The Sacred Heart - Ryvie Fux - E-Book

The Sacred Heart E-Book

Ryvie Fux

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Beschreibung

Ein reines Herz. Ein alter Fluch. Ein langer Kampf. Die Jagd beginnt und Prinz Lyndon hat nur ein Ziel: Einen der seltenen, weißen Hirsche fangen. Nur mit dessen Herz kann der Bann, der auf seiner kleinen Schwester lastet, gebrochen werden. Das sagen zumindest die Legenden. Lyndon ahnt nicht, dass er drauf und dran ist, bei der Jagd auf das Herz sein eigenes aufs Spiel zu setzen. Denn mit dem Tod des weißen Hirsches ist auch sein eigenes Schicksal besiegelt. Tauche ein in das Märchen vom Königssohn und der Waldprinzessin.

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WREADERS E-BOOK

Band 228

Dieser Titel ist auch als Taschenbuch erschienen

Vollständige E-Book Ausgabe

Copyright © 2023 by Wreaders Verlag, Sassenberg

Verlagsleitung: Lena Weinert

Umschlaggestaltung: Jaqueline Kropmanns

Illustrationen: @Lilsugarcatdraws

Lektorat: Sarah Maier, Zeilenwunder Lektorat

Satz: Ryvie Fux

www.wreaders.de

Für alle die denken, dass sie einsam kämpfen.

Ihr seid niemals allein.

Playlist

Chokehold - Sleep Token

Call My Name - Lukas Graham

King for a Day - Pierce the Veil

Ashes - The longest Johns

Follow Me - In Flames

„When we were made

It was no accident

We were tangled up like branches in a flood

I come as a blade

A sacred guardian

So you keep me sharp and test my worth in blood“

Chokehold - Sleep Token

»Nicht die Schatten, sondern die Dunkelheit ist es, vor der man sich

fürchten sollte.«

Vorwort, Chroniken von Wallivien

Prolog

Vor einhundert Jahren

Der weiße Hirsch, mit dem silbrig glänzendem Geweih, wandte sich an Dessandra. »Von diesem Tage an wirst du dein Dasein in Verbannung fristen«, sagte er mit ruhiger, aber bestimmter Stimme. »Willst du etwas zu deiner Verteidigung sagen?«

Ein Murmeln ging durch die Menge der versammelten Hüter und alle Blicke richteten sich auf die Hirschkuh, die etwas abseits der Gruppe stand.

Sie schnaubte. »Was wird mir denn vorgeworfen, Ältester?«

Der weiße Hirsch hielt einen Moment inne. Ein kalter Wind heulte durch die Bäume des Sacred Forest und schob derweil die dunklen Wolken über den am Himmel prangenden Mond.

»Verrat«, spuckte er aus und erneut hoben sich die Stimmen der anderen. »Dessandra Malefinka, du wirst beschuldigt, das Geheimnis unseres Blutes an die Menschen weitergegeben zu haben. Mit voller Absicht und bei klarem Verstand. Du hast deine Art verraten und uns in größte Gefahr gebracht. Der Rat hat gesprochen. Deine Strafe ist die lebenslange Verbannung und der Enzug deiner Fähigkeiten.« Der Älteste ging ein paar Schritte auf die Hirschkuh zu. Die anderen machten den Weg frei und blickten dem weißen Hirsch ehrfürchtig nach.

Dessandra rührte sie nicht von der Stelle. »Ihr habt euch das selbst zuzuschreiben«, murmelte die Hirschkuh kaum hörbar.

»Deine Lügen kannst du jemand anderem erzählen«, entgegnete er barsch und richtete sein Geweih gen Himmel. Die anderen weißen Hirsche taten es ihm gleich und gemeinsam warteten sie auf den Moment, in dem die Wolken das Licht des Mondes preisgeben würden.

Dessandra stand wie angewurzelt da. Sie verzog das Gesicht zu einem gequälten Grinsen, doch der weiße Hirsch, der eben noch gesprochen hatte, ließ sich davon nicht ablenken.

Der Moment zog sich zäh wie Gummi in die Länge. Es wirkte beinahe so, als würde die Zeit einen Moment stehenbleiben.

Ein kurzer Aufschrei zerriss die Stille des Waldes und scheuchte einige Vögel auf, als das Mondlicht seine Schatten auf die Lichtung warf.

Es war Dessandra, die schmerzerfüllt auf den Boden sank. Ihr weißes Fell flimmerte und verschwamm immer weiter, bis die Umrisse der Hirschkuh kaum mehr erkenntlich waren. Ein grelles Licht umfing ihre Gestalt und gab einen Moment später die Sicht auf eine alte Frau frei.

Der Älteste senkte seinen Blick. »Und nun geh. Du bist im Sacred Forest nicht länger willkommen.«

»Der weiße Hirsch ist Anfang und Ende,

Himmel und Erde,

Leben und Tod.«

Kapitel 1, Chroniken von Wallivien

Liz

Jetzt

Sie hatten uns gejagt.

Es waren unser Blut, unser Fell und unser Leben, auf das es die Menschen abgesehen hatten. Vielen Dank noch mal an Dessandra an dieser Stelle. Beim Gedanken an den Namen schnürrte sich alles in mir zusammen.

