The Who - Maximum Rock - Christoph Geisselhart - E-Book

The Who - Maximum Rock E-Book

Christoph Geisselhart

4,7

Beschreibung

Christoph Geisselhart, geboren 1963, gründete mit dem Maler Rolf Sieber 1992 die international tätige Künstlergruppe MAN HOI und veröffentlichte 1994 den Roman Die Erben der Sonne. Der erste Band seiner Who-Biografie erschien im Herbst 2008 bei Hannibal. www.manhoi.de

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Christoph Geisselhart

Maximum Rock

The Who

Die Geschichte der verrücktesten Rockband der Welt

Band 2

www.hannibal-verlag.de

Impressum

Eine Hannibal-Originalausgabe

© 2012 Koch International GmbH/Hannibal, A-6600 Höfen

www.hannibal-verlag.de

Lektorat und Korrektorat: Manfred Gillig-Degrave

Buchdesign und Produktion: bürosüd°, München

Coverdesign: bürosüd°, München

Epub: buchsatz.com

ISBN 978-3-85445-297-3

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags nicht verwertet oder reproduziert werden. Das gilt vor allem für Vervielfältigungen, Übersetzungen und Mikroverfilmungen sowie die ­Einspeicherung und Verarbeitung in ­elektronischen Systemen.

Inhalt

Vorwort

Zweites Buch: Rock Is Dead – Long Live Rock (1971 bis 1978)

1.: „Let‘s See Action“: Wieder auf Tour und ein gelungener Rückblick mit Meaty Beaty Big And Bouncy

Erster Einschub: Meaty Beaty Big And Bounc

2.: „Join Together“: Deutscher Frühherbst und Swiss Connections – so aufregend kann ein stilles Who-Jahr sein

3.: Schizophrenie im Quadrat: Der Sprung zurück in die Modkultur und ein zukunftsträchtiges Doppelalbum

Zweiter Einschub: Quadrophenia

4.: Odds & Sods: Bandsalat auf der Bühne, Schätze aus der Rumpelkammer und endlich der Tommy-Film

Dritter Einschub: Odds And Sods

5.: Lauter Nullen, oder was? Über geplatzte Träume, verrückte Hunde und das Malen nach Zahlen

Vierter Einschub: The Who By Numbers

6.: „However Much I Booze“: Neue Schlammschlachten, Alkoholexzesse, eine Tour fürs Finanzamt und der Pakt mit dem Teufel

Bildstrecke

7.: „The Punk And The Godfather“: The Who touren weiter, ihre Erben machen Radau, und dunkle Boten tauchen auf

8.: Who Are You: Vom Erlöschen des Mondes und von einem Stein, der einiges ins Rollen bringt

Fünfter Einschub: Who Are You

9.: „Not to be taken away“: Rekonstruktion eines unglücklichen, aber nicht unerwarteten Todes

„A Cork Modyssey“: Nachwort von Irish Jack

Credits

Quellen

Lesen Sie weiter im dritten Band

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Vorwort

Nachdem der erste Band von Maximum Rock erschienen war, stellten mir Fans, Journalisten und auch Musiker immer wieder zwei Fragen, die ich an dieser Stelle beantworten möchte. Zum einen wollte man wissen, ob ich mit jemandem­ von The Who persönlich bekannt sei, und zum anderen, was mich als bildender Künstler dazu bewogen hat, eine dreibändige Biografie über eine britische Rockgruppe zu verfassen, die trotz ihrer allgemeinen Popularität in Deutschland kaum über den Status einer Kunst- und Kultband für anspruchsvolle Rockmusikliebhaber hinausgekommen ist.

Die erste Frage ist relativ schnell beantwortet. Ich bin mit keinem der beiden­ überlebenden Mitglieder von The Who – Pete Townshend und Roger Daltrey – privat verbunden, noch durfte ich die Verstorbenen Keith Moon oder John Entwistle zu meinen persönlichen Bekannten zählen. Nachdem ich alles über meine Lieblingsrockband gelesen, alles verfügbare Bildmaterial angeschaut und ihre Wegbegleiter, Freunde und Kollegen befragt hatte, konnte ich jedoch ein ausführliches und recht tiefgehendes Interview mit dem dreiundsechzigjährigen Bandleader Pete Townshend führen, das im dritten Band nachzulesen sein wird. Da spricht der geniale Schöpfer der unsterblichen Zeilen „hope I die before I get old“ („My Generation“), der Rockopern Tommy (1969) und Quadrophenia (1973) sowie vieler internationaler Hits über seine Vorstellungen von Gott und Spiritualität, über autodestruktive Kunst und die Disziplin des Komponierens, über Musikbusiness und iTunes, über sein großes Lebensprojekt Lifehouse, die Erfindung seiner Musikkompositionssoftware, das letzte Who-Album, Endless Wire (2006) – und natürlich über The Who und Roger Daltrey, seinen Partner im bald fünfzigjährigen Ringen um „eine Musik, die die Zuhörer dem Himmel näher bringt“.

Diesem Himmel muss ich mich wohl nahe gewähnt haben, als ich mit Maximum Rock begann; denn hätte ich gewusst, was im Verlauf der nächsten Jahre auf mich zukommen sollte, hätte ich sicherlich nie damit angefangen. Und hier setzt die zweite Frage an, die sich etwas schwieriger beantworten lässt.

Ich bin, wie erwähnt, nicht Musikjournalist von Beruf, sondern bildender Künstler. Zwar hatte ich schon einmal über einen längeren Zeitraum hinweg an einem Buch gearbeitet und schließlich, nach achtzehn Monaten, einen Roman veröffentlicht. Danach fehlte mir freilich für viele Jahre die Kraft und die Freude an diesem einsamen Geschäft, das vor allem einen krummen Rücken­ einbringt und den Erfinder einer Gedankenwelt oft mehr vom wirklichen Geschehen entfremdet, als ihm gut tut.

Anfang der neunziger Jahre begegnete ich zufällig einem Jugendfreund ­wieder, der ebenfalls Künstler geworden war. Wir stellten fest, dass wir beide nicht weiterkamen in unserer künstlerischen Entwicklung. Also schlossen wir uns zusammen. Wir gaben uns einen Fantasienamen, unter dem wir gemeinschaftlich agierten wie Musiker in einer Rockgruppe. Wir erschufen über­lebensgroße Gemälde, wie sie einer von uns alleine nie hätte malen können, und unsere Ausstellungen eröffneten wir mit Performances, bei denen es mitunter so laut und so turbulent zuging wie bei einem Rockkonzert. Trotzdem konnte niemand so recht verstehen, warum wir lieber zu zweit malten als allein, denn wir stritten uns häufig und zerfetzten nicht selten die Leinwand, auf der wir seltsamerweise ideale, manchmal sogar fast kitschige Figuren eher herauskratzten als mit Pinsel und Farbe ausarbeiteten. Wir meinten, wir praktizierten­ rock on canvas, Rockmusik auf der Leinwand, und zwar hauptsächlich aus einem Grund: Wir malten zu zweit um Klassen besser als allein.

Ich denke, die Entwicklung der Rockmusik in den sechziger und siebziger­ Jahren ist das Ergebnis vergleichbarer kreativer Prozesse zwischen zwei, drei oder mehr Menschen. Sie werden dadurch ausgelöst, dass sich ungleiche Individuen auf der Suche nach Harmonie zusammentun und ihre internen künstlerischen Auseinandersetzungen vor einem Publikum austragen – offensiv, aber in geregelten, reproduzierbaren, kunstvollen Abläufen. Mit der elektronischen Musik wurde die kreative Spannung innerhalb von Künstlergruppen­ sogar physikalisch messbar, in Volt und Watt; The Who haben mit ihrer ausgeprägten Verschiedenartigkeit die musikalische Reibungsenergie wohl auf eine Weise kultiviert wie keine andere Rockgruppe. Wahrscheinlich hat mich das angezogen. Ich fühlte eine große Neugier und Sehnsucht, nachzuspüren, wie die kreativen Abläufe bei den Rockmusikidolen aus meiner Sturm- und Drangzeit funktioniert hatten, und als The Who 2006 endlich wieder nach Deutschland kamen und ich immer noch keine Biografie über sie finden ­konnte,­ die mir die unverändert machtvolle Energie dieser Gruppe schlüssig erklärte,­ begann ich abermals die Malerei mit der Schreibarbeit zu tauschen.

Ich hoffe, der Leser wird mir nachsehen, dass meine Geschichte der interessantesten Rockband aller Zeiten so voluminös geworden ist. Halbe Sachen passen wohl nicht zum Gegenstand meiner Beschreibung: The Who sind nicht zuletzt ob ihres künstlerischen Eigensinns so tief und so weit vorgedrungen, dass sie ihre Fans fortwährend und innig berühren, und an dieser künstle­rischen Freiheit habe ich mir ein Beispiel genommen.

Letztlich ist es ein Mysterium, was Menschen dazu bewegt, die Welt mit Dichtung, Malerei und Musik auszugestalten. Diesem Mysterium, das man gleichwohl erfahren und beschreiben kann, habe ich mit meinem Epos über die Helden meiner Jugend ein Denkmal zu setzen versucht.

Christoph Geisselhart

Zweites Buch: Rock Is Dead – Long Live Rock (1971 bis 1978)

„Man erwartete von uns, dass wir ,My Generation’ spielten und unsere Gitarren zerschlugen.“

John Entwistle

„Ich hab’ so viele Downers genommen, Tabletten, Mandrax, dass ich weiß: Ich werde sterben.“

Keith Moon in seiner Rolle als verrückte Rock’n’Roll-Nonne in Zappas Roadmovie 200 Motels (1971)

Erfolgreich zu sein ist für Künstler oft eine teuflische Falle. The Who hatten nach ihren Erfolgen im Sommer 1971 einen Gipfel erreicht, von dem aus es eigentlich nur noch bergab gehen konnte. Soeben war ihr heute legendäres Rockalbum Who’s Next erschienen (siehe Band eins dieser Biografie), das die Hitparaden erstürmte. Who’s Next wurde die erste und bislang einzige Nummer eins der Gruppe, und alle Kritiker lobten das Album in den Himmel, obwohl sein musikalischer Schöpfer Pete Townshend es zunächst nur als eine Art Abfallprodukt betrachtete, das die glanzvolle Ausgangsidee seines multimedialen und futuristischen Musikkonzepts Lifehouse, mit dem er dem Niedergang der Rockmusik Einhalt gebieten wollte, höchstens ansatzweise widerspiegelte.

