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Karina Halle

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Beschreibung

Auch wenn sie ihm nicht traut, sie kann ihm nicht wiederstehen …

Nicola ist stolze alleinerziehende Mutter einer Fünfjährigen und verlässt sich schon lange nicht mehr auf Männer. Doch als sie ihre Wohnung verliert, bleibt ihr nichts anderes übrig, als dem wohlhabenden Bram McGregor zu vertrauen und in eines seiner Apartments zu ziehen. Der Haken an der Sache: Der schottische Bad Boy wohnt gleich nebenan und macht ihr das Leben ziemlich schwer. Doch gerade seiner störrischen und mysteriösen Art kann sich Nicola nicht entziehen...

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KARINA HALLE

The Offer

LIEBE MICH NICHT…

ROMAN

Aus dem Amerikanischen

von Anja Mehrmann

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe The Offer erschien bei CreateSpace Independent Publishing Platform.
Copyright © 2015 by Karina HalleCopyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenRedaktion: Catherine BeckCovergestaltung: UNO Werbeagentur, München, unter Verwendung eines Umschlags von Hang LeCoverabbildung: © Depositphotos / sorsillo; shutterstock / jared ropelatoSatz: KompetenzCenter, MönchengladbachISBN: 978-3-641-22706-7V002www.heyne.de

ZUM BUCH

Nicole ist stolze alleinerziehende Mutter einer Fünfjährigen und verlässt sich schon lange nicht mehr auf Männer. Doch als sie ihre Wohnung verliert, bleibt ihr nichts anderes übrig, als dem wohlhabenden Bram McGregor zu vertrauen und in eines seiner Apartments zu ziehen. Der Haken an der Sache: Der schottische Bad Boy wohnt gleich nebenan und macht ihr das Leben ziemlich schwer. Doch gerade seiner störrischen und mysteriösen Art kann sich Nicole nicht entziehen …

ZUM AUTOR

Karina Halle war Reise- und Musikjournalistin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Mittlerweile ist sie eine erfolgreiche Self-Publisherin und New-York-Times-Bestsellerautorin. Sie lebt zusammen mit ihrem Mann und ihrem Hund auf einer Insel vor der Küste Britisch Kolumbiens.

Für alle, die glauben, sich im Kampf zu verlieren,

worin auch immer ihr Kampf bestehen mag.

Ihr seid nicht allein.

Macht weiter, gebt niemals auf.

Prolog

Ein halbes Jahr zuvor

Nicola

»Lebe, ohne zu bereuen.«

»Was hast du gesagt, Süße?«

Langsam hob ich den Blick von dem Fleck Rasen, auf den ich die letzten fünf Minuten gestarrt hatte, und erblickte die Silhouette eines großen Mannes, der im Licht der Scheinwerfer auf mich zukam. Ich blinzelte ein paarmal, dann sah ich wieder auf den Boden. Sein Gesicht lag im Dunkeln, aber ich wusste, wer er war. Der schottische Akzent verriet mir alles, was ich wissen musste.

Ich räusperte mich und trank das Glas Wein aus, das ich in der Hand hielt. Der Lärm von der Hochzeitsparty ließ allmählich nach, und ich war erstaunt, dass Bram McGregor noch da war. Er war Trauzeuge und ich Trauzeugin, aber ich hielt ihn nicht für den Typ, der irgendwo länger blieb, nicht mal auf der Hochzeit seines eigenen Bruders. Beim Anblick jedes weiblichen Wesens, mich eingeschlossen, das in weniger als fünf Meter Entfernung vorüberging, hatte Bram die Brauen hochgezogen, und während der Trauung hatte er so gelangweilt gewirkt, dass es aussah, als müsste er ein Gähnen unterdrücken.

»Sorry.« Erneut räusperte ich mich. »Hab mit mir selbst geredet.«

»Verstehe«, sagte er und setzte sich neben mich auf die steinerne Bank. Er duftete leicht nach Zigarren und Sandelholz.

Wir befanden uns auf dem Rasen hinter dem Tiburon Jachtclub, in dem die Hochzeit stattgefunden hatte. Unerwartet war ich auf diese Bank und den Garten gestoßen, und im Hintergrund funkelten die Lichter der Stadt über der Bucht von San Francisco. Ich war müde und wollte ins Bett, und bevor ich zurück zu meiner Wohnung fuhr und den Babysitter ablöste, wollte ich gern noch einen Augenblick allein sein. Obwohl meine beste Freundin Stephanie an diesem Tag einen großartigen Burschen geheiratet hatte, Brams Bruder Linden – ich freue mich wirklich für sie! –, war es trotzdem eine Hochzeit, und ich war Single und fühlte mich deswegen jeden Tag schlechter.

»Aha. Lebe, ohne zu bereuen«, wiederholte er, stützte die Ellbogen auf die Knie und faltete die Hände. Wäre ich nüchtern gewesen, hätte es mich in Verlegenheit gebracht, dass er mich bei einem Selbstgespräch ertappte, aber so, wie die Dinge nun mal lagen, war es mir völlig egal. Was Bram von mir dachte, war weiß Gott mein kleinstes Problem.

Ich zuckte mit den Schultern. »Das ist mein Motto.«

Er schnaubte, und ich starrte ihn wütend an.

»Hey!«, sagte ich und spürte, wie mein Gesicht heiß wurde. »Die meisten Menschen leben nach irgendeinem Motto.«

Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Er war ein attraktiver Mann, das musste man ihm lassen. Aber nachdem mein Ex mich nach der Schwangerschaft total verarscht hatte und die Erziehung unserer Tochter allein mir überließ, standen Playboys auf meiner Todesliste, und Bram McGregor war eindeutig ein Playboy. Was bedeutete, dass er so was wie das Feindbild Nummer eins war, nichts als Ärger und heiße Luft.

Mein Lebensziel bestand inzwischen darin, Ärger zu vermeiden. Ich würde bestimmt nichts mit ihm anfangen, nur weil er diesen schottischen Akzent, graue Augen, Grübchen in den Wangen und eine muskulöse Figur hatte. Neben weiteren schrecklichen Eigenschaften.

»Ich nicht«, teilte er mir mit, wobei er mir in die Augen blickte und seine Mundwinkel sich hoben. »Aber zählt es auch, wenn anderen ein Motto zu dir einfällt?«

Ich wollte nicht fragen, wie er das meinte, aber irgendwie öffnete sich mein Mund von selbst, und ich biss an.

»Manchen Leuten fällt zu dir also ein Motto ein?«

Sein Grinsen wurde breiter. »Zumindest den Frauen.«

»Verstehe«, sagte ich und suchte nach einer intelligenten Antwort, die ihm einen Dämpfer versetzen würde. »Ist der Ruf erst ruiniert …«

»… lebt sich’s gänzlich ungeniert«, führte er den Satz zu Ende. Er blickte in den dunklen Himmel und legte nachdenklich den Kopf schief. »Aber ich habe auch schon das hier gehört: Eine Nacht von mir gefreit, und die Beine bleiben breit.«

Leicht angeekelt verzog ich den Mund. »Das ist ja widerlich.«

Er zuckte mit den Schultern. »Versuch macht kluch, Süße.« Er zögerte, dann fuhr er fort: »Ich finde, das wäre auch ein gutes Motto für dich.«

Er blickte erst auf das leere Glas in meinen Händen und dann in mein Gesicht, wobei er blinzelte, als sähe er mich zum ersten Mal. Eine heiße Sekunde lang war ich froh, dass Stephanie mir ein überaus vorteilhaftes Cocktailkleid von Anthropologie ausgesucht hatte. Erneut musste ich mir ins Gedächtnis rufen, dass mir egal war, was er von mir hielt.

»Was ist?«, fragte ich, und meine Haut prickelte, weil er den Blick ein bisschen zu lange über meinen Körper wandern ließ.

»Warum bist du eigentlich hier draußen allein und noch dazu nüchtern?«

Ich drehte den Stiel des Weinglases zwischen den Fingern. »Ich bin nicht nüchtern.«

»Ebenso wenig, wie du allein bist«, sagte er. »Soll ich dir noch was zu trinken holen?«

»Gibst du einen aus?« Ich weiß nicht, warum mich seine Frage überraschte, aber so war es.

Mit gerunzelter Stirn starrte er mich einen Moment lang an. Dann entspannte er sich, und sein Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. Es erinnerte mich an eine Katze, die sich nach einem Nickerchen streckt.

»Eine schöne Frau lass ich nie für ihren Drink bezahlen«, sagte er.