Viele Jahrhunderte lang hatten wir um unsere Zukunft bangen müssen. Bis zu jenem Tag, an dem unsere Art schlussendlich als ausgestorben galt.

Es war wie ein Befreiungsschlag und gleichzeitig eine schwere Bürde, als die Tiere des Waldes zu mir kamen, um mir zu sagen, dass die Menschen aufgehört hatten, Jagd auf mich zu machen.

In den letzten Jahrhunderten hatte ich viele meiner Freunde und auch meine Familie auf dem Weg der menschlichen Gier verloren, und doch hoffte ich noch immer, dass die Hirsche sich wieder erholen würde.

Wenn es überhaupt noch andere wie mich gab.

Scharf sog ich Luft durch meine Nüstern ein. Wie sollte der Sacred Forest sonst überleben? Würde er ohne die weißen Hirsche überhaupt existieren können?

Die Antwort darauf war einfach. Ein Blick in die Teile des Waldes, in denen ich nicht lebte, zeigte das verheerende Ausmaß deutlich: Kahle Bäume, vertrocknete Pflanzen, als hätte es seit Monaten nicht geregnet. Und ein undefinierbarer, dunkler und dichter Nebel überzog den Boden.

Traurig senkte ich meinen Blick. Es war reines Glück, dass sie mich noch nicht gefunden hatten. Reines Glück, dass sie die Suche nach noch mehr weißen Hirschen endlich aufgegeben hatten.

Ich betete zur Mondgöttin, dass ich nicht die Letzte meiner Art war, doch die verdorbene Umgebung führte mir nur zu deutlich vor Augen, dass ich mich vermutlich an den Gedanken gewöhnen musste.

***

Das Mondlicht flackerte sanft in den Baumkronen der Waldlichtung, auf der ich gerade graste. Im Gebüsch, nicht weit von mir, raschelte es. Augenblicklich schärften sich meine Instinkte. Ich hob ruckartig den Kopf und bewegte meine Ohren, damit ich das Geräusch besser vernehmen konnte.

Der Wind wehte in die entgegengesetzte Richtung, sodass ich den Geruch eines potenziellen Angreifers nicht wahrnehmen konnte. Ich sah, wie sich die Blätter immer heftiger bewegten und spannte sofort meine Muskeln an. Nur um sie im nächsten Moment wieder erleichtert zu lockern.

Ein rostbraunes Eichhörnchen schälte sich geräuschvoll aus dem Gestrüpp und hüpfte mir entgegen.

»Fina!«, rief ich und atmete auf. »Du hast mich beinahe zu Tode erschreckt!«

Das Eichhörnchen blieb abrupt stehen, stellte sich auf seine Hinterpfoten und blickte mich entschuldigend an. »Liz, da bist du ja! Es tut mir so leid, ich war so in meinen Gedanken vertieft, ich hätte mich zuvor bemerkbar machen müssen. Aber du wirst nicht glauben, was geschehen ist! Es ist furchtbar. Da denkt man, man wäre nach so vielen Jahren endlich in Sicherheit, und dann ... Ist das zu fassen?«, piepste Fina aufgeregt.

Ich senkte meinen Kopf, um mit ihr auf einer Augenhöhe zu sein und versuchte zu verstehen, was meine Freundin da eben gesagt hatte. »Beruhige dich erst mal. Jetzt noch mal langsam, was ist denn passiert?«, entgegnete ich bedächtig.

»Ich hab‘ es von Elma gehört und die hat es von ihrer Schwester gehört, welche es wiederum von ihrem Schwager gehört hat –«

»Fina!«, ermahnte ich sie ungeduldig.

»Sie jagen wieder!«, rief meine Freundin endlich.

Ich erstarrte. »Wie meinst du das?«, fragte ich ungläubig.

Fina machte einen Satz nach vorn und kam direkt vor meiner Nase im niedrigen Gras der Lichtung zum Stehen. Das Eichhörnchen nahm seine Pfoten und patschte mir damit hysterisch auf die Schnauze. »Welchen Teil von ›Sie jagen wieder‹ hast du nicht verstanden?«, fragte sie und sah mich aus ihren großen, runden Augen an.

Ich zuckte zurück und schüttelte meinen Kopf. »Bist du dir ... sicher? Das ist doch bestimmt wieder eines dieser Gerüchte, das im Wald seine Runde macht«, versuchte ich abzuwiegeln, doch mein verräterisches Herz begann bereits zu rasen.

Fina blieb hartnäckig. »Nein, nein! Der Schwager von Elmas Schwester ist sich GANZ sicher! Du musst hier schleunigst verschwinden. Am besten machst du dich sofort auf den Weg in Richtung der Berge!«, piepste Fina nervös.

Mit zusammengebissenen Zähnen überlegte ich. Ich wollte meiner Freundin glauben, doch es wäre nicht das erste Mal, dass ihre Familie Unwahrheiten im Wald herumerzählte.

Unsicher trat ich von einem Huf auf den anderen. In den letzten zehn Jahren war der Wald des Sacred Forest mein Zuhause geworden, hier fühlte ich mich sicher.

»Was ist denn das hier schon wieder für ein Geschrei?«, murmelte ein Fuchs, der sich aus dem Schatten der Bäume schälte. Sein rotbraunes Fell glänzte im Licht des Mondes, während seine dunkelbraunen Augen Finas angestrengt fixierten.