Aus heutiger Sicht ist Petes Enttäuschung nachvollziehbar. Damals gab es in der Tat wenige Menschen, die sich kritisch damit auseinandersetzten, dass der Rock’n’Roll seine Glaubwürdigkeit und die magnetische Anziehungskraft einzubüßen drohte, die er als führende Kraft und unüberhörbare Stimme der Jugendbewegung einstmals unangefochten besessen hatte. Rock’n’Roll stand zwar immer noch für sternhelle Ideale wie Gerechtigkeit, Rassengleichheit oder spirituelle Befreiung, doch mit der kommerziellen Ausbeutung von Rockmusik und Pop gerieten solche immateriellen Werte spürbar ins Abseits.

Zudem zeigte sich, dass der Starkult teilweise beschämende Auswirkungen gezeitigt hatte. Der naive Umgang mit Drogen und Alkohol hatte die ersten Toten gefordert, und die Innovationsfähigkeit der bis dahin unbesiegbar erscheinenden elektrischen Musikrevolution kam mit der einziehenden Dekadenz allmählich zum Stillstand. Im Tonstudio wurde nach und nach so ziemlich alles möglich, was sich die Musiker wünschten. Das war bequem und mochte künstlerisch befriedigend sein; die Massen freilich wollten ihre Idole weiterhin live sehen, wollten unverändert der energiegeladenen Heilswirkung teilhaftig werden, die sensible Musiker wie Pete Townshend bei Rockkonzerten­ aufspürten und wachzurufen verstanden. Um den gewaltigen technischen Aufwand zu finanzieren, den solche Rockmusikmessen in Fußballstadien oder Eissporthallen nötig machten, entfernte sich der Rock’n’Roll allerdings noch weiter­ von seinem Ausgangspunkt wie von seinen Zielen.

Man könnte auch sagen, die Rockmusik war dabei, sich von ihren Wurzeln­ abzukoppeln. Das Gewaltige der Musik – und des Rock’n’Roll im Besonderen­ – ist ja ihre Unmittelbarkeit. Jede Musikaufführung lässt uns am Schöpfungs­prozess teilhaben, während andere Kunstformen wie Literatur oder Malerei den mystischen Prozess der Kunsterzeugung von der späteren Rezeption eindeutig trennen. Das Ereignis der Klanggewinnung bei einem Konzert findet dagegen im selben Moment statt, in dem wir es hören – das ist, als blickten wir einem Maler beim Bearbeiten der Leinwand über die Schulter oder hörten­ den Dichter denken. Und zwar jetzt! Die Gleichzeitigkeit von Schöpfung und Kunstgenuss bei Anwesenheit des Schöpfers und des wahrnehmendem Beobachters ist ein unerhörter metaphysischer Vorgang, den Mystiker aller Kul­turen­ in anderen Zusammenhängen als spirituelle Gipfelerfahrung bezeichnen. Eine Zeitlang dachte man sogar, die Wucht der elektrischen Jugendmusik könne die westliche Welt aus ihrer religiösen Krise befreien. Doch dann kam das Kapital, suchte nach Wegen, das Heilmittel zu konservieren und reproduzierbar zu machen; die Musiker begannen die Annehmlichkeiten in den Tonstudios zu schätzen und die Strapazen von Tourneen zu scheuen, und die vor purer elektrischer Energie bebenden, schlecht beleuchteten, rauchgeschwängerten Bretterbühnen der Klubs und Kneipen rentierten sich nicht mehr. Wie konnte der Rock’n’Roll in dieser veränderten Welt überleben?

The Who wählten nach einigen sogar durchaus erfolgreichen Versuchen, sich dem Wandel der Zeit anzupassen, letztlich die einzig passende Möglichkeit für eine Rock’n’Roll-Band der ersten Stunde: Sie traten live auf. Roger, John und Keith sorgten unablässig dafür, dass die Musik, die Pete in gedeihlicher, aber synthetischer Umgebung komponierte, nicht nur aus der Konserve kam, sondern vor allem auf den Bühnen der Welt zu hören war. Und das war gut so.

Der Sommer 1971, mit dem der nächste Abschnitt in der Geschichte der Who beginnt, markierte auch ziemlich exakt die Halbzeit der vierzehnjährigen Ära des Trommelgenies Keith Moon in der Gruppe. Sieben Jahre zuvor, am 2. Mai 1964, hatte er seinen ersten offiziellen Auftritt mit The Who gefeiert. Die Leser des ersten Bands werden sich vielleicht noch an die wenig erfolgverheißenden Begleitumstände dieser Veranstaltung erinnern: Es war die Geburtstagparty eines unbekannten Mädchens in einer namenlosen Kneipe in West-London; der Strom fiel aus, und Keith spielte das erste und fast einzige Schlagzeugsolo seines Lebens. Ein paar Tage später begannen die Plattenaufnahmen unter dem Namen The High Numbers – unter der Aufsicht ihres tablettensüchtigen PR-Managers, des Modpriesters Peter Meaden, und misstrauisch beäugt von einem Talentsucher im Auftrag der Plattenfirma, bei dem sich Keith am Schlagzeug gegen einen bebrillten Konkurrenten namens Brian Redman aus Liverpool durchsetzen musste.

In den sieben Jahren seither hatten Keith Moon und die Who fast alles erreicht, was der Rock’n’Roll einem Mensch zu bieten hat – und wovon die Band bis heute profitiert. The Who – und mit ihnen die gesamte Jugendmusik­ der sechziger und siebziger Jahre, die man damals noch pauschal Rock’n’Roll oder Rock nennen durfte, ohne sich in cool klingenden musikalischen Gattungsbegriffen oder Subordinationen verheddern zu müssen – schienen in den Augen ihres Songwriters Pete Townshend in eine fatale Sackgasse gestolpert. Doch kaum wurde ihm das in ganzer Wucht bewusst, begannen The Who schon wieder an einem neuen Konzeptalbum zu arbeiten, dessen Titel die Ära des Niedergangs in eine absurde ­Formel gießen sollte: Rock Is Dead – Long Live Rock. Pete wollte in diesem Doppelalbum ähnlich wie in seinem gescheiterten Lifehouse-Projekt die Geschichte der Gruppe und der Rockmusik insgesamt aufarbeiten. ­­

Allerdings entwickelten sich die Prozesse im Studio abermals fort von der Anfangsidee, und The Who besannen sich schon bald wieder darauf, den offensichtlichen Widerspruch zwischen dem verkündeten Ende des Rock’n’­­­Roll und seiner unversehrten Lebendigkeit auf der Bühne auf ihre eigene unnachahm­liche Weise hochleben zu lassen – trotz eines zunehmend im Nebel von Drogenabhängigkeit, ­Alkoholismus und Schizophrenie versinkenden Keith Moon, der sein persönliches Dilemma schließlich nur noch durch ungehemmte Bühnen­aktivität einigermaßen beherrschen konnte. Und als auch diese Möglichkeit ­ausschied, erlahmte seine schier übermenschlich scheinende Energie. Keith Moon verabschiedete sich in den Rock’n’Roll-Himmel, bevor der erste analoge Drumcomputer in Serienproduktion gehen konnte. Als der erst einmal auf dem Markt war, brauchte man theoretisch keinen Schlagzeuger mehr, um im Studio autark Platten aufnehmen zu können. Und tatsächlich wählten auch einige Rockbands diesen für ihre Drummer so schmachvollen Weg der Musikerzeugung, wodurch die Dynamik des selbstredend schwierigeren gemeinschaftlichen Kreativ­prozesses zugunsten von musikalischer Perfektion und Wirtschaftlichkeit ­weiter in den Hintergrund gedrängt wurde.

Dass beherzte Aktionen wie die des Trommelgenies Keith Moon von ­elementarer Wichtigkeit waren, um den Rock’n’Roll am Leben zu erhalten, schien im Sommer 1971 aber noch unzweifelhaft; Showdrummer wie er ­galten­ als die Herzschrittmacher ihrer Musik. Und so ließen The Who sieben weitere­ Jahre auf der Bühne lautstark Taten sprechen, ehe der Tod des verrücktesten Rockstars aller Zeiten die Welt um Vieles ärmer und stiller machen sollte.

Nun aber genug der Vorrede zum zweiten Buch: Let’s see action!

1: „Let’s See Action“: Wieder auf Tour und ein gelungener Rückblick mit Meaty Beaty Big And Bouncy

„Meine Kompositionen werden nicht meine Gedanken ­widerspiegeln, sondern das, was andere Leute denken.“

Petes Lifehouse-Held DJ Bobby

„Betrug! Lügen! Täuschung! Nur darum geht’s nochin der Rockmusik!“

Pete im Rolling Stone, 12. Dezember 1971

„Er will, dass ich das Mädchen mit der Harfe bumse!“

„Er will, dass du das Mädchen … mit der Harfe bumst?“

Keiths Dialog in Zappas Film 200 Motels,bei dem der Who-Drummer auch als Harfespielende Nonne mitwirkte

Obwohl sie allen Grund dazu gehabt hätten, wirkten die vier Mittzwanziger von The Who alles andere als zufrieden und glücklich, als sie dem Presseempfang von Who’s Next beiwohnten. Die halb private Veranstaltung fand in Keiths neuem Heim statt, einem futuristischen Gebilde aus fünf pavillonartig zusammenwürfelten ­Pyramiden mit verglasten Wänden. Keith hatte das zwanzig Hektar große ­Anwesen erst kurz zuvor erworben – für stolze fünfundsechzigtausend Pfund, nach ­heutigem Kurs eine Investition in Millionenhöhe.

