, was der alte Chinese erzählte.

Mit aufgeblasenen Backen pustete der Alte in den Ofen und rieb sich mit den Fäusten die Augen, wenn ihn der Qualm biß. In solchen Momenten brach seine Geschichte ab. Hatte er die Klappe wieder geschlossen, so versank er im Schatten und sprach weiter in der fremden Sprache, die niemand als der kleine Chinese verstand.

Die Geschichte des Alten war sehr kurz und betrüblich. Es klang ungefähr so: Brot – haben wir nicht. Überhaupt nichts haben wir. Hungrig. Zu verkaufen – haben wir nichts. Kokain – haben wir ein bißchen. Opium – haben wir nicht. Dies letzte betonte der schlaue alte Chinese ganz besonders. Wir haben kein Opium. Nein, gar keins. Ein Jammer, aber keins da. Die alten Chinesenaugen verschwanden dabei gänzlich in ihren schrägen Schlitzen, und die Reflexe aus dem Ofen drangen nicht in ihre geheimnisvolle Tiefe.

»Was haben wir?« fragte der kleine Chinese verzweifelt und ruckte krampfhaft die Schultern.

»Was wir haben? Wir hatten natürlich was, aber alles so was, worauf man besser verzichtet.«

»Kalt – haben wir. Tscheka erwischt – haben wir. Auf dem Ödplatz wegen einem Päckchen Kokain mit dem Messer gestochen. Der Mörder hat’s weggenommen, dieses Miststück, der Dreckskerl von der Nastka.«

Der Alte stieß den Finger gegen die dünne Wand. Der kleine Chinese lauschte und hörte heiseres Frauenlachen, dann ein Fauchen und Gluckern.

»Selbstgebrannter – haben wir.«

Dies erläuterte der Alte, dann schob er den Ärmel seiner verdreckten Strickjacke hoch und zeigte auf dem von einem Geflecht knotiger Adern durchzogenen gelben Oberarm eine frische, schräge, wohl zwölf Zentimeter lange Narbe, die offenkundig von einem wohlgeschärften Finnenmesser stammte. Angesichts der dunkelroten Narbe verschleierten sich die Augen des alten Chinesen, und der magere Hals lief dunkel an. Mit einem Blick auf die Wand zischte der Alte auf russisch:

»Bandit – haben wir!«

Dann bückte er sich, öffnete die Ofenklappe, steckte zwei Holzscheite in den feurigen Rachen und pustete mit aufgeblasenen Backen, was ihn einem bösen chinesischen Geist ähnlich machte.

Eine Viertelstunde später bullerte das Holz gleichmäßig und machtvoll, und das schwarze Rohr erglühte rot. Hitze füllte das Zimmerchen, der kleine Chinese kroch aus seinem Schafpelz, stieg vom Bett und hockte sich auf den Fußboden. Der Alte, den die Wärme gutmütig stimmte, saß mit untergeschlagenen Beinen und spann eine verworrene Rede. Der kleine Chinese klapperte mit den gelben Augenlidern, schnaufte vor Hitze, murmelte ab und zu traurig und erstaunt Fragen. Der Alte knurrte. Ihm, dem Alten, ist alles egal. Lenin – haben wir. Den Allerobersten haben wir sehr. Burshuis – nein, die haben wir nicht! Die Rote Armee aber – die haben wir. Viel haben wir. Musik? Ja, ja. Musik, weil wir Lenin haben. In dem Turm mit der Uhr – da er sitzen. Hinterm Turm? Hinterm Turm – da ist die Rote Armee.

»Nach Hause fahren? Nein, o nein! Kein Propusk. Guter Chinese friedlich sitzen.«

»Ich – guter Chinese! Wo leben?«

»Da leben – nein, nein und nein. Rote Armee – überall leben.«

»Roter Chines«, wisperte der kleine Chinese hastig und blickte in die feurigen Löcher.

Eine Stunde verging. Das Bullern verstummte, und die sechs Löcher in der Ofenklappe guckten wie sechs rote Augen. Der kleine Chinese, der in dem Geschwank von Schatten und rötlichen Reflexen das Gesicht in Falten zog und älter aussah, lag auf dem Fußboden und streckte die Arme flehend nach dem Alten aus.

