The Watcher - Sie sieht dich - Ross Armstrong - E-Book
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The Watcher - Sie sieht dich E-Book

Ross Armstrong

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Beschreibung

Sie beobachtet Vögel. Sie beobachtet ihre Nachbarn. Aber da ist jemand, der auch sie beobachtet. Fesselnd und beunruhigend: "The Watcher – Sie sieht dich" von Ross Armstrong ist ein starker psychologischer Thriller mit einer mitreißenden, mysteriösen Erzählerin. Lily Gullick lebt in einem Londoner Neubauviertel. Sie beobachtet nicht nur Vögel mit dem Fernglas, sondern sie späht auch gerne in die Fenster ihrer Nachbarn. Aber der Ort, an dem sie lebt, ist gefährlich, eine Baustelle, anonym. Unter mysteriösen Umständen verschwindet eine Frau, eine andere wird ermordet. Lily hat etwas gesehen, aber auch sie wurde beobachtet. Je näher sie der Wahrheit kommt, desto gefährlicher wird es für sie. Was hat sie gesehen? Wem kann sie trauen? Kann Lily sich selbst trauen?

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Seitenzahl: 454

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Ähnliche


Ross Armstrong

The Watcher - Sie sieht dich

Roman

Aus dem Englischen von Christine Strüh

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungPrologTeil 1: Der BlickNoch 42 Tage.Noch 35 Tage.Noch 33 Tage.Noch 30 Tage.Teil 2: Die Nacht und der folgende TagNoch 20 Tage. Nacht. 10 Uhr.Noch 19 Tage. 11 Uhr vormittags. Im Büro.Zurück zu letzter Nacht. Noch 20 Tage (Dr. Lily Gullick). 23 Uhr.Noch 19 Tage. 14 Uhr 30.Noch 20 Tage. Nacht. 23 Uhr 45.Nacht – 0 Uhr 30.Nacht – 3 Uhr früh.Noch 19 Tage. 17 Uhr 32.Teil 3: Die Frau im Canada HouseNoch 18 Tage. 10 Uhr.Noch 16 Tage. Der Elfenbeinspecht.Teil 4: TwitchingNoch 15 Tage. 2 Uhr 02.Noch 15 Tage. 2 Uhr 32.Noch 15 Tage. Zeit: unbekannt.Noch 15 Tage. Viel zu spät.Noch 14 Tage. 19 Uhr.Teil 5: BirdingNoch 13 Tage. 8 Uhr 30.Noch 12 Tage. 16 Uhr.Noch 9 Tage.Teil 6: Das große WartenTag 1: Ergebnislos. Kurz gesagt.Tag 2: Apartment 11. Jalousie offen. Vincent.Tag 3: Apartment 4 – Alfred. Apartment 7 – Liz und Dicky.Tag 4: Ein totales Zu-Null.Tag 5: Jonnys Hände.Heute.Noch 9 Tage. Abend.Noch 8 Tage. Single, männlich, weiß.Noch 7 Tage.Noch 7 Tage. Draußen.Teil 7: In meinem BlickfeldNoch 6 Tage. Morgens.Noch 6 Tage. Nachmittag.Noch 6 Tage. Abend.Noch 5 Tage.Noch 4 Tage.Noch 2 Tage.Noch 1 Tag.Noch 1 Tag. 14 Uhr.Der Tag selbst.Teil 8: Die Frau im ViertenDer Tag selbst. Nachmittag.Der Tag selbst. Abend.Der Tag selbst. Eine Minute später.Der Tag selbst. Abend.28. September. 9 Uhr morgens.Teil 9: Die Jagd nach seltenen Artgenossen28. September. 12 Uhr mittags. Die schlimmen Kids.28. September. 12 Uhr 45. Nathan.28. September. 13 Uhr 10. Sandra.28. September. 13 Uhr 40. Thompson.28. September. 15 Uhr. Mein Retter.28. September. 15 Uhr 30.28. September. Abend. 18 Uhr 30.Teil 10: Die Hastings-Rarities-Affäre28. September. 19 Uhr 15.28. September. 20 Uhr 55.28. September. In den frühen Morgenstunden.29. September. 6 Uhr 35.29. September. 6 Uhr 45.29. September. 6 Uhr 55.29. September. 7 Uhr 35. Sonnenaufgang.Teil 11: Die Lebensliste1. DezemberDank

Für Catherine

Noch 7 Tage.

Ich schaue in ihre Richtung. Zu der Frau, die etwa fünfzig Meter von mir entfernt, im Gebäude gegenüber, hinter der Glasscheibe steht. Sie blickt hinaus zum See. Den Mann habe ich in diesem Haus schon gesehen, sie aber noch nie. Ich beobachte ihn, schon eine Weile. Die Frau hat ungefähr meine Größe, meinen Körperbau. Sie könnte mein Spiegelbild sein. Nein, das stimmt nicht, sie ist ein bisschen dunkler, ein anderer Typ. Irgendwie europäisch. Sie wirkt nachdenklich, ihre Hand liegt locker auf dem Türrahmen. Nein, sie ist besorgt, sie kaut auf der Unterlippe. Sie trägt Lippenstift. Einen fransigen Pony. Ein hellblaues Sommerkleid. Ich korrigiere die Einstellung an meinem Fernglas, um sie deutlicher sehen zu können. Ihre perfekt gezupften Augenbrauen ziehen sich zusammen, sie wirkt unzufrieden. Ihr Gesicht liegt teilweise im Licht der Abendsonne, die durch ihr Fenster strömt. Aber vielleicht ist es gar nicht ihr Fenster. Jedenfalls habe ich sie definitiv noch nie gesehen. Dort drin. Mit ihm. Was mir seltsam vorkommt.

Bedächtig tritt sie einen Schritt zurück. Geschmeidig, fast katzenhaft. Jetzt verschwindet die Sonne, gibt ihr einen Abschiedskuss. Die Dunkelheit des Zimmers legt sich glättend über ihr Gesicht, hüllt sie ein wie ein Tuch. Jetzt ist es schwerer, sie dort auszumachen. Aber ich kann sie noch sehen. Sie ist ganz ruhig. Achtsam. Konzentriert. Nachdenklich. Jeder Muskel straff und energiegeladen. Voller Dynamik.

Nur ein zarter Lichtschimmer erfüllt noch den Raum. Aber nur schwach. Sanft, ganz sanft. Vielleicht der Schein einer einzelnen Lampe. Jetzt wirkt sie wie eine Femme fatale. In Schatten gehüllt. Wie aus einem Film von 1954. Erstaunlich, dass sie sich alle so rasch in Models verwandeln. Zumindest in meinen Augen. All diese Menschen hinter den Fenstern im Gebäude gegenüber. Als posierten sie für mich. Für ein Fotoshooting. Wie gut sie das machen. Wie schön. Beinahe, als wüssten sie Bescheid.

Ohne dass ich weiter darüber nachdenke, verwandelt sich meine Faust in einen Revolver. Ich hebe ihn. Ganz langsam. Bis er genau auf sie zielt. Wenn ich jetzt auf den Abzug drücken würde, würde vermutlich erst meine Fensterscheibe zerspringen, dann auch ihre, und die Kugel würde sie direkt zwischen die Augen treffen, zwei Zentimeter über der Nasenwurzel. Der Schuss würde ihren Schädel zertrümmern. Und sie würde zu Boden stürzen.

Peng. Peng.

O Gott. Jetzt blickt sie auf. Schaut direkt zu mir herüber. Und entdeckt mich. Sie hat mich erwischt. Nimmt mich ins Visier. Ihr Gesicht spannt sich an. Aber in ihrem Körper regt sich kein Muskel. In meinem auch nicht. Ich bin ganz ruhig. Aber nicht erstarrt. Sondern bereit. Im Gleichgewicht. Mit dem Ellbogen aufs Fensterbrett gestützt. In der linken Hand das Fernglas. Die rechte noch immer in Revolverhaltung ausgestreckt. Aus irgendeinem Grund bleibe ich dabei. Ohne jede Scham.

Sie atmet ein. Ihre Brust hebt sich eine Spur, sie fokussiert ihre Augen neu. Und sie zwingt mich, den Blick abzuwenden.

In einer vielsagenden Bewegung, bei der sie mich keine Sekunde aus den Augen lässt, wandern ihre Hände zu ihrem Kleid. Sie hebt es behutsam ein Stück hoch und lässt mich ihren rechten Oberschenkel sehen. Ein violetter Bluterguss. Und darüber, noch ein bisschen weiter oben, eine Brandwunde. Noch immer blickt sie mir direkt ins Gesicht. O Gott. Sie zeigt sich mir. Dann hält sie inne, schaut hinter sich, vermutlich weil sie dort etwas hört, lässt das Kleid wieder fallen. Womöglich ist sie nicht allein. Es ist so still hier.

