Tiefenpsychologisch fundierte Verhaltenstherapie - Alexander Reichardt - E-Book

Tiefenpsychologisch fundierte Verhaltenstherapie E-Book

Alexander Reichardt

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Beschreibung

Verhaltenstherapeutische Praxis mit psychodynamischem Blick erweitern, verstehen und erfolgreicher gestalten - Relevant: Akuter Bedarf am Austausch der verschiedenen Therapieschulen - Gut verständlich: Psychodynamische Konzepte auch mit wenigen Vorkenntnissen erschließen - Persönlich und empathisch: Im Tonfall eines Vorschlags verfasst Psychodynamische Praxis ist von einer spezifischen Herangehensweise gekennzeichnet, die eine Haltung, eine Form der Wahrnehmung und ein ganz eigenes Verstehen umfasst. Sie ermöglicht es, mit der Offenheit und Frische des Therapiegeschehens produktiv zu arbeiten, ohne diesem immer neue Konzepte oder Techniken »auferlegen« zu müssen. Ziel dieses Buchs ist es, das ganz Spezifische und Eigene der psychodynamischen Herangehensweise für die verhaltenstherapeutische Arbeit anwendbar zu machen. Der Autor vermittelt die Inhalte in einer für Verhaltenstherapeut:innen vertrauten Methodik – strukturiert, praxisnah und unter Zuhilfenahme von Schaubildern, Leitfäden und Arbeitsblättern.  Schritt für Schritt erarbeiten Sie sich ein tiefenpsychologisches Fundament, das Ihre verhaltenstherapeutische Fallkonzeption und Behandlung von Beginn an trägt, ergänzt und "behütet". Durch die Sensibilisierung für unbewusste Wirkfaktoren können blinde Flecken, Fallstricke und mögliche Rückfälle frühzeitig erkannt, mit den psychodynamischen Instrumenten verstanden und ggf. verhaltenstherapeutisch bewältigt werden. Die therapeutische Praxis wird dadurch umfassender und zugleich präziser. Indem Sie Ihr eigenes Erleben als bedeutungstragendes Therapieelement einbeziehen, werden innere Freiheit, Wohlbefinden und Sinnerleben gefördert. 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 510

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Cover for EPUB

Alexander Reichardt

Tiefenpsychologisch fundierte Verhaltenstherapie

Psychodynamisch denken – verhaltenstherapeutisch handeln

Schattauer

Die digitalen Zusatzmaterialien haben wir zum Download auf www.klett-cotta.de

bereitgestellt. Geben Sie im Suchfeld auf unserer Homepage den folgenden Such-Code ein: OM40166

Impressum

Praxis für Psychotherapie

Alexander Reichardt

Eichenallee 5, 14050 Berlin

Deutschland

[email protected]

Besonderer Hinweis:

Die Medizin unterliegt einem fortwährenden Entwicklungsprozess, sodass alle Angaben, insbesondere zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren, immer nur dem Wissensstand zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches entsprechen können. Hinsichtlich der angegebenen Empfehlungen zur Therapie und der Auswahl sowie Dosierung von Medikamenten wurde die größtmögliche Sorgfalt beachtet. Gleichwohl werden die Benutzer aufgefordert, die Beipackzettel und Fachinformationen der Hersteller zur Kontrolle heranzuziehen und im Zweifelsfall einen Spezialisten zu konsultieren. Fragliche Unstimmigkeiten sollten bitte im allgemeinen Interesse dem Verlag mitgeteilt werden. Der Benutzer selbst bleibt verantwortlich für jede diagnostische oder therapeutische Applikation, Medikation und Dosierung.

In diesem Buch sind eingetragene Warenzeichen (geschützte Warennamen) nicht besonders kenntlich gemacht. Es kann also aus dem Fehlen eines entsprechenden Hinweises nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe

Schattauer

www.schattauer.de

© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltungskonzept: Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg

Cover: Bettina Herrmann, Stuttgartunter Verwendung einer Abbildung von © nicemyphoto/Adobe Stock

Gesetzt von Eberl & Koesel Studio, Kempten

Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg

Lektorat: Barbara Buchter

Projektmanagement: Dr. Nadja Urbani

ISBN 978-3-608-40166-0

E-Book ISBN 978-3-608-12225-1

PDF-E-Book ISBN 978-3-608-20645-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Geleitwort Dr. Lars Hauten

Geleitwort Prof. Dr. Matthias Berking

Vorwort

1 Einleitung

2 Theoretische Grundlagen

2.1 Erkenntnishaltung

2.2 Das Unbewusste

2.3 Die vier Psychologien

2.3.1 Triebpsychologie

2.3.2 Ich-Psychologie

2.3.3 Objektbeziehungstheorie

2.3.4 Selbstpsychologie

2.3.5 Exkurs: Neuere Entwicklungsvorstellungen

3 Zentrale Dimensionen

3.1 Konflikt

3.2 Beziehung

3.3 Struktur

3.4 Exkurs: Frühe Störung vs. strukturelle Störung vs. Traumafolgestörung

4 Die Praxis

4.1 Einen Bezugsrahmen schaffen

4.1.1 Äußerer Rahmen

4.1.2 Die therapeutische Haltung als innere Orientierung

4.1.3 Übertragung–Gegenübertragung

4.1.4 Symbolische Einstellung und Deutung

4.1.4.1 Symbolische Einstellung

4.1.4.2 Deutung

4.1.5 Wahrnehmen – Beschreiben – Deuten

4.2 Psychodynamische Fallkonzeption

4.2.1 Erstkontakt, Szene, Gesprächsverlauf

4.2.1.1 Erstbegegnung und Szene

4.2.1.2 Gesprächsverlauf

4.2.2 Biografie

4.2.3 Auslöser der Störung und Symptomwahl

4.2.4 Ein psychodynamisches Verständnis erarbeiten

4.2.5 Schlussfolgerungen für die Praxis – Schwerpunkte setzen, Fallstricke erkennen

4.3 Psychodynamisch denken – (besser) verhaltenstherapeutisch handeln

4.3.1 Wann psychodynamisch denken?

4.3.2 Das Blickfeld weiten – eine psychodynamische Haltung einnehmen

4.3.3 Prüfung des psychodynamischen Hintergrundes und deutende Einordnung

4.3.4 Handeln? Und wie?

4.3.4.1 Handeln zum Verstehen – Einsicht entwickeln und vermitteln

4.3.4.2 Handeln aus Verstehen – Präzision und Bedeutungsfülle

5 Nachgedanken

Literatur

Anhang

Arbeitsblatt 1 – Äußerer Rahmen

Arbeitsblatt 2 – Haltung

Arbeitsblatt 3 – Erstbegegnung, Szene

Arbeitsblatt 4 – Gesprächsverlauf

Arbeitsblatt 5 – Biografie, auslösende Situation, Symptomwahl

Arbeitsblatt 6 – Fallkonzeption

Arbeitsblatt 7 – Therapieplanung

Arbeitsblatt 8 – Klärungsschema

Arbeitsblatt 9 – Handlungsvorbereitung

Arbeitsblatt 10 – Stundenprotokoll

Sachverzeichnis

Geleitwort Dr. Lars Hauten

Buchtitel nach dem Schema »abc denken – xyz handeln« wecken Interesse (wir denken an Rudolf 2019 oder Fürstenau 2017). Solche Titel verheißen etwas: Das Versprechen, Grenzen aufzubrechen, Bezüge herzustellen, in Netzen statt in Kaskaden zu denken. Und gleichzeitig werden fast reflexhaft Zweifel geweckt: Das große Projekt einer »eklektischen Psychotherapie« (Norcross 1986) ist auch nach 25 Jahren intensiver Forschung noch längst nicht vollendet. Soll also weiter Wasser in den Wein gegossen oder gar freigiebig Gold an eine Kupferschmiede verschenkt werden?

Meine Neugier war also geweckt, als mir das Manuskript von Reichardt nahegebracht wurde. Dies vor dem Hintergrund, dass wir am Berliner ppt-Institut seit vielen Jahrzehnten mit einer irgendwie integrativen Grundhaltung Psychotherapie lernen und lehren. Ein lieb gehegter Traum war es, eine Art »Wörterbuch« herzustellen, mit welchem die verschiedenen psychotherapeutischen Sprachen und Dialekte ineinander übersetzt werden können. Doch dies ist auch mit KI nicht zu haben. Was wir aber herausfinden konnten und immer wieder zu leben versuchen, ist Folgendes: Auf dem common ground, dass Psychotherapie in und mit Beziehung funktioniert, ist es möglich, die Verfahren respektvoll nebeneinanderzustellen und Schnittmengen übereinanderzulegen. Wir nennen das »Verfahrensdialog« (Geckle 2020).

Nun also liegt der Entwurf vor für eine »tiefenpsychologisch fundierte Verhaltenstherapie«. Kann das gelingen?

So viel vorab: Es kann!

Reichardt stellt sich der herkulisch anmutenden Aufgabe, das psychodynamische Denken nicht nur verständlich darzustellen, sondern obendrein auch noch für Verhaltenstherapeutinnen und -therapeuten praktisch nutzbar zu machen.

Dies gelingt, indem zunächst ein knapper Abriss der psychodynamischen Theoriebildung vorgenommen wird. Die Fülle und Reichhaltigkeit der psychoanalytisch-psychodynamischen Theorienvielfalt kann manchmal wie ein dschungelhafter Wildwuchs wirken. Daher wird die Ideengeschichte mit und in der Theorieentwicklung verschiedener »Schulen« nachgezeichnet. Ausgangspunkt bietet die schon etwas in die Jahre gekommene, in der Psychodynamik aber immer noch gültige Sortierung anhand von »Säulen« (Pine 1990). Diese Darstellungsform ist direkt anschlussfähig an moderne Formen der Theorienforschung in der Psychotherapie (Strauß et al. 2021). Dieser Buchteil ist insofern hervorzuheben, als die Theorie- und Methodenvielfalt es ungemein schwer macht, sich einen schnellen Überblick zu verschaffen. Ein umfängliches Handbuch allein über die Grundbegriffe erzeugt schnell vierstellige Seitenzahlen (Mertens 2022), und auch praxisbezogene Erläuterungen fallen eher schwergewichtig aus (Jungclaussen 2018).