Bei den anderen Bandmitgliedern verursachte Keiths Kaufentscheidung nicht nur wegen des hohen Preises Stirnrunzeln. Tara House, wie das Gebäude ließ, vermittelte alles andere als gediegene Bodenständigkeit. Einer der geladenen Gäste merkte gegenüber Pete an, dass wohl nur Keith sich ein Haus wie dieses hatte ausdenken können. Doch Pete erwiderte: „Das ist zwar richtig, aber er hat es sich nicht ausgedacht, und das beunruhigt mich, weil es bedeutet, dass eine weitere Kreatur mit dem Geist eines Keith Moon auf dieser Erde wandelt.“

Tara House lag mitten im Grünen, in den Hügeln von St. Ann’s bei Chertsey, nur knapp eine Autostunde südwestlich des Londoner Stadtzentrums. Der Besitz war entweder nach einem keltischen Heiligtum in Irland benannt worden oder nach dem Anwesen im Film Vom Winde verweht, wie es der Makler Keith weis­machte.­ Jedenfalls hatte Tara House zuvor dem Regisseur Peter Collinson gehört, was ebenfalls symbolträchtig erscheint, wo doch das Medium Film in Keiths Leben und in den Plänen der Who seit einiger Zeit eine wichtige Rolle spielte.

Keith hatte, wie in Band eins beschrieben, von Frank Zappa das Angebot erhalten, in dessen chaotischem Roadmovie 200 Motels eine kleine Rolle zu übernehmen. Natürlich akzeptierte Moon the Loon diese Einladung mit Begeisterung und kostete seinen Part in vollen Zügen aus. Die gesamten Dreharbeiten in den Londoner Pinewood Studios dauerten nur sieben Tage und entwickelte sich dank Moons Mitwirkung zu einer aberwitzigen Dauerparty, bei der hin und wieder auch mal eine Kamera mitlief. Ein richtiges Drehbuch hatte Zappa ohnehin nicht verfasst; er wollte im Grunde etwas Ähnliches wie Pete mit seinem gescheiterten Lifehouse-Projekt: ein multimediales, sich spontan entwickelndes Musikexperiment, das gemeinsam mit dem Royal Philharmonic Orchester in der Royal Albert Hall vor Publikum aufgeführt und gefilmt werden sollte.

Um diese reale Erfahrung herum sponn Zappa die surreale Filmhandlung einer Rockband auf Tournee. Er wollte den Alltag on the road zeigen, frustrierte Musiker, Drogen, miese Auftrittsbedingungen, ständig neue Orte und Hotelzimmer – und nicht zu vergessen die Groupies. Er hatte kurz zuvor in Los Angeles die erste Girlband aus Groupies formiert und produziert, die GTOs (Girls Together Outrage­ously); deren Mitglieder übernahmen i­n Zappas Film eine publicityträchtige Rolle: Sie spielten sich selbst. Zappas Filmego „Jeff der Zwerg“ stellte der ähnlich hakennasige und hohläugige Ringo Starr dar, weil Zappa zu beschäftigt war oder keine Lust hatte, sich selbst zu mimen; der renommierte Schauspieler Theodore Bikel ­­lotste als Conferencier mit deutschem Akzent und lispelnd durch den Film.

Universal Pictures hatte dem Medienverschnitt auf Zelluloid ein Budget von sechshundertsiebzigtausend Dollar zur Verfügung gestellt. Keith Moon bot das Projekt ein denkbar günstiges Forum zur Selbstdarstellung. Das Studio, das einem biederen amerikanischen Provinzstädtchen nachgebildet war, wurde bald zu seinem persönlichen Biotop, zu einem von Alkohol, Pillen, Schlaflosigkeit und mondsüchtigem Irrsinn geprägten Laboratorium des Rock’n’Roll. Der Regisseur Herb Cohen legte sein Amt auf halber Strecke nieder und wollte mit dem Projekt nie mehr in Zusammenhang gebracht werden. Mehrere Mitglieder im Team schieden frühzeitig aus, zwei distinguierte Philharmoniker verweigerten nach der ersten Probe mit Zappas Band The Mothers Of Invention ihre weitere Mitwirkung.

Möglicherweise veranlasste Keiths verwirrender und keineswegs vorgese­hener Auftritt während einer Probe die Kollegen von der E-Musik zum Streik. In ­seiner­ Verkleidung als harfespielende, triebhafte Nonne ließ er sich plötzlich vom wildmähnigen Ringo-Zappa kichernd und kreischend durchs Orchester jagen; er wirbelte Musiker, Stühle, Notenständer und Instrumente durcheinander, bis er mit flatterndem Ordensgewand in der Kulisse verschwand.

Keiths wichtigste Szene spielt in einem Hotelzimmer, wo er als verführte, in wollüstiger Reue sich windende Gottesdienerin von zwei dürftig bekleideten Groupies­ die heilige Kommunion empfängt. Die Hostie entpuppt sich freilich als ­Psychokeks, nach dessen Genuss sich Keith in übertriebener Theatralik auf den Boden schmeißt: „Die Pillen, ich hab’ so viele Downers genommen, Tabletten, Mandrax – so viele, dass ich weiß: Das bedeutet mein Ende! Ich werde sterben!“

So grotesk diese Szene anmutet, so plötzlich trifft die Erkenntnis: Bei Zappas Dreh rechnete damals offenbar noch niemand damit, dass der scheinbar unbesiegbare Komödiant Keith Moon nur sieben Jahre später tatsächlich an einer Über­dosis Tabletten – in Verbindung mit Alkohol – sterben würde.

Keiths Rolle war übrigens einem Mädchen aus der Groupieband GTO nachempfunden. Diese Miss Pamela, die ihren legendären Ruf als Verführerin von Mick Jagger und Jimmy Page gewonnen hatte, war am Set anwesend. Sie spielte aber nicht sich selbst, sondern eine mannstolle Rockjournalistin. Keiths Nonnentracht verwies auf die eigenartige „jungfräuliche Verruchtheit“ von Miss Pamela, die eigenen moralischen Regeln folgte. So behauptete Miss Pamela, geborene Pamela­ Miller, beharrlich, sie habe nie mit einem verheirateten Star geschlafen.

In ihren Memoiren (Pamela Des Barres: Light My Fire – Bekenntnisse eines ­Groupies) kann man nachlesen, dass sie in Keith Moons Fall zunächst keine Ausnahme machte – Keith war ja immer noch mit seiner Kim verheiratet – und lediglich ihre Freundschaft und ihren Trost anbot, während die anderen im Team selbstverständlich davon ausgingen, dass Keith mit seiner neuesten Eroberung das Bett teilte. Sie erzählt:

„Wenn ich nicht im Scheinwerferlicht schwitzte, vertrödelte ich die Zeit mit Keith Moon, der das Universum mit seinem Irrsinn erschütterte. Er füllte den Raum derart aus, dass selbst das Atmen mühselig war. Ich fühlte mich gegen die Wand gedrückt, weil sein Wahnsinn einem derart in die Knochen fuhr. Er rannte in Nonnentracht herum, besprenkelte die Leute mit heiligem Cognac und sorgte fortwährend für Konfusion und Tollheit. Er war unwiderstehlich, gefährlich und herzzerreißend traurig.“

Diese Äußerungen lassen schon darauf schließen, dass die blonde Rocksirene anfing, ihre Haltung zu überdenken und dass sie „Mr. Moon“, der sich unverhohlen an die hübsche Seelenverwandte heranmachte, nicht lange widerstehen konnte. „Ich ging in sein Zimmer und hörte mir seine neuen Who-Nummern an … hervorragend!“ notiert sie am 8. Februar etwas gouvernantenhaft in ihr ­Filmtagebuch. „Armer kleiner Keith, er ist ein trauriger und einsamer Fall. Wenn ich nicht so gehandikapt wäre, könnte ich durchaus geneigt sein, ihm hilfreich zur Seite zu stehen.“ Miss Pamela trauerte um eine verflossene Liebe, und da auch Keith den Verlust seiner Kim ­beklagte,­ scheint die anfängliche Kameradschaft glaubhaft:

„Ich hatte nicht vor, mir Mr. Moon zur Brust zu nehmen, aber ich konnte mich auch nicht überwinden, ihn vollständig auszuschließen. Er half mir wirklich, die Seelenqualen wegen S. in ausführlichen Gesprächen zu verarbeiten, wobei er mich gleichzeitig die feine Kunst des Cognacsüffelns lehrte. Ich nahm an, dass ich ihm irgendwo entlang der schönen Wege wieder begegnen würde.“

Miss Pamelas Annahme sollte sich als zutreffend erweisen. Zuvor aber trennten sich beider Wege wieder. Zappas Projekt endete mit einem kleinen politischen Skandal, als der Manager der Royal Albert Hall die geplante Aufführung der Mothers mit dem Philharmonischen Orchester wegen fortwährender Obszö­nitäten­ in Zappas Umgebung kurzfristig absetzte. Der Meister selbst und seine Musiker­ demonstrierten vor der Halle, entschuldigten sich persönlich bei den geprellten Konzertbesuchern und zogen vor Gericht, während Keith Moon in den Schoß der Who-Familie zurückkehrte, für Lifehouse-Konzerte probte und sein Privatleben in den Griff zu bekommen versuchte.

Der Streit mit Kim hatte endgültig operettenhafte Züge angenommen. Kim war zunächst zu ihren Eltern nach Dorset geflohen, hatte dann aber eine kleine Wohnung in Ealing bezogen, um während der Woche ihre Karriere als Foto­modell zu verfolgen. Keith fand ihre Adresse heraus und klopfte Kim mit für Hollywood tauglichen nächtlichen Szenen weich. Die Nachbarn begannen sich zu beschweren, und Kims Augenringe wuchsen. Zwischenzeitlich verschwand Keith immer für einige Tage, zu Auftritten mit The Who, zu Proben oder zu Mick Jaggers Hochzeit nach St. Tropéz; doch er kam stets wieder. Zudem schickte er Mutter Moon in die Schlacht und ließ seinen sehnsüchtigen Wunsch mitteilen, mit Kim und Mandy in einem neuen Haus einen neuen Anfang zu machen.