Dann setzt hinter mir der Baulärm ein. Metall kracht auf Beton. Vielleicht waren die Geräusche schon die ganze Zeit über da, und ich habe sie nur ausgeblendet. Weil mein Fokus anderswo lag. Sie sind immer noch an den letzten paar Gebäuden zwischen hier und dem Park zugange, und während ich die Frau anstarre, geht es weiter. Das Rattern der Maschinen, das Knirschen der Abrissbirne. Hinter meinem Rücken. Mal lauter, mal leiser. Ein bleiernes Dröhnen. Eine Schallwand, die unerbittlich steigt und wieder fällt. Während ich diese Frau anstarre. Und sie mich. Kann sein, dass sie mir etwas zu sagen versucht. Oder spielt sie mir nur etwas vor? Fleht sie um ihr Leben? Will sie mit mir Kontakt aufnehmen? Mir etwas mitteilen, von Frau zu Frau? Ihre Mundwinkel heben sich zu so einer Art Lächeln.

Ich werde sie … Grace nennen.

* * *

Aus dem Nichts legt sich plötzlich eine Hand um ihren Hals und zieht sie zu sich in die Dunkelheit. Grace schlägt mit den Armen um sich, ihr Kleid bauscht sich, sie verschwindet. Erst als ich abrupt ausatme, merke ich, dass ich den Atem angehalten habe.

Im gleichen Moment klingelt mein Telefon. Ich fahre zusammen, kralle die Hände in meinen Pullover und unterdrücke einen Schrei. Das Klingeln wird lauter und lauter, als käme es näher. Als steuerte es direkt auf mich zu.

Seltsam. Dass das Telefon klingelt. Das ist noch nie vorgekommen, seit ich hier eingezogen bin. Ich hatte schon ganz vergessen, dass ich überhaupt einen Festnetzanschluss habe.

Rring, rring. Rring. Rring.

Meine Hand packt meine Jeans, irgendwo muss ich mich festhalten, während ich mich innerlich wappne. Dann drehe ich mich um und schaue zum Telefon.

Rring, rring. Rring, rring.

Das ist wirklich seltsam, verstehst du. Denn niemand hat meine Nummer. Kein Mensch.

Nicht mal du.

Etwas kracht gegen mein Fenster. Ich falle auf den Boden und drücke den Rücken an die zuverlässige weiße Wand. So bin ich außer Sichtweite. Mein Atem geht stoßweise, ich zittere und habe eine dicke Gänsehaut auf den Armen. Mein Herz schlägt, als wollte es zerspringen.

Das Fensterglas hat einen Sprung. Ich wage nicht, den Kopf zu drehen. Aber am Rand meines Sichtfelds kann ich etwas erkennen. An meine jetzt kaputte Fensterscheibe gepresst. Dreh dich nicht um, sage ich zu mir.

Aber ich sehe etwas. Aus dem Augenwinkel.

Nicht umdrehen.

Ich kann etwas sehen. Es rutscht über den Riss in der Scheibe. Langsam. Schrecklich langsam.

Ich atme durch die Nase und beiße mir fest auf die Zunge.

Dann drehe ich den Kopf. Und schaue hin.

Teil 1:Der Blick

Noch 42 Tage.

H – Haussperling (Passer domesticus): Feuchtgebiet · gute Sicht, leichter Wind, 12 °C, selten · zwei leuzistische Flecken, hellgelb, blasser Überaugenstreif · dunkle Streifen im Nacken, weiblich, ca. 16 cm · sozial, dominant

Ich dachte, ich schicke dir meine Beobachtungen einfach mal rüber, weil ich gehofft habe, du könntest etwas damit anfangen. Klar, wir haben uns in letzter Zeit nicht oft gesehen, aber ich habe nachgedacht, und ich möchte gern ein paar Dinge besprechen. Selbst wenn ich sie dir nicht ins Gesicht sagen möchte. Und auch nicht am Telefon. Oder auf Skype oder sonst einer Plattform.

Dazu bin ich nicht bereit. Ich möchte keine Szene, ich bin nicht scharf darauf, »Klartext zu reden«. Von Frau zu Mann.

Eigentlich bin ich auch davon ausgegangen, dass ich mich deutlich genug ausgedrückt und meinen Teil gesagt habe. Heißt es der Teil oder das Teil? Das weiß ich nie. Aber wie dem auch sei – ich dachte jedenfalls, ich hätte alles gesagt, was gesagt werden muss. Und ich dachte, die Sache wäre vom Tisch. Endgültig. Ich war der Meinung, zwischen mir und dir wäre alles geklärt.

Aber jetzt, wo ich noch mal darüber nachdenke, gibt es schon noch ein paar Themen, die ich ansprechen, bei denen ich womöglich sogar etwas in die Tiefe gehen möchte. Ohne dir dabei ins Gesicht sehen und mich schuldig oder gehemmt fühlen zu müssen. Ohne dass du mich unterbrichst oder mir reinredest.

Wahrscheinlich ist alles meine Schuld. Jedenfalls weiß ich, dass du das denkst. Ich weiß, du denkst, dass wir deshalb nicht mehr miteinander sprechen. Aber hör mir erst mal zu, lass mich ausreden, okay? Ich möchte ein paar Dinge sagen, und ich möchte, dass du mir zuhörst. Das ist alles. Ein offenes Ohr, ohne stechende Blicke. Ohne Wertung.

Hoffentlich klingt das nicht zu streng! Das soll es nämlich nicht. Könnte sogar Spaß machen, weißt du. Es könnte dir helfen, dich an manches besser zu erinnern. Vielleicht erfährst du ja auch was Neues, etwas, von dem du bisher keine Ahnung hattest. Ich habe auf einmal den Drang, dir davon zu erzählen. So viel ist passiert, seit ich meine Entscheidung getroffen habe.

Ich weiß, meine Art, die Dinge darzustellen, ist nicht immer richtig, aber sei doch mal ein bisschen tolerant, okay? Das ist eben meine Art, und du weißt ja, wie wichtig es für mich ist, dass ich Dinge auf meine Art tun kann. Außerdem – komm mir jetzt bitte nicht mit deinem »das machst du immer«, wenn ich dir was erzähle, was du schon weißt, von einer kleinen Auffrischung profitiert doch jeder. Aber ich will dir keine Vorwürfe machen, du bist immer so geduldig mit mir, schon seit jeher. Ich brauche nur jemanden, mit dem ich reden kann. Jemanden, der nicht in meiner direkten Nähe ist. Dem ich meine Beobachtungen und Gefühle mitteilen und dann versuchen kann, das Ganze zu verstehen. Gemeinsam, mit vereinten Kräften. Einen vernünftigen, besonnenen Menschen. Mir ist schon klar, dass du kein ausgebildeter Therapeut bist, aber wir beide haben viele gute Gespräche geführt, wenn wir zusammen unterwegs waren. Also: Ich glaube nämlich, ich bin womöglich dabei, in Schwierigkeiten zu geraten.

Ich weiß nicht. Aiden meint, ich sei total festgefahren. Psychisch. So drückt er es aus. Psychisch und emotional. Und finanziell. Und kreativ und beruflich. So was hört man ja immer gern. Ich hatte ihn nicht um seine Meinung gebeten, er hat sie mir absolut freiwillig präsentiert. Ohne den geringsten äußeren Anlass, er war nicht im Blödmann-Modus oder so. Aber es sollte auch kein Witz sein. Und ich fürchte, er hat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit recht.

Heute Nachmittag war das. Gott, er ist schon ein Schlaumeier, stimmt’s? Es ist, als könnte er in meinen Kopf sehen. Jetzt lehnt er am Fenster, starrt mich an und grinst ein bisschen. Er sieht verdammt gut aus, wenn das Licht so auf ihn fällt. Wir sitzen uns gegenüber und klappern auf unseren Zelluloidtasten. Ein echtes modernes, entfremdetes Paar.

Er tippt auf seinem Laptop, ich auf Mums alter Schreibmaschine. Vielleicht erinnerst du dich noch an den Schrifttyp. Den Font. Die Schreibmaschine habe ich beim Umzug gefunden und dachte, es wäre doch nett, das alte Ding wieder zu aktivieren. Wahnsinnig retro, oder? Ich komme mir vor wie die Frau in Mord ist ihr Hobby. Das einzige Problem ist nur, dass ich auf dem Ding keine Fehler machen darf, sonst brauche ich Tipp-Ex, und ich hasse Tipp-Ex. Es stinkt. Deshalb schreibe ich sehr vorsichtig. Und wenn ich Sachen schreibe, die ich bereue, na ja, dann bleiben sie eben trotzdem stehen.