Sodann wird das psychodynamische Denken störungsspezifisch verdeutlicht: Das Störungsrational wird anhand der zentralen ätiopathogenetischen Faktoren (von Reichardt Dimensionen genannt) Konflikt, Beziehung, Struktur und Trauma verständlich dargelegt. Es wird so möglich, die zuvor entwickelte Theoriegeschichte in ihrer Relevanz für ein psychodynamisches Fallverständnis zu erkennen. Für das Buchmotiv von entscheidender Bedeutung dürfte es sein, dass das zentrale psychodynamische Element der Fokussierung auf unbewusste Prozesse zu einer veränderten Haltung führen sollte.

Abschließend wird das von den verhaltenstherapeutischen Leserinnen und Lesern vielleicht am sehnlichsten erwartete Versprechen eingelöst, das dargelegte psychodynamische Denken in der Praxis einzusetzen. Hier wird Reichardt sehr konkret: Anhand von spezifischen Fallkonstellationen wird verdeutlicht, welche behandlungspraktischen Anreicherungen aus einem psychodynamisch fundierten Denken folgen. Für die Lesegeduld belohnt werden sie darüber hinaus mit einem Token, welches aus VT-Lehrbüchern wohlbekannt ist: Arbeitsblätter und konkrete Handlungsanweisungen ermutigen dazu, das eigene Interventionsrepertoire spielerisch zu erweitern.

Was dem Buch jedoch fehlt, ist eine »Gebrauchsanweisung«. Wie ist es von wem zu lesen? Diese Lücke erlaube ich mir zu füllen, indem zunächst naheliegende Missverständnisse ausgeräumt werden:

Der Titel legt nahe, dass das Buch als Anleitung eigentlich nur für Verhaltenstherapeutinnen und -therapeuten geeignet wäre. Dies ist nicht der Fall. Auch als erfahrener Psychodynamiker war die Lektüre für mich sehr gewinnbringend. Und es ist schön, eine Quelle zu haben, bei der wir uns auch konkreter Handlungsanweisungen bedienen können, ohne Arbeitsblätter quasi heimlich von unseren VT-Kolleginnen und -Kollegen zu stehlen. Denn allen Vorurteilen zum Trotz sind auch die psychodynamischen Psychotherapien beweglich – in Theorie und Praxis (Wöller 2022). Verfahrensdialog ist eine Zweibahnstraße. Es gibt für Psychodynamikerinnen und Psychodynamiker also keinen Grund, das Buch nicht zu lesen.

Das Buch ist kein eklektisches Add-On für die verhaltenstherapeutische Praxis. Eine Suche in die Richtung »Bei Problem X verwende ich standardgemäß Intervention Y; mal gucken, ob die Psychodynamik mir zusätzlich Intervention Z als Behandlungsalternative anbietet« wird mit Reichardt nicht von Erfolg gekrönt sein. Denn es geht um etwas der Intervention Vorausgehendes, eine Erweiterung des Denkens und einen Shift in der Haltung, was dann erst im zweiten Schritt die Interventionspraxis anreichert.

Wie also ist vorzugehen? Das Buch eignet sich sehr gut dafür, in einem Rutsch gelesen zu werden. Die systematische Logik und der Aufbau der Anreicherung kann so gut nachvollzogen werden. Es kann aber auch ganz anders verwendet werden: Die Leserinnen und Leser dürfen es getrost auch auf den Kopf stellen und beherzt schütteln, auch dann wird etwas Interessantes herausfallen. Konkret meint das: Bei Interesse können auch einfach zunächst die Fallgeschichten gelesen werden oder – wenn es ganz eilig ist – auch die Arbeitsblätter zur Anwendung kommen, und die konzeptionelle und theoriegeschichtliche Lektüre wird auf einen regnerischen Nachmittag verschoben. Auch dies wäre eine denkbare Anwendungsform, solange die Leserin oder der Leser sich darüber im Klaren ist, dass Missverständnis zwei dennoch gilt: Dass sie oder er nicht einfach ein Zusatztool anwendet, sondern sich auf eine Haltungsänderung einlässt.

Und wer soll dies nun tun? Die erste, von Titel und Ansatz nahegelegte Zielgruppe dürften Praktikerinnen und Praktiker der Verhaltenstherapie sein. Ich bin sicher, dass die Lektüre nicht nur gewinnbringend sein wird, weil Neues entdeckt wird, sondern auch, weil vermutlich (im Sinne der theorielosen Integration) längst Praktiziertes nun endlich Namen bekommt.

Wie bereits erwähnt, ist das Buch aber auch für Psychodynamikerinnen und Psychodynamiker interessant. Im Sinne des zirkulären Fragens kann es erhellend sein zu hören, wie quasi von der anderen Seite aus auf die eigenen Konzepte geschaut wird.

Last not least sei das Buch auch allen empfohlen, welche sich der psychotherapeutischen Praxis erst annähern wollen. An den Universitäten sind die Studierenden entweder einer Methodeneinfalt ausgesetzt, oder sie stehen vor einem theorielosen Bündel an Kompetenzbereichen, die vermutlich eher selten miteinander in eine logische Verbindung gebracht werden. Hier kann es enorm hilfreich sein, das Pendeln zwischen Verfahrensspezifität und Durchbrechen der Schulengrenzen praxisnahe veranschaulicht zu bekommen. Und was ist mit Ausbildungskandidatinnen und -kandidaten? Unsere Erfahrungen mit dem Verfahrensdialog zeigen, dass die Wege der psychotherapeutischen Identitätsbildung verschieden sind. Viele suchen zunächst nach einer Identifikation mit dem »eigenen« Verfahren, um sich dann die anderen Ansätze mit anzueignen. Andere wiederum weigern sich von Beginn an, allzu enge Tellerränder zu akzeptieren. Es bleibt abzuwarten, wie es für die neuen – dann ja vorab verfahrensbreit ausgebildeten – Weiterbildungskandidatinnen und -kandidaten sein wird.

Reichardt selbst verfügt über sowohl verhaltenstherapeutische als auch psychoanalytische Fachkunde. Es steht zu vermuten, dass ihm ganz persönlich ein seltenes Kunststück gelungen ist: Nämlich die verschiedenen Aspekte der unterschiedlichen Ansätze in sich zu integrieren (pun intended), ohne die Seiten zu wechseln (wie wir es von einigen Größen unserer Zunft kennen). Wohl deshalb gelingt es Reichardt, die Leserinnen und Leser abzuholen und einzuladen. Stärken und Schwächen der jeweiligen Ansätze werden liebevoll balanciert, sodass sich eine Synergie voll entfalten kann.

Der Autor ist sich des spannungsgeladenen Ausgangspunktes seiner Reise wohl bewusst: »Noch immer ist die Schulenorientierung für viele Psychotherapeutinnen emotional hoch besetzt und Teil der therapeutischen Identität« (S. 15). Dem ist mit Rudolf (2016) zu entgegnen: »Gute Therapeuten statt richtiger Identitäten!«

Dem Buch sind selbstverständlich viele interessierte Leserinnen und Leser zu wünschen. Mehr noch: Es gehört in die Bibliothek eines jeden Ausbildungsinstitutes – unabhängig davon, welches Verfahren dort gelehrt wird.

Berlin, Juli 2023

Dr. Lars Hauten

Geleitwort Prof. Dr. Matthias Berking

Die Verhaltenstherapie hat in den letzten Dekaden auf beeindruckende Weise Erklärungsmodelle für psychische Störungen sowie Methoden zur Behandlung dieser Störungen entwickelt. Diese Erfolge sind nicht zuletzt der großen Offenheit zu verdanken, welche die Verhaltenstherapie jedweder potenziell therapeutisch nutzbaren Idee entgegenbringt. Basierend auf dieser Offenheit wurden in den letzten Jahrzehnten Ideen aus humanistischen, systemischen, achtsamkeitsbasierten und psychodynamischen Ansätzen »geklaut« bzw. in den Methodenkanon der Verhaltenstherapie integriert. Eine solche grundsätzliche Offenheit gegenüber neuen Ideen kann sich die Verhaltenstherapie leisten, weil es für sie aufgrund ihrer wissenschaftlichen »DNA« selbstverständlich ist, dass sich die Nützlichkeit neuer Ideen erst in hinreichend validen Studien erweisen muss, bevor diese Ideen für den Einsatz in der klinischen Praxis empfohlen werden können.

Aber bevor eine Idee einer wissenschaftlichen Prüfung unterzogen werden kann, muss man sie erst einmal verstehen. Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich sagen, dass dies im Fall psychodynamischer Ideen zuweilen alles andere als leicht sein kann. Seit meinem Studium habe ich immer wieder mit Texten in psychodynamischen Lehrbüchern gerungen. In vielen Fällen erschienen mir die postulierten Theorien als unnötig komplex, die Argumentationslinien als in sich widersprüchlich, der Wahrheitsanspruch als zu hoch und zu unbelegt, die präsentierten Belege als zu anekdotisch oder zu sehr auf die Meinungen vermeintlicher Autoritäten gestützt. Außerdem schien mir der Umfang der Theorie in keinem angemessenen Verhältnis zum Nutzen für das konkrete therapeutische Handeln zu stehen. Die daraus resultierende Frustration legt dann oft eine Abkehr vom psychodynamischen Diskurs nahe.

Doch wie schade wäre es, diesen Schatz an Ideen einfach so links liegen zu lassen? Legt uns die therapeutische Arbeit nicht täglich nahe, wie wichtig es ist, sich am Einzelfall zu orientieren? Und selbst wenn wir Konzepte wie das Unbewusste, Konflikte, Abwehr, Übertragung, Gegenübertragung etc. nicht als zentral für jede Behandlung ansehen, ist es dann nicht doch sehr wahrscheinlich, dass diese Konzepte in Einzelfällen eine wichtige Rolle spielen können? Und sollten wir uns nicht bestmöglich auf diese Fälle vorbereiten? Und als Teil dieser Vorbereitung auch in der Lage sein, die »psychodynamische Brille« aufzusetzen und eine psychodynamische Fallkonzeption der verhaltenstherapeutischen zur Seite zu stellen, sodass wir beide Perspektiven für die Entwicklung einer maximal erfolgversprechenden Therapieplanung nutzen können?

Wenn Sie diese Fragen für sich bejahen, stellt sich darüber hinaus allerdings die Frage, wie man sich das dafür notwendige Wissen aneignen sollte. Eine mögliche Antwort auf diese Frage halten Sie gerade in der Hand.