Obwohl ein Teil von mir – ein kleiner Teil – es erregend fand, dass er mich schön nannte, vor allem, weil meine Erfahrungen mit Dates in letzter Zeit ziemlich öde gewesen waren und Ava schon lange der einzige Mensch war, der mich schön nannte (okay, und Steph vor der Hochzeit, als ich mittels Frisur und Make-up eine geradezu magische Wandlung durchlaufen hatte). Ich würde auf diesen schmierigen Spruch nicht hereinfallen.

Stattdessen blickte ich ihm fest ins Gesicht. »Glaubst du wirklich, dass du mit so einer billigen Anmache bei mir landen kannst?«

Er lachte, und seine Augen funkelten in der Dunkelheit. »Anmache? Wenn der Trauzeuge der Trauzeugin einen Drink spendiert? Tja, ich habe schon gehört, dass du keinen Spaß verstehst, aber ich wollte es nicht glauben. Nicht bei so einem Körper.«

Ich war fassungslos, lief rot an und brachte mühsam heraus: »Wer hat gesagt, dass ich keinen Spaß verstehe?«

Sein Lächeln wirkte jetzt etwas weniger draufgängerisch, aber dennoch sah er aus, als amüsierte es ihn köstlich, sein Spielchen mit mir zu treiben. »Ist doch egal. Ich wollte es erst nicht glauben, aber sie hatten offenbar doch recht.«

»War das etwa Linden?«, fragte ich und verspürte leichte Übelkeit. Ich mochte Linden sehr, und obwohl mir seine persönliche Meinung über mich tatsächlich egal war, fand ich die Vorstellung schrecklich, für eine negative Eigenschaft bekannt zu sein. Und das erst recht, wenn es dabei um etwas ging, wovon ich insgeheim befürchtete, dass es auf mich zutraf. Irgendwann habe ich mal Spaß verstanden, ich schwöre es, aber wenn das Leben hart wird, verschwindet der Spaß als Erstes im Nirgendwo, zusammen mit Maniküren, One-Night-Stands und Essen in netten Restaurants.

Bram beantwortete meine Frage nicht, also war klar, dass es sein Bruder gewesen war.

»Sag mal, wirst du etwa gerade rot?«, fragte er und musterte mich durchdringend. Erneut wehte mich ein milder Duft nach Zigarren an.

»Ich verstehe sehr wohl Spaß«, sagte ich und rückte ein kleines Stück von ihm ab. Es war sinnlos, aber trotzdem wollte ich mich unbedingt verteidigen.

»Und darum bist du dann allein hier draußen mit einem leeren Glas?«

»Nur, weil ich mich weder betrinke noch in deinem Bett die Beine breitmache, bin ich noch lange keine Spießbürgerin.«

O Mann, hatte ich echt Spießbürgerin gesagt? Das klang ja, als lebte ich noch in den Fünfzigerjahren.

»Nein«, sagte er gedehnt und kam wieder näher. »Aber das klingt doch wirklich nach Spaß, findest du nicht?«

Sein heißer Atem berührte meine Wange, und ich widerstand dem Drang, ihm direkt ins Gesicht zu sehen. Irgendwas an seinen Augen ließ sie wirken, als könnten sie in mich hineinblicken. Mir war schon klar, dass er sich wahrscheinlich ausmalte, wie ich nackt unter diesem Kleid aussah. Auf keinen Fall sollte er mich noch länger anstarren und womöglich merken, was für ein freudloses Chaos tatsächlich in mir herrschte.

»Ich mag es, wenn du verlegen wirst«, sagte er leise, mit diesem Akzent, der jede Silbe heiser klingen ließ. »Ich wette, so siehst du auch aus, wenn du kurz vorm Kommen bist. Überrascht und entblößt.«

Und wieder fehlten mir die Worte. Ich riss die Augen auf, und beinahe hätte ich ihm ins Gesicht geschlagen und wäre davongelaufen, denn ich hatte gelernt, dass man das mit Männern wie ihm so macht. Dass man sie abblitzen lässt. Ihnen zeigt, was sie niemals bekommen werden, weil sie es nicht verdient haben.

Aber das tat ich nicht. Denn trotz allem, was mir lieb und wert war, entfalteten seine Worte ihre verführerische Wirkung, rutschten mir ins Herz und zwischen die Beine. Sie sorgten dafür, dass ich die Schenkel zusammenpressen wollte, um die wachsende Hitze dort zu halten, die sowieso nirgendwohin konnte.

Sie brachten in mir einen Motor auf Touren, an den ich nicht mal denken wollte.

Ich schluckte und heftete den Blick auf die Büsche vor mir. Die Geräusche der Party schienen jetzt von weiter weg zu kommen, so als ginge sie allmählich zu Ende, um uns allein zu lassen.

Bram legte mir sanft zwei Finger unters Kinn und drehte langsam meinen Kopf, sodass ich ihm wohl oder übel in die Augen sehen musste. »Wenn ich dir jetzt noch mal sage, dass du schön bist«, flüsterte er, »wirst du dann wieder rot? Oder glaubst du mir?«

Verdammt. Verdammt noch mal. Es wäre idiotisch, auf dieses schmierige Spielchen hereinzufallen, aber Himmel noch mal, wie gern wollte ich ihm glauben!

Wenigstens wurde ich nicht rot. Dazu blieb mir keine Zeit, denn bevor ich wusste, wie mir geschah, beugte sich Bram vor und küsste mich. Seine Lippen waren weich und feucht, sie schmeckten köstlich nach Tabak und Pfefferminz. Ich atmete tief ein, mein Körper war wie erstarrt vor Überraschung – genau das, was er gewollt hatte. Irgendwo in meinem Hirn rief eine Stimme: »Trauzeuge und Trauzeugin, die auf der Hochzeit miteinander rummachen, was für ein Klischee!« und: »Er ist ein Spieler, und er spielt mit dir.« Doch meine Lippen, angestachelt vom Alkohol und von einem uralten, hartnäckigen Verlangen nach irgendetwas, erwiderten den Kuss.

Es lief ab wie in Zeitlupe. Die Stimmen in meinem Kopf wurden leiser, bis sie nur noch ein undeutliches Murmeln waren, und alles, was blieb, war ein loderndes Feuer tief in mir. Er nahm mein Gesicht in seine warmen, kräftigen Hände. Sie gaben mir Halt, als unsere Zungen sich berührten und in einem vollkommenen Rhythmus miteinander zu tanzen begannen. Hätte ich einen klaren Gedanken fassen können, hätte ich gedacht, dass es ganz anders war, als ich mir einen Kuss von Bram McGregor vorgestellt hatte. Dieser Kuss war weich, sinnlich und … ja, irgendwie bedeutsam.

Doch gerade als ich mich dabei ertappte, dass ich mich an seinen Körper schmiegte, mehr von seinen Händen wollte und meine eigenen unter das Jackett seines Smokings schob, um seine muskulöse Brust zu spüren, genau da zog er sich zurück, mit geschlossenen Augen und schwer atmend.

»Du bist schön«, sagte er und räusperte sich. Er öffnete die Augen, musterte mich träge unter langen, dunklen Wimpern hindurch, Wimpern, für die ich getötet hätte. »Aber du wirst schon wieder rot. Sogar noch mehr als vorhin.« Er zog eine Braue hoch, sein Gesicht war wenige Zentimeter von meinem entfernt. »Habe ich dich heißgemacht?«

Mein Gott, war dieser Typ aufdringlich! Ich weiß, dass Linden immer ziemlich scharf auf Steph war und das auch sagte, aber Bram übertraf ihn in dieser Hinsicht noch.

Mein Mund öffnete sich, während ich noch überlegte, was ich sagen sollte, und er fuhr mir mit dem Daumen über die Unterlippe. »So ein schöner Mund. Was kannst du damit noch alles anstellen?«

Ich zwinkerte irritiert, denn jetzt fand ich ihn plump. Ich wich zurück und wandte den Kopf ab.

Bram runzelte die Stirn. »Ach komm, jetzt mach dir nicht ins Hemd«, sagte er und ließ die Hand an meinem Arm hinabgleiten. »Ich habe dich schon den ganzen Abend beobachtet.«

»Tja, das ist auch kein Kunststück, wenn wir beide auf derselben Hochzeitsfeier sind«, erwiderte ich, und plötzlich klang meine Stimme schwach, so, als hätte mich dieser Kuss sehr strapaziert. Na ja, vermutlich hatte er mir zumindest den Verstand geraubt.

»Es fällt dir schwer, Komplimente anzunehmen«, stellte er fest.

Da hatte er allerdings recht. Ich war nicht hässlich, nicht mal unscheinbar, aber die Mutterschaft – und dass mein Ex mich sitzen gelassen hatte –, stellte meine Selbstachtung auf eine harte Probe. Es hat Zeiten gegeben, da betrat ich einen Raum und beherrschte ihn oder glaubte zumindest an das, was ich zu bieten hatte, aber so selbstsicher war ich schon lange nicht mehr.