Schließlich gab Kim auf: „Alles in allem war es einfacher, zu ihm zurück­zukehren.“ Natürlich wusste sie, dass sie mit zweiundzwanzig Jahren zu alt war, um ihre ­Karriere als Fotomodell fortzusetzen, die sie für Keith abgebrochen hatte, und die Lage der inzwischen fast fünfjährigen gemeinsamen Tochter Mandy machte allen Beteiligten Sorgen.­ „Ich hatte wirklich nicht vor, für lange Zeit zu ihm zurückzukommen“, sagte Kim. „Nur noch so lange, wie wir für einen ­­letzten­ Versuch brauchten, um Mandy eine gewisse Sicherheit zu geben.“ Im Frühjahr 1971, etwa um die gleiche Zeit, als die Aufnahmen­ zu Who’s Next begannen, willigte die seit fast einem halben Jahr von Keith getrennt lebende Kim in den Vermittlungsvorschlag von Mutter Moon ein. Sie beauftragte­ einen Immobilienmakler, den ihr George Harrisons Frau Patti empfohlen hatte, mit der Suche nach einem passenden Wohnobjekt für die wiedervereinigte Familie:­ „Es soll ­außergewöhnlich sein und groß, und nicht zu nahe zu irgendwelchen Nachbarn ­gelegen sein, in deren eigenem Interesse.“

Wenig später wurde ihr Tara House angeboten. Regisseur Peter Collinson, der Vorbesitzer, hatte das Grundstück ursprünglich gekauft, um darauf ein Kloster als Kulisse für einen Film zu errichten. Wenn man sich das Resultat vor Augen führt, scheint Petes Sorge nur allzu gut begründet, dass Keith in dieser Hinsicht nicht der einzige Verrückte auf dieser Welt war. Im Zentrum der Anlage stand die mittlere Pyramide – mit einem etwas abgesenkten Boden, eingelassenen Sitz­gelegenheiten um einen offenen kupfernen Kamin und mit einer fest installierten Musikanlage. In diesem wandhoch verglasten Wohnkäfig spielte sich das tägliche Leben der Moons ab, oder besser gesagt: ihr täglicher Wahnsinn. Richard ­­Barnes,­ Petes Studienfreund und Who-Chronist aus frühen Tagen, zeigte sich noch Jahre später überwältigt, als er über die Zustände in Tara House nachdachte:

„Einmal besuchte ich ihn und blieb dort mehr oder weniger das ganze nächste­ Jahr hängen. In Tara herrschte ein fundamentales Durcheinander. Kim betrachtete es als ihr Zuhause; ihre Mutter und ihr acht Jahre alter Bruder ­Dermott lebten ebenfalls dort. Keith wollte zwar, dass Tara ihr gemeinsames Zuhause war, aber noch mehr sah er es als sein Spielzeug an.“

Keith schien den Kerngedanken von Petes gescheitertem Lifehouse-Projekt auf seine Weise verwirklichen zu wollen. Die meisten Rockstars wollten schnell reich und berühmt werden und entzogen sich dann ihrem Publikum. Keith war grundsätzlich anders. Er suchte das Publikum, immer und überall. Er liebte seine Fans, vor allem deren ungeteilte Aufmerksamkeit, und nutzte jede Gelegenheit, sich mit anderen zu verbrüdern. Im Herzen blieb Keith der größte aller Who-Fans; er bewunderte die Band und sich selbst wie ein Dritter – seine Schizophrenie hatte nicht nur sehr dunkle, sondern auch sehr liebenswerte Seiten.

Pete war inzwischen ebenfalls ein großer Who-Fan geworden. Er hatte erkannt, dass die meisten Rockmusiker in ihrer Karriere einem Automatismus folgten, der sich fatal auswirkte, für den Rock’n’Roll wie auch für die Musiker selbst. Der Fehler, sich vom Publikum abzusondern und die künstliche Überhöhung im Starkult anzunehmen, konnte sogar tödlich sein, wie zum Beispiel das tragische Ende von Jimi Hendrix und Janis Joplin im Jahr davor gezeigt hatte. Pete näherte­ sich dem Problem aber vorwiegend intellektuell und als Künstler. Er erdachte das Gegenprojekt Lifehouse, ohne es leben zu können. In Keith hingegen nahmen alle diesbezüglichen Überzeugungen und Überlegungen Leben an, vor allem die von Pete, den er bewunderte. Keith ­scherte sich nie um die Konsequenzen seines Tuns. Er installierte Tara House als ­reales­ Abbild seiner durch und durch extrovertierten­ Lebenshaltung. „Ich will eine Situation schaffen, in der eine Nonstop-Vierundzwanzig-Stunden-Party abgeht“, erklärte­ er dem beeindruckten Barnes. „Das heißt, wann immer ich von irgendwo zurückkomme, kann ich reinmarschieren und geradewegs dort weitermachen, wo ich aufgehört habe.“ Natürlich funktionierte sein Lifehouse genauso wenig wie das von Pete. Das ­störte Keith aber nicht. Im Gegenteil, Keith liebte das Chaos, er benützte es als Schleier für seine Unsicherheit und als Vehikel für seine großartige, aber unüber­sehbar zerrissene Menschlichkeit.

Tara House war vergleichsweise klein und erlaubte kein echtes Privatleben. Um die zentrale Pyramide scharten sich die vier kleineren, vorstehenden, etwas weniger verglasten Pavillons Wand an Wand. Eine dieser Wohnpyramiden beherbergte Keiths Schlafzimmer mit einem eigenen Bad; die zweite enthielt zwei getrennte Schlafzimmer, vermutlich für Keiths Schwiegermutter Joan und ihren Sohn Dermott, der ebenso alt war wie Mandy; die dritte, das sogenannte Familien­zimmer oder „Studio“, war angefüllt mit Spielzeug, das vor allem Keith ge­hörte, und mit lebensgroßen Marvel-Comicfiguren bemalt; in der vierten Pyramide fanden­ sich die Küche und ein weiteres Schlafzimmer.

Das gesamte Bauwerk sah von oben aus wie die fünf Augen auf einem ­Würfel, wenn man die Spitzen der Pyramidendächer jeweils als Punkte nahm. Viele Dinge konnten in diesem Heim gleichzeitig geschehen; aber man kann sich nur schwer vorstellen, dass in dieser verrückten Umgebung, die baulich wie auch familiär den Keim des Wahnsinns in sich trug, irgendwer Ruhe fand oder gar Geborgenheit. Jedenfalls nicht, solange Keith anwesend war. Richard Barnes erinnert sich:

„Es gab eigentlich zwei Taras. Eines, wenn Keith daheim war, und eines, wenn er nicht da war. Er verbrachte sehr viel Zeit außer Haus, und dann entspannte­ sich die Situation, und jeder lebte fast wie ein normaler Mensch. Aber die Tage, in denen Keith nach Hause kam und Zeit hatte, waren sehr hektisch, lustig, extravagant und neurotisch. Keith war der Prototyp eines tragischen Clowns. Es war unmöglich, den wahren Keith zu erkennen, er hatte so viele unterschiedliche Persönlichkeiten. Sein exzessiver Alkoholgenuss und die Pillen machten es nicht besser. Wenn er zur Ruhe kam, fühlte er sich unglaublich einsam und unglücklich. Keith liebte Aktivität, er liebte es, beschäftigt zu sein, im Mittelpunkt zu stehen, Leute zum Lachen zu bringen. Und natürlich schaffte er das auch immer. Keith war ja nicht bloß ein Witzbold; er war wirklich geistreich und originell. Ich kenne niemanden, der es geschafft hätte, bei Keith das letzte­ Wort zu behalten.“

Tag und Nacht wurden in Tara House Schallplatten und Musikkassetten abgespielt, und zwar in jedem Zimmer andere und gleichzeitig. Keiths Schlafzimmer hatte eine eigene Anlage mit zwei riesigen Who-Bühnenlautsprechern; Roadies hatten sie ihm installiert. Dazu kam die Stereoanlage im Wohnzimmer; in Joans Zimmer war ein Kassettenrecorder, in der Küche gab es zusätzlich noch ein Radio, und im Studio fand sich obendrein noch eine Jukebox. Hier wurde zwischen den professionell auf die Wand gepinselten Supermännern auch der Schnaps auf­bewahrt: „Ich habe Keith so betrunken gesehen, dass er kurz vor dem Wegtreten war“, erzählt Barnes. „Aber immer blieb er noch so lange bei Bewusstsein, um ein Bonmot zu hinterlassen, bevor er zusammenbrach.“

Ein wesentlicher Vorzug von Tara House war die dreihundert Meter lange ­Privatzufahrt. Hier konnte Keith nicht nur ungestraft seinen luxuriösen Fuhrpark demolieren, sondern auch persönlich in einem seiner drei Rolls Royce zum nächsten Pub vorfahren, der just am Ende dieser Privatstraße stand. Richard Barnes beschreibt seine umnebelten Tage in Chertsey:

„Das Leben in Tara spielte sich zwischen der Bar in Keiths Studio und der nahen Kneipe ab. Tara war eine Alkoholfalle. Am Morgen oder wann immer die Leute erwachten, wurdest du schon von einem großen Gin Tonic geweckt. Oder von einem ‚Joan Collins‘, einer tödlichen Mischung aus der Hand von Keiths Schwiegermutter. Was wir als leichte Drinks betrachteten, wurde uns während des Tages stetig zugeführt: Gin, Wodka, versetztes Bier, wahlweise im Pub oder im Haus. Nach achtzehn Uhr wurde dann ernsthaft getrunken. Joan wechselte von Gin auf Whiskey, und Keith stieg auf Cognac um. Die Tage verschwammen regelrecht, jeder Kater versank beim nächsten Gin-­Frühstück im Bett. Die meisten Leute, die Tara besuchten, gerieten in den Sog dieser Alkoholfalle. Wir entwickelten sogar ein Witzdrehbuch zu einem Abenteuer namens Flucht aus Tara: Da schmiedete man Pläne, einen Stollen unter dem Grundstück hindurch zu graben, aber man wurde immer erwischt und zu zwei großen Gin Tonic verurteilt.“