»Neo, dich habe ich ja schon ewig nicht mehr gesehen«, sagte ich erleichtert, als ich bemerkte, dass der neue Gesprächspartner keine Bedrohung für uns sein würde.

»Ich bin eben viel beschäftigt«, verkündete der Fuchs und leckte sich die Pfoten. Dann sah er wieder Fina an. »Allerdings fällt es mir wesentlich schwerer, mich zu konzentrieren, wenn ein gewisses Eichhörnchen den gesamten Wald zusammen plärrt.«

Fina ging einen Schritt zurück und schaute Hilfe suchend zu Liz hinauf. »Ach, Neo, du alter Griesgram, beruhige dich. Sag mir lieber, ob du auch von der neu entfachten Jagd erfahren hast, die der König ausgerufen hat.«

Die Ohren des Fuchses zuckten. »Haben sie es jetzt wirklich durchgezogen?«, fragte er ungläubig.

»Du hast bereits davon gehört?«, hakte ich neugierig nach.

Neo nickte. »Aber ich hätte nicht geglaubt, dass sie das wirklich umsetzen würden. Schließlich ist die letzte Jagd auf die weißen Hirsche schon Jahrhunderte her. Aber scheinbar finden sie kein Gegenmittel mehr.« Er wurde nachdenklich.

»Gegenmittel?«, piepste Fina. »Für was?«

»Für wen«, verbesserte Neo sie sogleich. »Für die Königstochter. Ich konnte ein Gespräch zweier Falken belauschen. Es scheint, als sei die Tochter von König Veil schwer erkrankt. Manche sprechen sogar von einem Fluch. Und so wie es aussieht, klammern sie sich jetzt an die alte Legende.« Der Fuchs spuckte angewidert auf den Boden.

Ich hob meinen Kopf und blickte zum Mond hinauf. Er war bereits an den Baumkronen entlanggewandert. Der Morgen würde bald anbrechen. Und das bedeutete für mich, dass ich wieder meine Gestalt ändern würde.

»Liz, du musst gehen. Glaubst du mir jetzt endlich?«, drängelte das Eichhörnchen.

»Ich sage es ja nur ungern, aber Fina hat recht«, bestätigte Neo, dessen buschiger Schwanz unruhig hin und her wedelte.

Ich seufzte. »Ja, ich weiß. Nur irgendwie fühl‘ ich mich schlecht bei dem Gedanken, die Tochter des Königs einfach so sterben zu lassen. Sollte es wirklich ein Fluch sein, ist mein Blut das Einzige, das sie retten könnte.«

Fina huschte näher zu mir hin und drückte sich fest an meine Hufe. »Du weißt, was der alte Uhu erzählt, die Menschen werden es nicht bei deinem Blut belassen. Sie werden dich töten«, sagte das Eichhörnchen mit zitternder Stimme. Vorsichtig löste sie sich von meinem Bein und blickte mich aus ihren kleinen runden Augen ängstlich an. »Sie haben es nicht verdient, gerettet zu werden.« Finas Brust hob und senkte sich flatterhaft. Ihr ganzer Körper bebte vor Anspannung.

och ich ließ mich davon nicht beirren. Langsam senkte ich meinen Kopf und drückte ihn sanft gegen ihre Wange. »JEDER hat es verdient, gerettet zu werden, Fina. Selbst der niederträchtigste Mensch. Wir haben nicht das Recht, über ein Leben zu urteilen.« Ich wandte mich von ihr ab und blickte in die Richtung, in die man gehen musste, um das Schloss zu erreichen. »Ich könnte in meiner menschlichen Gestalt hingehen und mich als eine Heilerin ausgeben, ich bin mir sicher, dass sie mich nicht fortschicken werden«, überlegte ich laut.

»Ich halte das ebenfalls für keine gute Idee«, warf Neo ein. Er schlich um Fina und mich herum, als würde er seine Beute einkreisen. »Was ist, wenn du nicht rechtzeitig wieder im Wald sein kannst? Du würdest ihnen die letzte weiße Hirschkuh einfach auf einem Silbertablett servieren«, sagte er und schüttelte dabei seinen Kopf.

Ein kühler Wind wehte in diesem Moment durch die Baumwipfel, streifte mein Gesicht und löste einige Blätter von ihren Ästen. Sie erinnerten mich daran, wie vergänglich doch alles auf dieser Welt war. Alles, außer mir.

Ich schüttelte den Kopf. »Das werde ich nicht, denn ich schaffe es rechtzeitig zur Verwandlung wieder zurück«, entgegnete ich überzeugt. »Ich kann Lira nicht sterben lassen.«

»Ich verstehe dich wirklich nicht, Liz! Ich verstehe nicht, wie dir das Leben dieses Menschen so ein Risiko wert sein kann«, sagte Fina schluchzend.

Neo blieb plötzlich stehen und legte seinen Kopf schief. »Ihr habt eine gemeinsame Vergangenheit, stimmts?«, fragte Neo und hob eine Augenbraue.

Ich nickte.

»WAS?«, rief das Eichhörnchen erschrocken und hielt sich dabei entrüstet seinen buschigen Schwanz vors Gesicht.