Aiden wirft mir einen Blick zu und ein Lächeln, das sagt: »Bring mir einen Latte, ja?« Ich soll ihm einen Kaffee machen, denn aus irgendeinem Grund gehört das seit einer Weile zu meiner Jobbeschreibung. Wir haben diese neue Maschine, und man könnte meinen, wir wohnen in einem Coffee-Shop. Inzwischen habe ich sogar Haselnusssirup gekauft, damit der Flat White ein bisschen weniger langweilig schmeckt. Und Streusel, die ich mit leichter Hand über den Cappuccino und den Cortado streue. Hier geht es sehr mittelklassemäßig zu. Wir sind Camerons Kinder, du würdest dich gruseln.

Aber ich rühre mich nicht vom Fleck. Wenn Aiden will, dass ich ihm Kaffee mache, soll er mich darum bitten wie jeder normale Mensch. Er schaut wieder weg. Aber obwohl er die Augen gesenkt hält, weiß er genau, dass ich ihn beobachte. Das sehe ich. Sein Bildschirm leuchtet ihm ins Gesicht, und er grinst so arrogant, dass man es schon fast dämonisch nennen könnte. Genau wie ich hat er die Beine übereinandergeschlagen, es sieht aus, als wären wir Spiegelbilder. Sein ganzes Verhalten ist eine einzige wortlose Provokation.

»Kaffee bitte, mein Schatz«, so lautet die unausgesprochene Botschaft.

Aiden bringt es fertig, mich zu kitzeln, fast ohne einen Muskel zu rühren. Allein durch die Art, wie er dasitzt oder die Augenbraue hochzieht, kann er mich zum Lachen bringen. Manchmal fühlt es sich an wie ein Rippenstoß, wenn er sich räuspert. Ein Summen kann eine sanfte Umarmung sein. So nah sind wir einander. Mit Hilfe kleinster Vibrationen tauschen wir Gedanken aus.

Erst vor kurzem hat er eine neue Methode gefunden, wie er mich zum Lachen bringen kann – er hat eine total alberne Art zu reden einstudiert. Meistens erkenne ich schon vorher, was er vorhat. Ich sehe, wie ihm der Gedanke in den Kopf kommt, dann sehe ich ihn lächeln und weiß, es ist so weit. Ich durchschaue ihn. Jetzt blickt er auf, und mir ist klar, dass mir das volle Programm bevorsteht. Schon geht es los.

»Du tippelst alsso mal wieder fleißig deine kleinen Gedänklein in die Maschine, wass? Dass bringt deine kleinen grauen Zellen richtig auf Trab, wass?«

Obwohl ich es überhaupt nicht will, fange ich an zu grinsen. Dieser unverschämte Mistkerl.

»Ich denke an den braunen Fleck über deinem Ellbogen, hinten auf dem Arm.«

Anscheinend hat er beschlossen, dass es Zeit für eine kleine Pause ist, Zeit für eine unserer Mikro-Plaudereien. Eine winzige Pause, ehe wir uns wieder unseren Sorgen und Ängsten widmen. Ich setze ein sarkastisches Lächeln auf.

»Du meinst mein Muttermal?«

»Jaa. Deinen Leberfleck.«

»Mein … winziges Fleckchen.«

»Deinen Teefleck. Jawoll.«

Jetzt hat er die Stimme gesenkt. Er ist ernst geworden. Jedenfalls soweit ihm das möglich ist.

In dem Schweigen, das folgt, wandert sein Blick träge über mich hinweg.

»Ich dachte gerade daran, dass er aussieht wie ein kleiner Knopf. Fand ich schon immer. Neulich erst habe ich geträumt, dass, wenn ich draufdrücke auf den Knopf, du dein Gedächtnis verlierst. Was sagst du dazu?«

Darauf weiß ich auf Anhieb keine Antwort, also atme ich erst mal tief durch und überlege. »Ich finde, du bist ein sehr seltsamer Mensch.«

»Interessant, dass du das sagst. Sehr interessant«, erwidert er. Nickt, kneift die Augen zusammen und betrachtet mich schelmisch wie ein Buddha-Yoda, der mich mit seinem abstrakten Schwachsinn erleuchtet. Eine Weile streichelt er meinen Knöchel, dann will er wieder an die Arbeit gehen.

»Und hast du?«, frage ich schnell.

»Hab ich was?«, fragt er zurück.

»Hast du draufgedrückt?«

»Es war bloß ein komischer Traum.«

»Natürlich hast du draufgedrückt! Und jetzt weichst du mir aus«, sage ich und werfe meinen Schuh nach ihm. Eigentlich soll es ein Spaß sein, aber ich treffe ihn ziemlich hart.

»Autsch. O Gott. O mein Gott. Mein Auge. Ich glaube, es ist nicht mehr zu retten«, ruft er, schamlos chargierend, um doch noch ein Lachen von mir zu ernten. Das er mir auch tatsächlich abluchst.

»O mein Gott. Erzähl mir, was als Nächstes in deinem blöden alten Traum passiert ist.«

»Das war kein blöder alter Traum, sondern ein sehr hübscher«, protestiert er entrüstet.

Ich summe vor mich hin. Dann hole ich tief und hörbar Luft. Lasse meine Geringschätzung zu ihm rüberrollen wie eine Bowlingkugel.

»Das ist doch kein hübscher Traum. Wie denn auch? Er ist nicht mal nett, oder? Eigentlich ist er ganz schrecklich.«

»Ich finde, ›schrecklich‹ ist schon ein bisschen extrem, Honigbärchen«, säuselt er. Das ist einer aus der Sammlung kreativer Kosenamen, die er sich für mich ausgedacht hat. Er benutzt sie, weil wir eigentlich nicht die Art Menschen sind, die alberne Kosenamen benutzen.

»Naja, ich sage das nur, weil es ein kontrollbesessener, manipulativer und außerdem latent sexistischer Traum ist, in dem ich in erster Linie eine Puppe bin, mit der man nach Lust und Laune machen kann, was man will. Aber jetzt, wo ich es ausspreche – vielleicht hast du ja recht, vielleicht ist das ja vollkommen in Ordnung.«

Nachdenklich verzieht er das Gesicht, zögert und wirft mir dann einen Blick zu, als würde er im nächsten Augenblick unser Gespräch mit einer absolut brillanten Bemerkung krönen. Mit einem echten Showstopper.

»Lass dich niemals von den Träumen eines anderen Menschen kontrollieren, Lily. Denn du selbst bist Herr und Meister deiner Träume«, murmelt er mit einem gewissen Grad an Ernst.

Der Raum erschaudert.

»Wow, das hast du toll ausgedrückt, Aid. Du solltest es auf irgendein Clipart-Bild von einem Sonnenuntergang schreiben und sofort ins Internet stellen. So was ist sehr beliebt.«

»Ja, mach dich ruhig über mich lustig, Lil. Aber deine Reaktion ist sehr aufschlussreich. Du kümmerst dich viel zu sehr darum, wie andere dich sehen, und bist ständig auf der Suche nach irgendwelchen Hinweisen. Dabei bist du alleine Herr und Meister deines Schicksals und deiner …«

»Jepp, das habe ich inzwischen verstanden. Keine Sorge, ich bin in Ordnung, wie ich bin. Aber danke für die Lektion in Pop-Psychologie, Paps.«

Ich ärgere mich, aber der Ärger verwandelt sich bald in einen Flirt. So endet es immer.

»Das ist okay, Honig…dachs«, sagt er.

Er kommt klar mit meinem Spott, und das gehört zu den vielen Dingen, die ich an ihm mag. Sein Taktgefühl. Sein Einfühlungsvermögen. Er ist gleichzeitig bescheiden und absolut anmaßend. Und irgendwie fasziniert es mich immer noch, wie er das macht. Es ist mir ein Rätsel. Aber so etwas hält eine Beziehung in Schwung. Aiden schaut wieder auf den Bildschirm. Tippt sechs-, acht-, zehnmal auf die Tasten.

»Oh, eins noch. Was ist eigentlich passiert, als du auf den Knopf gedrückt hast?«

»Ah. Hmm«, brummt er. »Weiß ich nicht. Ich bin sofort aufgewacht.«

Ohne dass das Gespräch offiziell zu Ende ist, heftet Aiden den Blick wieder auf seinen Computer. Das heißt, ich soll mir diese Gesprächs-Sackgasse durch den Kopf gehen lassen, während wir nahtlos zurück in unsere jeweils eigene Welt gleiten. Kurz darauf späht er über den Laptop zu mir herüber und lächelt mir eine Sekunde lang zu. Mit voller Strahlkraft. Er ist ganz da, hundertprozentig auf mich konzentriert. Dann verschwindet er wieder hinter dem Bildschirm. Und das Tipp-Tapp geht weiter.

Als ich zu ihm hinüberschaue, sehe ich das Fernglas neben ihm liegen, stehe auf, packe es schnell und mache mich auf den Weg, um nachzusehen, was ich heute erwischen kann. Ich begrenze mich auf zwei Sichtungen am Tag, ich will ja nicht zwanghaft werden. Du weißt ja, wie das bei mir ist. Deshalb schreibe ich ja auch dir und keinem anderen. Weil du mich so gut kennst. Solange es noch ein bisschen hell ist, möchte ich gern noch einen Vogel sehen, wenigstens einen einzigen. Eine Holztaube vielleicht oder einen Distelfink. Nur einen kleinen. Du weißt schon. Nur so zum Spaß.