In »Tiefenpsychologisch fundierte Verhaltenstherapie« gelingt es dem Autor, der sowohl die Fachkunde für Verhaltenstherapie als auch die Fachkunden für tiefenpsychologisch fundierte und analytische Psychotherapie erworben hat, die oft nur schwer nachvollziehbaren Grundannahmen der psychodynamischen Tradition auf eine Weise darzustellen, die sie zumindest erahnbar machen. Insbesondere schafft er es, mit Hilfe nachvollziehbarer Schaubilder und Arbeitsblätter aufzuzeigen, wie eine konkrete Anwendung dieser Theorien in der Praxis aussehen kann.

Ebenfalls von hoher Praxisrelevanz scheint mir die vom Autor vorgeschlagene Verbindung von Verhaltenstherapie und psychodynamischer Therapie zu sein. Dieser Vorschlag zielt interessanterweise weder darauf ab, ein Verfahren dem anderen anzugleichen oder es in dieses zu integrieren, noch darauf, die Verfahren als lediglich verschiedene Sprachen zur Beschreibung identischer Ideen darzustellen und eine synoptische Übersetzungshilfe zu bieten. Stattdessen wird mit der Idee einer »Tiefenpsychologisch fundierten Verhaltenstherapie« eine Brücke geschlagen, welche Verfahren, die auf (unbewusste) Bedeutungen fokussieren, systematisch mit dem konkreten Einsatz bewältigungsorientierter Methoden zu verbinden sucht.

Mit der nachvollziehbaren Beschreibung psychodynamischer Ideen und der Gewährleistung des Praxisbezugs adressiert der Autor auch den im Rahmen der Revision der Psychotherapeut*innenausbildung noch einmal gestiegenen Bedarf an didaktischen Hilfestellungen für den Erwerb verfahrenstranszendierender therapeutischer Kompetenzen.

Auf der Grundlage dieser Eindrücke und Einschätzungen wünsche ich diesem Buch und den darin beschriebenen Ideen viel Erfolg und eine große Leserschaft!

Erlangen, August 2023

Prof. Dr. Matthias Berking

Vorwort

Dieses Buch hat sich lange in mir »zusammengebraut«. Als Verhaltenstherapeut und Psychoanalytiker habe ich das Privileg, von Vertreterinnen beider Verfahren in meiner jeweils anderen therapeutischen Persona angesprochen zu werden und die Annahmen, Vorurteile, Fragen und Anregungen zum jeweiligen »Konkurrenzverfahren« zu hören. Mir kam dann oft die Rolle zu, die eine Methode gegenüber der anderen zu erklären und nicht selten auch zu verteidigen, was dazu beitrug, auch meine eigene Haltung gegenüber den Verfahren und deren Verhältnis zueinander sowie möglicher Verbindungen und Unterschiede zu klären. Das Buch ist Ausdruck und Ergebnis dieses Klärungsprozesses.

Dabei reifte in mir mehr und mehr die Einsicht, dass das unterscheidende und entscheidende Merkmal des psychodynamischen Ansatzes nicht so sehr in der Theorie, der Art des Handelns, den Techniken und Interventionen liegt, sondern in einer spezifischen Herangehensweise, die eine Haltung, eine Form der Wahrnehmung und ein ganz eigenes Verstehen umfasst, die es ermöglichen, mit der Offenheit und Frische des Therapiegeschehens produktiv zu arbeiten. Das ganz Spezifische und Eigene der psychodynamischen Herangehensweise zu vermitteln und für die verhaltenstherapeutische Arbeit anwendbar zu machen, ohne den Druck, dem Therapiegeschehen nun ein weiteres Konzept oder neue Techniken »auferlegen« zu müssen, ist das Ziel des Buches.

Im Buch wird Schritt für Schritt ein tiefenpsychologisches Fundament erarbeitet, das die verhaltenstherapeutische Fallkonzeption und Behandlung von Beginn an trägt, ergänzt und »behütet«. Durch die Sensibilisierung für unbewusste Wirkfaktoren können blinde Flecken, Fallstricke und mögliche Rückfälle frühzeitig erkannt, mit den psychodynamischen Instrumenten verstanden und ggf. verhaltenstherapeutisch bewältigt werden. Die therapeutische Praxis wird dadurch umfassender und zugleich präziser. Indem wir das eigene Erleben als bedeutungstragendes Therapieelement einbeziehen, werden innere Freiheit, Wohlbefinden und Sinnerleben gefördert.

Das Buch vollzieht einen didaktischen Dreischritt von der Theorie (Kapitel 1 und 2) über die Ableitung zentraler Denkinstrumente (Kapitel 3) hin zur Praxis (Kapitel 4):

Im theoretischen Teil werden nach einer Einleitung zum Thema in einem kurzen Überblick die wichtigsten Strömungen der psychodynamischen Tradition dargestellt und deren zentrale Konzepte und Begriffe eingeführt. Diese sollen auch mit wenigen Vorkenntnissen nachvollziehbar und die Inhalte anschaulich werden. Ähnlichkeiten und Unterschiede zu verhaltenstherapeutischen Vorstellungen werden reflektiert, um den Kern des jeweiligen Beitrags herauszuarbeiten.

Kapitel 3 leitet anschließend die zentralen Dimensionen für eine tiefenpsychologische Fundierung ab. Diese sind Konflikt, Beziehung und Struktur. Die drei Dimensionen dienen als Verständnisinstrumente, Orientierungsrahmen und Brücke von der Theorie in die Praxis.

Kapitel 4 schließlich stellt das Herzstück des Buches dar, in dem das zuvor Dargestellte in der und für die Praxis angewandt wird. Dabei geht es zunächst um die systematische Erarbeitung eines psychodynamischen Bezugsrahmens. Vor diesem Hintergrund wird ein entsprechendes Fallverständnis möglich, das schließlich sowohl die Planung der Therapie als auch deren eigentliche Durchführung befruchtet. Die psychodynamischen Inhalte werden dabei aus dem Therapiegeschehen »bottom-up« erarbeitet und mittels der angebotenen Konzepte und Arbeitsmaterialien geordnet. Durch die Definition eines Bezugsrahmens können an dessen Handhabung durch Therapeutin und Patient unbewusste Themen im Therapieverlauf sichtbar und, wenn notwendig, bearbeitet werden. Das sichert den Rahmen und erfolgreichen Fortlauf der Therapie, adressiert unausgesprochene Themen und kann diese in die Therapie integrieren.

Die Inhalte des Buches werden dabei so weit möglich mit einer verhaltenstherapeutischen Methodik vermittelt, d. h. strukturiert, praxisnah und unter Zuhilfenahme von Schaubildern und Arbeitsblättern. Für die primär adressierten verhaltenstherapeutisch denkenden Leserinnen ist das Vorgehen also vertraut, die psychodynamisch orientierten Leser wiederum können eine eher verhaltenstherapeutische Herangehensweise kennenlernen und sich die eigene Methode mit »fremden« Mitteln (neu) aneignen.

Die Inhalte des Buches bauen aufeinander auf, wer jedoch ein stärkeres Interesse an der Praxisseite hat, kann auch in Kapitel 3 mit den drei Dimensionen von Konflikt, Beziehung und Struktur einsteigen. Ganz Mutige können sich auch gleich in Kapitel 4 einfinden und das Fehlende »rückwärts« erarbeiten.

Die Begriffe »psychodynamisch« und »tiefenpsychologisch« werden synonym verwendet und bezeichnen die aus der psychoanalytischen Tradition hervorgegangenen und in dieser stehenden Herangehensweisen.

Der Autor äußert sich im Buch in der »Wir«-Form. In dieser drückt sich einerseits die Integration seiner eigenen Vielstimmigkeit aus, andererseits die einladende und gemeinschaftliche Grundhaltung des Buches.

Ich möchte an dieser Stelle explizit einigen Menschen danken, obwohl ich unendlich vielen mehr zu Dank verpflichtet bin.

Ich danke Julia Heinz für die Planungen an dem Buch, die vielen anregenden Gespräche, Rückmeldungen und Korrekturen und für die Konzeption und gemeinsame Durchführung von Workshops zum Thema des Buches. Karolin Blattmann danke ich für wertvolle Hinweise und Diskussionen, insbesondere zur psychoanalytischen Tradition. Ich danke einer lieben Freundin für die vielen klärenden Spaziergänge und ihre unerschütterliche Gewissheit, dass dieses Buch entstehen würde, wo ich selbst daran nicht recht glauben konnte.

Dr. Armin Gottmann danke ich für die zahlreichen hilfreichen, oft beiläufigen Bemerkungen, die mich auf Lücken, aber auch Brücken hinwiesen.

Ich danke Dr. Donata Schoeller und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des von ihr durchgeführten Workshops zur Methode des »Thinking at the Edge« (Gendlin 2004) für die sensible Begleitung und Unterstützung beim Finden von Begriffen und Strukturen zu den Themen dieses Buches.

Dem Gründer (Niko) und den Mitgliedern meiner Schreibgruppe (Jo, Anja, Gerrit, Anja, Jonas, Anja, Ina) danke ich für ihr Interesse und die fachfremden Rückmeldungen.

Liudmyla Mykhasiva danke ich für ihre hilfreiche und angenehme Präsenz, die eine Atmosphäre schuf, in der das Buch gut gedeihen konnte.

Ich danke meiner Familie für das anhaltende Interesse und die wohlwollende, ermutigende Begleitung des Projektes.

Besonders möchte ich meinem Lehranalytiker, Wilhelm Meyer, danken für die wertvolle und heilsame Erfahrung der Lehranalyse.

Ich danke dem Schattauer-Verlag für die Annahme und Unterstützung dieses Projektes, insbesondere Dr. Nadja Urbani für ihre Begeisterung und professionelle Begleitung. Barbara Buchter danke ich für das aufmerksame, interessierte und einsichtsvolle Lektorat.

Prof. Dr. Matthias Berking danke ich für die über Jahre bestehende Verbindung, Mentorschaft und Inspiration und sein Geleitwort macht mich besonders dankbar. Dr. Lars Hauten danke ich sehr für das freundliche Geleitwort von psychodynamischer Seite. Beide haben mir geholfen, meine zwei verfahrensspezifischen Über-Ichs etwas zu beruhigen.

Nicht zuletzt danke ich meinen Patientinnen und Patienten für ihren Mut, ihre Offenheit und Ehrlichkeit, mich an ihren Erfahrungen teilhaben zu lassen, die mich immer wieder berühren, beeindrucken, inspirieren und bereichern.