Noch eine Stunde verging, noch eine. Die sechs Löcher in der Ofenklappe wurden blind, und durch die angelehnte Lüftungsklappe zog süßer schwarzer Rauch. Der obere Türspalt war mit Lappen verstopft, das Schlüsselloch mit schmutzigem Wachs verklebt. Das karge bläuliche Flämmchen der Spirituslampe flackerte am Fußboden, daneben auf seinem Schafpelz lag seitlich der kleine Chinese. Er hielt ein wohl fünfunddreißig Zentimeter langes gelbes Rohr in den Händen, auf dem sich eine Art Drachen oder Eidechse streckte. An seinem kupfernen Ende, das wie Gold aussah, schmolz als dunkelroter Punkt ein schwarzes Kügelchen. Auf der anderen Seite der Spirituslampe lag auf einer zerfetzten Decke der chinesische Greis, ein ebensolches gelbes Rohr in der Hand. Um die beiden Chinesen schmolz und schwebte schwarzer Rauch und zog zur Lüftungsklappe.

Gegen Morgen waren auf dem Fußboden neben dem verlöschenden Flammenzünglein undeutlich vier gefletschte Zahnreihen zu sehen, zwei schwarzgelbe und zwei weiße. Wo der Alte weilte, weiß niemand. Der kleine Chinese jedenfalls weilte in einem Kristallsaal unter einer riesigen Uhr, die jede Minute läutet, kaum daß die goldenen Zeiger einmal umgelaufen sind. Der Klang weckt Gelächter im Kristall, und heraus tritt, freudig gestimmt, Lenin in gelber Strickjacke, mit einem überlangen, straff geflochtenen glänzenden Zopf, ein Mützchen mit Knopf auf dem Scheitel. Er ergreift den Zeiger am Schwanz und treibt ihn nach rechts – da läutet die Uhr linker Hand, und als er den Zeiger nach links treibt, klingen die Glocken rechter Hand. Nach diesem Glockenspiel führt Lenin den kleinen Chinesen auf den Balkon, um ihm die Rote Armee zu zeigen. Leben – im Kristallsaal. Wärme – haben wir. Nastka – haben wir. Nastka, unbeschreiblich schön, geht an dem Kristallspiegel entlang, und ihre Füßchen in den Schuhen sind so winzig klein, daß man sie in einem Nasenloch verstecken kann. Der Dreckskerl von der Nastka aber, der Mörder, der Bandit mit dem finnischen Messer, will in den Saal hineinschlüpfen, doch der kleine Chinese erhebt sich kühn und fürchterlich wie ein Riese, holt mit dem breiten Schwert aus und schlägt ihm den Kopf ab. Der Kopf kullert vom Balkon, der kleine Chinese packt den enthaupteten Leichnam am Kragen und schmeißt ihn dem Kopf hinterher. Die ganze Welt ist froh und erleichtert, daß der Unhold nicht mehr mit dem finnischen Messer herumlaufen kann. Zur Belohnung spielt Lenin dem kleinen Chinesen eine dröhnende Melodie auf den Glocken vor und hängt ihm einen Brillantstern an die Brust. Wieder läuten die Glocken und erläuten endlich auf dem Kristallfußboden eine goldene Hirsesaat, über dem Kopf eine runde heiße Sonne und unter der Eiche das Schattenfiligran. Und die Mutter kommt mit dem Tragjoch, und in den Eimern ist eiskaltes Wasser.

3 Keine Träume – wir haben Wirklichkeit

Man weiß nicht, was in den nächsten vier Tagen in dem zweigeschossigen Häuschen vorging. Man weiß nur, daß der kleine Chinese am fünften Tag, um fünf Jahre gealtert, heraustrat auf die dreckige Straße, nicht mehr im Schafpelz, sondern in einem Sack, auf dem Rücken den schwarzen Stempel »Inv. Nr. 4712«, und nicht in seinen schicken gelben Schuhen, sondern in verfärbten Fetzen, aus denen die geröteten großen Zehen mit den perlmuttfarbenen Nägeln lugten. An der Ecke unter der schiefen Laterne warf der kleine Chinese einen gesammelten Blick in den grauen Himmel, machte eine entschlossene Handbewegung und sang wie eine Geige sich selbst vor:

»Roter Chines!«

Und schritt in unbekannter Richtung davon.