Noch 35 Tage.

BM – Blaumeise, (Cyanistes caeruleus): Flachland · magisches Abendsonnenlicht, alles still, 18 °C, 10er-Schwarm · leuchtend gelbe Brust, schwarzblauer Halsring, männlich · nervös, abgehackte Bewegungen, gelegentlich im Sturzflug auf Blattläusejagd

Ich war nie besonders kreativ, ich bin eher ein Typ für Fakten und Zahlen. Für die Kunstwelt ist mein Werk kein großer Verlust. Ich bin der einzige mir bekannte Mensch, der überhaupt nicht zeichnen kann. Nicht auf einer Leinwand, nicht auf einer Mauer, einfach gar nicht. Vielleicht sagst du jetzt, das ist doch kein Ding. Ist es aber. Als ich angefangen habe, die Wohnung zu streichen und Aiden immer gesagt hat, ich soll »lange, regelmäßige Pinselstriche« machen, habe ich das zwar ehrlich versucht, aber nicht mal das hat geklappt. Am Ende hat er das ganze Zimmer alleine gestrichen und mir gesagt, ich soll ihm einfach zuschauen und witzige Bemerkungen machen, um ihn bei Laune zu halten. Aber weißt du was? Das hier ist kreativ. Aiden, ha! Dieses Projekt wird mir bei Teil-Flauten Auftrieb geben. Es wird mein Herz beschäftigen und nicht nur meinen Gitterpapierkopf in Anspruch nehmen.

Aber ich glaube, hauptsächlich will Aiden wissen, wann ich endlich mit meinem Buch weitermache. Das weiß ich, weil er es gerade gestern gesagt hat.

»Wann hast du eigentlich vor, mit deinem Buch weiterzumachen?«, hat er mich gefragt.

Worauf ich zunächst abgrundtief seufzte, dann nachdachte und schließlich antwortete.

»Aid, es haben wirklich schon genug verschwitzte Akademiker irgendwelche Abhandlungen über Hitchcock geschrieben. Ich glaube nicht, dass ich unbedingt auch noch meinen Senf dazugeben muss. Das ist doch alles nur aufgewärmtes Zeug. Das Remake eines Remakes. Die Wiederholung einer Wiederholung.«

Dass er die Augenbrauen hochzog, wusste ich, ohne ihn anzuschauen. Ich konnte es fühlen.

»Na klar. Verdammt richtig. Gib deine Träume ruhig auf. Ich meine, du wusstest von Anfang an, dass man mit Filmbüchern nicht das große Geld machen kann, Schätzchen.«

»Ach, fang jetzt bloß nicht mit den Papa-Witzen an, Aid. Auf die hatte mein Dad schon ein Dauerabo.«

»Um bei Saturday Night Video zu arbeiten, braucht man keinen Hochschulabschluss«, dröhnte er.

»Lass gut sein, danke!«, brüllte ich zurück. Ich hatte seine Gedanken gelesen. Das tue ich immer. So eng ist unsere Beziehung.

»Na ja, sieht ja ganz danach aus, als wärst du dazu verdammt, auf ewig bei Medical Market Research zu bleiben. Klingt nach einem starken Plan. War das der Plan?«

»Nein, glaub mir, das war er nicht.«

Nicht mal der blindeste Berufsberater hätte mir etwas Derartiges vorgeschlagen. Mit einer Ausnahme. Der verrückteste aller verrückten Karriereberater heißt London, die Stadt mit ihren ständig sinkenden Jobchancen und ständig steigenden wirtschaftlichen Ansprüchen. Lass London sausen. Ich würde ja wieder nach Chesterfield ziehen, wenn da nicht die Angst wäre, dass ich dann mit allem Schluss machen würde. Endgültig. Im Ernst. Genau das würde nämlich passieren. Jedenfalls in meiner derzeitigen Gefühlslage. Schon immer haben alle gesagt, ich sei genau wie meine Mum. Ich kann nur hoffen, dass ich ihr nicht zu ähnlich bin.

* * *

Ich gehe raus auf den Balkon, und mein Blick wandert über die Bäume hinweg zu einem Starenschwarm, der über den See zieht und sich in den blauen Abendhimmel emporschwingt. Während er höher steigt, versuche ich, ihn besser ins Visier zu bekommen, in der Hoffnung, dass das Mondlicht reicht, um einen Blick auf ihr Gefieder werfen zu können. Stattdessen konzentriere ich mich auf den Mond. Das haben wir beide auch manchmal gemacht, stimmt’s? Es ist so klar heute Abend. Wenn man sich anstrengt, sieht der Mond aus wie eine richtige Landschaft, nicht bloß wie ein Stern oder was. Verrückt, wenn man sich vorstellt, dass Menschen schon auf diesem großen, am Himmel schwebenden Felsbrocken umhergewandert sind, oder nicht? Ich weiß, das klingt blöd, aber es ist doch wirklich seltsam, oder etwa nicht? Gedankenverloren lasse ich das Fernglas über den Wohnblock rechter Hand schweifen, Waterway heißt er. Alle Blocks haben diese netten Naturnamen, um den Leuten vorzugaukeln, dass sie in Wirklichkeit gar nicht in einem Schuhkarton in Nordlondon leben und in den Neuen Medien arbeiten. Wir haben sogar einen Concierge. Frag mich jetzt bloß nicht, was er tut. Auf alle Fälle trägt er eine Uniform. Ich glaube nicht, dass er den Bewohnern Dinner-Reservierungen besorgen kann, wie man das in Filmen über die New Yorker Hotels sieht. Ich denke mal, er quittiert hauptsächlich Postsendungen, die er in Abwesenheit der Adressaten entgegennimmt, und schlichtet Parkplatzstreitereien. Von denen es hier nicht sehr viele gibt. So eine Art Gebäude ist das.

Im Penthouse brennt Licht. Und ich habe mich immer gefragt, wie groß die Wohnung da oben ist, deshalb stehe ich jetzt da und starre hinauf. Ich glotze auf die Habitat-Vorhänge, die ich letzte Woche tatsächlich im Geschäft gesehen habe. Sie sind nicht besonders schick oder so. Dann starre ich auf den Schaukelstuhl, der auf dem Balkon steht und wirklich teuer aussieht. Und dann entdecke ich den Bewohner persönlich. Schau einer an. Da ist er. Der Eine-Million-Pfund-Penthouse-Knabe. Sieht nicht sonderlich beeindruckend aus. Genau genommen wirkt er eher etwas ulkig. Was macht er denn da? Ich schaue genauer hin. Und fange an, ihn zu analysieren.

Sein Rücken hebt sich. Auf und ab bewegt sich der Typ. Sein Rücken glänzt. Er hat nur seine Unterhose an. Dieser blonde (verschwitzte) Mann von durchschnittlicher Körpergröße, mit einem echten Waschbrettbauch, den ich in einer kurzen Reflektion erkennen kann, macht Kniebeugen mit Kurzhanteln in den Händen. Er wendet mir den Rücken zu, also hat er keine Ahnung, dass ich hier bin. Und alles sehe. Und er trägt nur eine Unterhose.

Er gibt ein lächerliches Bild ab, ein echtes Klischee. Mechanisch dreht er sich neunzig Grad nach rechts, so dass ich ihn im Profil bewundern kann, verschwitzt und rot, wie er ist. Er schneidet Grimassen, wie abgefahren, wie kurios. Da Aiden im Schlafzimmer die Anlage aufgedreht hat, aus der jetzt Trip Hop aus den Neunzigern dröhnt, wirkt das Ganze wie ein Musikvideo. Im Rhythmus von Aidens Musik geht der Penthouse-Typ in die Knie und richtet sich wieder auf, es ist zum Schieflachen. Hat der Mann denn überhaupt kein Schamgefühl? Was für seltsame Manöver. Was für eigentümliche Bewegungen. In seinem natürlichen Lebensraum ist ihm anscheinend nichts zu peinlich. Ist ihm denn nicht klar, dass man ihn sehen kann? Jedenfalls, wenn jemand genau genug hinschaut.

Endlich steht er still, dreht sich um und sieht direkt zu mir herüber. Ohne nachzudenken, ducke ich mich und verschwinde kichernd wie ein Schulmädchen aus seinem Blickfeld. Im Handumdrehen. Dann richte ich mich ganz vorsichtig wieder ein Stück weit auf und spähe verstohlen in seine Richtung. Nein, er kann mich nicht sehen. Ich glaube, er ist zu dem Schluss gekommen, dass er sich alles nur eingebildet hat, dass er zwar gedacht hat, er sieht etwas – nämlich mich und mein Fernglas –, aber dass ihm seine Phantasie etwas vorgegaukelt hat, oder … nein, jetzt wagt er sich nach draußen, und das mit teilweise entblößtem Hintern. Er steht auf dem Balkon und hält Ausschau nach mir. Aber ich kaure hinter einem hölzernen Gartenstuhl, ich verstecke mich wie ein Kind. Er kann mich nicht sehen. Ich bin in Sicherheit, ich bin in der Beobachtungshütte.