Berlin, Juni 2023

1 Einleitung

Der Titel »Tiefenpsychologisch fundierte Verhaltenstherapie« ist unter verschiedenen Aspekten ketzerisch und eine Provokation. Zum einen untersagt die Psychotherapie-Richtlinie das Vermischen von Therapieverfahren in der Praxis (Dieckmann et al. 2020) und es gilt der Verfahrensbezug auch in der Ausbildung. Zum anderen bestehen weiterhin große Vorbehalte in der therapeutisch praktisch tätigen Community gegenüber theoretischen oder eklektizistischen, teilweise als anmaßend erlebten Versuchen einer Integration, die zudem immer wieder auch mit der Forderung eines Endes des Verfahrensbezuges verbunden werden (z. B. Rief 2019; Grawe 2000). Noch immer ist die Schulenorientierung(1) für viele Psychotherapeutinnen emotional hoch besetzt und Teil der therapeutischen Identität. Eine praktische Integration ist zwar weit verbreitet (z. B. Oddli & McLeod 2017; Schindler & von Schlippe 2006), aber meist Teil gewachsener Erfahrung und Entwicklung vom Boden eines Heimatverfahrens aus und weniger Ergebnis theoretischer, meist universitär verorteter oder verordneter Konzepte und Debatten.

Nichtsdestotrotz gab und gibt es immer wieder Versuche, verschiedene therapeutische Ansätze miteinander zu verknüpfen und auf die ein oder andere Weise zu integrieren. Das »Handbook of Psychotherapy Integration« erschien erstmalig im Jahre 1992 und seitdem in immer neuen Auflagen (aktuelle Ausgabe: Norcross & Goldfried 2019). Paul Wachtel (1977) und Lothar Wittmann (1981) haben bereits vor über 40 Jahren bis heute noch lesenswerte Vorschläge einer Zusammenschau vorgelegt. Das zeigt, wie inspirierend die Vision einer Theorie und Praxis, die die Verfahrensgrenzen erweitert oder ganz hinter sich lässt, seit Langem ist und bleibt. Besonders von verhaltenstherapeutischer Seite wurden solche Versuche unternommen. Die immer spezifischeren Verfahren für immer feinere Störungseinheiten machten eine integrierende Perspektive schon aus rein praktischen Gründen notwendig. Transdiagnostische und verfahrensübergreifende Wirkfaktoren gerieten in den Blick, aber es meldeten sich auch Vertreter einer »theoriearmen«, pragmatischen Technikorientierung zu Wort.

Im Zuge der sogenannten »Dritten Welle« etablierten sich schließlich Methoden, die implizit oder explizit Ideen der psychodynamischen Tradition entlehnten. So arbeitet das »Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy(1)« (CBASP; z. B. Schramm et al. 2006) sowohl mit Übertragungshypothesen als auch mit einer »Haltung des disziplinierten persönlichen Einlassens« (Brakemeier et al. 2021), welche dazu dienen sollen, das Übertragungsgeschehen transparent zu machen und neue, heilsamere Beziehungserfahrungen zu ermöglichen.

Ein weiteres Beispiel für ein wachsendes verhaltenstherapeutisches Interesse an Methoden und Sichtweisen außerhalb des klassischen kognitiv-verhaltenstherapeutischen Kanons ist die Schematherapie(1) (Young et al. 2005), die viele Konzepte (auch) der psychoanalytischen Theoriebildung übernommen hat (Roediger & Dornberg 2011). Nicht zuletzt ist ein gesteigertes Interesse an der Beziehungsdimension der Psychotherapie innerhalb der verhaltenstherapeutischen Community bemerkbar. War die Beziehung zwischen Verhaltenstherapeut und Patientin lange Zeit als bloßes Arbeitsbündnis konzipiert, gilt sie heute, auch wegen entsprechender empirischer Befunde, als zentrales Vermittlungsorgan von Einsicht und Genesung.

Parallel dazu gerieten auf psychodynamischer Seite unter dem Druck empirischer Forschung und berufspolitischer Begründungszwänge störungsspezifische Faktoren vermehrt in den Blick und auch einer Manualisierung konnte inzwischen Gutes abgewonnen werden (z. B. Beutel et al. 2010). Die »Übertragungsfokussierte Therapie(1)« (TFP(2); Clarkin et al. 2008), die »Strukturbezogene Therapie« (Rudolf 2013), die »Mentalisierungsbasierte Therapie(1)« (MBT; Bateman & Fonagy 2016) oder die »Affektfokussierte psychodynamische Psychotherapie« (McCullough et al. 2019) stellen Beispiele dar, in denen zumindest in der Praxis eine Annäherung an die Verhaltenstherapie mit ihrem strukturierten, störungsadaptierten, bewältigungsorientierten und teils psychoedukativen Vorgehen stattfindet.

In der Umsetzung haben integrative Ansätze verfahrensfremde Elemente dabei entweder assimiliert, sie in Theorie oder Praxis transzendiert oder in Einzeltechniken aufgelöst, die dann in einer pragmatischen Kombination zur Anwendung kommen (→ Sell & Benecke 2020). Beide Seiten, die verhaltenstherapeutische und die psychodynamische, sammelten so Erfahrungen mit Erweiterungen und Adaptationen der eigenen Methode. Die Einschätzung der Ergebnisse und die daraus zu ziehenden Schlüsse könnten jedoch unterschiedlicher nicht sein. Während die eine Seite (z. B. Rief 2019; Kiyhankhadiv & Schramm 2017) einer Ablösung des Verfahrensbezuges das Wort redet und entsprechende Ideen formuliert, kommen andere Autoren zum genau gegenteiligen Schluss (z. B. Sell & Benecke 2020; Benecke 2019; Leichsenring et al. 2019).

Es ist aus unserer Sicht wenig überraschend, dass überwiegend von verhaltenstherapeutischer Seite, die seit jeher keine Scheu zeigte, verfahrensfremde Methoden zu integrieren, die Forderung nach einer Ablösung der Verfahrensorientierung erhoben wird. Neben den sicher handfesten berufspolitischen Motiven scheint sich darin jedoch auch eine genuin andere Sicht und Erlebensweise auszudrücken, die valide ist. Das verhaltenstherapeutische Vorgehen scheint mehr die eines Zerlegens, Zerteilens und Aufschlüsselns von beobachtbaren oder zumindest nicht schwer erschließbaren Prozessen und Entitäten zu sein, um diesen mit einer entschiedenen Veränderungs- und Bewältigungsorientierung entsprechend zugeschnittene Interventionen gegenüberzustellen. Ein komplexes Geschehen löst sich in beherrschbare Teile auf, das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle dominiert. Für ein solches Vorgehen ist ein theoretischer Über- oder Unterbau weniger vonnöten und entscheidend. Entscheidend ist, »what works« und das holt man sich, wo man es eben findet.

Demgegenüber beschäftigt sich der psychodynamische Ansatz mit dem Nicht-Offensichtlichen, den verborgenen Antrieben und unbewussten Bedeutungen, in denen die Ätiologie und Genese psychischer Störungen, aber auch ganz alltäglichen Geschehens, verortet wird. Dieser Ansatz ist von Beginn an transdiagnostisch orientiert und konzentriert sich auf zugrunde liegende, ätiologische Faktoren. Für die Erkenntnis und Arbeit mit solchen Phänomenen bedarf es naturgemäß einer komplexeren Theorie und überhaupt theoretischen Fundierung der Methode. Die Einsicht oder Erkenntnis führt darüber hinaus hier nicht wie in der Verhaltenstherapie notwendigerweise in eine veränderungsorientierte Intervention, sondern das Tun steht zuvorderst in den Diensten der Einsicht. Dabei ist die Haltung gerade durch ein Zurückstehen von ins Handeln treibenden Impulsen (»Abstinenz«) und deren Reflexion auf Einsicht hin geprägt. Es wird versucht, »hinter« das Handeln zu kommen. So ist es nachvollziehbar, dass eine Herauslösung von Einzeltechniken aus dem psychodynamischen Verfahren, nicht nur schwer möglich ist, sondern der Haltung des Verfahrens und der sich daraus ergebenden (eigengesetzlichen) Strukturierung des therapeutischen Prozesses grundsätzlich widerspricht.

Neuere Ansätze auf psychodynamischer Seite (siehe oben) tragen zwar auch vermehrt der Tatsache Rechnung, dass die Eigendynamik psychischer Störungen und deren strukturelle, auch ätiologisch zu verstehende Verankerung sich nicht notwendigerweise durch »bloße« Einsicht von allein bewältigen oder verändern (was unter anderem mit dem Begriff des »Durcharbeitens« von Freud schon beschrieben wurde), die Grundhaltung bleibt dennoch eine grundsätzlich andere, die ebenso valide ist, wie die verhaltenstherapeutische. Der psychodynamische Ansatz beinhaltet also eine ganz eigene Herangehensweise, die eine spezifische Form der Wahrnehmung und des Verstehens umfasst, die nicht von ihrem theoretischen Grund gelöst werden kann, da beide als in einer wechselseitigen Beziehung stehend gedacht werden (→Kapitel 2.1; Freuds »Junktim«). Vor dem Hintergrund dieser fundamental verschiedenen Haltung ist es nur folgerichtig, dass sich die Kritiker eines Endes des Verfahrensbezuges überwiegend auf psychodynamischer Seite finden.

Aber es sprechen auch (wissenschafts-)theoretische und praktische Gründe gegen eine Ablösung des Verfahrensbezuges. Einer Integration oder Auflösung verschiedener Therapieschulen und -verfahren fehlt eine empirische Legitimierung hinsichtlich der Grundlagen und möglicher Wirkfaktoren, ja es ist überhaupt nicht ersichtlich, wie eine solche Integration empirisch untersucht werden kann und soll (Benecke 2019). Darüber hinaus besteht weder Einigkeit hinsichtlich der Definition des Konzeptes »Wirkfaktor(1)« noch über deren Zuordnung zu verschiedenen Ebenen des Therapieprozesses (Pfammatter & Tschacher 2012), was keine fundierte Umsetzung eines »Wirkfaktorenkonzeptes« verspricht. Die Argumente für eine Ablösung des Verfahrensbezugs durch eine sonst wie geartete Kompetenz-, Evidenz- oder Wirkfaktorenorientierung sind bis heute widersprüchlich und nicht überzeugend (Benecke 2019).