4 Chinesisch Kamrad

Zwei Tage danach befand sich der kleine Chinese in einem riesigen Saal mit halbrunden Gewölben. Er saß auf einer Holzpritsche, ließ die ärmlich beschuhten Füße baumeln, saß gleichsam in der Beletage, im Parterre hingegen häuften sich bartlose und schnurrbärtige Köpfe in Helmen mit großem Stern. Der kleine Chinese sah lange hinunter auf die Gesichter unter den Sternen, und als er endlich das Gefühl hatte, auf die allgemeine Aufmerksamkeit irgendwie reagieren zu müssen, zeigte er zunächst sein schönstes safrangelbes Lächeln und sagte sodann dünn und singend alles, was er auf seiner schrecklichen Reise von der runden Sonne bis in die Hauptstadt der Glockenuhr gelernt hatte:

»Brot … Laßt mich in Waggon … Bin roter Chines …« Dann fügte er drei Wörter hinzu, deren Verbindung eine verblüffende Kombination ergab und eine geradezu wundersame Wirkung hatte. Der kleine Chinese wußte aus Erfahrung, daß diese Kombination die Fähigkeit besaß, die Tür eines geheizten Güterwaggons zu öffnen, daß sie aber auch schwere Faustschläge auf den rasierten Chinesenkopf auszulösen vermochte. Frauen ergriffen vor dieser Kombination die Flucht, Männer hingegen verfuhren ganz unterschiedlich: Mal gaben sie Brot, mal schlugen sie drauflos. Heute waren die Folgen erfreulich. Eine donnernde Gelächterwoge schlug in den Saal und schwappte bis hinauf zur gewölbten Decke. Der kleine Chinese beantwortete dieses erste Gelächter mit dem Lächeln Nr. 2, dem er eine etwas verschwörerische Nuance verlieh, und mit einer Wiederholung der drei Wörter. Nun glaubte er zu ertauben. Eine gellende Stimme zerschnitt das Lachdröhnen:

»Wanja, komm mal her! Hier ist ein einjährigfreiwilliger Chinese, der flucht wie ein Kosak!«

Rund um den kleinen Chinesen brodelte es, doch dann wurde es still, und er bekam Machorka, Brot und einen Blechbecher mit trübem Tee. Im Nu hatte der kleine Chinese voller Gier drei Stücke Brot verschlungen, die ihm zwischen den Zähnen knirschten, den Tee ausgetrunken und sich hungrig eine Selbstgedrehte angebrannt. Sodann trat ervor einen Mann in grüner Feldbluse. Dieser Mann saß unter einer Lampe mit zerschlagener Glocke hinter einer Schreibmaschine. Er sah den kleinen Chinesen wohlwollend an und sagte zu einem Kopf, der sich durch die Tür schob:

»Genossen, was gibt’s da Besonderes? Ein ganz gewöhnlicher Chinese …«

Der Kopf verschwand, der Mann nahm ein Blatt Papier aus der Schublade, ergriff den Federhalter und fragte:

»Name? Vatersname? Familienname?«

Der kleine Chinese antwortete mit einem Lächeln, enthielt sich jedoch jedweder Äußerung.

Auf dem Gesicht des Mannes spiegelte sich Verwirrung.

»Ähem … was ist, Genosse, verstehst du nicht Russisch? Na? Wie heißte?« Er stieß den Finger leicht in Richtung des kleinen Chinesen. »Name? Aus China?«

»China sein«, sang der kleine Chinese.

»Na, na! Chinese bist du, das versteh ich. Aber wie heißte denn, Kamrad? Na?«

Der kleine Chinese verschloß sich in einem satten, strahlenden Lächeln. Sein Magen verdaute Brot und Tee und spendete ihm ein Gefühl wohliger Mattigkeit.

»Das gibt’s nicht oft«, murmelte der Mann und kratzte sich erbittert die linke Augenbraue.