Alle paar Tage musste die nüchternste Person die knapp dreihundert Meter zum Golden Grove Pub am Ende der Privatstraße fahren und Nachschub holen. Allein Keiths Spirituosenrechnungen in den drei Jahren, die er in Tara House lebte, müssen­ den Kneipier reich gemacht haben. Dafür konnte man schon in Kauf nehmen, dass Mr. Moon kapriziöse Eigenarten an den Tag legte, wenn er nicht prompt bedient wurde. Einmal folgte er seiner exhibitionistischen Neigung und legte sich quer über den Tisch – „nackt, so schnell wie der Blitz, und wir wurden umgehend bedient“, so Barnes. Oder Keith hüpfte in seinen Rolls, fuhr zurück nach Tara und tauchte mit einer Schrotflinte wieder auf: „Er feuerte in die Decke und jedes Geräusch im Pub erstarb. Als alle zu uns rüber glotzten, sagte er nur ganz ruhig: ‚Ausgezeichnet. Das wären dann drei große Courvoisier, amerikanisch zubereitet, zwei Krüge feinstes Schwarzbier und eine Bloody Mary ohne Worcestershire-Sauce.‘ Bei anderer Gelegenheit bestellte er einen Hubschrauber und ließ sich die dreihundert Meter zum Pub fliegen …“

Normalerweise aber fuhr Keith – was in jeder Hinsicht bedenklich war. Er setzte­ sich nämlich nur ans Steuer, wenn er betrunken genug war, um seine Angst davor nicht zu spüren. Nach dem Tod seines Chauffeurs Neil Bolands unter Keiths eigenem Bentley (siehe Band eins) hatte Keith, der ursprünglich alles andere als ein Automobilliebhaber gewesen war, absurderweise begonnen Fahrzeuge zu sammeln. Neben den drei Rolls Royce – einem lilafarbenen, mit Fernseher und Bar ausgestatteten Silver Cloud Mk III, einem Phantom 5 Baujahr 1962 und einer neuen, schneeweißen und siebzehntausendfünfhundert Pfund teuren Corniche als Alltagsgefährt – besaß Keith einen Jaguar E-Type, zwei Chrysler (davon eine Wimble­don-Limousine von 1937), einen Morgan, einen Mercedes 350 SL, einen Ferrari und einen AC Cobra, der damals als schnellster Straßensportwagen der Welt galt und der zuvor Led-Zeppelin-Drummer Jon Bonham gehört hatte. Und alle diesen teuren und schönen Traumfahrzeuge landeten entweder im Graben oder wurden in den Teich gesetzt, blieben an der Einfahrt hängen oder in Eisenbahnschienen stecken, endeten in Baustellen oder auf dem Schulhofspielplatz seiner­ Tochter. „Er war erstaunlich unverwundbar“, schreibt Barnes, „aber seine Autos wurden alle verschrammt und verbeult. Er fuhr allein den Mercedes, einen Chrysler Hot-Rod und den Morgan­ zu Schrott, während ich in Tara war – innerhalb von zwei Tagen. Und er stieg jedes Mal lachend und grinsend aus, rieb sich die Hände und überließ es Dougal, die Sache wieder in Ordnung zu bringen.“

Peter „Dougal“ Butler hatte Keiths letzten Chauffeur „Chalky“ abgelöst. Dies war auf Betreiben Kims und anderer wohlmeinender Ratgeber geschehen, weil sich der frühere Roadie von Viv Stanshall in kürzester Zeit Keiths Gehirnwäsche unterworfen und den rasanten und narkotisierenden Lebensstil seines Brötchengebers adaptiert hatte. Dougal Butler dagegen war ein bewährter und zuverlässiger­ Helfer im Who-Tross und kannte Keith seit 1967 – als der ihm gleich am ersten Arbeitstag eine Rauchbombe ins Führerhaus eines Who-Transporters geworfen hatte. Dougal erzählt:

„Ich hatte gerade bei John Entwistle aufgehört, als sie mir sagten, wofür sie mich brauchten. Ich dachte, oh nein, bitte das nicht; aber dann meinten sie, es sei dringend. Sie gaben mir Bedenkzeit bis Mitternacht. Am nächsten Morgen war ich um zehn Uhr in Tara. Keith schleifte mich in seine Stammkneipe und schaffte es, mich in kürzester Zeit völlig betrunken zu machen. Dann gab er mir zwei Tage frei. Den Rolls fuhr er eigenhändig nach Hause.“

Das war der Beginn einer schier unglaublichen sechsjährigen Dienstzeit. Butler war der einzige Mensch, der Keith über längere Zeit hinweg ertragen konnte, ohne verrückt zu werden, und er schaffte es als einziger, Keiths exzessive Lebensweise einigermaßen sicher im Griff zu behalten.

„Dougal hatte einen der schwierigsten Jobs auf dieser Erde“, meint Bill Curbishley, der 1970 zum Label Track/New Action gestoßen war und The Who fast vierzig Jahre später immer noch als persönlicher Manager betreut. „Keith konnte seine Leute wie ein Stück Scheiße behandeln, er tyrannisierte sie, manipulierte, drohte,­ strafte. Aber ­Dougal verspürte eine aufrichtige Zuneigung zu Keith, während andere­ ihn am liebsten in der Luft zerrissen hätten. Ich denke, Keith war sicher aufgehoben bei ­Dougal.“

Auch Peter Rudge, der damals für das tägliche Geschäft verantwortlich war, meint, Keith sei in Dougals Obhut gut aufgehoben gewesen, berichtet aber auch, dass Keith seine Angestellten üblicherweise „wie Hunde behandelte“ und ihnen keinerlei Respekt entgegen brachte. Umso erstaunlicher, wie Dougal die Dinge betrachtet:

„Er war einfach nur ein Freund, zu dem ich gehen konnte, um ein paar Bier zu trinken, einer, der Probleme mit seiner Frau hatte und einen Kumpel ­brauchte.­ Er war ein Mensch, den ich sehr, sehr mochte und um den ich mich gern kümmerte, egal, ob er der Schlagzeuger in einer berühmten Rockgruppe­ war oder in einer Garagenband um die Ecke spielte.“

„Dougal kriegte das wirklich gut auf die Reihe“, bestätigt Kim Moon. „Er hatte die Fähigkeit, mit Keith zusammen Spaß zu haben und trotzdem sein eigenes Leben zu führen. Er lebte ja auch nie in Tara, obwohl wir ihm ein ­Zimmer eingerichtet hatten. Natürlich hatten sie auch ihre Auseinandersetzungen, aber Dougal konnte mit Keiths Stimmungsschwankungen umgehen, was eine ziemliche Leistung war.“

Das größte Problem für Dougal war, dass „Keith immer selbst ans Steuer ­wollte,­ sobald er besoffen war“. Jeder wusste, dass Keith nicht Auto fahren durfte­ und es auch nicht konnte. Trotzdem bestand er darauf, boxte seinen Chauffeur zur Seite oder umging ihn einfach, und Dougal musste damit klarkommen, dass sein verrückter Dienstherr ein ums andere Mal Fahrzeuge ruinierte, die jedem Automuseum als Schmuckstück gereicht hätten. Dougal erzählt:

„Vor allem den Ferrari Dino, den wir 1972 kauften, nachdem sich Roger einen zugelegt hatte, liebte ich sehr. Wir hatte ihn gerade vier Wochen, als Moonie anrief: ‚Dougal, du wirst nicht glauben, was passiert ist. Da waren ein paar Motorradfahrer, nette Typen, und sie wollten mal eine Runde drehen. Also gab ich ihnen den Schlüssel. Unglücklicherweise haben sie die Baustellen­schilder übersehen …‘“

Für Keith waren tolle Autos nichts weiter als Spielzeuge – und was ihre Anschaffung und die unvermeidlichen Reparaturen an Geld verschlangen, gehörte nach seiner Auffassung ins Werbebudget. Sein Ruf als exzentrischster und wildester Rockstar seiner Zeit beruht auch auf den vielen mal wahren, mal erfundenen und mal gestellten Stories rund um seinen Fuhrpark. Dass er eine seiner Nobelkarossen gezielt in den Hausteich steuerte, um ein Foto für die Presse davon machen zu lassen, ist bekannt. Auch der legendäre Milchwagen war ein Pressegag: Ein Herrenmagazin wollte einen Artikel über den außergewöhn­lichen Automobilbestand der vier Who-Mitglieder schreiben. Rogers Beitrag war sein Sportwagen, ein extravaganter Stingray. Pete stellte seinen neuen Mercedes vor und John den riesigen, speziell nach seinen Wünschen gefertigten Cadillac, den er gerade erst für Unsummen aus den USA per Schiff importiert hatte. Selbstverständlich erwartete man, dass Keith mit dem lila lackierten Rolls Royce vorfahren würde. Doch am Nachmittag vor dem Foto- und Interviewtermin klingelte das Telefon im Büro des Who-Managements Track Records. Keith verlangte einen Milchwagen: „Bis morgen.“

Track-Mitarbeiter Jack McCulloch setzte Himmel und Hölle in Bewegung und schaffte es ­tatsächlich, einen Milchwagen aufzutreiben – und zwar in Hounslow. Bis das ulkige Gefährt, das inklusive Transport ungefähr soviel gekostet hatte wie eine moderne Familienlimousine, am Bahnhof von Chertsey stand, verging ein Tag. Keith wollte es in seiner Garage abstellen, um die Reporter zu überraschen. ­Leider hatte er aber noch keinen Garagenschlüssel, weil darin immer noch der Flitzer vom Vorbesitzer von Tara House, Regisseur Peter Collinson, stand, eine rosa lackierte Corvette, „der perfekte Ausdruck des Autos als Penisverlängerung“, wie Keiths Biograf Tony Fletcher schreibt. Das Garagen­schloss aufzubrechen, war das geringste ­Problem; aber wohin mit dem exklusiven Sportwagen? „In den Teich!“ entschied Keith, ohne zu zögern. Das Vorhaben­ misslang, aber mit der Corvette in der Hecke und einem stolz prä­sen­tierten Milchwagen in der Doppelgarage lieferte Keith wieder einmal eine Zeitungsstory, die der Band viel Aufmerksamkeit einbrachte.