»Was zum Teufel machst du da eigentlich?«, ruft Aiden von drinnen.

Noch 33 Tage.

B – Buchfink (Fringilla coelebs): Feuchtgebiet · leichter Regen, 16 °C, 8er-Schwarm · rostrote Brust, weiblich, 15 cm · zwitschert, macht aber eher einen traurigen Eindruck

O Mist. Jetzt hab ich den Schlamassel. Aiden hat mich beim Spannen erwischt, er will, dass ich zu ihm ins Schlafzimmer komme, damit er mir ernsthaft ins Gewissen reden kann.

»Wir haben uns hier unsere erste Wohnung gekauft, Lily, und wir strengen uns mannhaft … und frauhaft … an, uns zu benehmen wie erwachsene Menschen, und dann seh ich dich da draußen, wie du … äh, wie du diesen Penthouse-Typen lüstern anstarrst …«

»Können wir ihn Gregory nennen?«

»Na gut … dann nennen wir ihn eben Gregory … wie du also Gregory, den Account-Manager, lüstern anstarrst, der dich in seiner hautengen Unterwäsche anmacht, während die Frau von unten aus ihrer Wohnung stürzt und dich auf allen vieren nach drinnen kriechen sieht …«

Aber ich sehe, dass er grinst, die ganze Zeit, als er das sagt. Bloß dieses winzige Lächeln im Mundwinkel, das mich wissen lässt, dass er mich noch liebt. Dass alles okay ist. Dieses Schmunzeln, in das ich mich verliebt habe. Gefolgt von einem leisen Schnauben und Kichern. Er ist noch da. Der Mann, in den ich mich verliebt habe.

Ich weiß, das klingt schrecklich, aber im Grunde war es auch lustig. Es ist einfach erstaunlich, was Leute tun, wenn sie denken, niemand schaut hin. Nicht die Kniebeugen und die Unterhose an sich, so was verstehe ich ja, sondern sein Gesicht. Dieser Gesichtsausdruck, den der Typ garantiert nur hat, wenn er alleine ist.

Es ist wie bei den Vögeln. Nur dass die Vögel es wissen, wenn sie beobachtet werden, irgendwie sind sie bereit dazu, sie posieren von Natur aus gern, die kleinen Angeber. Das haben wir früher immer gesagt. Aber Menschen sind einfach unglaublich. Sie sind erstaunliche Wesen, voller Energie und Lebenslust, sie sind zu allem Möglichen fähig und können solche Gesichter schneiden. Ich habe keineswegs vor, das Spannen als Allheilmittel gegen Schmerzen und andere Wehwehchen zu empfehlen, aber ich muss schon sagen, dass es etwas für sich hat. Etwas echt Aufregendes.

Ich glaube, wir sind gerade rechtzeitig hierhergezogen. Die ganze Gegend wird umgestaltet, neu belebt, ein auf fünfundzwanzig Jahre angelegtes Projekt. Und ja, das ist nur ein anderes Wort für Gentrifizierung, und nein, ich finde es nicht schrecklich – es ist echt schön hier. Und wir haben das Geld zusammengekratzt, um hier wohnen zu können.

Trotzdem tun mir die Leute im Canada House natürlich leid. Ein paar von ihnen haben hier über dreißig Jahre gewohnt, und jetzt werden sie einfach rausgeschmissen. Die Hälfte des Gebäudes ist schon abgesperrt und verbarrikadiert, und diejenigen, die noch da sind, warten nur darauf, dass sie auch rausgeschmissen werden. Sie werden »umgesiedelt«, heißt es, aber wer weiß. Man hört Geschichten von Leuten, die gezwungen werden, in Neubauten eine Miete zu bezahlen, die sie sich überhaupt nicht leisten können. Man hört Geschichten von Leuten, die obdachlos werden. Oder schlimmer noch, von Leuten, die nach Birmingham abgeschoben werden. Das war ein Witz, ich weiß, dass du in Birmingham geboren bist. Ich war mal auf einer Konferenz in einem der Ausstellungszentren dort, und es war vollkommen okay. Ich meine, es war nett da. Ja, ich weiß, in Birmingham wird pro Quadratmeile mehr Champagner getrunken als sonst irgendwo in Großbritannien, deshalb haben sie bestimmt was zu feiern. Ich weiß. Und sie haben mehr Kanäle als Venedig. Obwohl ich immer dachte, dass die Leute nach Venedig fahren, um die Schönheiten der Stadt zu genießen, nicht die statistische Länge ihrer Kanäle, aber da haben wir’s mal wieder. Also, hier ist es echt nett, es würde dir bestimmt gefallen. Nur traurig, wenn man daran denkt, dass Menschen, die hier aufgewachsen sind, nicht bleiben können.

In der Zeitung stand vor kurzem:

»Die Bewohner der neuen Apartmentgebäude neigen meist dazu, den Leuten aus der alten Sozialsiedlung aus dem Weg zu gehen …«

Wenn das stimmt, ist es furchtbar. Aber ich bin sicher, dass es nicht so sein kann. Ich meine, als ich heute aus der U-Bahn kam, bin ich zwar gleich über die Straße auf die Seite der Neubauten gegangen, aber nur, weil auf der Baustelle ständig Wasser gesprüht werden muss – wegen des ganzen Staubs oder was. Schließlich will ich mich nicht mit Dreck und Steinstaub vollspritzen lassen. Den hat man dann im Gesicht und in den Haaren, und ich möchte die Überreste von den Wohnungen dieser armen Leute nicht an mir kleben haben. Ich meine, das sind echt arme Leute. Also nicht »arme Leute«, nicht in finanzieller Hinsicht, sondern arm der Umstände wegen. Sie tun mir echt leid. Ehrlich.

Aber ich erwähne das nur deshalb, weil ich, als ich grade über die Straße ging … Ach, es ist schrecklich. Ich ging also über die Straße, und da hab ich sie gesehen. Ihr direkt in die Augen geblickt. Jean. Sie ist eine von denen, die der Guardian als Beispiel angeführt hat. Von ihr stammt auch das Zitat oben. Es gab ein Foto von ihr und einen langen Artikel, unter anderem darüber, wie sie sich fühlt, nämlich:

»Als würde ich auf die Guillotine warten, während ich dabei zuschaue, wie überall um mich herum Wohnungen demoliert werden. Wie die Bagger immer näher rücken. Ich warte, bis ich an der Reihe bin und rausgeworfen werde. Das ist so, als warte man auf sein Todesurteil.«

Schrecklich. Echt. Aber was sollte ich denn tun, als ich aus der U-Bahn kam – auf Jeans Straßenseite bleiben und mich mit Dreck und Staub bombardieren lassen, damit ich sie in den Arm nehmen kann? Oder was? Denn das ist eigentlich das, was ich mir jetzt vorgenommen habe.

Aiden kann ich nichts davon erzählen, er würde sich nur Sorgen machen. Es gibt ja jede Menge Gerüchte darüber, was in den Wohnblocks da drüben abgeht und was für Leute da nachts rumlungern. Aber ich bin sicher, das ist reine Panikmache. Schließlich will ich ja nicht dort rumschlendern und nach Jean suchen. Ich hab sie gesehen. Ich hab gesehen, in welche Wohnung sie gegangen ist. Ich hab sie gesehen und gedacht: Jetzt weiß ich Bescheid. Deshalb will ich zu ihr und sie besuchen. Und mich entschuldigen. Dafür, dass ich die Straßenseite gewechselt habe. Und überhaupt, für alles. Dann werde ich ja mit eigenen Augen sehen, wie es ihr geht. Was für ein Mensch sie ist. Das wird bestimmt interessant. Vielleicht bringe ich ihr Suppe mit. Oder wäre das herablassend? Die meisten Leute essen doch gerne Suppe, oder nicht? Vielleicht werden wir Freundinnen.

Als ich heute durch die Siedlung gegangen bin, habe ich ein Vermisstenplakat gesehen, ziemlich unordentlich an einen Laternenpfosten geklebt. Anscheinend ist ein Mädchen, das in einem der Blocks gewohnt hat, verschwunden. Spurlos. Das erzähle ich Aiden auch lieber nicht. Menschen verschwinden ja andauernd, aber er macht sich wegen so was immer gleich Sorgen. Richtig schlimme Sorgen.