Obwohl die Entwicklung und Weiterentwicklung bestehender und neuer Therapieverfahren sicher zu begrüßen ist, hat sich jedoch keiner der behaupteten verfahrensunabhängigen oder diese integrierenden Ansätze in der Lage gezeigt, die Vielfalt bestehender Verfahren, Konzepte und Methoden tatsächlich überzeugend zu vereinen und hinter sich oder in sich zu versammeln, schon gar nicht, diese überflüssig zu machen. Im Gegenteil begründen solche Ansätze wieder neue Denkschulen und methodische Konzepte und vergrößern den Markt an Psychomethoden, wo sie diesen doch durch Integration verkleinern zu wollen vorgaben. Besonders überraschend aber ist, wenn diese »neuen« Verfahrensansätze sich selbst nicht vom Verfahrensbezug lösen, sondern sich als Verfahren im Verfahren etablieren. Dass dies auch ökonomische und berufspolitische Gründe hat, sei am Rande eingestanden.

Ein weiteres Argument, einer Loslösung vom Verfahrensbezug skeptisch gegenüberzustehen, ist das fragliche Verständnis der Konzepte des jeweils anderen Verfahrens. So hat die Übernahme beispielsweise psychodynamischer Begrifflichkeiten durch Verhaltenstherapeutinnen gezeigt, dass diese die Konzepte bewusst oder unbewusst umdeuten oder missinterpretieren. So beschreibt das »Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy(2)« (CBASP; Schramm et al. 2006) mit den Begriffen von Übertragung und Gegenübertragung ein bloßes, lerntheoretisch begründetes Interaktionsgeschehen, dessen genetische und akute Gestalt im Sinne psychodynamischer Konzepte beispielsweise der Objektbeziehungstheorie(1) (verinnerlichte Objektbeziehungen und deren interpersonelle Verteilung und Dynamik) oder unter Gesichtspunkten der Abwehr nicht reflektiert wird (→Sell & Benecke 2020, S. 194). Es handelt sich schlicht um ein anderes Konzept.

Auch Roedigers (2010) Darstellung des »Szenischen Verstehens(1)« im Kontext der Schematherapie geht entscheidend an dessen eigentlicher Bedeutung vorbei. Er interpretiert es anhand der vorgestellten Beispiele offenbar als eine emotionale Ähnlichkeit des gegenwärtigen Erlebens mit einem (noch dazu unmittelbar und leicht erinnerbaren) früheren – wobei die Metapher, die das Erleben beschreibt, scheinbar regelhaft als ein konkretes Geschehen der Vergangenheit vermutet wird –, womit sich die »Bedeutung« der »Szene« dann schon erschöpft. Der so hergestellte biografische Rückbezug bleibt ein seltsam sinnleeres Datum und reduziert absurderweise den Bedeutungsgehalt des Geschehens, statt ihn zu offenbaren oder anzureichern. Weder das Geschehen im Heute noch des Damals wird auf seine unbewussten(!) Bedeutungen untersucht. Die »infantile Szene(1)(1)« wird von Roediger nicht wirklich als »Szene« aufgefasst, darüber hinaus geradezu »konkretistisch« missverstanden und nicht als Bedeutungskonstellation und Sinnstruktur, die sich in der gemeinsam(!) »gehandelten« situativen Struktur darstellt, verstanden; es fehlt schlicht das namengebende »Szenische Verstehen«. Das entscheidende Element, das das »Szenische Verstehen« nach Argelander und vor allem nach Lorenzer (1983, 1970), dem zweiten wichtigen und von Roediger unerwähnt gebliebenen Denker des Konzepts – auch der »infantilen Szene« –, erst zu einem szenischen Verstehen macht, nämlich der Einbezug vor allem auch der Gegenübertragung, wird zwar erwähnt, aber nicht angewandt. Roedigers »Szenisches Verstehen« ist keines, es geht nicht über das von Lorenzer auch beschriebene »Psychologische Verstehen« hinaus.

Auf psychodynamischer Seite wiederum wird aus konkreten, differenzierten verhaltenstherapeutischen Interventionen schnell ein »Ratschlag«, aus kognitiver Arbeit »positives Denken« und aus gezielten Übungen und Hausaufgaben eine »Dressur«, wenn sich überhaupt mit Verhaltenstherapie auseinandergesetzt wird. Der wirklichen Begegnung und Beschäftigung mit dem anderen Verfahren und ihren Vertreterinnen wird zum Teil mit einer Flucht in Meta-Reflexionen begegnet, die in diesem Fall eben mehr Flucht als angemessene Reflexionsleitung sind.

Diese Beispiele zeigen, dass ein Rückbezug auf Methoden des anderen Verfahrens oder die Verwendung derselben Begriffe noch lange nicht für dieselbe Bedeutung und schon gar nicht für eine korrekte Anwendung bürgen. Es besteht im Gegenteil die Gefahr einer theoretischen und praktischen Verunklarung und daraus erwachsenden Behandlungsfehlern.

Zusammenfassend können wir also sagen: Es sprechen gewichtige Gründe für eine Beibehaltung des Verfahrensbezuges und die Realisierung therapeutischer Wirkfaktoren im Kontext und mit den Mitteln des jeweiligen Verfahrens. Die Erkenntnis, dass es allgemeine Wirkfaktoren gibt, muss also nicht notwendigerweise zu einer »Allgemeinen Psychotherapie« führen und die Identifikation spezifischer Wirkfaktoren nicht zu einer Verarmung therapeutischer Kommunikation auf einen reinen Symptom-Technik-Zusammenhang.

Warum nun aber dieses Buch? Könnten und sollten wir mit diesen Feststellungen nicht besser alles so belassen, wie es ist? Müssen wir dem Psycho-Markt noch ein neues Produkt hinzufügen, das verschiedene Ansätze zu verbinden sucht? Wir sind der Meinung, dass das Einüben eines Denkens und Sehens mit verschiedenen, auch verfahrensfremden Konzepten Therapien förderlich ist. Es geht aus unserer Sicht nicht darum, nun wieder neue (integrative) Methoden oder Theorien dem therapeutischen Prozess »aufzuerlegen«, sondern um die Entwicklung einer um ein anderes Verfahren erweiterten Sicht und eines reicheren Verständnisses, die das Handeln im verfahrenseigenen Methodenrepertoire präziser und umfassender machen. Wir lassen uns bei diesem Ziel leiten von der Idee einer »persönlichen Integration(1)(1)«, wie Sell und Benecke (2020, S. 196) sie vorschlagen und wie sie von vielen Praktikerinnen bereits gelebt wird. Wir glauben, dass persönliche Erfahrung, berufliche Entwicklung und Weiterbildung eine Therapeutenpersönlichkeit formen, die zu angemessenen Integrationsleistungen fähig ist. Eine solche Persönlichkeit ist in der Lage, eine Brücke zu bauen zwischen den Polen aus »mehr Allgemeinheit« und »noch mehr Spezifizität« (ebd., S. 195).

In den letzten Jahren ist darüber hinaus zu Recht die Therapeutin mit ihren Eigenschaften, Fähigkeiten und Kompetenzen in den Fokus der Therapieforschung geraten. Wenn Therapie als ein zwischenmenschliches Geschehen angesehen wird, in dem die Beziehungsvariable entscheidenden Einfluss auf Erfolg oder Misserfolg hat, dann ist es sinnvoll, sich mindestens den einen an der Beziehung beteiligten und durch Aus- und Fortbildung beeinflussbaren Akteur genauer anzuschauen. Denn in der Therapeutenpersönlichkeit findet die Umwandlung abstrakter Prinzipien, wissenschaftlicher Erkenntnisse und komplexer Theorien in konkretes Handeln statt. Dabei ist Therapie ein wechselseitiges Geschehen, in dem die jeweiligen Merkmale und Verhaltensweisen der Beteiligten in einen dynamischen Austausch treten.

Mit dem Konzept der »responsiveness(1)« (z. B. Norcross & Wampold 2019; Hatcher 2015; Kramer & Stiles 2015) formuliert die Forschung diese Gegenseitigkeit des Prozesses als Kernelement von Psychotherapie. Bezogen auf die Therapeutin und ihr Ziel, die Therapie positiv zu gestalten, wird auch von »appropriate responsiveness«(1) (Kramer & Stiles 2015) gesprochen. Ihr Gegenteil wäre wohl Rigidität. Wir verstehen unter Responsivität die therapeutische Fähigkeit, das individuelle Gegenüber in seiner Eigenheit und Dynamik möglichst umfangreich wahrzunehmen und zu verstehen und sich auf diese angemessen (»appropriate«) einzustellen bzw. sich von diesen »einstellen zu lassen«. Watson und Wiseman schreiben: »… responsiveness is an attitude, a way of being with another characterized as a willingness or capacity to be flexible and fluid to align with and be attentive to their goals and needs.« (Watson & Wiseman 2021, S. 3). Responsivität(1) umfasst danach Facetten von Ansprechbarkeit und Reaktionsfähigkeit, Offenheit, Flexibilität und Achtsamkeit, einen mehr passiven und einen aktiveren Pol. Gelungene Responsivität bedeutet aus unserer Sicht daher eine auf achtsamer Wahrnehmung gegründete Übereinstimmung von Auswahl, Timing und Dosis von Verhaltensweisen und Interventionen mit den aktuellen Bedürfnissen und Möglichkeiten des Gegenübers. Eine solche Fähigkeit fördert und sichert einen erfolgreichen Fortgang der Therapie.

Der psychodynamische Ansatz realisiert unserer Meinung nach eher die passive Seite der Responsivität, die des Wahrnehmens und Verstehens des Gegenübers. Deren »Produkte« werden dann, gefördert durch angemessene Klarifizierungen, Konfrontationen oder Deutungen, zum Gegenstand eigenen und gemeinsamen Nachdenkens unter Berücksichtigung von Widerstand und strukturellen Bedingungen. Verhaltenstherapeutisch wird eher die aktive Seite betont: Der Therapeut stellt sich bewusst und gezielt auf Besonderheiten der Patientin ein und passt sein Verhalten an, in der Regel, ohne diese Anpassung auch zum Inhalt zu machen. Wir wollen beide Seiten verbinden, psychodynamisches Wahrnehmen und Verstehen und verhaltenstherapeutisches Handeln.

Es ist offensichtlich, dass eine angemessene Responsivität, unabhängig von der verfahrensgemäßen Ausgestaltung, zentral ist für das Gelingen von Therapien. Es stellt sich also die Frage, wie eine solche Empfänglichkeit, Offenheit, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit in uns und anderen gefördert werden können. Wir glauben, dass dies besonders durch die Einübung verfahrensfremder Perspektiven auf das Therapiegeschehen gelingt, in unserem Fall mit psychodynamischem Blick in die verhaltenstherapeutische Praxis. So wird das Feld der Wahrnehmung und das Erkennen und Verstehen der darin gegebenen Sachverhalte produktiv erweitert und eine »appropriate responsiveness« gefördert. Für die Schulung eines solchen Blickes ist die Vermittlung der Haltung und zentralen Konzepte nah am Therapiegeschehen notwendig, sodass diese im Sinne einer »persönlichen Integration« angeeignet werden können.