Dann dachte er nach, musterte den kleinen Chinesen, steckte das Papier zurück in die Schublade und sagte erleichtert:

»Der Kriegskommissar kommt gleich. Dann werden wir sehen.«

5 Ein Virtuose! Ein Virtuose!

Zwei Monate vergingen. Und als der Himmel nicht mehr grau war, sondern blau mit bauchigen cremefarbenen Wolken, wußten bereits alle, daß, so wie Franz Liszt dazu geboren war, seine ungeheuerlichen Rhapsodien auf dem Flügel zu spielen, der kleine Chinese Sen Sin Po auf die Welt gekommen war, um mit dem Maschinengewehr zu schießen. Zuerst waren es unklare Gerüchte, doch diese bauschten sich zu Legenden, umschwebten den Kopf des kleinen Chinesen. Es begann mit einer Kuh, die er in zwei Hälften zerschnitt. Und es endete damit, daß in den Regimentern gemunkelt wurde, der kleine Chinese könne auf zweitausend Schritt Köpfe abschneiden. Wie dem auch sei, er erzielte tatsächlich hundert Prozent Treffer. Der Gedanke kam auf, die Zahl Hundert sei unstabil und relativ. Vielleicht erzielte er hundertfünf Prozent? In den achatfarbenen Schlitzaugen saß von Geburt an ein wundersames Visier, anders war solches Schießen nicht zu erklären. Zu einem Übungsschießen kam in einem riesigen Auto ein wichtiger Mann in grauem Militärmantel mit einem buschigen Schnauzbart und äugte interessiert durch den Feldstecher. Der kleine Chinese, dessen eingekniffene Augen sich in die Ferne bohrten, drückte die Griffe des ratternden Maxim und schnitt ein Gebüsch ab, wie ein Weib, das Getreide mäht.

»Tatsächlich, das soll der Teufel verstehen! So was seh ich zum erstenmal«, sagte der Schnauzbärtige, nachdem das glühende Maxim-Maschinengewehr verstummt war. Und an den kleinen Chinesen gewendet, fügte er mit lachenden Augen hinzu: »Virtuose!«

»Viltusi«, wiederholte der kleine Chinese und sah aus wie ein chinesischer Engel.

Eine Woche später sagte der Regimentskommandeur im Baß zum Führer des MG-Zuges: »Dieser verdammte Kerl!« Er zuckte begeistert die Achseln und wandte sich an Sen Sin Po mit den Worten: »Eine Prämie auszahlen!«

»Plemili … zali, zali«, echote der kleine Chinese, und gelblicher Glanz ging von ihm aus.

Der Kommandeur rief dröhnend wie aus einem Faß, und die MG-Schützen antworteten ihm in schmetterndem Chor. Am gleichen Abend meldete in der Kanzlei unter der zerschlagenen Lampenglocke ein Mann in Feldbluse, ein Papier sei eingegangen, wonach der kleine Chinese zum Internationalen Regiment abkommandiert werde. Der Kommandeur lief puterrot an und verfiel ins tiefe C:

»Willst du mal riechen?« Dabei zeigte er seine gewaltige behaarte Faust. Der Mann in der Feldbluse setzte unverzüglich den Entwurf eines Befehls auf, der mit den Worten begann: Befehlsgemäß wird der MG-Schütze Sen Sin Po vom Eisernen Regiment, unser Stolz und Virtuose …

6 Glanzvolles Debüt

Ein Monat war vergangen, am Himmel kein einziges Wölkchen, die heiße Sonne stand direkt über den Köpfen. Die blauen Baumgruppen in zwei Werst Entfernung donnerten wie bei einem Gewitter, und das Eiserne Regiment hinten und links ging zurück, grub sich ein, knatterte trocken. Der kleine Chinese, mit einem Haufen Gurte behängt, stand auf einem abschüssigen Hügel bei seinem spitznasigen Maschinengewehr. Sein Gesicht zeigte eine gewisse Versonnenheit. Von Zeit zu Zeit richtete er den Blick gen Himmel, danach auf die Baumgruppen, wandte wohl auch den Kopf zur Seite und sah dann den MG-Schützen, den er kannte. Dessen Kopf und darunter die zottige rote Schleife auf der Brust lugten etwa vierzig Schritt entfernt aus den Büschen. Nach diesem Blick zur Seite schaute der kleine Chinese wieder blinzelnd in die liebe Sonne, die ihm die Mütze wärmte, wischte sich den Schweiß ab und wartete, was für eine Wendung alle diese brodelnden Ereignisse nehmen würden.