Noch eins, und dann mach ich Schluss. Du darfst wirklich keinem erzählen, was ich dir schreibe. Weder Aiden noch sonst jemandem. Vor allem nicht Aiden. Falls ich doch irgendwann meine Meinung ändere und wir uns wieder mal sehen. Falls wir mal zu dir rüberkommen, oder falls wir dich zu uns einladen. Falls das wirklich mal passieren sollte. Dann darfst du kein Wort davon verraten.

Das alles muss für immer unter uns bleiben. Nur wir beide. Du und ich. Für immer. Genau wie unser ganzer Vogelkram. Okay? Ich meine das ernst. Also, ganz egal, was passiert. Ganz egal, wie alt und senil du wirst.

Vergiss das nicht.

Mein Handy piept. Piep, piep. Wir wissen beide, von wem diese SMS kommt. Und wir wissen auch, was drinsteht. Aber ich will das nicht. Nein danke.

Ich bin noch nicht bereit zu reden.

Noch 30 Tage.

WWP – Tippi Hedren und Janet Leigh: Waterway Apartments · im Schutz der Dunkelheit, leichte Brise, 19 °C · blond und rot, weiß, weiblich, Pärchen, beide etwa 170 cm · entspannt, fröhlich

Ich schalte das Licht aus. Fernglas fest in der Hand. Aiden trinkt ein Bier und kichert, weil alles so lächerlich ist. Ich hab mir den Mond durchs Fernglas angeschaut und dabei ein bisschen Wein genippt. Irgendwann hat er bemerkt, was ich mache, und offensichtlich gedacht, ich hätte Schlimmeres vor. Keine Ahnung, was genau. Vielleicht dass ich mal wieder lüstern zu Gregory rüberstarre. Aber jetzt, wo Aiden weiß, dass ich ihn gerne einbeziehe und dass alles total läppisch und letztlich ein Witz ist, gefällt es ihm. Er hat sogar richtig Spaß dabei. Auf einmal ist ein Spiel daraus geworden. Das ist richtig lustig.

Wir lassen die Jalousie runter, so dass nur ein winziger Spalt zum Durchgucken bleibt. Dann vergewissern wir uns, dass bei uns das Licht aus ist, und ich gehe alles Schritt für Schritt mit ihm durch. Du wärst begeistert. Es ist, als wäre ich wieder in der Beobachtungshütte, nur noch besser. Ich bringe meine Ellbogen auf einer Zeitschrift in Stellung und schaue nach oben, spiele mit dem Fokussierrädchen und suche nach Licht im Waterway-Gebäude. Über die dunklen Fenster gleite ich hinweg, wahrscheinlich gehören die Wohnungen irgendwelchen Investoren aus Übersee – es gibt sehr viel Leerstand hier. Dann entdecke ich etwas. Hell erleuchtet wie ein Weihnachtsbaum. Ein Pärchen. Voll bei der Sache. Nicht beim Sex, nein, nur bei der Sache. Mitten im Leben. Man sieht den ganzen Raum.

»Okay, hol das Notizbuch, das ich in dem japanischen Laden gekauft habe. Mach schon, los. Was siehst du?«

»Das Waterway-Gebäude?«, fragt er sofort.

»Gut, das ist der Lebensraum. Teil die Seite in acht Spalten auf und schreib ›Waterway Apartments‹ in die dritte. Was noch?«

»Die beiden sehen schick aus, makellos, wie kostümiert. Vielleicht arbeiten sie bei …«

»Warte, nicht so schnell, Cowboy! Halten wir uns an die Fakten. Wie viele siehst du?«

»Okay, Lil … es sind zwei. Eine Blonde und eine Rothaarige.«

»Gut! Ein Zweierschwarm! Schreib das in die fünfte Spalte, und in die vierte kommt die Gefiederfarbe, also blond und rothaarig. Wir kennen ihre Namen nicht, also denken wir uns später welche für sie aus, in Spalte zwei. Jetzt machen wir eine kurze Wetterbeschreibung, die schreibst du in die siebte Spalte. In Spalte sechs wird kurz das Verhalten beschrieben, in der achten die geschätzte Größe vermerkt. Ich bin gut im Schätzen, also lass mich für beide eins siebzig vorschlagen. Zum Schätzen braucht man Talent, und durch Übung wird man noch besser. Das ist mein Partytrick, hab ich dir das noch nicht erzählt? Normalerweise liege ich richtig, bis auf den Zentimeter.«

»Inch.« Er grinst. Er liebt Korrekturen, das gibt ihm ein Gefühl der Überlegenheit. »Ist dass die Methode deines Vaterss? Erzähl mir davon, ja?«, sagt er mit seinem albernen Akzent.

Ich schaue ihn an, wahrscheinlich einen Augenblick zu lange.

»Nein, das ist meine Methode. Also. Für Spalte eins schlage ich vor … WWP. Was meinst du, was das …«

»Weiß … weiblich … Pärchen.«

»Sehr gut! Sehr, sehr gut. Also …«

Ein lesbisches Paar. Die beiden sind ein lesbisches Paar! Wie aufregend! Nicht dass es merkwürdig wäre oder so. Aber wir haben überhaupt keine lesbischen Freundinnen, und ich hätte sehr gern welche. Ich hätte sofort dafür gestimmt, dass sie heiraten dürfen, wenn man mich gefragt hätte. Definitiv. Ich hätte Klinken geputzt – wenn ich in Irland gelebt hätte. Oder so. Ich hab einen Podcast gehört, wie die da drüben tatsächlich von Haus zu Haus gehen und versuchen, die Leute von ihrer Sache zu überzeugen. Klang echt cool. Und ist auch total einleuchtend.

Wenn ich mir die beiden so anschaue, denke ich, wir könnten Freundinnen sein. Wir könnten Brunch für lesbische Frauen veranstalten. Oder eine lesbische Literaturgruppe gründen. Eine lesbische Literaturgruppe – das würde mir gefallen! Und jetzt kenne ich endlich ein paar Lesben.

»Sieh mal, sie haben einen beleuchtbaren Globus. Und einen Plattenspieler. Einen zusammenklappbaren Punching-Bag. Mit Ständer. Ein Bücherregal, Eiche. Eine blaue Lichterkette. Und einen Dualit-Toaster, genau wie wir! Oh, die Country-Life-Butter steht noch auf dem Tisch. Vielleicht denkt die eine ja, sie kriegt in absehbarer Zeit noch mal Hunger und will noch einen Toast. Die Kissen sind von Heal’s, und zwar nicht die billigen. Ich hab sie im Netz gesehen. Der Farn in der Fensterecke ist ja riesig. Und sie haben eine rosa Orchidee. Ein Weinregal für zwölf Flaschen. Aber sie sammeln auch Altglas. In der Ecke steht ein Fahrrad, obwohl es vor dem Haus Fahrradständer gibt. Oh. Es ist ja ein Brompton! Zum Zusammenklappen. Da drüben hängt ein gerahmtes Originalplakat, Die Nächte der Cabiria, der Fellini-Film, und ich glaube … ja … es ist ein limitierter chinesischer Druck!«

»Was meinst du, wie sie es machen?«, fragt Aiden.

»Was? Die Wohnung so ordentlich halten? Vermutlich kümmern sie sich gemeinsam darum.«

»Nein, den Sex. Das Frauen-Sex- … Ding.«

»Es ist doch mehr oder weniger das Gleiche. Nur beide von derselben Sorte statt von zwei verschiedenen.«

»Ja, aber …«

»Gott, du hattest anscheinend ein sehr behütetes Leben. Benutz doch mal deine Phantasie. Oder lieber nicht. Nein, lieber keine Phantasie. Sonst machst du womöglich noch alles kaputt.« Manchmal muss man Aiden deutlich die Meinung sagen.

»Ich meine doch nur, ob sie so ein Paar sind, das abends einfach in den Pyjama schlüpft. Ober denkst du, es könnte sein, dass die Blonde sich plötzlich die Rothaarige grapscht, sie auf den Holztisch da drüben wirft und … es ihr so richtig besorgt?«

»Hätte ich eher nicht gedacht, sie lackieren den Tisch grade und sind damit erst halb fertig.«

»Woran erkennst du das denn?«

»An dem Unterschied in der Holzfarbe. Auf dem einen Ende liegt Zeitungspapier, schau. Und auf der Spüle stehen Pinsel in einem Glasbehälter.«

»Himmel, du bist echt gut.«

»Und wenn ich richtig darüber nachdenke, hab ich die beiden auch schon mal gesehen.«

»Wo denn?«

Er hält meinen Blick fest.

Ich schaue weg.

Scheiße.

»Wow. Du bist wirklich total irre«, meint er.

»Sag so was nicht. Das ist nicht nett«, entgegne ich, fröhlich, aber bestimmt.

Wusch! Ein Flieger dröhnt über uns hinweg. Die Flugzeuge sind hier sehr nah. Und ich habe das Gefühl, sie kommen mit jedem Mal näher. Auch die beiden lesbischen Frauen blicken nach oben. Man sieht ihre blassen, fast weißen Hälse. Janet streicht Tippi über die roten Haare, die bestimmt gefärbt sind. Ganz sicher – bei dem Farbton.