Die beiden berühmtesten Autolegenden von Keith sind allerdings, wie in Band eins berichtet, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wahr: Den Lincoln im Pool des Holiday Inn hat es nie gegeben, und Keith hat auch keinen Rolls Royce ins hauseigene Schwimmbecken gefahren; schon deswegen nicht, weil er gar keinen Pool hatte. Keiths Pläne, ein eigenes Schwimmbad – mit Unterwasserbar! – im Garten­ einzurichten, war an den horrenden Kosten von fünfunddreißigtausend Pfund vorzeitig gescheitert. Keith, der Geld schneller ausgab, als es gedruckt werden konnte, geriet während seiner Zeit in Tara House nämlich in erhebliche finanzielle Schwierigkeiten. Regelmäßig kam ein Abgesandter von Track oder New Action und erläuterte ihm, dass er bankrott sei und sich keine weiteren Extravaganzen mehr leisten dürfe, wenn er von einem erzwungenen Gefängnisaufenthalt verschont bleiben wolle. Richard Barnes erlebte einen dieser wirtschaftlichen Zusammenbrüche Keiths hautnah mit:

„Er rief uns zusammen und sagte, er sei vollkommen pleite und müsse wahrscheinlich ins Gefängnis und seinen Lebensstandard herunterfahren. Als erstes drehte er die Heizung ab. Es wurde unangenehm kalt im ganzen Haus, was Keith nicht bemerkte, weil er meistens im Bett lag und Kassetten hörte. Als Kim und Joan vom Einkaufen zurückkamen, bekam er einen Anfall, hielt ihnen Konservendosen entgegen und sagte, dass sie künftig nichts anderes mehr einkaufen dürften. Er schraubte alle überflüssigen Glühbirnen aus ihren Fassungen,­ und er bestand darauf, dass die Flaschen zurückgebracht wurden, um das Pfand zu bekommen; fast hätte er sogar den Schnaps rationiert. Das ging vier Tage so – und dann kam er von der Eröffnung eines neues Geschäfts zurück, völlig begeistert über ein diamantbesetztes Uhrenarmband, das er für sechshundert Pfund gekauft hatte, was ungefähr dem Preis eines Mitteklasseautos entsprach. Hoch erfreut beschrieb er uns den Anzug, den er in dem Laden gesehen hatte – er hatte gleich sechs Stück davon bestellt. Außerdem war er ein bisschen verärgert, dass es im Haus so kalt und dunkel war, und dass es nichts Anständiges zu essen gab …“

Keith hatte schon immer mehr Geld ausgegeben, als er besaß. Er war schlichtweg unfähig, den Wert des Gelds an sich zu schätzen, sondern liebte es, un­geheuer spendabel­ aufzutreten und andere zu beschenken. Er kaufte seiner Schwieger­mutter,­ die bei ihm umsonst wohnte, ein Cabrio für ihre ausgedehnten Einkaufstouren; auch sein Vater bekam ein Auto – der bodenständige Alf Moon wollte ­freilich nur einen VW. Keith lud alle Freunde ein, bei ihm zu wohnen, er ver­köstigte­ Gott und die Welt und bezahlte immer die Zeche, wenn ihn Fans in einer Kneipe ansprachen. Roger, John und Pete akzeptierten die Ausgabenwut ihres „PR-Direktors“ Moon. Roger und John allerdings nur mit zusammengebissenen Zähnen, weil es ihr Geld war, das Keith verschleuderte, wenn sein Anteil aufgebraucht war. Doch vor allem Pete, der dank seiner Songwritertantiemen wesentlich­ mehr verdiente als die anderen, steckte regelmäßig hohe Beträge in die „Geldvertilgungs­maschine“­ Moonie. Zahlungsunfähig wurde Keith deshalb nie, auch wenn er zeitweise gigantische Schulden aufhäufte. Die anderen waren sich stets bewusst: Als Werbe­medium­ war „Moon the Loon“ für The Who unbezahlbar.

Und dieser Einsatz war auch erforderlich, wenn The Who ihren finanziellen Status aufrecht erhalten wollten. Auf dem Papier besaßen sie zwar Millionen, doch die hohen Steuersätze in England, die neuen Häuser, die teuren Autos und der extravagante Lebensstil, an den sich alle schnell gewöhnt hatten – all das sorgte dafür, dass unter dem Strich deutlich weniger übrig blieb als erwartet. Noch flossen­ den Who-Konten stetig berauschend hohe Einnahmen zu, mit drei Alben in den US-Charts – Tommy, Live At Leeds und dem unaufhaltsam aufsteigenden Who’s Next. Doch was, wenn diese Quellen versiegten?

Am Rand von Keiths feuchtfröhlicher Einweihungsparty, in der traum­haften­ Atmosphäre von Tara House und umschmeichelt von einer ungewöhnlich warmen englischen Julinacht, unterhielt sich Pete mit Presseleuten über die Pläne der Band. Pete präsentierte sich, wie immer bei solchen Anlässen, als verantwortungsbewusster, eloquenter und vorausdenkender Rockstar, ein Bild, das er selbst von sich entworfen hatte und an dem er festhielt, obwohl er Anfang des Jahres fast daran zerbrochen wäre. Er sprach über die gesellschaftlichen Aspekte von „Won’t Get Fooled Again“, das sich rasch zum Hit entwickelte, und über die Lage der Musikindustrie. Die Gäste und Journalisten betranken sich unterdessen an Keiths Hausbar, kauten sich durchs Buffet und vergnügten sich mit bereitwilligen Groupies zwischen den Büschen. Es war eine bizarre,­ unwirkliche Situation, doch Pete hatte die von Who-Manager Kit Lambert ausgegebene Who-Maxime – „alles, was abnormal ist, ist normal“ – ebenso verinnerlich wie Keith und alle, die mit The Who zu tun bekamen.

Die Idee, einen Who-Film zu produzieren, war in Petes Überlegungen unverändert präsent. Noch immer ging es darum, einen glaubwürdigen Vertreter der eigenen Spezies im Rahmen eines Rock’n’Roll-Kunstepos zu erschaffen, „den ersten echten Superstar, der es verdient, so genannt zu werden“, wie er es in seiner­ Hauskolumne im Melody Maker formuliert hatte. Sicherlich wollte er selbst an diesem­ Vorbild gemessen werden, wenn er verkündete: „Rockmusik muss mit einer Antwort aufwarten können!“

Pete meinte solche Statements stets aufrichtig. Jedenfalls während er sie aussprach. Er war frei von Zynismus, wenn er über die gesellschaftliche Bedeutung von Rockmusik und die Rolle von Stars räsonierte. Doch sein ambitioniertes Lifehouse-Projekt, mit dem er diese Fragen beantwortet sehen wollte, war gescheitert, und darunter litten sein Selbstverständnis und sein Sendungsbewusstsein erkennbar. „Vielleicht war die Gruppe nicht das passende Medium dafür. Die Band ­glaubte,­ wir sollten besser das Banner der sechziger Jahre und der Who hochhalten, als etwas Neues zu versuchen, wozu wir vielleicht nicht fähig waren. The Who sind The Who sind The Who – und darin hängen wir ziemlich fest.“

Für die Welt klangen solche resignierenden Töne mehr als verwunderlich. The Who hatten soeben ein bahnbrechendes Album hingelegt, das als ihr erster Longplayer in den britischen Charts die Spitzenposition eroberte und das Kritiker schon bald als Klassiker einstuften. Sie standen auf dem Zenit ihres Ansehens als beste Liveband der Rockmusik, hatten Geld wie Heu, verständnisvolle Frauen und bald wieder jede Menge Groupies. Denn Pete verkündete in Tara House auch die Daten einer unmittelbar bevorstehenden Nordamerikatournee.

Heute, da die USA zum Inbegriff bigotter Prüderie geworden sind, hört es sich beinahe unglaubhaft an, dass die Vereinigten Staaten in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren für britische Rockmusiker das El Dorado schlechthin bedeuteten. Dort lag das Geld praktisch auf der Straße, und man wurde allein wegen seiner Herkunft als Englishman wie ein Götterbote verehrt – vor allem vom weiblichen Geschlecht. „Die Frauen waren dort viel lockerer“, erklärte Tour­manager Wiggy Wolff. Er meinte damit: williger. „Du musstest dich bloß umdrehen, und schon war da wieder eine, die dir einen blasen wollte. Das war eine fantastische Sache. Es war Befreiung, eine andere Welt. Das Tollste an Amerika war der Sex. Rock’n’Roll wird von Sex angetrieben, und auf Tournee zu gehen, bedeutete Sex. Deshalb hieß es immer: Schnell, wir müssen nach L. A.! Los Angeles­ war das Größte. Wir freuten uns immer darauf wie auf Weihnachten.“

Auch in New York kamen die Bands und ihre Crews auf ihre Kosten. Und in Chicago gab es die Plaster Casters, zwei Mädchen, die ihre Rockidole auf sehr spezielle Weise verewigten: Sie brachten das beste Teil des Musikers mit Fingerfertigkeit und gekonntem Zungenspiel in eine unter diesen Umständen größtmögliche Stattlichkeit, gossen schnelltrocknendes Alginat darüber und fertigten so einen gummiartigen Negativabdruck. In die Gussform wurde daraufhin Gips gefüllt, und während der Trocknungsphase erhielt der malträtierte Musikus seine verdiente Belohnung. Dann lösten die Mädchen das Alginat ab und bekamen den Phallus eines Rockhelden in ewiger kalkweißer Erektion.