Sie entwickelten sich folgendermaßen: Unter den blauen Baumgruppen in der Ferne erschienen dünne schwarze Ketten und kamen, bald sich zu Boden werfend, bald aufrecht gehend, sich lockernd und wieder schließend, auf den abschüssigen Hügel zu. Das Eiserne Regiment hinten und links von dem kleinen Chinesen knatterte wütender und häufiger. Eine durchdringende Stimme stieg hinter dem kleinen Chinesen den Hügel hinan:

»Feu-eeer!«

Sofort hämmerte das MG des Schützen mit der Schleife im Gebüsch los. Irgendwo von links kam Antwort, und vor der näher rückenden Kette stieg Staubnebel von der Erde auf. Der kleine Chinese robbte dichter an das MG, legte seine gelben Virtuosenhände um die Griffe, blieb noch ein paar Augenblicke stumm, wobei er den Lauf sacht von rechts nach links bewegte, dann ratterte er kurz und einladend, hielt inne … ratterte wieder, und dann auf einmal spielte er in ohrenbetäubendem Geknatter seine fürchterliche Rhapsodie. In Sekunden spie er seine glühenden Kugeln von Flanke zu Flanke in die Kette hinein. Die Kette fiel zu Boden, stand wieder auf, wurde lückenhaft, begann zu bröckeln. Eine heisere Stimme brüllte begeistert von hinten:

»Chinese! Mäh sie nieder! Feuer! Feu-eeer!«

Durch Dunst und Staub schickte der kleine Chinese einen unablässigen Sturzregen von Kugeln gegen die zweite Kette. Aber da wuchsen weit rechts dunkle Streifen aus der Erde, überragt von Staubsäulen. Ein Strom von Unruhe lief unsichtbar hügelan. Eine Stimme, heiser, schrie überschnappend:

»Auf die angreifende Kavallerie …«

Ein dumpfes Brausen erschütterte die Erde bis zu der Stelle, wo der kleine Chinese lag, und die dunklen Streifen kamen ungeheuer schnell näher. In dem Moment, als der kleine Chinese das MG nach rechts schwenkte, zerbarst über ihm die Luft in weißem Feuer, und es warfihn mit der Brust auf die Griffe. Dann sah er nichts mehr.

Als er die Sonne wieder wahrnahm und das Maschinengewehr und das zerdrückte Gras vor ihm aus dem Nebel traten, war alles ringsum zerbrochen und davongeflogen. Das Regiment hinter ihm ließ Schüsse flackern und wurde still. Kaum atmend vor brennendem Schmerz in der Brust, wandte sich der kleine Chinese um und sah hinten eine staubumwölkte Masse Reiter dahinsprengen, von wo das Knattern des Eisernen Regiments kam. Der MG-Schütze rechts war verschwunden. Den Hügel in Halbmondform umfassend, rannten Männer in Grün kettenweise heran, und ihre Achselklappen blinkten als goldene Flecke. Es wurden ihrer immer mehr, und der kleine Chinese konnte schon die kupferroten Gesichter unterscheiden. Vor Schmerz mit den Zähnen knirschend, guckte er verwirrt, faßte die Griffe, richtete den Lauf und ratterte los. Gesichter und goldene Flecke fielen vor ihm ins Gras. Dafür wuchsen sie rechts aus der Erde und eilten auf ihn zu. Neben ihm war auf einmal der Führer des MG-Zugs. Einen trüben Moment lang sah der kleine Chinese Blut über dessen linken Ärmel laufen. Der Kommandeur rief ihm nichts zu. Hoch aufgereckt, streckte er den rechten Arm aus und jagte trockene Schüsse gegen die Anstürmenden. Dann schob er sich vor den Augen des entsetzten Chinesen die Mündung der Mauser in den Mund und drückte ab. Der kleine Chinese blieb für einen Moment stumm. Darauf ratterte er wieder los.