Auf dem Korridor sind jetzt Schritte zu hören. Wir halten inne. Und schauen uns grinsend an.

»Oh-oh. Ich glaube, unser Nachbar ist zu Hausse«, sagt Aiden, und seine Augen funkeln.

Demnächst erzähle ich dir von dem Mann, der neben uns wohnt.

Teil 2:Die Nacht und der folgende Tag

Noch 20 Tage. Nacht. 10 Uhr.

WMS – Cary: Parkway · im Schutz der Dunkelheit, 21 °C, selten · braune Haare, weiß, männlich, singulär, etwa 165 cm · nachdenklich

Cary hat sein Lieblings-Streifen-T-Shirt an. Vor kurzem hat er sich einen dieser neuen Haarschnitte verpassen lassen. Oben angeklatscht, die Seiten rasiert. Die Frisur, die entstehen würde, wenn De Niro aus Taxi Driver als drittes Mitglied bei Wham anfangen würde. Wahrscheinlich arbeitet Cary in Shoreditch. Dort ist der Haarschnitt möglicherweise normal. Ein Schal/Halstuch in Rot vollendet den Look. Ziemlich kühn. Ich habe das Gefühl, dass er schon seit einer Weile versucht, den Mut dafür zu fassen, und überraschenderweise sieht es sogar ganz okay aus. Er tanzt ein bisschen, vermutlich zu irgendwas Elektronischem. Ich wollte, ich könnte hören, von welcher Band oder welchem DJ. Das wünsche ich mir wirklich. Um es mir besser vorstellen zu können.

Seine Kumpel erscheinen und begrüßen sich mit ironischen Siegesgesten. Wahrscheinlich wollen sie zusammen ausgehen. Kumpel 1 hat ein Hot-Chip-T-Shirt an. Einer von ihnen verschwindet und kneift sich bei seiner Rückkehr mit den Fingern die Nase zusammen. Dann verschwinden auch die anderen und erscheinen mit der gleichen Geste wieder. Dann fangen sie an, auf der Wii zu spielen. Ziemlich auf Konkurrenz. Einer schleudert den Controller mit gebleckten Zähnen nach vorn, lässt ihn los, und das Ding knallt gegen die Fensterscheibe. Es geht los!

Alle lachen, nur Cary findet es nicht komisch. Wahrscheinlich gehört ihm die Wohnung nur zum Teil. Sie ist nicht so schick wie die Waterway-Wohnungen, aber hübsch, mit dem gleichen Grundriss wie unsere. Cary weiß, dass das Fenster nicht kaputt ist, es hat nicht mal einen Riss, aber er gibt trotzdem eine Warnung von sich: »Vorsicht, Alter, die Fenster sind schweineteuer.«

Ja, ich glaube, genau das hat er gesagt. Und ich wette, er hat recht. Die Scheibe zu ersetzen wäre garantiert nicht billig. Er meint wohl, die Scheibe hat einen Kratzer. Da ist irgendwas. Jetzt macht er sich mit einem Lappen an der Stelle zu schaffen. Oh, er ist weg, der Kratzer, anscheinend war es doch bloß ein Fleck.

»Wie geht es mit Tippis Tisch voran?«, fragt Aiden, ohne aufzublicken.

»Äh, nicht schlecht, glaube ich. Sah fast fertig aus vor einer Stunde, bereit zum Trocknen.«

»Meinst du, sie haben das Holz vorher abgeschliffen? Vielleicht mach ich das auch mal.«

Dabei macht er so was nie. Nicht mehr. Er verlässt ja kaum noch das Haus.

»Ich denke schon, dass sie ihn abgeschliffen haben, Aid. Wahrscheinlich war das nicht der erste Tisch, den sie aufgearbeitet haben, meinst du nicht?«, antworte ich mit meiner pseudo-urbanen Mittelschichtstimme.

»O ja, das denke ich auch, Babe. Vermutlich verkaufen sie die Tische im Internet, Babe.« Er liebt dieses Getue.

»Na klar, ganz deiner Meinung. Wahrscheinlich stammt der Tisch aus einem Recyclinghof. Irgendwo aus einem Vorort, von dem wir noch nie was gehört haben, meinst du nicht?«

»Ja, gut möglich. Vermutlich können sich Tippi und Janet gar nicht mehr losreißen, wenn sie erst mal im Recyclinghof sind. Da gibt es doch so viel zu … äh … äh …«

»Zu recyceln, Babe?«

»Ja, genau das hab ich gemeint.«

Ich bin nicht sicher, über wen wir uns eigentlich lustig machen. Über alle vermutlich. Auch über uns.

Oje! O nein. Cary. Du Armer. Du armer kleiner, aufstrebender Hipster, du blutest ja. Autsch.

Kaum haben »die Jungs« die Lappenaffäre überstanden, schlägt das Schicksal auch schon wieder zu. Durch das Fernglas ist es deutlich zu erkennen, ich kann es schon vor ihnen selbst sehen. Die Jungs albern mit ihrer Wii herum, und Cary steht viel zu nahe neben ihnen. Das kann nicht gutgehen, denke ich sofort. Und peng! Kriegt er den Kontroller auch schon mitten ins Gesicht.

Er blutet ziemlich heftig. Hauptsächlich aus der Oberlippe. Der Kumpel mit dem Irokesenschnitt schaut sich um, vielleicht sucht er nach Eiswürfeln, während »Kumpel 1« immer noch den blutverschmierten Controller in der Hand hält, nervös von einem Fuß auf den anderen trippelt und sich überschwänglich entschuldigt.

Ich würde einen Krankenwagen rufen, aber ich glaube, das wäre übergriffig. Außerdem könnte es zu peinlichen Fragen führen. Wie zum Beispiel: »Wer zur Hölle hat den Krankenwagen gerufen?« Oder: »Alter, schickt einer von uns Nachrichten in den Äther, ohne was davon zu merken? Telepathisch vielleicht? Oder mit sonst einem diskreten menschlichen Übertragungsprozess, den wir noch nicht kennen?« Womöglich sogar: »Hey, verflucht, wer ist eigentlich diese Frau, die uns von dort drüben mit dem Fernglas beobachtet?«

Der Krankenwagen wäre wahrscheinlich sowieso ein bisschen extrem. Bestimmt hört Cary gleich auf zu bluten. Trotzdem – ich würde schon gerne helfen. Wenn ich Ärztin wäre, würde ich selbst einen Blick auf die Schramme werfen. Leider bin ich keine. Nein. Ich bin keine Ärztin.

»Du bist besessen«, murmelt Aiden.

»Nein, bin ich nicht. Solche Dinge sagt man viel zu oft über Frauen. Sie ist irre, sie ist übergeschnappt, sie ist besessen. Aber eigentlich solltest du es besser wissen. Wenn du schreibst, denkst du dir jedenfalls meistens gute Frauenfiguren aus.«

»Ich glaube, ich denke mir einfach Menschen aus. Das hoffe ich zumindest. Aber du hast recht. Sorry. Ich nehme das zurück. Das war blöd.«

»Ich interessiere mich doch bloß für die Leute.«

»Ja, und das kannst du richtig gut. Das Talent stammt wahrscheinlich noch aus deiner Vergangenheit als ›passionierte Vogelbeobachterin‹. Kleine Fanatikerin, du.«

»Ich war nie Vogelbeobachterin.«

»Was? Natürlich warst du das. Hast du mir schon bei unserem ersten Date erzählt.«

»So was hab ich bestimmt nie behauptet. Ich erklär dir mal ein paar Sachen. Birdwatcher gehen mit ihrem Standardfernglas in den Park um die Ecke und notieren sich all die kleinen Vögelchen, die sie in der Gegend entdecken. Birder dagegen reisen manchmal ins Ausland, sei es zur Erholung oder aus professionellen Gründen …«

»Aus professionellen Gründen? Wer bezahlt sie denn dafür?«

»… oder sonst wohin, um gezielt bestimmte Vögel zu suchen, die sie noch nicht gesehen haben, aber auf ihre Lebensliste setzen wollen. Es gibt um die zehntausend Vogelarten, und es ist selbst für den leidenschaftlichsten Birder unwahrscheinlich, dass er in seinem Leben mehr als siebentausend davon zu Gesicht bekommt. Also, diejenigen, die sich dem Birding verschrieben haben, besuchen beispielsweise bestimmte Beobachtungshütten und sonstige Stellen, um ganze Nachmittage mit der Vogelbeobachtung zu verbringen, führen aber genau wie die Birder ein Buch oder eine Liste über das, was sie gesehen haben. Und zuletzt gibt es dann noch die Twitcher …«

»Ah, die Twitcher!«, schnaubt Aiden.