Dagegen half nicht mal die Aufmerksamkeit dieses reichen, begehrten Schotten namens Bram. Wahrscheinlich, weil ich wusste, dass er als Frauenheld verschrien war, und obwohl er in diesem Augenblick nicht trank, schmeckte ich noch den Scotch auf seinen Lippen.

Oh, diese verdammten Lippen. Rasch löste ich den Blick von ihnen und versuchte zu vergessen, wie sie sich anfühlten, wie süß und hinreißend sie schmeckten.

»Hat dieser Surfer irgendwas zu dir gesagt, das du glauben konntest?«

Welcher Surfer? Ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, wen er meinte.

»Aaron?«, fragte ich. »Das ist doch Stephanies Ex.«

Gleichgültig zuckte er die Schultern. »Steph ist jetzt verheiratet. Ich bin sicher, der Typ ist noch zu haben. Er hat den ganzen Abend versucht, dich anzubaggern.«

Das hatte ich zwar gemerkt, aber Aaron machte das auf eine beiläufige, leicht verpeilte Art, sodass es mich nicht weiter gestört hatte. »Du hast mich tatsächlich beobachtet.«

Er lächelte sanft. »Die schönste Frau des Abends.« Er zögerte. »Abgesehen von der Braut natürlich, aber das muss ich ja sagen.« Er berührte meinen Hinterkopf, und ich versuchte, bei dem Gedanken, dass er meine Hochsteckfrisur in Unordnung brachte, nicht zusammenzuzucken. »Wie wär’s, wenn wir zwei hier verschwinden? Ich glaube, Stephanie und Linden sind schon vor einer Weile gegangen, und der Abend ist noch jung.«

Das alles ging mir viel zu schnell. So sehr seine Worte auch an den straff gespannten Gurten in meinem Innern zerrten, die mich vernünftig und seriös bleiben ließen, und obwohl sich beim rauen Klang seiner Stimme die Härchen in meinem Nacken aufrichteten … Ich hatte Verpflichtungen, und ein One-Night-Stand mit Bram McGregor gehörte nicht dazu. Trotz dieser leisen, quälenden Stimme in meinem Innern, die »Spaß« wollte und so oft übertönt wurde, die verlangte, dass ich das Leben wenigstens ein bisschen genoss – ich konnte nicht. Außerdem hätte daraus sowieso höchstens eine Affäre werden können, denn bei einem wie ihm war alles andere ausgeschlossen.

Erneut beugte er sich über mich, und seine Lippen berührten sehr sanft meinen Mund. Hitze schoss durch meine Adern. »Komm schon«, murmelte er. »Ich weiß, dass irgendwo tief in dir eine wilde Frau steckt. Ich spüre das. Lass sie raus. Ich helfe dir dabei.«

O Gott. Hätte er doch nur recht.

»Das kann ich nicht«, sagte ich leise. »Ich muss nach Hause.«

Er lächelte an meinem Mund, und es fühlte sich wundervoll an. »Nimm mich mit. Ich verspreche dir, dass ich mich gut benehmen werde.« Er küsste mich sanft, lange und genüsslich, bis er sich schließlich widerstrebend von mir löste. »Ehrlich gesagt lautet das Versprechen, dass ich mich danebenbenehmen werde«, sagte er mit belegter Stimme. »Aber es wird dir gefallen, das weiß ich.«

Ich nutzte den Moment, um ein bisschen Abstand zwischen unsere Gesichter zu bringen. »Du verstehst das nicht. Ich muss meine Babysitterin bezahlen. Sie will bestimmt bald nach Hause.«

Ich war überrascht, dass er stutzte, denn aus irgendeinem Grund hatte ich geglaubt, dass er von meinem Kind wusste. Aber an der Art, wie er die Brauen zusammenzog, sah ich, dass ihm das neu war.

»Dein Babysitter?«, wiederholte er und räusperte sich. »Du hast ein Kind?«

Ich nickte und spürte, wie ich mich Stück für Stück in mich zurückzog, als baute ich eine Mauer wieder auf, die eingestürzt war. »Ja. Ava. Sie ist fünf.«

»Das wusste ich nicht«, sagte er und blinzelte mehrmals.

Warum drehten die Kerle immer durch, wenn sie herausfanden, dass ich alleinerziehende Mutter war? Man sollte meinen, Männer könnten in dieser angeblich so fortschrittlichen Zeit etwas offener damit umgehen, allein schon, weil sie ziemlich oft damit konfrontiert werden. Außerdem war ich einunddreißig und kein Teenager mehr.

Ich lächelte ihn säuerlich an. »Es gibt eine Menge, was du nicht über mich weißt.« Wenn ich genauer darüber nachdachte, war ich ihm bisher nur wenige Male begegnet, und meistens war das bei gesellschaftlichen Anlässen gewesen, wo er mir höchstens die Hand gegeben oder mir zugenickt hatte, und das war’s. Ich glaube nicht, dass ich vor diesem Abend schon mal allein mit ihm gesprochen hatte.

Er blickte auf seine Armbanduhr, was mir jetzt zum ersten Mal auffiel. Sie glänzte silbern im Lichtschein. »Tja, dann solltest du dich jetzt besser auf den Weg machen, Cinderella.«

»Ist denn schon bald Mitternacht?«, fragte ich. Die ganze Situation machte mich verlegen. Langsam kam ich auf die Füße. In den Ross-Atwood-Sandalen, die Steph mir für die Hochzeit geschenkt hatte, schmerzten sie furchtbar. Die Schuhe waren sexy, aber unbequem.

Bram stand ebenfalls auf, und trotz der Absätze, die meiner Körpergröße von einssiebzig noch zehn Zentimeter hinzufügten, war er immer noch um einiges größer als ich. Ich versuchte, nicht darauf zu achten, wie teuflisch attraktiv er in seinem Smoking aussah, und ebenfalls zu ignorieren, dass sich sein muskulöser Körper in greifbarer Nähe befand. Aber das, was ich eigentlich nicht wahrnehmen wollte, war jetzt alles, was ich noch sah. Es blinkte wie eine Neonreklame, schrie mich förmlich an: »Heißer Fick, nur heute Nacht.«

»Aye«, sagte er mit diesem verdammten schottischen Akzent. »Soll ich dir ein Taxi rufen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich nehme ein Uber.«

Einen Moment lang starrte er mich nachdenklich an, dann nickte er. »Zu schade, dass ich dich nicht überreden kann, aus dir herauszugehen, und wenn es nur für eine Nacht wäre.«

Ich musterte ihn, meine Finger umklammerten das leere Weinglas. »Aus sich herauszugehen ist für eine alleinerziehende Mutter nicht immer möglich.«

»Da hast du recht«, sagte er. »Na komm, dann bringe ich dich wenigstens zur Party zurück.« Er reichte mir den Arm, und nach kurzem Zögern hakte ich ihn unter. Ich muss sagen, es war ein angenehmes Gefühl, mich aus dem Garten zur Lobby führen zu lassen, als wäre ich sein Date für diesen Abend.

Doch als wir uns den anderen Gästen näherten, ließ er mich los und lächelte mich nur kurz an. »Komm gut nach Hause, Süße.«

Und das war’s.

Ich sah zu, wie er sich durch die Menge der plaudernden Gäste schob und auf die Bar zusteuerte. Die Party war noch in vollem Gang, obwohl Stephanie und Linden offenbar tatsächlich schon verschwunden waren, denn ich konnte sie nirgendwo entdecken. Allerdings sah ich sowohl die Eltern der Braut als auch die des Bräutigams, ebenso Aaron, Kayla, Penny, James und noch ein paar andere unserer gemeinsamen Freunde. Die meisten von ihnen tanzten und amüsierten sich prächtig. Sie waren höllisch betrunken, und in der Marina im Hintergrund schaukelten die Boote sachte auf den Wellen.

Manchmal war es echt nervig, das Aschenputtel zu sein.

Seufzend fischte ich mein Handy aus der Handtasche und bestellte mir ein Uber. Samstagabend war immer viel los, darum würde der Fahrer erst in einer Viertelstunde auftauchen. Ich ging auf das Tor des Jachtclubs zu und setzte mich auf eine eiserne Bank neben einem Anker aus Marmor, um meinen Füßen eine weitere Pause zu gönnen. Ich versuchte die Straße im Blick zu behalten, falls mein Uber auftauchen sollte. Auf einmal hörte ich ein lautes Kichern und drehte mich zur Rezeption um.