Therapeutische Fähigkeiten entfalten sich nicht in einem luftleeren Raum, sondern sind eingebettet in ein Fallverständnis bzw. erwachsen diesem. Storck et al. (2021) betonen hierfür die Bedeutung »konzeptueller Kompetenz« oder »Konzeptkompetenz(1)« als gewichtige Dimension des Faktors »Therapeut«. Sie konkretisieren diese Kompetenz anhand eines therapeutischen Arbeitsmodells, das auf einer allgemeinen (z. B. Wie funktioniert Therapie? Was verstehe ich unter Deutung?), einer fallbezogenen (z. B. Wie verstehe ich den spezifischen Fall? Wie könnte für diesen ein sinnvolles therapeutisches Vorgehen aussehen?) und schließlich sitzungsbezogenen Ebene (Welche Art der Beziehungsgestaltung sollte ich anwenden? Wie ist der Rückzug der Patientin zu verstehen?) realisiert wird (ebd., S. 156 f.).

Wir wollen mit dem Versuch einer tiefenpsychologisch fundierten Verhaltenstherapie alle drei Ebenen durch eine Zusammenschau der beiden Verfahren, die in ihrem Eigensein bestehen bleiben, ansprechen. Dadurch soll die Realisierung der Wirkfaktoren in der verhaltenstherapeutischen Methode im Sinne einer größeren »responsiveness« unterstützt werden. Den Weg »persönlicher Integration« wollen wir also ernst nehmen und ein entsprechendes Angebot machen, praxisnah und konkret. Darüber hinaus möchten wir zu einem »Multilog« beitragen, aus dem sich »ein für das Ganze produktiver Umgang mit für sich genommen unauflösbaren Differenzen zwischen den partikularen Perspektiven« (Sell & Benecke 2020, S. 198) entwickeln kann. Der Ansatz dieses Buches ist, wie der Titel schon sagt, der einer Fundierung der Verhaltenstherapie mit psychodynamischen Konzepten und Erkenntniszugängen. Während also einige Forscher kognitiv-behaviorale Therapien als »foundational platform for integration« (David et al. 2018) ansehen, haben wir eine genau gegenteilige Ansicht. Wenn sich ein Therapieverfahren als Grundlage und Fundament für eine Zusammenschau eignet, dann aus unserer Sicht das psychodynamische Verfahren.

Die psychoanalytisch begründete Methode hat sich in der Lage gezeigt, mit ihrer Herangehensweise vielfältigste Gegenstände zu umschließen und zu erhellen, von der Kunst über literarische Texte bis hin zu Gruppenprozessen, Paarbeziehungen und Unternehmensdynamiken. Dabei sehen wir aber die psychodynamischen Ansätze nicht als konkurrierend zu der lerntheoretischen und sozialwissenschaftlichen Fundierung der Verhaltenstherapie, sondern als Ergänzung und Bereicherung. Wir möchten außerdem mit dieser Arbeit unsere Kolleginnen ein Stück weit von dem normativen Veränderungsdruck befreien, der sowohl institutionell, von unseren Patientinnen und durch uns selbst (»Ich-Ideal«, »Über-Ich«) an uns herangetragen wird. Stattdessen möchten wir Interesse wecken für das Nicht-Wissen und ermutigen, genau jene Inhalte, Gefühle und Wahrnehmungen, die wir bisher vielleicht als störend und belastend, als unangemessen oder peinlich aus unserer Arbeit ausschlossen, eben jene Prozesse als integralen Bestandteil unserer Tätigkeit zu begreifen und sie von einem Störfaktor in ein Erkenntnisinstrument zu verwandeln. So können wir uns wieder mit mehr Freude und Lebendigkeit, als Ganze, integriert und mit allen Facetten beteiligt erleben.

2 Theoretische Grundlagen

Wir erarbeiten uns im folgenden Theorieteil wesentliche Elemente des tiefenpsychologischen Theorienfundamentes, d. h. wir werden auf der allgemeinen Ebene des therapeutischen Arbeitsmodells arbeiten (→Storck et al. 2021). Wie in der Einleitung bereits erwähnt, lassen sich psychodynamische Praxis und Theorie nicht voneinander trennen. Das beginnt bereits mit der Einstellung zum Gegenstand und der Art, wie und welche Erkenntnisse über diesen gewonnen werden können und sollen, also mit der Erkenntnishaltung, die wir zunächst skizzieren. Im Anschluss betrachten wir die Vorstellungen dessen, was über momentweise Erhellungen zu ergründen versucht wird, nämlich das sogenannte »Unbewusste«, auch im Unterschied zu verhaltenstherapeutischen Konzepten. Die Inhalte und Prozesse, die nun die bewusste und unbewusste Psyche und ihr Verhältnis zueinander kennzeichnen, stellen wir dann anhand der klassischen Unterscheidung der psychoanalytischen Tradition in Form der »vier Psychologien« dar (Pine 1988). Im Anschluss gehen wir kurz auf neuere, aus der Säuglingsbeobachtung und Entwicklungsforschung hervorgegangene Ansätze ein. Uns ist die Vermittlung solch grundlegender Konzepte wichtig, da sie ein Bewusstsein für Strukturen, Inhalte und Denkfiguren schaffen, die so überhaupt erst im Therapiegeschehen erfasst werden können.

2.1 Erkenntnishaltung

(1)(1)Der wissenschaftstheoretische Status der Psychoanalyse wurde von Freud selbst wechselnd und widersprüchlich beschrieben (→Warsitz & Küchenhoff 2015). Zum einen verstand er sie als Naturwissenschaft und ordnete sie der Medizin zu, zum anderen finden wir Äußerungen, in denen er die Psychoanalyse geisteswissenschaftlich oder gar als ganz eigene Art der Wissenschaft darstellt. In der Selbstcharakterisierung der Psychoanalyse als Naturwissenschaft sieht Habermas (1968) ein »szientistisches Selbstmissverständnis«, weil sie ihrer eher als Hermeneutik zu bestimmenden Methodik widerspricht. Die Methodik der Psychoanalyse zeigt sich in der Art, wie sie an ihren Gegenstand herantritt und ihn zu verstehen sucht. Prototypisch geschieht das in der »Klinischen Situation« in der Begegnung mit dem »Einzelfall«, über den sie mit ihrer spezifischen methodischen Haltung Erkenntnisse gewinnen will.

Grundsätzlich stehen uns zahlreiche Möglichkeiten zur Verfügung, einen Menschen kennenzulernen. Wir können Informationen Dritter einholen, wir können ihn beobachten und beschreiben, wir können diesem Menschen mündlich oder schriftlich Fragen vorlegen oder ihn verschiedenen experimentellen Bedingungen aussetzen und seine Reaktionen prüfen. Im Ergebnis haben wir eine Reihe von Informationen und Sachverhalten, die uns aber einem Verstehehen des jeweiligen Menschen nicht unbedingt näher bringen. Auf der Grundlage psychologischer Theorien könnten wir Hypothesen über Kausalitäten und Funktionszusammenhänge aufstellen und auf die Person anwenden, die Fakten so vielleicht rational miteinander verbinden. Mit der Methode der Beobachtung und Verknüpfung von Daten auf Grundlage gewisser Theorien und Regeln entsteht unleugbar eine gewisse Logik. Wir haben möglicherweise eine Erklärung. Diese Herangehensweise hat jedoch etwas »Äußerliches« und bringt uns nicht unbedingt einem Verstehen unseres Gegenübers näher, dem wir uns besonders verpflichtet fühlen (zum Verhältnis von Erklären und Verstehen siehe z. B. Körner 1995).

Aber ist es überhaupt anders möglich, einen Menschen zu verstehen, gewissermaßen »von innen«, »aus und durch sich selbst heraus«? Ist ein solches »Innen« überhaupt zugänglich oder uns nicht eigentlich für immer entzogen? Psychoanalytische Erkenntnis(1)(1) beschäftigt sich genau mit jener »inneren Ausgelegtheit des Subjekts« (Gast 2006, S. 15). Diese ist uns offensichtlich nicht unmittelbar sinnlich gegeben und eine Selbstauslegung des Menschen, z. B. im Rahmen einer Befragung, scheitert ebenfalls oft genug kläglich. Wir selbst fühlen uns auf banale Fragen oft wenig auskunftsunfähig und selbst bei hochemotionalen Themen unserer erklärten Werte und Lebenshaltungen handeln wir beschämend widersprüchlich und verstehen uns selbst nicht. Gerade im Kontext psychischer Belastungen und Symptome sind unsere Selbstverfügbarkeit und unser Selbstverstehen oft auf demütigende Weise eingeschränkt. Die Kommunikation mittels Sprache ist darüber hinaus nur recht unvollkommen in der Lage, dem eigenen Sein Ausdruck zu verleihen. Schon das Gesagte weist auf ein Meinen, dessen wir nicht sofort und immer habhaft werden. Es ist also nicht so, dass wir mit uns und den Mitteln der Sprache zuverlässige Quellen des Verstehens zur Hand hätten, und noch weniger, um uns einem Gegenüber verstehbar zu machen. Im Gegenteil stehen Handeln und Sprechen eher im Verdacht, ein Erleben oder eine Einsicht zu verhindern (z. B. Erklären als Rationalisieren), statt diese zu offenbaren. Eine naive Transparenzannahme zwischenmenschlicher Kommunikation kann nicht tragen und wird auch von den meisten Verhaltenstherapeuten nicht geteilt.