Das Gewehr im Anschlag, vom Laufen keuchend, stürmte von rechts ein kupfergesichtiger Junker vor seiner Kette her zu dem kleinen Chinesen.

»Laß das Maschinengewehr los … verfluchtes Schlitzauge!« röchelte er, und Schaumbläschen traten ihm auf die Lippen. »Ergib dich!«

»Ergib dich!« brüllte es von rechts und von links, und die goldenen Flecke und spitzen Stacheln hüpften schon den Hang herauf. Da-da-da-da-da! spielte das Maschinengewehr ein letztes Mal und wurde dann still. Der kleine Chinese erhob sich, unterdrückte mit Willenskraft den Schmerz in der Brust und die drohende Unruhe, die ihm plötzlich das Herz abklemmte. In den letzten Augenblicken sah er unter der heißen Sonne wundersamerweise noch einmal die rissige Erde und das Schattenfiligran und die goldene Hirsesaat. Nach Hause fahren, nach Hause. Den Schmerz bezwingend, rief er strahlende Kreise in sein schlitzäugiges Gesicht, er spürte schon ganz deutlich, daß die Hoffnung starb, dennoch sagte er, gen Himmel gewandt:

»Plemili … loter Viltusi … zali! zali!«

Der hünenhafte kupferrote Junker stieß ihm weit ausholend das Bajonett in die Kehle, so daß es die Wirbelsäule durchtrennte. Noch einmal spielte die schwarze Uhr mit den Goldzeigern die dröhnende Kupferglockenmelodie, und rund um den kleinen Chinesen glitzerte der Kristallsaal. Kein Schmerz konnte in ihn eindringen. Ohne Schmerzen und ruhig, mit einem Lächeln, das auf seinem Gesicht angefroren war, spürte er nicht mehr, wie die Junker mit Bajonetten auf ihn einstachen.

1923

Eine Teufeliade

Wie Zwillinge einen Geschäftsführer verderbten

1 Der Vorfall am Zwanzigsten

In einer Zeit, da alle Welt ständig die Dienststelle wechselte, arbeitete der Genosse Korotkow unbeirrt im Hauzentrützstreichmat (Hauptzentralstützpunkt für Streichholzmaterialien) auf dem Etatposten eines Schriftführers, und das schon ganze elf Monate.

Im Streichmat warm geworden, verbannte der empfindsame, stille blonde Korotkow aus seiner Seele den Gedanken, daß es auf der Welt so etwas gibt wie die sogenannte Wandelbarkeit des Schicksals, und nährte statt dessen die Überzeugung, er, Korotkow, werde dem Stützpunkt bis zum Ende seiner Tage auf dem Erdball dienen. Aber leider kam es ganz anders.

Am 20. September 1921 stülpte der Kassierer des Streichmat seine schauderhafte Ohrenklappenmütze auf, schob eine gestreifte Geldanweisung in die Aktentasche und entschwand. Das war elf Uhr vormittags.

Zurück kehrte der Kassierer um halb fünf nachmittags, und er war völlig durchnäßt. Er schüttelte das Wasser von seiner Mütze und sagte:

»Setzen Sie mir nicht zu, meine Herrschaften.«

Dann kramte er nach irgendwas in der Schreibtischschublade, verließ das Zimmer und kehrte nach einer Viertelstunde mit einem großen toten Huhn, dem der Hals umgedreht war, zurück. Er legte das Huhn auf die Aktentasche, die rechte Hand auf das Huhn und sprach: »Geld ist nicht.«

»Und morgen?« riefen die Frauen im Chor.

»Nein«, der Kassierer schüttelte den Kopf, »morgen auch nicht, auch übermorgen nicht. Nicht so drängen, Herrschaften, ihr schmeißt mir ja den Schreibtisch um, Genossen.«

»Was wird?« schrien alle, unter ihnen auch der naive Korotkow.