Dort, ein gutes Stück entfernt, stand Bram mit einer dünnen blonden Tusse im Arm, die ich schon gesehen hatte. Ich glaube, eine von Stephs entfernten Cousinen. Sie wirkte sehr jung, sehr betrunken und sehr an Bram interessiert.

Was leider auf Gegenseitigkeit zu beruhen schien. Als sie mit dem Absatz im Gras hängen blieb und beinahe gestolpert wäre, fing er sie auf und drückte sie an sich. Sie lachte und küsste ihn, und er erwiderte den Kuss begierig, drückte ihren biegsamen Körper in dem hautengen Kleid an sich. Sie legte ihm eine Hand auf den Schritt und drückte auf das, was vermutlich eine prächtige Erektion war.

Er grinste sie an – dieses verdammte coole Grinsen –, dann führte er sie in den Bereich des Gartens, aus dem wir gerade erst gekommen waren, und verschwand mit ihr hinter den Rosenbüschen. Ihr Kichern schwebte in der Luft, und ohne es zu wollen, stellte ich mir vor, wie er sie auszog und ihr befahl, sich über die Bank zu beugen, während er den Reißverschluss seiner Hose öffnete.

Eine Weile betrachtete ich die Büsche, hörte es dahinter rascheln, und mir war nicht nur flau im Magen, sondern ich war auch merkwürdig heiß.

Diese Frau hätte ich sein können.

War ich aber nicht. Und als ich sie leise stöhnen hörte, landete ich hart auf dem Boden der Tatsachen. Himmel, der hatte sich ja schnell was anderes gesucht, nachdem er kapiert hatte, dass er bei mir nicht landen würde.

Als das Uber vorfuhr, hatten sich meine Gefühle zu einem Wirbel aus Scham und Ärger hochgeschaukelt. Was für ein verdammter Arsch! Ich hatte echt Glück gehabt, dass ich nicht jede Vorsicht – und meinen Slip – in den Wind geschlagen und mit diesem schleimigen schottischen Vollidioten geschlafen hatte. Ich hatte mich nicht getäuscht: Er hätte mir nur Probleme gemacht, er war gefährlich, und von Männern wie ihm musste ich mich fernhalten. Erst jetzt wünschte ich, ich hätte seinen Kuss nicht erwidert … ach was, ich wünschte, ich hätte nicht mal mit ihm geredet!

Während ich zornig im Fond des Ubers saß, das über die Golden Gate Bridge fuhr, dachte ich wieder an mein Motto. Lebe, ohne zu bereuen – wie hatte ich nur zulassen können, dass er tatsächlich glaubte, er hätte in jener Nacht mit mir schlafen können?

Ich hatte ein weiteres Motto: Verarschst du mich einmal – schäm dich. Ein zweites Mal wird es nicht geben. Mein Stolz würde nicht zulassen, dass ich noch mal auf so etwas hereinfiel, nie wieder.

Wenn Bram McGregor bislang noch nicht auf meiner Todesliste gestanden hatte, dann hatte sich das jetzt definitiv geändert.

Kapitel 1

Nicola

»Nicola Price, Sie sind gefeuert«, sagt mein Boss und setzt ein Gesicht auf wie Donald Trump. Allerdings grinst er nicht, als hätte er einen Witz gemacht, und seine kappenartige Frisur ist vor lauter Gel ganz klebrig.

Ich glaube, tatsächlich hat er gerade gesagt: »Nicola, es tut uns sehr leid, aber wir müssen uns leider von Ihnen trennen.«

Tja, was macht das schon für einen Unterschied, wenn es letztlich dasselbe bedeutet? Von einer Sekunde auf die andere habe ich meinen verdammten Job verloren. Mein Einkommen. Meine Stabilität.

Meine Zukunft.

Es grenzt an ein Wunder, dass ich keinen Schreikrampf bekomme wie Ava, wenn sie ihr Lieblingskuscheltier Snuffy nicht finden kann. Keine Träne läuft mir über die Wange. Stattdessen sitze ich stocksteif und mit offenem Mund da wie eine Idiotin, während mein Chef Ross – jetzt wohl eher mein Ex-Chef –, weiter darüber schwafelt, wie leid es ihm tut und wie gern sie mich behalten hätten, aber die Firma schrumpft sich gesund, sie schließen eine Filiale und bla bla bla.

Nichts davon spielt eine Rolle, denn ich denke nur daran, dass ich eine Woche später drei Monate bei diesem Laden gewesen wäre. Nur noch eine Woche, und ich hätte die Probezeit überstanden – und eine Krankenversicherung gehabt. Ich hätte eine Gehaltserhöhung bekommen. Ich hätte meinen Seelenfrieden gehabt und Karriere in der Branche machen können, die ich mir wünsche.

Aber jetzt bin ich sauer, denn mir wird plötzlich klar: Diese Arschlöcher haben von vornherein gewusst, dass sie mir niemals eine unbefristete Stelle anbieten würden, sie wollten einfach nur eine billige Arbeitskraft. Die ganze Zeit schon war es der Plan gewesen, mich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hinzuhalten und dann, bevor es ernst wird, wieder auf die Straße zu setzen.

Bei längerem Nachdenken erinnert mich das verdammt an mein Liebesleben.

»Können wir irgendetwas für Sie tun?«, fragt Ross und mustert mich besorgt, vielleicht, weil er in meinem Gesicht nach Anzeichen einer drohenden Explosion forscht.

Ava. Immer wieder läuft es auf meine Tochter hinaus. Gäbe es sie nicht, hätte ich vermutlich nur genickt und die Kündigung einfach hingenommen. Ich hätte freundlich darauf reagiert, so wie ich es immer versuche, wenn mir das Leben etwas vor die Füße wirft, so wie ich es von klein auf gelernt habe. Zeig ihnen niemals, dass du weinst, verhalte dich immer angemessen. Schluck’s runter und mach weiter, ein Vorbild an Coolness, o ja.

Aber im Augenblick ist mein Leben nicht cool, und nichts daran ist angemessen. Gerade erst wurde die Miete für meine beschissene Wohnung erhöht. Mein Auto braucht ein Ersatzteil, das ich mir nicht leisten kann, also steht es nur am Straßenrand herum und rostet in San Franciscos ewigem Nebel vor sich hin. Ava kränkelt in letzter Zeit ziemlich oft. Nichts Besorgniserregendes, sagt der Arzt, sie ist nur an manchen Tagen etwas antriebslos, aber ich kann nicht aufhören, mir Sorgen um mein Mädchen zu machen. Nicht immer habe ich genug Geld, um für einen Arztbesuch aufzukommen. Noch dazu ist unser Arzt ziemlich unnütz. Diese gottverdammte Krankenversicherung hätte ich für Ava gebraucht, nicht für mich.

Und darum lasse ich jetzt den ganzen Frust an meinem nichts ahnenden Ex-Chef aus, wie Bruce Banner, wenn er sich in den Hulk verwandelt, nur dass ich mir nicht die Bluse vom Leib reiße. Drei Monate lang habe ich ordentlich meine Arbeit gemacht, ganz etepetete, immer Ja, Sir, Nein, Sir, bin wie ein überarbeiteter Sklave in den Läden herumgerannt, stets mit einem Lächeln im Gesicht. Lass sie nie sehen, wie du schwitzt. Immer schön cool bleiben.

Scheiß drauf.

Ich weiß echt nicht, was ich sagen soll. Es ist, als stiege ich in eine tiefe schwarze Grube voll aufgestautem Groll hinab. Ich glaube, einen Moment lang werde ich sogar ohnmächtig. Als ich wieder zu mir komme, merke ich, dass ich mit dem Finger auf meinen ehemaligen Boss zeige und ihn mit obszönen Beschimpfungen überschütte.

»Wissen Sie, wenn Sie nur mich verarscht hätten – okay, damit kann ich leben. Aber mit dem, was Sie da tun, verletzen Sie auch meine Tochter. Wie können Sie es wagen, mich einfach rauszuwerfen, nur eine Woche, bevor meine Krankenversicherung gültig wird!«, schreie ich ihn an. »Haben Sie überhaupt ein Herz?«

Und als Ross nur schweigend den Hörer abnimmt und Meredith, seine Assistentin, hereinbittet, damit sie mich aus dem Büro geleitet, wird mir klar, dass er tatsächlich kein Herz hat.

Meredith mochte mich noch nie, und ihre Schadenfreude ist das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann. Also verdufte ich aus Ross’ Büro, bevor sie einen Blick auf mein rotes, verstörtes Gesicht erhaschen kann. Eilig nehme ich meine Handtasche aus dem Fach im Personalraum und bin ausnahmsweise dankbar, dass ich zwar drei Monate lang der Visual Stylist dieser Firma gewesen bin, aber nie einen eigenen Schreibtisch hatte. Wie schrecklich wäre es gewesen, den auch noch ausräumen zu müssen.