Dies führt uns zur Hermeneutik(1) als »Lehre vom Verstehen« (M. Jung 2018, S. 9), im Weiteren auch des Sinn- oder Bedeutungsverstehens. Die hermeneutische Herangehensweise begegnet ihrem jeweiligen Gegenstand mit einem gewissen inhaltlichen und formalen Vorverständnis, z. B. in Form soziokultureller oder sprachpraktischer Kontexte, und lässt es vom Gegenstand »irritieren«, korrigieren und erweitern. Wir hören z. B. den Satz: »Es geht mir irgendwie nicht gut.« Mit unserem Vorverständnis erfassen wir seinen Inhalt, vielleicht auch seine Mitteilungsintention – und dann taucht eine Irritation auf: »irgendwie«. Jemand spricht über sich, weiß aber offenbar nicht genau, auf welche Weise er oder sie ist. Gleichzeitig wird unser Vorverständnis offenbart: Wir nehmen an, ein Sprecher wisse, was er berichten wolle. Und es wird korrigiert: Dem ist nicht so. Nun treten wir erneut, mit einem aktualisierten Vorwissen an den Gegenstand heran. Der Satz »Es geht mir irgendwie nicht gut.« drückt nun ein Unwissen aus und gleichzeitig doch ein Wissen, mindestens eine Ahnung. In uns taucht die Frage auf, warum jemand mit diesen zwei Botschaften an uns herantritt. Warum sagt die Person nicht einfach »Mir geht es nicht gut.«? Wir hören vielleicht einen Aufklärungswunsch, Hilflosigkeit und Leid aus diesem Sachverhalt heraus. Um diese Einsicht bereichert treten wir nun erneut an den Gegenstand heran, der sich mehr und mehr mit Bedeutung füllt und den wir immer besser verstehen. Dieses als hermeneutischer Zirkel bekannte Vorgehen können wir immer wieder erneut vornehmen, dabei nicht nur persönliche, sondern auch soziokulturelle Vorannahmen, z. B. über Sprechakte, Grammatik, Interaktionsformen, Kontexte etc., mitnehmen und vom Gegenstand korrigieren und erweitern lassen.

Es wird ersichtlich, dass wir in dieser Herangehensweise das Subjekt nicht auszuschließen suchen, wie in der traditionell bestimmten Naturwissenschaft, sondern als Instrument verwenden und daher integrieren müssen. Die psychoanalytische Methodik setzt das auf ihre eigene Weise (z. B. über den Rahmen und die Haltung) um, jedoch ist das Sinnverstehen hier dadurch verkompliziert, dass der »Gegenstand« des Verstehens ein lebendiges, interaktionelles Geschehen ist, an dem wir noch dazu beteiligt sind und das uns aber immer wieder durch Verwandlung verloren geht. Zusätzlich geht die Psychoanalyse von zum großen Teil verborgenen, unbewussten Gegenstandsaspekten und »Vorannahmen« aus, die sich zwar im manifesten Geschehen zeigen, aber gleichzeitig in und mit diesem Geschehen selbst verbergen und insofern erst »entborgen« werden müssen, um sie zu verstehen. Die latenten Sinnstrukturen sind im und mit dem Manifesten ge- und verkleidet.

Die Gestaltung der psychoanalytischen Begegnungssituation stimuliert auf gewisse Weise die »Ausbreitung« und Manifestation der unbewussten seelischen Lage in den zwischenmenschlichen Raum. Themen, Gefühle und unbewusste Beziehungs- und Konfliktdynamiken konstellieren sich und machen uns zu einem Teil des Systems, das wir gleichzeitig und dadurch verstehen können. Über die analytischen »Sinnesorgane«, das wache Sehen dessen, was geschieht, das »Hören mit dem Dritten Ohr(1)« (Reik 1948/1976), das Fühlen der Gegenübertragung und das Spüren unseres handelnden Beteiligtseins, erhält das System die Chance auf ein Bewusstsein seiner selbst, in dem Bedeutungen generiert und immer wieder aktualisiert werden. Das Ganze kommt in den Stand sich zu fühlen, zu denken und zu symbolisieren, letztlich seinen eigenen Sinn zu vernehmen. Aus der Begegnung von Analytikerin und Analysand können daher jene Erkenntnisse hervorgehen, die zuvor nicht bewusster Besitz der Beteiligten waren. Die Begegnung wird über die analytische Handhabung zum Erkenntnisinstrument. Im Verlauf können Sinnelemente, sprachliche oder andere Symbole geteilt und in einem besonderen Evidenzerleben für die Beteiligten beglaubigt werden. Damit markiert das System selbst, ob wirkliches Sinnverstehen vorliegt, und probiert sich immer wieder neu aus in Ausdruck und Vernommenwerden.

Die psychodynamische Erkenntnishaltung nimmt also an, dass es möglich ist, einen Menschen »von innen«, aus sich selbst heraus, mit sich und durch uns in der analytischen Begegnung zu erkennen und zu verstehen. Durch die (Selbst-)Verdunkelung des Geschehens in Form unbewusster Prozesse scheint es sogar so, als brauchten wir den anderen und die »analytische Situation«, um uns selbst, zumindest in Teilen und auf neue Weise, zu erkennen und erweitert wieder anzueignen. Das analytische Geschehen kann daher auch als ein mehrdirektional ausgerichteter, hermeneutischer Prozess verstanden werden. Nicht nur erweitern sich die Vorannahmen der Patientin von sich und uns, sondern auch unsere eigenen der Patientin und uns gegenüber.

Wir können also zwei grundlegend verschiedene Herangehensweisen an die Erkenntnis eines Menschen unterscheiden. Die eine versucht, auf der Grundlage von objektivierenden Beobachtungen und Regeln, Erklärungen zu finden (z. B. Entstehungsmodelle), aus denen dann entsprechende Techniken abgeleitet werden. Auf der anderen Seite haben wir eine hermeneutische, subjektivierende Herangehensweise, die auf ein Verstehen latenter Sinnstrukturen zielt und mittels Deutung Einsicht und so die Einführung eines neuen Elementes ins Bewusstsein anstrebt. Das wiederum erlaubt Verantwortungsübernahme und einen kreativen Umgang im Sinne einer Integration.

Das Grundverständnis des Menschen im psychodynamischen Therapiesetting ist also nicht das eines Objekts, das es zu erklären und dann zu verändern gilt, sondern eines schöpferisch tätigen Subjekts, das zu verstehen ist. Wir glauben, dass in der Praxis jede Psychotherapeutin, egal welcher Fachrichtung, selbstverständlich ebenso sinnverstehend tätig ist. Verhaltenstherapeutinnen verlassen damit allerdings ein Stück weit den Boden der verhaltenstherapeutischen Erkenntnishaltung.

Wenn wir die analytische Erkenntnishaltung(1) als eine hermeneutische charakterisieren, da sie auf Einsicht durch (gemeinsames) Sinnverstehen zielt (vs. Erklären), können wir sie noch genauer bestimmen als eine »negative Hermeneutik(1)(1)« (Küchenhoff 2019, S. 65 ff.). »Negativ«, weil sich der Gegenstand des Verstehens, »die innere Ausgelegtheit des Subjekts«, zwar »performativ« (Warsitz & Küchenhoff 2015, S. 130) in Inszenierungen, »enactments« und in Übertragung und Gegenübertragung herstellt, aber grundlegend durch seine bewusstseinsmäßige und sprachsymbolische Entzogenheit auszeichnet. »Negativ« kennzeichnet darüber hinaus treffend die spezifische Haltung zum Gegenstand, die charakterisiert ist durch ein »Abstehen« und »Absehen« von Wissen, Konzepten, Vorannahmen und »Wollen«. Bion (2006) spricht von der »negativen Fähigkeit« (engl. negative capability), welche Aufnahmebereitschaft, Unvoreingenommenheit und das Ertragenkönnen von Nicht-Wissen umfasst. Wir unterwerfen den Patienten nicht einem Konzept und unserem Wollen, sondern wir unterwerfen uns der Begegnung und dem Wollen des anderen, woraus Verstehen und Konzepte erst geboren werden. Die psychodynamische Erkenntnishaltung muss entsprechend nah an der klinischen Situation, in welcher Erkenntnisobjekt und Erkenntnisinstrument auf besondere Art zusammenfallen, verbleiben.

Dass sich die verschiedenen Erkenntnishaltungen der psychotherapeutischen Praxis auch im Wissenschaftsverständnis von Verhaltenstherapie und Psychoanalyse ausdrücken bzw. zu diesem zurückverfolgen lassen, ist nicht verwunderlich und zeigt sich dort auch in einer anders gearteten Forschungspraxis. Wo die verhaltenstherapeutisch orientierte Forschung objektivierend, quantifizierend, verallgemeinernd und erklärend ihrem Gegenstand gegenübertritt, tritt die hermeneutische Wissenschaft qualitativ, narrativ, subjektivierend und teilnehmend-erfahrend quasi »in diesen hinein« bzw. versteht, dass sie im Grund schon »in ihm« ist und integriert diese Einsicht in ihre Forschung.

Diese verschiedenen Haltungen führen natürlicherweise auch zu unterschiedlich »geschnittenen« Gegenständen und differierenden Methodiken der Forschung, die kaum ineinander übersetzbar sind und so immer wieder Missverständnisse und Anwendungsfehler nach sich ziehen. Benecke (2014) meint, dass der Forschungsansatz sich logisch aus der Fragestellung ergibt, sich an dieser orientieren sollte und entsprechend auch quantifizierende und objektivierende Herangehensweisen für psychodynamische Verfahren ihre Berechtigung haben, z. B. bei einer Wirksamkeitsprüfung(1). Sell (2012) weist aus unserer Sicht dennoch zu Recht darauf hin, dass die gegenwärtige Wissenskultur der vergleichenden Psychotherapieforschung derjenigen entspricht, die der Verhaltenstherapie zugrunde liegt. Es sollte daher die Angemessenheit der Methode für Fragestellung und Untersuchungsgegenstand mindestens mitreflektiert und über eine Ergänzung seitens der verfahrensfremden Wissenskultur nachgedacht werden. Die Verantwortung für eine dem psychodynamischen Ansatz angemessene Forschungsarbeit liegt dabei jedoch auf psychodynamischer Seite. Uns scheint es z. B. eine interessante Forschungsaufgabe, auch verhaltenstherapeutische Behandlungen unter psychoanalytisch-hermeneutischer Perspektive und mit entsprechenden Forschungsdesigns zu untersuchen, wie es z. B. Alder et al. (2016) mit konversationsanalytischer Methodik bereits getan haben. Buchholz (2014) versteht die verschiedenen Sichtweisen überhaupt als komplementär, wie die Seiten einer Münze, bei der eine Seite die Zahl, die andere das Bild oder Symbol trägt.

Wenn wir uns wieder der klinischen Praxis zuwenden, so finden wir hier bereits Ansätze und Beispiele produktiver Komplementarität. Ein integrativer Denker wie Rainer Sachse misst in seiner »Klärungsorientierten Psychotherapie(1)« dem Prozess des »Verstehens«, z. B. eines zum Teil unbewussten »Meinens«, große Bedeutung bei (z. B. Sachse 2003, S. 75 ff.). In der klinisch-verhaltenstherapeutischen Theoriebildung und Methodenentwicklung existiert mit der Plananalyse (Caspar 2007) ein Ansatz, mit dem implizite Planstrukturen als Zweck-Mittel-Relationen erschlossen werden sollen und der damit einer hermeneutischen Fragestellung nach dem Sinn eines Phänomens nahekommt. In der Umsetzung wird jedoch auch deutlich, wie schwer und überaus aufwändig eine solche Fragestellung mit einer überwiegend erklärenden und rationalistisch orientierten Herangehensweise zu bearbeiten ist.