Cynthia Albritton, eine der beiden berühmt gewordenen Gipsgießerinnen, geht ihrem Kunstwerk angeblich immer noch nach. Auf ihrer Website hat sie eine Liste ihrer Opfer und Gipsexponate bis 2006 veröffentlicht. An Position #00007, knapp hinter Jimi Hendrix und direkt vor Led Zeppelins Tourmanager Richard Cole, stößt man auf folgenden Eintrag: „Bob Pridden, 8/1/68 (Road Manager —- The Who)“. Das bedeutet, dass der kleine Soundtechniker bereits am 1. August 1968 vor, während oder nach dem Auftritt im Electric Theatre von Chicago eine Probe seiner Männlichkeit abgegeben hat.

Der Bitte, uns von ihrer Arbeit mit dem aufrechten Bobby zu berichten, wollte­ Cynthia leider nicht entsprechen, da sie gerade an ihrer Autobiografie schreibe und sich vertraglich entsprechend gebunden sah; aber immerhin bestätigte sie mir: „Bob Pridden – oh yes.“

Tony Fletchers Anekdote, wonach Keith ebenfalls einen Abdruck von sich in Aussicht stellte und die Mädchen aus dem Hotelzimmer warf, weil die Gießflüssigkeit zu heiß für sein bestes Stück war, scheint hingegen eine Fabel zu sein. Doch wenn schon Wiggy Wolff und Bobby Pridden, als Roadies und frühe Halbglatzenträger nicht unbedingt Männer von eminenter erotischer Strahlkraft, mit so erstaunlichen Angeboten bedacht wurden – wie intensiv dürften dann erst die Rockstars den amerikanischen Himmel der Sinnlichkeit erfahren haben?

Rogers Beteuerung, mit dem Kapitel „Groupies“ bereits Ende der sechziger Jahre abgeschlossen zu haben, erscheint unter diesen Umständen fragwürdig. Vermutlich war sein Dementi mehr dem Umstand geschuldet, dass er zehn Tage vor Beginn der US-Tournee, am 19. Juli 1971, seine langjährige Lebensgefährtin Heather­ Taylor heiratete. Übrigens auf kuriose Weise gleich zweimal: Der erste Vermählungsversuch hatte im Standesamt von Battle, nahe ihrer neuen Besitzung Holmhurst Manor, schon sechs Wochen vorher stattgefunden.

Roger und Heather hatten eine riesige Feier organisiert, mit vierhundert ­ge­ladenen­­ Gästen und einem eigens auf dem Nachbarfeld errichteten Jahrmarkt. Als der Tross zum Standesamt gezogen war, erklärte der Beamte den geschockten­ Brautleuten, dass er die Trauung nicht vollziehen könne, da Rogers Scheidung von Jacqueline noch nicht aktenkundig geworden sei. Roger behielt einen kühlen­ Kopf und entschied, die Festlichkeiten einfach weiterlaufen zu lassen – ohne die Gäste von der überraschenden Wendung in Kenntnis zu setzen. „Das war die ­verrückteste Hochzeitsfeier, die man sich vorstellen konnte: ohne Hochzeit“, erzählt Roger.

Der Standesbeamte spielte mit, und am 19. Juli traf man sich wieder, in aller Stille, nur mit den Trauzeugen, um die Eheschließung der vierundzwanzigjährigen­ Heather mit dem drei Jahre älteren Who-Sänger nun auch offiziell zu voll­ziehen. „Meine Ehe ist aus zwei Gründen erfolgreich“, erklärt Roger im Rückblick stolz: „Erstens weil ich das Glück hatte, die richtige Frau zu finden. Wir sind praktisch in der gleichen Straße geboren worden und lernten uns in New York kennen.­ Und zweitens: Heather weiß, wer ich bin. Ich habe ihr nie etwas über mich vorgemacht und immer versucht, ehrlich zu sein.“

Das war bestimmt kein einfacher Weg, die Beziehung zwischen einem Rockstar und einem ehemaligen Mannequin, das bald Mutter werden sollte, auf absoluter Ehrlichkeit aufzubauen. Aber es klappte. Rogers Ehe hat als einzige der vier Who-Musiker gehalten und scheint auch nach sechsunddreißig Jahren intakt.

Keiths Ehe dagegen existierte offenbar schon 1971 nur noch auf dem Papier, wie der Teilzeitmitbewohner Richard Barnes berichtete:

„Kim hätte es lieber gesehen, wenn er sein eigenes Leben geführt und sie in Ruhe gelassen hätte. Keith war sehr lustig, lebendig und spitzbübisch, so dass es schwierig war, ihn nicht zu mögen. Aber er konnte unglaublich gefühllos sein. Wie er die still leidende Kim behandelte, war manchmal regelrecht grausam. Sie war sehr geduldig und verständnisvoll, aber nie sagte er ihr, was er vorhatte. Er riss andere Mädchen in den Clubs auf und schleppte sie sogar mit nach Tara. Er konnte völlig unvernünftig und selbstherrlich sein.“

Er konnte auch herrlich selbstlos sein, oder unglaublich gefühlvoll; nur eines war er tatsächlich nie: vernünftig. Welcher andere Schlagzeuger wäre sonst auf die Idee gekommen, beim Bangladesh-Wohltätigkeitskonzert in London, das vor über ­dreißigtausend Zuschauern in einem Kricketstadion über die Bühne ging, zum ersten Who-Song mit Kricketschlägern statt mit Trommelstöcken zu spielen? The Who trugen mit ihrem gespendetem Honorar von gut neuntausend Pfund großzügig zum Gesamterlös der Veranstaltung bei, und Pete opferte vor den begeisterten Fans eine Gibson SG – aber worüber sprach man nach dem Konzert wohl am meisten?

Möglicherweise wollte Keith mit seinem spektakulären Auftritt auch nur darauf hinweisen, dass seine Inspiration auf der Bühne litt, weil er und die ganze Gruppe vorproduzierten Bändern folgen mussten. „Ich muss mit einem Tonband zusammen spielen“, erklärte Keith zu Beginn der US-Tournee frustriert. „Und wenn das Band nicht läuft, läuft gar nichts.“

Leider funktionierte die damals einmalige Kooperation von Mensch und Maschine auf der Bühne tatsächlich nur bedingt. Bob Pridden hatte den undankbaren Job übernommen, die Tapes zeitgenau während der Gigs einzuspielen und ihre korrekte Widergabe zu überwachen. „Ich habe heute noch Alpträume“, berichtet der Tourtechniker. „Ich drücke auf einen Knopf, und nichts passiert. Oder ich drücke, und das falsche Band spielt ab. Oder ich habe die Bänder ­verloren, vergessen, sie sind irgendwo, und die Jungs stehen auf der Bühne und schauen mich an …“

Meistens schauten sie nicht nur, sondern brüllten, tobten, fluchten, denn solche Missgeschicke geschahen alles andere als selten. Vor allem Pete ließ dabei jeglichen Humor vermissen. Einmal ging er dem Who-Tontechniker sogar regelrecht an die Gurgel, prügelte ihn zornentbrannt über die Bühne und verfolgte den Fliehenden bis hinter die Bühne, während der Rest der Band ratlos zurückblieb. Pete entschuldigte sich später aufrichtig und ausgiebig, und Bob verzieh und kündigte nicht, was er möglicherweise mehr als einmal bereute, denn das Problem wurde nie ganz gelöst, und Pete blieb ein hitzköpfiger Wüterich, wenn auf der Bühne etwas nicht funktionierte.

„Wir brauchten die Sounds von Who’s Next“, sagt Roger. „Ich hasste die Bänder­ auch. Wir waren nicht mehr frei zu tun, was dem Gefühl nach richtig gewesen wäre. Wir steckten in einer Maschinerie. Für den Sound war das perfekt; auf der Bühne klangen wir stärker und kraftvoller denn je. Wir spielten ja nach wie vor nur zu viert. Aber unsere Kreativität litt, jedenfalls was meine Parts betraf.“

Auch Keith hatte anfangs große Probleme, den vorgegebenen Takt der eingespielten Synthesizertracks einzuhalten, weil die Monitortechnik damals noch nicht so ausgereift war, dass er etwas anderes als sich selbst hören konnte, wenn er spielte. Schließlich benutzte er Kopfhörer; aber schon das erste US-Konzert in New York bewies, dass auch das seine Tücken hatte: „Ich hatte meine Kopfhörer auf“, erzählt Keith, „und spielte zu ‚Won’t Get Fooled Again‘, und plötzlich raste Bobby auf mich zu, mit einem gefüllten Wassereimer. Er starrte mich an, als wollte er mir das Wasser über den Kopf gießen. Also sprang ich auf, drehte­ meinen Kopf, und da pufften Rauchwölkchen aus den Ohrhörern – das verdammte Ding brannte!“

Keith rannte vor lauter Aufregung über die heiße Angelegenheit an seinen Ohren in Johns mahagonifarbene 1964er Gibson Thunderbird, die am Verstärker lehnte. „Und wenn man so eine Thunderbird umschmeißt, bricht sie genau am Sattelsteg“, erklärt John, der darüber so empört war, dass er das teure Lieblingsstück in seiner Sammlung wutentbrannt gleich vollends zerschlug. Glücklicherweise besaß er zwei davon; aber noch in seinem posthum 2004 erschienenen Bildband Bass Culture zeigte sich John verärgert über Keiths „Tollpatschigkeit“ an jenem regnerischen Abend.

Elektrische Gitarren waren freilich das Geringste, was damals im Forest-Hills-Stadium zerstört wurde. Viel erschütternder und nachhaltiger wirkte der Tod eines einundzwanzigjährigen Ordners, der vor dem Stadion von einem Jugendlichen niedergestochen wurde, den er nicht einlassen wollte, weil er kein Ticket besaß. The Who waren geschockt. Konnte es sein, dass ihre Musik Gewalt im Publikum auslöste?

„Jugendlicher bei Rockkonzert getötet“ – so titelten die Zeitungen; aber Keith meinte, man könnte genauso gut auch „Rock bei Jugendkonzert getötet“ schreiben, das träfe ebenso zu.