Ich verabschiede mich nicht mal von Priscilla, der Einkäuferin, mit der ich mich ein bisschen angefreundet hatte, oder von Tabby, ihres Zeichens Regional Merchandiser, deren Job ich eines Tages zu übernehmen gehofft hatte. Ich schäme mich einfach zu sehr, um ihnen zu erzählen, was gerade passiert ist, und fühle mich noch schlechter, weil ich den Verdacht habe, dass sie es vielleicht die ganze Zeit schon gewusst haben.

Als ich den Job bei Rusk bekam, der beliebten Filialkette für Yogabekleidung, glaubte ich, es endlich geschafft zu haben. Schon viel zu lange war ich immer zwei Schritte vorwärts und einen zurück gegangen. Die Stadt macht es einem nicht immer leicht, egal, in welchem Gewerbe. Und Mode gehört definitiv zu den anspruchsvolleren Branchen.

Ich bin mit Steph aufs College gegangen, aufs Art Institute im Zentrum von San Francisco, und nach über einem Jahrzehnt hatten wir wieder Kontakt zueinander aufgenommen. Stephanie und ich sind beide in Petaluma aufgewachsen, einer Kleinstadt nördlich von San Francisco, und ich war auf der Grundschule mit ihr befreundet, bis sich meine Eltern scheiden ließen und ich mit meiner Mom nach Pacific Heights in San Francisco zog, wo wir mit ihrem schrecklich reichen neuen Ehemann zusammenwohnten. Um es kurz zu machen: Nachdem ich mit lauter reichen Kindern auf der Highschool war – zu denen ich selbst gehörte –, schrieb ich mich am College ein, weil ich etwas aus meiner Leidenschaft für Mode machen wollte. Die Klamotten, die ich in meiner Freizeit entwarf und herstellte, mit Siebdruckgrafiken und verrückten Sprüchen darauf, würden mir niemals zu einem Einkommen oder einer Karriere verhelfen. Sie waren gut, aber nicht »so gut« (wie mein Ex-Stiefvater festgestellt hatte). Also dachte ich mir, eine Laufbahn im Modemarketing wäre fast ebenso gut.

Und so war es auch. Auf dem College gefiel es mir sehr. Endlich war ich in meinem Element, umgeben von Menschen, die meine Leidenschaft verstanden, die mich verstanden. Aber nach dem Studium eine Stelle zu finden – das war nicht so leicht. Obwohl ich ein paar Praktika bei ziemlich angesagten Firmen – unter anderem bei Banana Republic – ergattern konnte, musste ich kämpfen, um einen Job zu finden, der mit meinem Fachgebiet zu tun hatte und gleichzeitig genug abwarf, damit ich Ava mit allem Nötigen versorgen konnte.

Letztlich lief es immer wieder auf sie hinaus – auf meine Tochter. Als sie sich ankündigte, war das ein ziemlicher Rückschlag in meinem minutiös geplanten Leben gewesen, aber ich beschloss, es leicht zu nehmen und sie einfach zu lieben. Ich liebe sie tatsächlich, und zwar von ganzem Herzen. Keine Sekunde lang habe ich bereut, dass es sie gibt. Aber dass Phil, der Vater, mich verlassen hat – das machte mich wirklich fertig. Und danach ging irgendwie alles den Bach runter. Ava und ich gegen den Rest der Welt.

Eines Tages aber – ich war noch mit Phil zusammen – glaubte ich, dass meine Gebete erhört worden waren. Ich hatte einen Job als Werbetexterin und Einkäuferin bei einem Online-Juwelier bekommen. Es war wirklich ziemlich klasse. Die Bezahlung war hervorragend, und alles deutete auf eine lange, vielversprechende Zusammenarbeit hin. Aber Einzelhandel per Internet ist ein mörderisches, unbeständiges Geschäft, und nach ein paar Jahren steuerte der Anbieter in die Pleite. Ich war ohne Arbeit. Dann auch noch ohne Freund. Schließlich betrog meine Mutter ihren neuen Ehemann, und wegen der Freistellungklausel im Ehevertrag stand ich nun auch noch ohne jede finanzielle Unterstützung da. Ich zog von einer schönen in eine erträgliche und dann in eine heruntergekommene Wohnung im zwielichtigen Tenderloin und versuchte, wieder Arbeit in der Modebranche zu finden.

Schließlich, nachdem ich ein Jahr lang als Elternzeitvertretung Verkäuferin in der Schuhabteilung von Nordstrom gewesen war – absolut nicht das, was ich wollte, aber es hielt uns über Wasser –, stieß ich zufällig auf die Stelle bei Rusk. Ich glaubte, etwas gefunden zu haben, das meine Leidenschaft wieder anfachen und gleichzeitig für den finanziellen Rückhalt sorgen würde, den ich für Ava wollte. Nicht dass sie besonders anspruchsvoll gewesen wäre, aber ich wollte in der Lage sein, ihr zu geben, was immer sie sich wünschte. Ich würde alles für sie tun und mir den Arsch abarbeiten, damit sie in den Genuss aller Möglichkeiten kommt, die das Leben zu bieten hat.

Rusk versprach mir eine großartige Karriere im Visual Merchandising und ein fantastisches Gehalt mit sagenhaften Sozialleistungen. Obwohl mein Gehalt während der Probezeit kaum über dem Mindestlohn liegen würde, reizten mich ihre schönen Versprechungen enorm. Ich kündigte bei Nordstrom und nutzte meine Chance. Ich glaubte wirklich, dass sich nun alles ändern würde.

Und das tat es auch. Alles ist schlechter als vorher. Und jetzt … jetzt haste ich an den Passanten auf der Sutter Street vorbei und bin am Rand einer Panikattacke. Die Gesichter der Leute sind nichtssagend und verschwommen, und hin und wieder trübt sich mein Blick, weil mir dicke, heiße Tränen in den Augen brennen. Allerdings fangen sie nie an zu laufen. Das muss etwas zu bedeuten haben. Dass ich stark bin. Dass ich es hinter mir lassen werde.

Ich werde einen neuen Job finden. Eine neue Chance.

Manchmal habe ich das Gefühl, das Leben reiht einfach einen Zwischenfall an den anderen, sodass man ständig versuchen muss, eine Lösung zu finden. Ich frage mich, was passiert, wenn man feststellt, dass es keinen Ausweg mehr gibt.

Jetzt gehe ich die Leavenworth Street entlang. Hier sind die Straßen etwas weniger sauber, die Leute etwas weniger freundlich. Oder zu freundlich, je nachdem, wie man es betrachtet. Vor dem Schnapsladen bettelt mich derselbe Mann wie immer mit zahnlosem Lächeln um Kleingeld an, aber heute gebe ich ihm keinen Cent. Ich halte den Kopf gesenkt und schiebe mich durch das Gesindel dieses Stadtteils, den ich hasse, seit er in dieser überteuerten Stadt meine letzte Zuflucht wurde. Dann schließe ich die Tür zum Flur des Hauses auf, in dem ich wohne.

Ich bleibe stehen und blicke auf die Tür, die ich gerade hinter mir schließen will. Sie besteht aus Glas, und vor den Scheiben verlaufen lange, senkrechte Stäbe, was für diese Gegend bezeichnend ist. Ich denke an die Zeit zurück, als Phil auszog, ich meinen Job bei dem Online-Shop verlor und es mir nicht mehr leisten konnte, in Noe Valley zu leben, einer wunderschönen Gegend gleich neben The Castro. Die Wohnung dort habe ich geliebt, konnte mir aber nicht leisten, allein für die Miete und gleichzeitig für Ava aufzukommen. Wir zwei zogen von einer Wohnung in die nächste, wobei unser Lebensstandard mit jedem Wechsel sank – bis ich mich eines Tages dabei ertappte, wie ich an der kaputten Fassade dieses Gebäudes hochstarrte, voller Hoffnung, hier eine Wohnung zu finden. Gleichzeitig versprach ich mir, so bald wie möglich wieder auszuziehen.

Wie es aussah, würde diese Gelegenheit noch ziemlich lange auf sich warten lassen.

Ich seufze, und als ich mich auf den Weg in den zweiten Stock mache, liegt mir das Herz wie ein Stein in der Brust. Normalerweise passt meine Mom donnerstags und freitags tagsüber auf Ava auf. Lisa, meine Babysitterin, bezahle ich dafür, dass sie sich die restliche Zeit um sie kümmert. Ich habe versucht, sie in einer bezahlbaren Tageseinrichtung unterzubringen, aber so was ist in der City nur schwer zu bekommen. Die Wartelisten sind ellenlang, und man muss wirklich aufpassen, wo man sein Kind lässt. Bevor Ava auf die Welt kam, hatte ich keine Ahnung, wie schwer es sein kann, für die Sicherheit eines Kinds zu sorgen. Ich dachte, mithilfe von Kindertagesstätten, Babysittern, Erziehung und Gesundheitsvorsorge sei das kein Problem, vielleicht, weil ich es in meiner Kindheit immer leicht gehabt habe (oder vielleicht achtet man als Kind auch einfach nicht auf solche Sachen). Jedenfalls weiß ich es heute besser.