»Damals, als sie noch ein Kind war, habe ich mit ihr häufig am Waldrand gespielt – natürlich in meiner menschlichen Gestalt.« Mein Blick wurde wehmütig, als ich an die damalige Zeit zurückdachte. Eine Zeit, in der die Prinzessin beinahe so etwas wie eine Tochter für mich gewesen war. Ich fröstelte. »Lira hat ihre Mutter bei ihrer Geburt verloren und ich kannte euch damals noch nicht. Wir haben uns gebraucht. Gesucht und gefunden. Ich habe ihr versprochen, dass ich niemals zulassen würde, dass ihr etwas passieren wird.«

»Das ist ein dämliches Versprechen«, stellte der Fuchs trocken fest. »Niemand kann so etwas einhalten.«

»Ich muss es zumindest versuchen«, entgegnete ich noch immer überzeugt. Das schlechte Gewissen nagte an mir. Ich hätte regelmäßiger nach ihr sehen müssen.

Fina schien zu überlegen. Das tat sie immer, wenn sie auf ihrem Schwanz herumkaute. »Wieso wussten wir bisher nichts von ihr? Wieso lebst du jetzt nicht mehr in ihrer unmittelbaren Nähe?«

Ein wehmütiges Schmunzeln überzog meine Mundwinkel. »Irgendwann ist es Zeit, seine Schützlinge gehen zu lassen. Damit sie ihre eigenen Erfahrungen machen können, weißt du? Natürlich habe ich hin und wieder nach ihr geschaut, nur um sicherzugehen, dass bei ihr alles in Ordnung ist. Als ich sie vor einiger Zeit besucht habe, war sie ziemlich in die königlichen Pflichten eingespannt gewesen. Das hatte mich auch dazu veranlasst, ihr mehr Raum zu lassen.« Ich überlegte einen kurzen Moment. War das vielleicht ein Fehler gewesen? »Sie kann noch nicht allzu lange krank sein, ich habe sie erst letzte Woche beobachtet, als sie außerhalb der Mauern mit ihren Kammerzofen stickte.«

Keiner meiner beiden Freunde sagte etwas und ich blickte sie verständnisvoll an. »Ich weiß, das mag für euch nicht wirklich logisch klingen, aber ich muss diesem Mädchen helfen.«

»Nein!«, rief Fina noch immer völlig außer sich.

Ich seufzte. »Siehst du, das ist mitunter einer der Gründe, warum ich diese Freundschaft vor euch geheim gehalten habe.«

Neos Ohr zuckte nervös. »Du hast recht, ich verstehe es wirklich nicht. Aber wenn es dir so wichtig ist, dann werde ich dich zumindest bis zum Waldrand begleiten und dort auf dich warten.«

Dankbar verbeugte ich mich, als Zeichen der Wertschätzung, leicht vor meinem Freund.

Fina zeigte mir derweil ihren Rücken und spielte die beleidigte Leberwurst. Zum Glück wusste ich damit umzugehen.

»Schade, dann muss ich wohl mit Neo allein zum Schloss. Und ich hatte mich so darauf gefreut, meine Freundin Fina mit zum Waldrand zu nehmen ...« Ich drehte mich theatralisch um und lief langsam los. Neo folgte mir und atmete dabei so schwer aus, dass ich beinahe hören konnte, wie er mit den Augen rollte.

»Drei, zwei, e–«, zählte Neo wenig begeistert, wurde jedoch sogleich von Fina unterbrochen.

»Wartet! Ich komme mit!«, rief sie und eilte hinterher.

Ich grinste in mich hinein, blickte kurz zurück und konnte sehen, wie mein fuchsiger Freund den Kopf schüttelte.

»Du bist so durchschaubar, Fina«, sagte er.

Das Eichhörnchen streckte ihm die Zunge Heraus, machte ein paar lange Sprünge und war mit wenigen Sätzen auf meinen Rücken geklettert. Zufrieden bahnte sich Fina ihren Weg auf meinen Kopf, ließ sich dort geräuschvoll zwischen meine Ohren plumpsen und hielt sich dann an ihnen fest.

»Ich hab‘ doch nur Angst um dich«, flüsterte meine Freundin so leise, dass Neo es nicht hören konnte.

»Ich weiß«, sagte ich etwas lauter. »Angst zu haben, ist auch wichtig. Ohne Furcht wären wir in einer Welt wie dieser völlig verloren.«

Und damit verschwanden wir im dichten Buschwerk des Sacred Forest, der seit so vielen Jahrhunderten mein Zuhause war.

»Es grenzt nur an die Berge, die steilen Klippen und die dunklen Wälder. Alles, was darin liegt, ist unser Reich.«

Kapitel 2, Chroniken von Wallivien

Lyndon

Ich löste den ledernen Gürtel um meine Hüfte und legte ihn zusammen mit dem Schwert seufzend auf den Holztisch in der großen Halle. Müde fuhr ich mir durch die dunklen Haare, dann wandte ich mich wieder an meinen Vater.

Der König von Wallivien lief vor seinem edel bestickten Thron unruhig auf und ab. Seinen dicken roten Umhang zierte das Wappen unseres Hauses – einem weißen Hirsch. Ich kannte die alten Legenden, die sich um diese wertvollen Tiere rankten, doch selbst hatte ich noch nie eines gesehen. Um ehrlich zu sein, hatte noch nicht einmal mein Vater, oder irgendjemand anderes, von dem ich wusste, jemals einen weißen Hirsch zu Gesicht bekommen. Das war auch der Grund gewesen, weshalb seit Jahrzehnten keine Jagd mehr auf sie gemacht wurde. Sie galten als ausgestorben.