»Bürger!« sang der Kassierer weinerlich und wehrte mit dem Ellbogen Korotkow ab. »Ich muß doch bitten!«

»Also was denn nun?« schrien alle, am lautesten dieser komische Korotkow.

»Da, bitte sehr«, murmelte der Kassierer heiser, holte die Geldanweisung aus der Aktentasche und zeigte sie Korotkow.

Oberhalb der Stelle, die der schmutzige Fingernagel des Kassierers verdeckte, stand mit roter Tinte schräg geschrieben:

»Auszahlen. In Vertr. des Genossen Subbotnikow – Senat.«

Darunter stand mit violetter Tinte:

»Kein Geld da. In Vertr. des Genossen Iwanow – Smirnow.«

»Was wird?« rief Korotkow, allein, die anderen wälzten sich schnaufend auf den Kassierer.

»Ach, mein Gott!« jammerte der verwirrt. »Was kann ich denn dafür? Du lieber Gott!«

Nachdem er die Geldanweisung hastig in die Aktentasche geschoben hatte, bedeckte er sich mit seiner Ohrenklappenmütze, klemmte die Aktentasche unter den Arm, schwenkte das Huhn, schrie: »Laßt mich bitte durch!«, schlug eine Bresche in die lebendige Wand und entschwand durch die Tür.

Ihm nach lief quiekend die bleiche Registratorin auf ihren hohen spitzen Absätzen. An der Tür brach der linke Absatz knirschend, die Registratorin wankte, hob das Bein und zog den Schuh aus.

Und im Zimmer verblieben die Registratorin, an einem Bein barfuß, und alle übrigen, darunter auch Korotkow.

2 Produkte der Produktion

Drei Tage nach dem geschilderten Vorfall wurde die Tür des Einzelzimmers, welches dem Genossen Korotkow eigen war, spaltbreit geöffnet, und ein verheulter Frauenkopf sagte grimmig: »Genosse Korotkow, gehen Sie Ihr Gehalt abholen.«

»Was?« rief Korotkow hocherfreut und stürmte, die Carmenouvertüre pfeifend, zum Zimmer mit der Aufschrift »Kasse«. Vor dem Tisch des Kassierers blieb er stehen und riß den Mund auf. Zwei dicke Säulen aus gelben Schachteln ragten bis zur Zimmerdecke. Um keine Fragen beantworten zu müssen, hatte der verschwitzte und erregte Kassierer mit einer Reißzwecke die Anweisung an die Wand gepinnt, die jetzt von einer dritten Entscheidung in grüner Tinte verschönt war:

»In Produkten der Produktion auszahlen.

In Vertr. des Gen. Bogojawlenski – Preobrashenski.

Ich denke auch so – Kschessinski.«

Korotkow verließ den Kassierer mit einem breiten und blöden Lächeln. In den Händen trug er vier große gelbe und fünf kleine grüne Päckchen, in den Taschen aber dreizehn blaue Schachteln, alle voller Streichhölzer. In seinem Zimmer angelangt, verpackte er, auf das Stimmengewirr der verblüfften Angestellten in der Kanzlei horchend, sein Gehalt in zwei riesige Blätter der Morgenzeitung, dann ging er, ohne jemandem Bescheid zu sagen, nach Hause. Vor der Tür des Streichmat wäre er fast unter ein Auto geraten, in dem jemand vorfuhr, doch wer das war, konnte Korotkow nicht erkennen.

Zu Hause legte er die Streichholzschachteln auf dem Tisch aus, trat ein wenig zurück und genoß den Anblick. Das blöde Lächeln wich nicht von seinem Gesicht. Sodann zauste er sich die blonden Haare und sagte zu sich selbst:

»Nun, es hat keinen Zweck, lange Trübsal zu blasen. Wir werden sie verkaufen.«

Er klopfte bei seiner Nachbarin Alexandra Fjodorowna, die im Gouvweinspeicher arbeitete.

»Herein«, tönte es dumpf aus dem Zimmer.

Korotkow trat ein und staunte Bauklötze. Die vorzeitig von der Arbeit heimgekehrte Nachbarin hockte in Mantel und Mützchen auf dem Fußboden. Vor ihr standen in Reih und Glied Flaschen mit Stöpseln aus Zeitungspapier, gefüllt mit einer dunkelroten Flüssigkeit. Alexandra Fjodorowna sah verheult aus.