Außer dir selbst passt niemand auf dich und dein Kind auf.

Ich stecke den Schlüssel ins Schloss und öffne leise die Tür, nur für den Fall, dass Ava gerade ein Nickerchen hält. Es ist eine Zweizimmerwohnung, nur fünfzig Quadratmeter groß. Ich habe sie jedoch so schön wie möglich eingerichtet, und meiner Meinung nach ist sie genauso hübsch wie die schickere Wohnung in Noe Valley. Ehrlich gesagt ähnelt sie einem Showroom von Anthropologie. Dort einkaufen zu gehen kann ich mir nicht mehr leisten, also pflege ich mein altes Zeug, als wäre es aus Gold, klebe abgebrochene Henkel wieder an Kaffeetassen und flicke Gardinen, wenn Ava zu heftig daran gezogen hat (was mehr als einmal passiert ist).

Ava und Lisa spielen auf dem Flauschteppich mit Puppen, und als ich hereinkomme, begrüßt Ava mich mit ihrem breiten, wunderschönen Lächeln, steht auf und kommt auf mich zugerannt. Sie schlingt mir die Arme um die Beine, und bevor ich auch nur die Tür hinter mir schließen kann, gehe ich schon in die Hocke und nehme sie fest in die Arme. Die bloße Anwesenheit meiner Tochter hebt meine Stimmung und beschleunigt meinen Puls. Es macht alles schwerer und leichter zugleich, etwas, das ich mir kaum erklären kann. Manchmal glaube ich, wenn man etwas zu sehr liebt, ist einem deutlicher bewusst, wie viel man zu verlieren hat. Mein kleines Mädchen im Arm zu halten schenkt mir Frieden, aber es zeigt mir auch, dass ich alles tun muss, was in meiner Macht steht, um dafür zu sorgen, dass es ihr immer gut geht.

Als ich sie loslasse, blickt Ava mir mit unverhüllter Neugier ins Gesicht. »Mommy, warum weinst du?«

Ich habe es nicht mal bemerkt. Schnell wische ich mir die Tränen an der Schulter ab und lächle sie unsicher an. »Mir geht’s gut, mein Engel«, versichere ich ihr.

Lisa steht auf und reibt sich die Hände an ihrer Jeans. Auch ich komme auf die Füße, ziehe die Tür hinter mir zu und leg eine Hand auf Avas aschblondes Haar. Normalerweise sind meine Haare lang und dunkelbraun, viel dunkler als Avas, aber neulich hat Steph sie mir auf Schulterlänge gekürzt und eine Menge Highlights hineingefärbt. Ich sage ihr immer, wenn sie ihr eigenes Geschäft mal aufgibt, sollte sie stattdessen Friseurin werden.

»Alles okay?«, fragt Lisa und mustert mich durch ihre Brille. Groß, spindeldürr und mit dem immer gleichen Pferdschwanz, ist Lisa eine brillante Studentin und für ihr Alter ein bisschen zu vernünftig, manchmal sogar reifer als ich. Seit zwei Jahren schon passt sie auf Ava auf, wann immer es in ihren Stundenplan passt. Ich möchte nicht auf sie verzichten und habe keine Ahnung, wie ich das Thema überhaupt ansprechen soll. Aber es ist einfach so, dass ich sie mir nicht mehr leisten kann, jetzt, wo ich arbeitslos bin.

Scheiße, hätte ich es doch nur im Guten beendet, dann hätte ich wenigstens noch die letzte Woche arbeiten und etwas Geld verdienen können! So, wie ich meinen Boss angeschrien habe, bezweifle ich, dass ich Rusk in meinen Lebenslauf aufnehmen kann. Niemand will eine Verrückte einstellen.

Ich beantworte Lisas Frage mit einem kurzen Kopfschütteln und bitte Ava, in unser gemeinsames Schlafzimmer zu gehen und ihre Puppe ins Bett zu bringen. Sie läuft los, und ich sinke mit einem schweren Seufzer auf die Couch.

»Was ist passiert?«, fragt Lisa, die auf der Lehne der Couch sitzt.

Eine Weile kaue ich auf meiner Lippe herum und weiche ihrem Blick aus. Dann sage ich: »Ich bin heute gefeuert worden.«

Sie atmet hörbar ein. »Was? Im Ernst? Warum denn?«

Ich zucke mit den Schultern. »Sie haben mir jede Menge Mist erzählt, von wegen, sie wollen ein paar Läden schließen und so, aber das waren nicht die, in denen ich gearbeitet habe. Ich glaube, sie wollten einfach nur eine billige Arbeitskraft.«

»Alter, das nervt aber echt«, sagt Lisa. »Was hast du jetzt vor?«

Ich werfe ihr einen schuldbewussten Blick zu. »Mir einen anderen Job suchen. Aber ich fürchte, bis ich einen gefunden habe, kann ich dich leider nicht mehr bezahlen. Das Geld wird hier in nächster Zeit verdammt knapp sein.«

Einen Moment lang verzieht sie das Gesicht, aber gleich darauf wirkt es wieder verständnisvoll und mitfühlend. Ich vergesse, dass sie vielleicht genauso abhängig von mir ist wie ich von ihr. »Verstehe. Und ich bin mir sicher, dass du sehr bald was finden wirst.«

»Ich hoffe es«, sage ich. »Irgendwie muss es klappen.«

Sie gibt mir einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. »Okay, dann verschwinde ich jetzt mal. Morgen Abend soll ich wahrscheinlich nicht zum Aufpassen kommen, oder?«

Fragend blicke ich sie an, und gleich darauf fällt es mir wieder ein. »Ach du Scheiße!«, entfährt es mir laut, und ich hoffe, dass Ava mich nicht hört. Morgen ist Lindens Geburtstag, und er feiert an einem Dienstagabend statt am Wochenende, wie es jeder normale Mensch tun würde. Ich mustere Lisa und sage schließlich: »Nein, ich glaube nicht. Ist wohl am besten, ich bleibe zu Hause.«

Sie nickt und nimmt ihre Handtasche von der Theke. Einen Moment lang sieht es aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen.

»Ich texte dir, sobald ich einen neuen Job habe«, sage ich, und sie schenkt mir ein kurzes Lächeln, bevor sie zur Tür hinausgeht und sie hinter sich zuzieht.

Eine Weile ist es still in der Wohnung, ich höre nicht mal Ava, die im Schlafzimmer spielt. Irgendwann erklingt leise ihre Stimme: »Mommy?«

Ich stehe auf und schlurfe hinüber ins Schlafzimmer. Plötzlich fühle ich mich sehr alt. An den Türrahmen gelehnt sehe ich zu, wie Ava ihre Puppe ins Bett bringt. Sie blickt zu mir auf, stolz und mit runden Wangen.

»Sieh mal, ich passe auf sie auf. So wie du auf mich aufpasst.«

Es kostet mich alle Kraft, um nicht vor ihren Augen zusammenzubrechen.

❊ ❊ ❊

Gestern Abend fühlte ich mich wie betäubt. Ich habe mit Ava auf der Couch gekuschelt, ihre Lieblingssendungen geschaut und versucht, an nichts anderes zu denken als an Dora aus dem gleichnamigen Zeichentrickfilm, ihren schrecklichen Haarschnitt und Modegeschmack. Als Ava im Bett war, habe ich eine halbe Flasche Wein getrunken, die Vogue und Harper’s Bazaar durchgeblättert und Textnachrichten von Steph und Kayla ignoriert; auch einen Anruf meiner Mutter habe ich auf die Mailbox laufen lassen. Sie wissen von nichts, und so soll es möglichst lange bleiben. Bevor meine Mutter ihn verließ und er durch die halbe Welt nach Indien flog, um dort Wohltätigkeitsarbeit zu leisten (ich wünschte, dasselbe hätte ich tun können, nachdem Phil mich sitzen gelassen hatte), pflegte mein Vater mich mit meinem Stolz aufzuziehen. Meine Mom und ich leiden beide darunter, dass wir niemals unsere Fehler zugeben können und nie um Hilfe bitten.