Doch vom heutigen Tag an hatte sich dies geändert. Mein Vater, König Veil der II. von Wallivien, hatte die Jagd auf die weißen Hirsche wieder eröffnet. Und auch wenn ich nicht allzu überzeugt davon war, dass wir fündig werden würden, so musste ich diese Möglichkeit doch wahrnehmen. Ich musste den weißen Hirsch finden. Er war unsere letzte Chance.

Liras letzte Chance.

»Habt ihr auch wirklich überall gesucht?«, fragte der König angestrengt.

Ich legte beide Hände auf den Tisch und starrte wie hypnotisiert auf die Muster des Holzes. »Ja, Vater. Ich selbst habe jeden einzelnen Trupp angeführt. Wir sind jeden Tag und jede Nacht in der letzten Woche in dem Wald gewesen, den eure Hexe uns genannt hat.« Das Wort Hexe spuckte ich dabei missbilligend aus. Ich konnte nicht sagen wieso, aber ich hatte kein gutes Gefühl bei der neuen, sogenannten Beraterin meines Vaters. Viel zu oft schlich sie in letzter Zeit durch die Gänge des Schlosses und murmelte seltsam klingende Worte vor sich hin. Doch König Veil legte all seine Hoffnung in ihre langen, dünnen Hände. Bei dem Gedanken lief es mir kalt den Rücken hinunter.

»Sie heißt Dessandra Malefinka, mein Sohn. Und du weißt, dass ich diese Bezeichnung nicht mehr hören will! Benimmt sich so etwa ein Thronfolger?« Mein Vater hob mahnend den Zeigefinger.

Innerlich rollte ich mit den Augen, doch nach außen hin blieb ich gehorsam. »Verzeih, Vater«, sagte ich und atmete angestrengt aus.

»Wo wir gerade beim Thema sind«, begann der König und rückte sich den langen, samtigen Umhang zurecht. »Es wird Zeit, dass du eine Frau findest, Lyndon.«

»Was? Jetzt?«, platzte es aus mir heraus und beinahe hätte ich mich an meiner eigenen Spucke verschluckt.

Mein Vater nickte und wedelte mit der Hand einen der Diener zu sich. »Natürlich jetzt. Gerade jetzt! Was glaubst du, was passiert, wenn mich der Fluch deiner Schwester ebenfalls ereilt? Du musst deinem Volk gegenüber mal ein verlässlicher König sein. Und nichts ist instabiler als ein Prinz, der mit zwanzig Jahren noch immer keine Frau gefunden hat.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Es wird Zeit. Ich hätte es schon längst veranlassen sollen, doch Liras Krankheit lähmt mich.« Schließlich wandte er sich an den Diener. »Bereitet alles vor. Verschickt die Einladungen. Teilt jedem anderen Königreich mit, dass der Prinz eine Gemahlin sucht.«

Der Diener verbeugte sich tief. »Wenn ich etwas sagen dürfte, mit Verlaub, Eure Majestät.«

Mein Vater blickte ihn überrascht an, nickte dann jedoch.

»Ich wollte Seine Majestät nur daran erinnern, dass das Königreich Wallivien weit von anderen Königreichen entfernt steht. Wir haben schon seit Jahrzehnten keinen Kontakt mehr zur Außenwelt. Niemand will durch den dunklen Nebel der Wälder gehen.« Der Diener wagte nicht, seinen Kopf zu heben.

Ich konnte genau sehen, wie seine Beine zitterten. Er hatte Angst. Angst vor meinem Vater.

Ein Schauder lief mir über den Rücken. So ein König würde ich niemals sein wollen, doch ich fragte mich immer wieder, ob ich überhaupt eine Wahl haben würde.

Einen Moment lang herrschte unangenehme Stille, dann jedoch ergriff mein Vater wieder das Wort. »Na und? Dann werden wir eben jetzt Kontakt zu ihnen aufnehmen. Schickt die Reiter los, oder ist das ein Problem?«, fragte er mit einer Schärfe in der Stimme, die selbst mich zusammenzucken ließ.

»N-natürlich nicht!«, erwiderte der Diener sogleich.

»Dann hinfort mit euch!« König Veil wedelte erneut mit seiner Hand und der arme Bedienstete eilte sogleich davon.

»Vater, ich – «

»Und du, mein Sohn«, unterbrach mich mein Vater barsch, »du wirst dich auf einen Ball vorbereiten.« Mit diesen Worten erklomm er erneut seinen Thron.

»Vater, bei allem Respekt, aber wie soll ich mich auf einen Ball vorbereiten, wenn meine Schwester im Sterben liegt?«

Der König hämmerte mit seiner Faust auf die in Gold gefasste Lehne und das Klirren seiner teuren Armreifen hallte im großen Saal wider. »Ich dulde keine Widerworte!«, rief er laut. Ein leichtes Zittern schwang in seiner Stimme mit.

Ich biss mir auf die Lippe, verbeugte mich tief, meine Hand machte ich dabei zur Faust und klopfte mit ihr als Zeichen der Unterwerfung auf meine Brust. Dann nahm ich mein Schwert und meinen Gürtel vom Tisch und lief aus dem Thronsaal.