Wie die Stones nach der Messerstecherei von Altamont erlebten auch die Who, dass die dunkle Energie des Rock’n’Roll, seine Aggressivität und sein Frustrations­potenzial, sich nicht bloß auf die Geschehnisse auf der Bühne beschränkten. Die Kraft, die Rockgruppen freisetzten, ließ sich in Wahrheit weniger steuern, sondern lenkte sogar sie selbst. Wohin bewegte sich der Rock’n’Roll? Was war aus seinen­ ursprünglichen Idealen geworden? Ging es noch um die Befreiung des ­Menschen durch Musik, um Kunst und Jugend, um Gleichheit ohne Rassenschranken, um Gerechtigkeit in einer Welt mit ungleich verteilten Gütern, um die ­spirituelle ­Harmonie mit dem Universum? Hatten nicht längst die Machtgier der Plattenbosse und die Selbstsucht der Musiker über den Edelsinn gesiegt, ­Korruption und Dekadenz über Weitsicht und Uneigennützigkeit, Profitwahn und Genusssucht über Freiheit, purer kommerzieller Selbsterhaltungstrieb über Mut, Lebens­freude­ und Würde?

Nach zwanzig hektischen Tagen zwischen New York und Chicago, während denen sie vor über zweihundertzwanzigtausend Menschen auftraten und acht von Pete zerschmetterte Gibson SG hinterließen, flogen The Who nach England zurück. Es war an der Zeit, sich ernsthaft mit der Zukunft der Band auseinanderzusetzen. Pete berief eine offizielle Zusammenkunft ein, die in Rogers Anwesen in Burwash stattfand und von zwei Townshend-Spezies, Chris Morphet und Richard Stanley, gefilmt wurde. In erster Linie sollte über Petes Idee eines Who-Films diskutiert ­­werden.­­ Doch bald entwickelte sich der sogenannte „Gedankenaustausch“ zu einer mentalen Schlacht, die von Petes scharfer Zunge dominiert wurde.

„Was trieb uns denn dazu an, rüber zu gehen und Amerika zu erobern?“, fragt der lange Heißsporn in Morphets Film. Er sitzt mit seinen Bandkollegen an einem Tisch und ist genervt von deren oberflächlicher Witzelei, und so beginnt er mit zersetzender Lust, ins eigene Fleisch zu stechen und das Messer gezielt in der offenen Wunde herumzudrehen. „Weil wir von dem ganzen Geld besessen sind, das wir angenommen haben! Wir sind besessen von einer zirkusartigen Inszenierung! Lasst es uns doch zugeben: Wir wollen nur das Geld! Wir haben uns kaufen lassen!“

Keith widersprach, er brauche die Show, er fühle sich nicht in der Lage, einfach nur so Schlagzeug zu spielen. Dass Geld für ihn keine Bedeutung habe, sagte er nicht. Er wusste, dass auch er durchaus Geld brauchte, um es mit vollen Händen­ ausgeben zu können, um Leute auszuhalten, blödsinnige Dinge wie Milchautos oder mittelalterliche Schießprügel zu kaufen, Hotelzimmer zu zerstören oder Fernsehgeräte aus dem fahrenden Rolls Royce schmeißen zu können. Keith geriet plötzlich derart in Fahrt, dass sein altes Trauma aus ihm herausbrach und er in bitterem Spaß keifte: „Ich verlasse die Band und steige bei einer größeren ein. Ihr drei Typen hier seid so humorlos, von der übelsten Sorte.“

John bemühte sich, die Wogen zu glätten. Er wollte die Auseinandersetzung versachlichen. Er fand die Idee gut, einen objektiven Film über das Rockbusiness zu drehen, ganz nüchtern und ohne Verklärung – eine Dokumentation. Roger nutzte Johns Vermittlungsversuch, um Pete anzugreifen. Wie so oft nannte er dessen­ Ideen abstrakt und sehr gewagt; vor allem aber kritisierte er, dass Pete sich wie ein Diktator aufführe, was diesen direkt in die Kamera blicken und verkünden­ ließ: „Ich trage hier die Verantwortung. Wir sind an einen Punkt angelangt, an dem wir erkannt haben, dass das hier“ – er ließ seinen Arm windmühlenartig kreisen­ – „nicht gut ist; es ist unterste Schublade, wir können das nicht weiter machen – wir haben beschlossen, einen Film zu drehen.“

Punkt, Klappe, Schnitt.

In einer ruhigeren Minute erklärte es Pete so: „Ich habe einfach das Gefühl, dass die Band unbedingt einen Film machen sollte. Die ganze Who-Organisation, unser gesamtes Team eignet sich dafür – ich denke nicht, dass es viele Rock­gruppen­ gibt, die so viel über Rockshows auf der Bühne wissen und die gleich­zeitig­ einen solchen Mangel an notwendigem Ego haben, um das aufrecht zu erhalten.­ Wir brauchen dringend einen Film.“

Er sagte es zwar auf die falsche Weise, aber seine Analyse war richtig. Pete ahnte wohl als einer der ersten Musiker, dass Rock’n’Roll zwar nicht starb, doch am Ende seiner Entwicklungsmöglichkeit als Massenkommunikationsmittel angekommen war. Das künftige Vehikel, mit dem sich wirkungsvoll Botschaften unters breite Publikum bringen ließen, war der Film. Hier entstanden die Visionen der Zukunft, in Bildern, nicht in Klängen. The Who waren älter geworden, und Pete brauchte ein anderes Medium für seine Ziele. Rock’n’Roll lieferte die für jede Ära notwendigen Heldengeschichten auf einer langfristig schwer vermittelbaren, fast kindischen Ebene. Der rauschhafte Persönlichkeitskult der sechziger Jahre, unter dem viele Heroen des Rock’n’Roll zerbrachen, musste sich zwangsläufig wieder aufs Zelluloid richten, wo die Figuren buchstäblich künstlich und unsterblich sind, unverwundbarere Projektionen der menschlichen Leidenschaft.

Pete begriff, dass das Licht, aus dem Filmhelden geschaffen werden, dem tieferen, langwelligeren Frequenzbereich, in dem die Musik ihre Abbildungsplattform findet, überlegen ist, wenn man eine Botschaft verbreiten will. Musik wirkte vielleicht subtiler, aber nie machte sie die Zusammenhänge der Welt so transparent, wie Pete das vorhatte. Die Frage war nur, ob The Who auf dieser neuen Matrix ebenso­ große Wirkungskraft entfalten konnten wie auf der Bühne. In ihrer Musik hatten sie genial­ schlichte Perfektion und unvergleichliche Sinnlichkeit durchgesetzt. Wenn es die göttliche Note in der Rockmusik gab, den universalen Einheitsakkord – entstand er dann nicht während Tommy oder bei „Won’t Get Fooled Again“ im magischen Zusammenspiel zwischen einer gedankenlos dahintuckernden Klangmaschine­ und einem stampfenden, wirbelnden, urlebendigen Keith Moon?

Nachdem Pete seine neue Marschrichtung in die Kamera diktiert hatte, war es nur eine Frage der Zeit, wann sich The Who einem eigenen Filmprojekt zuwenden würden. Doch zunächst erhielten Petes ehrgeizige Pläne einen Dämpfer: Die Option, die Universal Pictures auf einen Tommy-Film hatte festschreiben lassen, verstrich. Universal stieg aus den Vereinbarungen aus, da Pete keine Anstalten unternommen hatte, Lamberts Drehbuch, das er abgelehnt hatte, zu verbessern. Tommy interessierte Pete nicht mehr, und das war nicht nur für Universal unverständlich.

Kit Lambert, der exzentrische Who-Manager, hatte sich vollends nach New York zurückgezogen, tief verletzt und enttäuscht, da Pete in Interviews zu Who’s Next kaum eine Gelegenheit ausließ, auf die mindere Soundqualität früherer Who-Alben hinzuweisen, die Lambert produziert hatte, während er die Arbeit von Tonmeister Glyn Johns in den Himmel lobte. Johns aber war nach Lamberts Ansicht ein Verräter, ein Vasall seines Widersachers Shel Talmy gewesen, und dass die Who diesen Diener eines falschen Herrn ihm vorzogen, tat doppelt weh.

Doch eigentlich waren das nur vorgeschobene Scharmützel. Die Entfremdung zwischen Pete und seinem einstigen Mentor war im Grunde vorprogrammiert gewesen, denn Kit und The Who hatten noch nie wirklich übereinstimmende Ziele verfolgt. Der intelligente, zynische Lebemann Lambert benutzte und durchdrang zwar die Wirkung der Rockmusik, aber sein Musik- und Kunstverständnis orientierte sich an der Klassik und am Barock. Er gehörte einer anderen gesellschaftlichen Schicht und einer älteren Generation an; ihn faszinierten am Rock’n’Roll vor allem die schier grenzenlosen Möglichkeiten zur Selbst- und Außendarstellung. „Kit redet immer noch von Konzerten auf dem Mond“, lästerte­ Pete. „Wir denken inzwischen vollkommen anders.“

The Who liebten die Rockmusik an sich und waren dafür bereit, sich mit den unterschiedlichsten Einflüssen auseinanderzusetzen. Roger Daltrey und Keith Moon zum Beispiel hätten wohl nie aus eigenem Antrieb einen Barockkomponisten wie Henry Purcell gehört. In Tommy waren die divergierenden Vorstellungen und Fähigkeiten von Kit Lambert und The Who zu einem grandiosen Werk verschmolzen. Mit Who’s Next wurden die Unterschiede aber wieder manifest und endgültig.

Kit hatte seine künstlerischen Ziele nach Tommy zunehmend von der Gruppe gelöst und verfolgte eigene Projekte. Das operative Tagesgeschäft von Track und New Action führten schon längst angestellte Direktoren der verschiedenen Geschäftsbereiche, so dass Lambert und sein Partner Chris Stamp eigentlich nur noch wie früh ergraute Aufsichtsräte über ein stetig wachsendes Who-Imperium wachten.