»Sechsundvierzig«, sagte sie und wandte sich Korotkow zu.

»Guten Tag, Alexandra Fjodorowna. Ist das Tinte?« fragte Korotkow verwundert.

»Abendmahlswein«, antwortete die Nachbarin schluchzend.

»Was denn, Sie auch?« ächzte Korotkow.

»Wieso, haben Sie auch Abendmahlswein gekriegt?« sagte Alexandra Fjodorowna verblüfft.

»Nein, Streichhölzer«, erwiderte Korotkow mit erloschener Stimme und nestelte an einem Jackenknopf.

»Aber die brennen doch nicht!« rief Alexandra Fjodorowna, indem sie sich erhob und den Rock abklopfte.

»Was, sie brennen nicht?« rief Korotkow erschrocken und stürzte zurück in sein Zimmer. Ohne eine Minute zu verlieren, griff er sich eine Schachtel, drückte sie krachend auf und riß ein Hölzchen an. Zischend erglühte ein grünliches Flämmchen, das Hölzchen zerbrach und erlosch. Korotkow, der in dem beißenden Schwefelgeruch nach Luft rang, hustete krankhaft und riß ein zweites Hölzchen an. Ein Schuß ertönte, und zwei Feuerpunkte sprangen weg. Der erste traf die Fensterscheibe, der zweite das linke Auge des Genossen Korotkow.

»Auaaa!« brüllte Korotkow und ließ die Schachtel fallen.

Ein Weilchen tänzelte er wie ein hitziges Pferd und drückte sich die Hand vors Auge. Dann starrte er voller Entsetzen in den Rasierspiegel, gewärtig, ein Auge verloren zu haben. Aber das Auge war noch da. Allerdings war es gerötet und verströmte Tränen. »Ach, du lieber Gott!« rief Korotkow verstört, holte ein amerikanisches Verbandpäckchen aus der Kommode, riß es auf, umwickelte damit die linke Kopfhälfte und gewann Ähnlichkeit mit einem verwundeten Soldaten.

Bei Korotkow brannte die ganze Nacht Licht. Er lag im Bett und riß Streichhölzer an. Auf diese Weise verbrauchte er drei Schachteln, und es gelang ihm, dreiundsechzig Hölzchen zum Brennen zu bringen.

»Sie spinnt, die dumme Gans«, knurrte Korotkow. »Die Streichhölzer sind doch prima.«

Gegen Morgen war das Zimmer voll von stickigem Schwefelqualm. Als es schon dämmerte, schlief Korotkow ein und hatte einen blöden gräßlichen Traum: Er ist auf einer grünen Wiese und hat vor sich eine riesige, lebendige Billardkugel auf Beinchen. Das war so scheußlich, daß er aufschrie und erwachte. Im trüben Dämmerlicht wähnte er noch sekundenlang, daß die Kugel neben seinem Bett stünde und heftig nach Schwefel röche. Aber dann verschwand das Ganze, Korotkow wälzte sich zurecht, schlief ein und erwachte nun nicht mehr.

3 Der Glatzkopf erscheint

Am nächsten Morgen schob er den Verband hoch und überzeugte sich davon, daß sein Auge schon fast wieder heil war. Dennoch entschloß sich der vorsichtige Korotkow, den Verband vorerst umzubehalten.

Mit großer Verspätung im Amt erschienen, ging der schlaue Korotkow, der bei den unteren Angestellten kein unnützes Gerede wollte, sogleich in sein Zimmer und fand auf seinem Schreibtisch ein Papier, in welchem der Leiter der Unterabteilung Einkauf beim Stützpunktchef anfragte, ob die Stenotypistinnen Uniformkleidung erhalten sollten. Korotkow las das Papier mit dem rechten Auge, ergriff es dann und begab sich durch den Korridor zum Arbeitszimmer des Stützpunktchefs, Genossen Tschekuschin.

Unmittelbar vor der Tür zum Arbeitszimmer stieß er auf einen Unbekannten, dessen Aussehen ihn verblüffte.