Jeder meiner Schritte fühlte sich unsagbar schwer an, als ich meinen Vater und die beinahe leere Halle verließ. Ich wollte meine Schwester besuchen Mein Vater würde mich nicht mehr von seiner Seite weichen lassen, sobald der Ball begonnen hätte. Außer natürlich für den Fall, dass ich zum Tanzen aufgefordert werden würde.

Ich fuhr mir über das müde Gesicht, während ich den langen Gang entlanglief. An dieser Stelle des Schlosses waren keine Fenster ins Mauerwerk gefasst, nur Fackeln erleuchteten den Weg. Ein Seufzen entglitt meinem Mund. Schon allein der Gedanke an das Fest war mir ein Dorn im Auge. Lira war krank und dort draußen, irgendwo im Wald, wartete vielleicht ein Mittel, das ihr helfen konnte. Wie um alles in der Welt sollte ich mich da auf einen Ball konzentrieren?

»So ein Scheiß!«, fluchte ich und schlug mit der Faust gegen die steinerne Mauer. Sogleich wurde ich mit einem brennenden Schmerz dafür bestraft. »Scheiße!«, wiederholte ich, zog die Hand reflexartig zurück und krümmte mich. Wie konnte mein Vater nur meine Hochzeit über die Gesundheit meiner Schwester stellen?

Das Klappern von Rüstungen ließ mich zusammenzucken und ich versteckte meine verletzte Hand unter meinem grünen, edel bestickten Umhang.

Zwei Wachposten kamen um die Ecke und blickten mich besorgt an. »Eure Hoheit, ist alles in Ordnung? Wir haben einen Schrei gehört«, sagte eine der Wachen, nachdem sie sich knapp verbeugt hatten.

»Alles bestens«, wiegelte ich ab und machte eine abweisende Bewegung mit meiner noch gesunden Hand. Beide sahen sich einen Augenblick an, doch dann nickten sie und liefen an mir vorbei. Sobald sie außer Hörweite waren, nahm ich meine mittlerweile blutende und aufgeschürfte Hand nach vorn und biss die Zähne zusammen. Das musste ein Heiler sehen, eine Blutvergiftung oder ein gebrochener Knochen wäre wirklich das Letzte, das ich jetzt noch gebrauchen konnte. Und wo war eigentlich mein sonst so treuer Falke plötzlich hin verschwunden? Normalerweise kam er nach seinem morgendlichen Jagdausflug immer wieder zu mir zurück.

Mit einem unguten Gefühl im Bauch machte ich mich auf den Weg zu unserem Heiler, dem ich etwas von einer missglückten Jagd und einem Zusammentreffen mit einem Eber erzählte. Ich hatte nicht das Gefühl, dass er mir das glaubte, aber er behandelte mich und das war im Moment das Wichtigste.

Froh darüber, dass meine Hand nicht gebrochen war, lief ich endlich zu dem Gemach meiner Schwester. Ich klopfte, obwohl ich wusste, dass Lira schon seit Tagen nicht mehr wach war.

Die Wachen, die vor ihrem Zimmer aufgestellt waren, ließen mich zum Glück einfach passieren. Der Befehl meines Vaters, mich bis nach dem Ball von Liras Kammer fernzuhalten, war bei ihnen wohl noch nicht angekommen.

Die eisernen Scharniere der Holztür knarzten etwas und als ich den ersten Schritt in den Raum machte, wehte mir sofort ein eisiger und gleichzeitig modriger Wind entgegen.

»Was soll denn das?«, zischte ich und eilte sofort zum Fenster, das sperrangelweit geöffnet war. Es war wirklich kalt, was äußerst untypisch für Spätsommer war.

Besorgt lief ich zu ihrem Bett und setzte mich an die Kante.

Lira lag in einem großen Himmelbett mit dicken, schweren roten Vorhängen, die mit goldenen Stickereien verziert waren. Auch unser königliches Wappentier, der Hirsch, war darauf zu sehen. Ich schluckte, als ich auf ihr fahles Gesicht blickte, das einst mit hübschen orangebraunen Sommersprossen geschmückt gewesen war. Jetzt sah alles grau und kränklich aus. Sanft strich ich mit meiner Hand über ihr rotbraun gewelltes Haar. Ein Bediensteter musste sie gestern noch gewaschen haben, denn sie dufteten nach Liras Lieblingsseife– Pfirsichblüten.

Einen Moment lang schloss ich die Augen und hörte auf die mir so gut bekannten Geräusche des Schlosses. Menschen, die vor dem Gemach der Prinzessin auf- und abliefen, auch einige dumpfe Stimmen konnte ich von draußen vernehmen.

»Ich komme bald wieder zurück«, flüsterte ich und drückte die Decke noch einmal fester an ihren Körper. »Ich werde ein Heilmittel finden, das hab‘ ich dir versprochen.«

Mit diesen Worten erhob ich mich und lief zielstrebig zur Tür. Ich warf einen letzten Blick auf meine schlafende Schwester, dann ging ich nach draußen.

»Schickt einen Diener zu Prinzessin Liras Gemach, das Feuer ist ausgegangen. Und sagt den Kammerzofen, dass sie gefälligst darauf achten sollen, dass die Fenster nicht zu lange offen stehen bleiben«, befahl ich den Wachen.