»Twitcher visieren eine besonders seltene Vogelart an und reisen, um sie zu finden.«

»Na gut – und zu welcher Kategorie gehörst du?«, fragt er.

»Na ja, einen Twitcher kann man mich nicht nennen. Übrigens stammt der Name für diese manischen Vogelbeobachter von einem der berühmtesten Vogelbeobachter, Howard Medhurst, der ein ziemlich nervöses Naturell und vielleicht tatsächlich Zuckungen hatte – falls dich das interessiert, mein Freund.«

»Wie du – du hast auch Zuckungen. Also bist du doch ein Twitcher.«

»Nein, hab ich nicht. Nein, bin ich nicht …«

»Siehst du, da ist er schon. Ein langes Blinzeln, sogar der Wangenmuskel zuckt!«, behauptet er und grinst schon wieder, der freche Fiesling. Denkt wohl, damit kann er mich ärgern.

»Echt? Ich … ich hab nie gemerkt, dass ich das mache.«

»Isst aber so. Alsso«, sagt mein österreichischer Psychoanalytiker, seine Augen werden schmal, und seine Stimme wird tiefer. Mit einem Lächeln, halb besorgt, halb wie ein Raubtier, mustert er mich und spricht dann weiter, als hätte er lange und gründlich nachgedacht. »Alsso … ich vermute, die eigentliche Frage lautet: Was ssuchst du wirklich?«

Im selben Augenblick klopft jemand an die Tür und rettet mich vor einem weiteren Verhör. Ich gehe öffnen, weil Aiden den Arsch nicht hochkriegt und vermutlich nicht einmal daran denkt aufzustehen. Er sitzt da, passiv wie Plankton, sein übliches Verhalten.

»Dr. Gullick?«

Schlagartig richtet Aiden sich auf und sucht sich hastig eine Position, aus der er mich beobachten kann, ohne dass die Frau, die nun an der Tür erscheint, ihn sieht. Mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund starrt er mich an.

»Ja, die bin ich«, antworte ich.

»Könnten Sie mir bitte helfen? Es ist ein Notfall«, erklärt die Frau.

»Ja. Ja, selbstverständlich«, sage ich, schlucke schwer und greife nach meinem schwarzledernen Kulturbeutel. Los geht’s.

Ich hab es dir ja gesagt. Ich bin keine Ärztin. Wie du weißt. Aber so etwas wie das jetzt passiert gelegentlich.

Noch 19 Tage. 11 Uhr vormittags. Im Büro.

WM – Phil: Schreibtisch neben der Tür · sehr selten · Klimaanlage kaputt, verschwitzt, Temperatur nicht bekannt · braune Haare, weiß, männlich, knapp 180 cm · offen, freundlich, vielleicht zu freundlich

In jeder Ecke des Zimmers steht ein großer Farn in einem weißen Porzellantopf, du kennst die Sorte bestimmt. Ein paar nahezu schwarze Bananen gammeln in einer Obstschale aus Emaille vor sich hin. Und inzwischen müssen Leute mit unbequemen Sitzgelegenheiten vorliebnehmen, die sie zu Haltungen zwingen, die man als Kompromiss zwischen »auf dem Hochrad balancieren« und »knien mit einer Pistole im Rücken« definieren könnte. Man sagt, solche Positionen sind gut für den Rücken, aber was man an Haltung gewinnt, verliert man an Würde. Daheim ist es doch am schönsten. Angeblich werden die Menschen in zwanzig Jahren nur noch zu Hause arbeiten. Mit Klienten und Kollegen wird im Netz kommuniziert, die Unternehmen können Millionen am Büroraum sparen. Ich zähle schon die Tage.

Da mein Handy heute schon wieder geklingelt hat, schalte ich es aus. Ich möchte nicht gestört werden. Sogar eine Voicemail war da. Und wir wissen beide, wer da angerufen hat, richtig? Aber die Antwort ist Nein, nach wie vor. Ich bin noch nicht bereit zu reden. Bitte nimm diesen Wink mit dem Zaunpfahl zur Kenntnis. Den größten Teil meiner Arbeitszeit muss ich telefonieren. Mit Leuten in fernen Ländern. Mit Leuten, die ich nicht kenne. Und auch nicht kennenlernen möchte. Das geht ungefähr folgendermaßen:

»Darf ich fragen, wie Sie das Sitzplatz-Arrangement bei der Konferenz fanden?«

»Gab es genügend Sitzplätze in den Entspannungsbereichen?«

»Welche Art von Sitzgelegenheiten wünschen Sie sich für die Konferenz im nächsten Jahr?«

»Okay. Okay. Mhmm. Richtig. Haben Sie … Haha. Oh, selbstverständlich. Nun, ich … selbstverständlich.«

Hast du schon mal von diesem Gerücht über die Bürotemperatur gehört? Dass im Sommer, wenn die Klimaanlage kaputt ist, ein altes Bürogesetz ins Spiel kommt? Was wahrscheinlich eher vorkommt, wenn die Fenster sich nicht öffnen lassen. Hier bei uns macht man sich anscheinend Sorgen, dass alle spontan rausspringen würden, wenn man die Fenster öffnen könnte. Dass wir uns für den Freitod entscheiden, statt noch eine weitere Tabelle auszufüllen.

Also, dieses Gerücht. Über das Gesetz. Das besagt, wenn jemand beflissen genug ist, um mit einem anerkannten Thermometer eine offizielle Ablesung vorzunehmen, und das Quecksilber im Innern dieses Thermometers die magische Zahl erreicht, dann dürfen alle heimgehen, bei voller Bezahlung? Ja? Hast du je davon gehört? Na ja, anscheinend ist das Gerücht völliger Schwachsinn. Ich bin so müde von allem, was letzte Nacht passiert ist, ich möchte nur schlafen.

Ich weiß, dass das Gerücht Schwachsinn ist. Denn Phil, der den Schreibtisch neben der Tür hat, wollte dieses mittelalterliche Gesetz soeben ins Feld führen. Mit Hilfe eines Thermometers, das er seltsamerweise zufällig in seiner Schublade gefunden hat. So ein Mensch ist er. Dann ist er losgezogen, um unsere direkte Vorgesetzte damit zu konfrontieren. Das alles hat er übrigens nur deshalb getan, weil ich ihn darum gebeten habe. Phil ist überhaupt der Einzige, mit dem ich spreche. Der Einzige im ganzen Büro, den ich ansatzweise interessant finde. Der Einzige, der potentielle Anzeichen einer Persönlichkeit zeigt, jetzt, wo Lena und Rob zu neuen, besseren Ufern aufgebrochen sind.

In einem Augenblick der Verzweiflung habe ich ihm über Skype einen Hilfeschrei geschickt. Es war ein netter Augenblick. Und hat sich abgespielt wie folgt:

Gull1978: Hol mich hier raus.

KentishPhil: Warum?

Gull1978: Ich schwitze. Sogar mein Schweiß schwitzt. Es ist, als würde ich baden, während ich hier sitze.

KentishPhil: Anschaulich. Du siehst müde aus.

Gull1978: Danke. Konnte heute Nacht nicht schlafen. Schon wieder.

KentishPhil: Verstehe.

Gull1978: Hol mich hier raus. Ich meine es ernst!!!!!

KentishPhil: Okay. Ich habe einen Plan.

Dann hat er es versucht. Hat sein Thermometer rausgeholt. Abgelesen. Dann das Ergebnis höchst kompetent und charmant bei Deborah vorgetragen, ein heroischer Versuch, uns alle zu befreien. Aber Deborah hat gelacht und erwidert: »Das kannst du glatt vergessen, ich habe von so einer Regel noch nie gehört. Tut mir leid, euch alle enttäuschen zu müssen.«

Wir haben gelacht, aber im Innern vor Wut gekocht. Deborah klopfte Phil auf die Schulter und fragte ihn, ob sie den Bericht für Freitag schon Donnerstag kriegen kann.

* * *

»Wenn du eine perfekte Konferenz für Kardiologen entwerfen müsstest, wie würde das aussehen?«

»Na ja, sag einfach irgendwas.«

»Echt?«

»Mehr Toiletten. Okay.«

»Bereitstellung von Hotels näher am Tagungsort, gut.«

»Kostenlose Hotdogs? Okay. Haha. Sehr komisch. Nein, man kann nie wissen.«

»Wie wäre es mit einer Wasserrutsche? Nein, das war ein Witz.«

»Nein, ich weiß, das wäre nicht angemessen.«

»Ja, ich weiß, Herzkrankheiten sind die häufigste Todesursache in Großbritannien.«

»Ja, das weiß ich.«

»Sorry.«

Vor dem Fenster sehe ich ein Flugzeug, das an jeden erdenklichen Ort unterwegs sein könnte. Der Himmel ist so blau. Das Flugzeug hat eine irre Geschwindigkeit. Drinnen hat jeder einen bequemen Sitz, jemand bringt Kaffee und eine einiger