Und jetzt, im kalten, grauen Tageslicht, als ich endlich kurz einschlafen konnte und Ava erkläre, dass ich in nächster Zeit bei ihr zu Hause sein werde, jetzt weiß ich, dass ich die Suppe auslöffeln muss. Ich muss mein Leben so gut wie möglich wieder auf die Reihe bringen. Wenn ich das schaffe, ohne dass mir jemand hilft oder mich bemitleidet – umso besser.

Den ganzen Morgen durchforste ich Craigslist und eine Reihe anderer Jobbörsen, dann wird meine Beklemmung zu groß, und ich gehe mit Ava auf einen Spielplatz in Little Saigon. Danach holen wir uns Pho, und ich checke ständig mein Handy, weil ich hoffe, dass sich schon jemand gemeldet hat. Sich um Jobs zu bewerben macht einen wahnsinnig. Jedes Mal, wenn ich eine Jobbeschreibung lese, in die ich mich verliebe, bin ich wie besessen davon. All meine Hoffnungen konzentrieren sich darauf, als würde ausgerechnet diese Stelle mein Leben tausendmal besser machen, als hätte ich überhaupt eine Chance. Und dass ich Rusk nicht in meinem Lebenslauf aufführen kann, bedeutet einen echten Rückschritt.

Nachdem ich ihre fünfte Nachricht ignoriert habe, ruft Steph mich schließlich genau in dem Augenblick an, als ich Ava für ein Nickerchen ins Bett bringe. Ich schließe die Tür zum Schlafzimmer, atme tief durch und gehe ans Telefon.

»Hey«, sage ich fröhlich. »Du rufst doch sonst nie an.«

»Ja, weil du normalerweise auf Textnachrichten antwortest«, versetzt sie. »Wo warst du?«

»Hier.«

»Hier wie in Kalifornien, oder geht’s auch etwas genauer?«

»Einfach … hier.«

»Alles in Ordnung?«

Genau darum wollte ich nicht mit Steph reden. Irgendwie hat sie einen sechsten Sinn für solche Sachen.

»Mmmm.« Eine unverbindliche Antwort ist vermutlich am besten.

»Du kommst doch heute Abend mit, oder?«

»Na ja …«

»Nicola«, sagt sie. »Ich habe dich seit Wochen nicht gesehen.«

Das stimmt, obwohl es eher an ihr liegt. Sie ist wahnsinnig beschäftigt mit ihrem neuen Online-Business. Bisher hatte sie ein Ladengeschäft namens Fog & Cloth geführt, ist dann aber ins Onlinegeschäft eingestiegen, um mit der Zeit zu gehen. Aber genau wie für die Firma, bei der ich beschäftigt war, ist es auch für sie nicht leicht. Die Konkurrenz ist groß, und bislang hat sie nur eine Mitarbeiterin. Ich sehe Steph nur selten, vor allem, wenn die Sommersaison beginnt.

»Hör zu«, sage ich, schiebe mir eine Haarsträhne hinters Ohr und beäuge die Weinflasche auf der Küchentheke. Für ein Glas Wein genau in diesem Moment würde ich meine linke Brust geben, aber ich nehme mir keins, denn ich muss mich um Ava kümmern. »Es ist was vorgefallen, und Lisa kann heute nicht babysitten.«

»Was ist denn passiert?«

»Ich will nicht darüber reden.«

»Aber ich will es wissen.«

Ich verdrehe die Augen und sage: »Ja, klar, das willst du immer.« Ich atme tief durch. »Also gut, aber mach keine große Sache draus, versprochen?«

»Okaaay …«

»Und versprich mir vor allem, nicht darüber zu reden. Mit niemandem.«

Stille. »Vielleicht.«

»Dann erzähle ich’s dir nicht.«

»Ach, fuck, jetzt komm schon!«

»Brrr, halten sie Ihre Zunge im Zaum, Mrs. Zornig. Dein Mann färbt allmählich auf dich ab.«

Darüber muss sie kichern, und wieder rolle ich mit den Augen. Ich glaube, der andere merkt das sogar dann, wenn er es nicht sieht.

»Na ja, egal«, sage ich rasch. »Aber er versaut dich wirklich.«

»Also gut«, setzt Steph wieder an. »Ich sage es nicht weiter, aber jetzt erzähl’s mir endlich.«

Und dann lege ich los. Eins muss ich ihr lassen: Sie sagt kein einziges Wort, bis ich sie auf den neuesten Stand gebracht habe und wieder völlig außer Atem und total wütend bin.

»Wow«, sagt sie. »Das ist … okay, ich werde nicht darüber reden. Aber … darf ich wirklich nicht?«

»Stephanie«, sage ich warnend.

Sie stöhnt. »Okay, gut. Aber du musst heute Abend unbedingt kommen. Bleib nicht allein zu Hause.«

»Welchen Teil von Ich-hab-keinen-Babysitter hast du nicht verstanden?«

»Nimm Ava doch einfach mit!«

Fast muss ich lachen. »Ja, klar. In eine Bar.«

»Na ja, vielleicht nicht in die Bar, aber wir treffen uns erst für ein oder zwei Stunden bei uns zu Hause, zum Vorglühen. Wenigstens da könntest du dabei sein.«

»Ich kann mir nicht mal ein Taxi leisten, und mein Auto ist noch kaputt.«

»Macht nichts«, sagt sie. »Darum kümmere ich mich schon.«

»Ich brauche niemanden, der sich um mich kümmert«, entgegne ich und spüre, wie sich mir die Nackenhaare sträuben.

»Ja, ich weiß, aber trotzdem. Ich verstehe dich, okay? Dafür sind Freunde schließlich da. Ich schicke dir jemanden mit dem Wagen vorbei, du kommst her, und wir amüsieren uns mit unseren Freunden und reden nur über Dinge, über die du reden willst. Bitte. Lass mich nicht so lange betteln.«

»Aber ich mag es, wenn du bettelst.«

»Genau wie Linden.«

»Okay, so genau wollte ich es nicht wissen. Ich lege jetzt auf.«

Wieder kichert sie. »Sorry. Okay, dann sei um 18.00 Uhr fertig. Wir haben Appetithappen hier, also mach dir wegen des Dinners keine Sorgen, und für Ava besorge ich auch irgendwas. Das heißt, Linden macht das, er ist nämlich der Einzige, der hier kochen kann. Bis bald, und halte durch. Alles wird gut.«

Ich lege auf und habe überhaupt keine Lust, unter Leute zu gehen, nicht mal, wenn es meine Freunde sind. Aber genauso wenig habe ich Lust auf eine Kraftprobe mit der halb leeren Flasche Wein, oder darauf, mich den ganzen Abend in Panik und dem Gefühl von Unzulänglichkeit zu suhlen.

Als ich schnell dusche und mich für den Abend herrichte, werde ich glücklicherweise ein bisschen munterer. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich sehr lange nicht mehr ausgegangen bin, und wenn ich mich in Schale werfe, fühle ich mich irgendwie in meinem Element. Ich betone die Wellen in meinem Haar, quetsche mich in eine Skinny-Jeans und ziehe ein flatterndes schulterfreies Top an, runde das Ganze mit etwas rotem Lippenstift ab, und schon habe ich diesen sinnlichen Señoritalook, obwohl der wegen der Sommersprossen auf meiner Nase und meines rosigen englischen Teints eigentlich überhaupt nicht zu mir passt.

Ava ist total aufgeregt, weil sie auf eine »Erwachsenenparty« gehen darf. Sie eifert mir nach, indem sie eine Menge Zeit damit verbringt, sich ein Outfit auszusuchen und schließlich ihren SpongeBob-Kissenbezug anziehen möchte. Stattdessen stecke ich sie in ein violettes Kleid. Dann laufen wir die Treppe hinunter und warten auf das Taxi; den Kindersitz habe ich mir unter den Arm geklemmt.

Als ich einen marineblauen Mercedes um die Ecke kommen sehe, frage ich mich, ob Steph das teuerste Uber der Stadt bestellt hat.

Der Wagen hält an, und ich nehme Ava bei der Hand. Ich bleibe an der Haustür stehen, bis ich mir sicher bin, dass das Taxi für uns ist. Als sich die Tür auf der Fahrerseite öffnet und ein großer Gentleman im Anzug aussteigt, weiß ich, dass es nicht für uns sein kann. Kein Uberfahrer ist dermaßen gut gekleidet.

Dann sehe ich ihm ins Gesicht.

Bram. Fucking. McGregor.

Ich blinzle. Meine Wangen werden heiß, und ich wünschte, das wäre alles ein großer Irrtum. Bram kann doch unmöglich meinetwegen hier sein, oder? Ich meine, das letzte Mal habe ich ihn auf Stephs und Lindens Hochzeit gesehen, und obwohl wir eine ziemlich heiße Knutscherei hatten, hat es nicht lange gedauert, bis er einen anderen Mund gefunden hatte, deren Besitzerin er abschleppen konnte. Und mit »nicht lange« meine ich ein paar Minuten.