»Jawohl, Eure Hoheit!«, riefen beide Männer wie aus einem Munde und standen stramm.

Ich nickte und wollte mich gerade zum Stall begeben, um noch einmal in den Wald zu reiten, da räusperte sich jemand hinter mir.

Ich zuckte erschrocken zusammen, denn ich hatte niemanden kommen gehört.

»Verzeiht, Prinz Lyndon, ich wollte Euch nicht erschrecken. Der König wünscht, dass Ihr dem Tanzunterricht beiwohnt«, sagte der Hofmeister und deutete eine Verbeugung an.

Ich fuhr mir mit der gesunden Hand erschöpft über das Gesicht und seufzte. »Kann das nicht warten, George?«

Der Hofmeister schüttelte den Kopf. Er hatte seine Hände vor der Brust verschränkt, sodass man nur noch die langen Ärmel seines bordeauxfarbenen Mantels sehen konnte, auf dem ebenfalls das Wappen des weißen Hirsches gestickt war.

In Gedanken fluchte ich und überlegte fieberhaft, welche Ausrede ich mir einfallen lassen könnte.

»Außerdem habe ich vom Heiler gehört, dass Ihr Euch verletzt habt. Wenn ihr gestattet?« George löste seine Hände aus deren Verschränkung und hielt mir seine Handflächen hin.

Dieser vermaledeite Heiler, ich hatte doch extra um Diskretion gebeten. Konnte man denn als Prinz nicht erwarten, dass seine Untertanen gehorchen? Scheinbar nicht.

George bedeutete mit seinen Fingern, dass ich ihm endlich meine Hand zeigen sollte. Dann zog der Hofmeister seine Augenbrauen nach oben. »Prinz Lyndon, es ist nur zu Eurem Besten!«

Ich seufzte und holte meine Hand aus dem Schutz des Umhangs hervor. Der sorgfältig um meine Knöchel gewickelte Verband war noch immer weiß, was mich ungemein beruhigte. Die Blutung schien also wirklich nicht so schlimm gewesen zu sein. »Es ist fast schon wieder verheilt«, log ich George an.

»Bei einer Eberjagd?«, hakte der Hofmeister ungläubig nach. »Wann soll das denn gewesen sein? Vor oder nach dem Besuch bei Eurem Vater heute Mittag?«

Ich wusste, dass das eine Fangfrage war. George wusste ganz genau, dass ich vor dem Besuch noch keine verbundene Hand gehabt hatte und die Zeit zwischen dem Verlassen des Thronsaals und dem Aufsuchen des Heilers war verräterisch kurz.

Ich biss die Zähne zusammen. »Ist doch egal«, sagte ich und versuchte, das Thema zu wechseln. »Wie gehen die Vorbereitungen für den Ball voran? Sind die Einladungen bereits verschickt?«

Zum Glück stieg der Hofmeister auf meine Ablenkung ein. »Die Reiter sind sofort losgezogen. Wir erwarten die ersten Rückmeldungen beim Sonnenuntergang in zehn Tagen.«

»Zehn Tage? So lange wollen wir dabei zusehen, wie die Prinzessin stirbt?« Erneut schäumte Wut in mir auf. Egal, wie oft ich darüber nachdachte, es drehte und wendete, ich verstand die Entscheidung meines Vaters nicht.

»Eure Hoheit, ich bin mir sicher, dass Dessandra Malefinka sich herausragend um Eure Schwester kümmern wird«, wollte George mir versichern.

Er war gerade damit fertig geworden, meine Hand zu begutachten, da setzte er bereits erneut zu einer kurzen Predigt an. »Prinz Lyndon, was auch immer diese Verletzung an Eurer Hand ausgelöst hat, achtet darauf, dass so etwas in Zukunft nicht wieder passiert.« Er verschränkte seine Hände wieder in den Ärmeln des Mantels und ich musste mich beherrschen, seinen Monolog nicht zu unterbrechen. Ich wusste, dass mein Vater ihm den Befehl gegeben hatte. So oder so würde ich also um die Moralpredigt nicht herumkommen. »Für heute kann ich Ihnen noch einmal genehmigen, den Tanzunterricht ausfallen zu lassen. Schont Euch und, um Himmels willen, haltet Euch von jedweden Ebern fern!« Er kniff seine Augen zusammen und blickte mich tiefgründig an. »Keine Jagd in den nächsten Tagen, das ist ein Befehl Eures Vaters«, ergänzte er und ich trat von einem Bein unruhig auf das andere.

»In den nächsten Tagen?«, wiederholte ich fragend. »Das heißt, ich werde jetzt im Schloss eingesperrt?« Meine Stimme wurde rau.

Der Hofmeister seufzte. Seine Geduld mit mir schien an einem seidenen Faden zu hängen, das verrieten mir seine unzufriedenen Gesichtszüge. »Niemand will euch einsperren, eure Hoheit«, bekräftigte George. Dann kam er einen Schritt auf mich zu und näherte sich meinem Ohr. Sein grauer langer Bart kitzelte bereits meine Haut, als er »Zwingen Sie uns nicht dazu, das zu tun«, flüsterte.

Wut und Unverständnis bauten sich in mir auf, doch erneut riss ich mich zusammen.

Der Hofmeister entfernte sich wieder von mir und verbeugte sich. »Ich sehe Euch dann morgen zum Tanztraining«, und damit lief er bereits an mir vorbei und verschwand im Gang in Richtung des Thronsaals.

Ich blieb mit einem drückenden Gefühl im Magen zurück. Wieso bin ich der Prinz, wenn mir selbst der Hofmeister Befehle erteilen darf?

***

Es war mir völlig egal, ob mein Vater oder die Bediensteten herausfanden, dass ich mich an diesem Morgen in den Stall geschlichen und entgegen dem Befehl des Königs in den Wald geritten war. Ich wollte einen letzten Versuch unternehmen, den weißen Hirsch zu fangen, von dem die Hexe vor einigen Tagen gesprochen hatte. Und auch wenn ich ihren Worten zuerst keinen Glauben hatte schenken wollen, so waren sie doch die einzige Hoffnung, an die ich mich in diesem Moment klammerte. Ob sie wirklich den weißen Hirsch in ihrem magischen Wasser gesehen hatte, wagte ich allerdings noch immer zu bezweifeln.

Ich hatte Pfeil und Bogen geschultert und hielt die Zügel meines treuen Pferdes Theon mit der gesunden Hand ruhig.

Das rhythmische Klappern der Hufe auf dem Boden beruhigte mich und ich atmete erleichtert aus.

Als ich endlich das Schloss hinter mir ließ, war es, als würde ich auch einen Teil meiner Sorgen zurückgelassen. Ich würde diesen Hirsch finden und dieser Hexe bringen, koste es, was es wolle.

»Niemand hat zuvor einen weißen Hirsch gesehen. Niemand kann bezeugen, dass es diese Tiere wirklich einmal gab.

Doch um die Existenz auszuschließen, sind die Aufzeichnungen zu aussagekräftig.«

Kapitel 3, Chroniken von Wallivien

Liz

Vor dreihundert Jahren

Ich liebte den dichten grünen Wald, der sich ehrfürchtig vor dem großen Schloss emporhob. Meine Heimat. Der Ort, an dem ich mich bisher immer willkommen gefühlt hatte. Der Sacred Forest.

Die Vorahnung über das bevorstehende Ritual, welches endgültig meine wahre Gestalt offenbaren würde, lastete schwer wie ein dunkler Vorhang über mir. Auch wenn Azra und Bron mir bereits mehr als einmal versichert hatten, dass alles gut gehen würde. Der Hauch des Ungewissen quälte mich vor allem nachts in meinen Träumen.

»Da bist du ja!«, Azra drückte sich durch das hohe Gebüsch und ließ sich mit einem gekonnten Sprung neben mir am Fluss nieder. Gedankenverloren warf ich kleine Kieselsteine über die glatte Oberfläche des Wassers.

Meine weißblonden Haare hatte ich zu einem losen Zopf geflochten, das Kinn stützte ich auf mein Knie. Nicht mal jetzt, wo meine Freundin neben mir saß, wollte ich aufschauen.

»Ist es immer noch wegen der Wandlung?«, fragte Azra mich mitfühlend, während sie mir die Hand auf die Schulter legte.

Der leichte Frühlingswind trug den Duft der Veränderung durch die Kronen der Bäume. Normalerweise war diese Jahreszeit meine liebste. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen, dann zog ich scharf die frische Luft durch meine Lungen.

Mit einer geschickten Bewegung aus dem Handgelenk ließ ich einen weiteren Stein über das Wasser springen.

»Es ist nur ... Ach, ich weiß auch nicht.« Meine Worte klangen unsicher, beinahe ängstlich.

Azra zog die Augenbrauen überrascht nach oben. So eingeschüchtert kannte sie mich nicht. »Es ist völlig normal, wenn du dich deswegen nicht ganz wohlfühlst. Das war doch bei uns genauso.« Meine Freundin setzte sich auf einen Stein und starrte nachdenklich in die Ferne. »Erinnerst du dich noch an Bron und seine Wandlung?« Ein schelmisches Grinsen umspielte Azras Lippen. Auch meine Mundwinkel zuckten. »Er war drauf und dran einfach wegzulaufen.« Azra schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich habe damals so lange auf ihn eingeredet. Ganze Nächte gingen dabei drauf.« Sie klatschte mir ermutigend auf den Oberschenkel und erhob sich. »Deshalb kannst du mir ruhig glauben, wenn ich dir sage, dass du dich deutlich besser anstellst.«

Endlich hob ich meinen Kopf und blickte meiner Freundin dankbar in die grünbraunen Augen.

»Ich weiß, Az«, sagte ich mit weichem Unterton.

»Das wird großartig, Liz«, versprach Azra. »Schon bald können wir gemeinsam durch die Bäume springen.« Ihr Blick wurde sehnsüchtig. »Dann musst du endlich nicht mehr im Dorf bleiben und die Kinder hüten.«

»Ich bin gerne bei den Kleinen«, entgegnete ich überrascht.

»Sie sind unsere Zukunft«, fuhr sie in einem ernsteren Ton fort. Azra seufzte, während sie mit den Augen rollte. »Du hörst dich schon an wie Baila. Du solltest deine Jugend genießen, umherstreifen und deine Fähigkeiten trainieren.« Sie machte eine dramatische Pause, während sie mir einen glatten Stein aus den Händen riss.