»Nicola«, sagt er mit diesem schottischen Akzent, und es sieht unfassbar elegant aus, wie er an sein schickes Auto gelehnt dasteht. »Bist du bereit?«

O fuck! Er ist wirklich meinetwegen hier.

Ich lasse fast den Kindersitz fallen.

Dann drücke ich Avas Hand und atme tief durch. Am liebsten würde ich Stephanie umbringen, aber da ich ihr von der Knutscherei mit ihrem Schwager nichts erzählt habe, kann sie auch nicht wissen, dass ich Bram leidenschaftlich hasse.

Was hatte ich noch über Stolz gesagt? Dass ich sehr viel davon besitze? Nun, Bram hatte meinen Stolz mehr verletzt, als er ahnte.

Und jetzt muss ich mit meiner Tochter zu ihm ins Auto steigen, ausgerechnet jetzt, an einem der Tiefpunkte meines Lebens.

Er betrachtet den schweren Sitz in meiner Hand. »Soll ich dir den mal abnehmen?«

Ich muss mich zusammenreißen, um nicht zu erwidern: »Danke, nein« und: »Ich habe meine Meinung geändert, ich will nicht mehr zu der Party.« Aber Ava zieht mich zu dem Auto, als hätte ich ihr nie beigebracht, Fremden gegenüber vorsichtig zu sein, und sagt: »Komm, Mommy. Sein Auto glänzt so schön.«

Wenn sie älter ist, wird sie eine Menge Schwierigkeiten bekommen.

Flüchtig begegnen sich unsere Blicke, und er setzt dieses verdammte idiotische Lächeln auf, ein Lächeln, das mein Blut zum Kochen bringt.

Offenbar fahre ich jetzt mit Bram McGregor zu einer Party.

Scheiße.

Kapitel 2

Nicola

Ich beruhige mich, straffe die Schultern und hebe den Kopf, wie ich es auf der Highschool immer gemacht habe, wenn ich neu im Wohnheim und noch nicht in eine Clique gemeiner Mädchen mit übertriebenem Selbstbewusstsein aufgenommen worden war. Ich bedenke Bram mit einem selbstsicheren, wenn auch total falschen Lächeln, und gehe auf seinen Wagen zu, wild entschlossen, locker mit der Situation umzugehen.

Aber da umrundet er schon die Motorhaube. Er kommt auf mich zu und nimmt mir rasch den Kindersitz aus den Händen. Ich rechne damit, dass er wieder nach Zigarren und Pfefferminz riecht, aber diesmal ist es nur ein frischer, erdiger Duft, wie im Wald nach einem Regenguss.

»Danke, ich komme schon klar«, sage ich. Ohne es zu wollen, klinge ich schnippisch, und mir ist klar, dass ich mich benehme wie eine blöde Kuh.

Er scheint es nicht zu bemerken, und bevor ich ihn fragen kann, ob er weiß, was er zu tun hat, öffnet er die hintere Wagentür und schnallt den Sitz fest wie ein Profi.

Ich bin beinahe beeindruckt. »Spielst du öfter mal Taxi für Mütter?«

Er runzelt die Stirn. »Nicht für so schöne wie dich.« Er mustert Ava und geht vor ihr in die Hocke. »Wie heißt du, Kleines?«

»Ich bin nicht klein«, sagt sie und zieht die Stirn kraus. »Ich heiße Ava, und ich bin ein großes Mädchen.«

Er nickt mit ernster Miene. Wenn ich ihn so im schwindenden Tageslicht betrachte, sieht er anders aus als vor einem halben Jahr. Älter, glaube ich, obwohl ich weiß, dass er ungefähr fünfunddreißig sein muss. Vielleicht lässt ihn der Anzug, der maßgeschneidert zu sein scheint, reifer wirken. Vielleicht liegt es am Wagen. Vielleicht auch an den wenigen grauen Strähnen, die seine dichten dunklen Haare an den Schläfen durchziehen. Vielleicht liegt es daran, dass ich nüchtern bin und er auch. Zumindest hoffe ich das.

»Dich haben sie also heute Abend zum Fahrer auserkoren?«, frage ich, hebe Ava hoch und setze sie in den Kindersitz. »Oder hast du eine Wette verloren?«

»Ich verliere keine Wetten«, sagt er leise hinter mir. Rasch werfe ich einen Blick über die Schulter und ertappe ihn dabei, wie er prüfend meinen Arsch betrachtet.

»Hast du genug gesehen?« Ich richte mich auf und drehe mich um.

»Von deinem Hinterteil?«, fragt er und schiebt in einer jungenhaften Geste die Hände in die Hosentaschen. »Ja. Aber nur, weil ich weiß, dass es dich furchtbar nervt. Du weißt schon, alles, was auch nur im Entferntesten sexuell sein könnte.«

Meine Augen werden groß, und ich blicke auf Ava hinab. Sie bemerkt es nicht, also schließe ich vorsichtig die Tür. »Hör zu«, sage ich und zeige mit dem Finger auf ihn. »Du glaubst vielleicht, mich wegen unseres kleinen … Treffens schon zu kennen, aber da irrst du dich.«

Mit einer Hand umfasst er meinen Finger. Seine Haut ist warm und überraschend weich. Andererseits weiß ich natürlich, dass Bram sein Geld nicht verdient, indem er den ganzen Tag Holz hackt oder andere körperliche Arbeiten verrichtet, auch wenn er so aussieht.

»Hey«, sagt er barsch und hält immer noch meinen Finger fest. »Ich weiß, dass wir uns überhaupt nicht kennen, und als wir uns neulich … äh … unterhalten haben, hatte ich ordentlich einen drin. Wie wär’s, wenn wir einfach noch mal von vorn anfangen? Ich bin Bram McGregor.«

Er dreht meine Hand um, sodass sie in der richtigen Position ist, um sie zu schütteln. Ich weiß nicht, ob es bei mir ebenso ungezwungen klingt wie bei ihm, jedenfalls höre ich mich sagen: »Okay. Ich bin Nicola. Nicola Price.«

»Freut mich, dich kennenzulernen, Nicola Price. Kann ich dich mitnehmen?«

Ich nicke. »Gern.« Ich weiß, dass meine Stimme angespannt klingt, aber es ist immerhin ein Anfang. Das Problem mit meinem Stolz ist allerdings, dass er mir keine Ruhe lässt, wenn er erst mal verletzt wurde.

Glücklicherweise ist Bram auf der Fahrt zu Lindens Wohnung in Nob Hill sehr umgänglich. Die meiste Zeit unterhält er sich mit Ava, die er im Rückspiegel sehen kann; er fragt sie alles Mögliche und behandelt sie wie eine Erwachsene. Ich weiß, dass Ava das toll findet, und wir sind noch nicht ganz bei Steph und Linden angekommen, da lauscht sie ihm schon fasziniert und mit großen Kulleraugen. Das ist nicht gut. Kann sie nicht wie ihre Mom sein und Männern misstrauen, die allzu strahlend lächeln und furchtbar nette Sachen sagen?

Obwohl Bram eher dazu neigt, immer das Falsche zu sagen.

»Also, Nicola«, setzt er an, während wir uns durch den Verkehr schlängeln. »Wie du weißt, weiß ich nicht viel über dich. Linden sagt, du bist in der Modebranche, so wie Stephanie.«

Das war ich mal, denke ich verbittert, bringe aber ein »Mmmh« heraus.

»Und, was für einen Job hast du?«

»Was hast du denn für einen Job?«, pariere ich. Außerdem bin ich neugierig. Früher hat Linden ihn immer den Playboy genannt (oder eher den »verdammten Weiberheld«, ich glaube, das waren seine Worte), der selten etwas anderes tat, als in New York City wilde Partys zu feiern. Vor einem Jahr ist er nach San Francisco gezogen, soweit ich weiß, um in Lindens Nähe zu sein, der damals einen schrecklichen Unfall mit dem Hubschrauber hatte, aber ich weiß nicht, was er wirklich tut, außer zu lächeln und den Leuten seine perfekten Zähne zu zeigen.

»Ich bin Hausmeister«, sagt er, und als er meinen ungläubigen Blick sieht, fährt er fort: »Ja, wirklich. Na ja, genauer gesagt, gehört mir eine Apartmentanlage in SoMa. Folsom Street Ecke Twelfth Street, neben einem Thai-Restaurant.«

Er sieht mich an wie die meisten Neulinge in San Francisco, nämlich so, als müssten wir jedes thailändische Restaurant in der Stadt und jeden Mann namens Dan kennen.