Ein weiteres Beispiel, bei dem hermeneutische und erklärende Aspekte zusammenkommen, ist Grawes unter Rückgriff auf Guidano & Liotti 1985 erfolgte Darstellung der einer Agoraphobie(1) zugrunde liegenden Konfliktdynamik (Grawe 2000, S. 115 ff.), die psychodynamischen Hypothesen nahekommt (z. B. Subic-Wrana et al. 2012). Dabei wird von den empirisch erhobenen drei zentralen Angstinhalten der Störung von »Alleinsein«, »Eingeengtsein« und »Kontrolle verlieren« (Grawe 2000, S. 116 f.) in einem entscheidenden, aber nicht weiter ausgeführten Schritt, der durch die Anführung von Forschungsbefunden mehr verdeckt als begründet wird, auf die zugrunde liegende Konfliktdynamik geschlossen. Es wird hier über den konkreten Symptombezug dieser Beschreibungen hinausgegangen, indem ihnen eine weitergehende Bedeutung, nämlich ein biografischer und vor allem symbolischer Sinn gegeben wird. Sie werden gewissermaßen zu Stellvertretern des unbewussten Konfliktgeschehens, das sich dann als Konflikt zwischen Autonomieimpulsen bzw. Wut über ihre Einschränkung und der Angst vor dem Verlust von Schutz und Bindung erweist. Besonders interessant scheint uns im Anschluss die Deutung der Expositionsintervention als verdeckte Lösung des unbewussten Konfliktes im Sinne einer korrektiven Erfahrung der unbewussten(!) Befürchtungen (Grawe 2000, S. 118 ff.). Grawe beschreibt den Therapieprozess dabei allgemein als von »Bedeutungen, die nicht bewusst werden« (ebd., S. 119) durchzogen, die implizit mitwirken und in der klassischen Verhaltenstherapie im besten Falle (zufällig) mitbehandelt werden. Die dargestellte Annäherung an die unbewusste Bedeutung und anschließende Interpretation der Expositionsintervention wirken auf uns – indem er dem konkreten Geschehen eine tiefere, symbolische Bedeutung, einen Sinn zu geben in der Lage ist – eher psychodynamisch als verhaltenstherapeutisch, was jedoch als chancenreiche Herangehensweise nicht erkannt und explizit gemacht wird. Zwar werden empirische Daten aus der Forschung angeführt, die die Deutung stützen, dennoch scheint uns diese Methodik wenig überzeugend. Welche Befunde und warum herangezogen oder ausgeschlossen und auf welche Art diese zusammengeführt und für den gegenwärtigen Fall interpretiert werden, bleibt unklar. Zudem ist die Agoraphobie, wenn sie denn so isoliert auftritt, ein unvergleichlich gut erforschtes, »klares« Störungsbild und die Übertragung einer rein empirisch geleiteten Konfliktdeutungsarbeit auf andere Störungen, die Grawe (2000, S. 121 ff.) fordert, scheint fraglich. Die zentrale Frage nach der Quelle der Deutung wird im geschilderten Fall aus unserer Sicht eher verschleiert als beantwortet und in der präsentierten Form auch nicht weiterverfolgt. Der Grund liegt unserer Meinung nach im Fehlen der entsprechende Erkenntnishaltung, die es ermöglicht, den »Sinn der Symptome(1)« (Freud 1916–17, S. 264 ff.) in der klinischen Situation am Einzelfall selbst zu finden, statt in entindividualisierten Forschungsbefunden danach zu suchen. Dieses Beispiel mag veranschaulichen, wie viel ungenutztes Potenzial in einer hermeneutischen Betrachtungsweise steckt, der Grawe, ohne es zu bemerken, sehr nahe war. Andererseits könnte eine hermeneutische Reflexion auch der empirischen Befunde und darüber hinaus der in großen Teilen symptomwirksamen, verhaltenstherapeutischen Techniken auch Anregungen für psychodynamische Störungsmodelle geben.

Komplementarität aufseiten psychoanalytischer Forschung wiederum finden wir in Form differenzierter wissenschaftstheoretischer Ortsbestimmungen (z. B. Warsitz & Küchenhoff 2015; Leuzinger-Bohleber & Fischmann 2006), Vorschlägen für eine schulenübergreifend ausgerichtete Konzeptforschung (z. B. Storck et al. 2021), Auseinandersetzungen zwischen psychoanalytischen Ideen und denen der Allgemeinen Psychologie (z. B. Storck & Billhardt 2021) und aufwendigen Wirksamkeitsstudien (z. B. Leuzinger-Bohleber et al. 2019; 2011), trotz des schwierigen institutionellen Umfeldes. Es gibt also in beiden psychotherapeutischen Verfahren Ansätze, die eigene Erkenntnishaltung zu verlassen, wenn wahrscheinlich auch nicht immer aus vollem Herzen oder offen eingestanden. Wir wollen erklärende Ansätze und objektivierte Daten, die ja auch in der Psychoanalyse existieren, also nicht verwerfen. Sie können unser Verstehen erklären und dadurch vielleicht sogar vertiefen und erweitern.

Tab. 2-1 fasst die Unterschiede der Verfahren im Verhältnis zur Erkenntnispraxis noch einmal zusammen. Die Erkenntnishaltung hat, wie hoffentlich gezeigt werden konnte, für die psychodynamischen Verfahren nicht nur theoretische Relevanz, sondern ist unauflösbar mit der Heilpraxis verbunden. Bereits Freud postulierte einen wechselseitigen Bedingungszusammenhang zwischen Heilen und Erkenntnis, sodass im Sinne eines Junktims Erkenntnis zu therapeutischem Erfolg führe und dieser wiederum die Wahrheit der Erkenntnis bezeuge (Freud 1927, S. 293). Eine solch ideale Verbindung im Sinne eines Wirkzusammenhanges ist laut Thomä et al. (Thomä et al. 1985) jedoch nicht etwas der Psychoanalyse a priori Gegebenes, sondern muss aktiv hergestellt werden. Dies gelingt aber nur über eine Erkenntnishaltung, die Phänomene nicht bloß erklären, sondern vor allem in ihren Sinnstrukturen verstehen will, weil deren Deutung Heilung fördert.

Wir wollen uns die oben beschriebene Erkenntnishaltung aneignen und ihre Wahrnehmungsinstrumente kennenlernen. Die verhaltenstherapeutische Praxis wollen wir in der Folge unter einem hermeneutischen Blickpunkt betrachten und reflektieren lernen und so latente Sinnstrukturen freilegen.

Verhaltenstherapie

Psychoanalyse

Erkenntnishaltung

Naturwissenschaftlich

Erklärend

Empirisch

Objektivierend

Quantitativ

Negative Hermeneutik

Verstehend

Erfahrungsbezogen

Subjektivierend

Qualitativ

Erkenntnisgegenstand

Bewusstseinsnahes Erleben

Beobachtbares Verhalten

Kognitionen, Bewertungen

Symptome

Das Unbewusste

»Innere Ausgelegtheit«

Unbewusste Bedeutungen

Klinische Situation

Erkenntnismethoden

Verhaltensbeobachtung

Verhaltensexperimente

Fragebögen, strukturierte Interviews

Modellentwicklung und Prüfung

Verhaltensanalysen

Szenisches Verstehen

Übertragungs-Gegenübertragungs-Analyse

Widerstandsanalyse

Freie Assoziation – gleichschwebende Aufmerksamkeit

Tab. 2-1: Gegenüberstellung der Erkenntnisbezüge(1) von Verhaltenstherapie und Psychoanalyse in der Praxis.

2.2 Das Unbewusste

Entlang des Konzepts des Unbewussten(1) ließen sich praktisch die gesamte psychoanalytische Tradition darstellen und ihre verschiedenen Strömungen charakterisieren. Das Unbewusste ist für die Psychoanalyse zentral von Beginn an. Seine Erforschung machte sie zur ersten Form wirklicher Psychotherapie, einer Behandlungsmethode psychischen Leids. Wir werden im Folgenden nicht auf die zahlreichen historischen Vorläufer (siehe z. B. Gödde 2009) und auch nicht auf alle Konzeptualisierungen der verschiedenen psychoanalytischen Strömungen (siehe dazu z. B. Leuzinger-Bohleber & Weiß 2014; Storck 2019) eingehen, sondern uns auf die für das Verständnis und die Behandlung psychischer Störungen zentralen Fragen konzentrieren: Wie ist das »psychoanalytische« Unbewusste verfasst? Welche Inhalte umfasst es? Welche Rollen und Funktionen kommen dem Unbewussten im psychischen Geschehen zu?

Die Entdeckung des Unbewussten geschah zunächst im Kontext der Konfrontation mit psychopathologischen Phänomenen – zur damaligen Zeit insbesondere dissoziativen und Konversionssymptomen (»Hysterie(1)«) – die »normalpsychologisch« und auch biologisch-medizinisch nicht zu erklären waren. Mit der Methode der Hypnose tastete man im Dunkel der unbewussten Psyche und nutzte eine Beeinflussbarkeit am Bewusstsein der Betreffenden vorbei, die zu einer zeitweisen Beseitigung der Symptome führte, jedoch noch nicht befriedigend erklärt werden konnte. Besonders die in diesem Bereich forschenden französischen Neurologen und Psychiater Jean-Martin Charcot (1825–1893) und Pierre Janet (1859–1947) leisteten entscheidende Beiträge für die Entwicklung der Psychoanalyse und Psychotherapie im Allgemeinen. Während Charcot von einer Wechselwirkung von traumatischem Vorfall und einer vorwiegend biologisch gegebenen Disposition für hysterische Beschwerdebilder ausging, formulierte Janet eine differenzierte Theorie eines »Unterbewusstseins« und erklärte dieselben Phänomene mit einer traumabedingten Dissoziation und ihre Heilung mit der notwendigen Reintegration psychischer Prozesse, was modernen Traumakonzepten(1) sehr nah kommt (Wöller et al. 2020, S. 6). Insbesondere Janet hatte großen Einfluss auf Freud, aber auch auf C. G. Jung und sein Konzept des Unbewussten. In Jungs Theorie der »gefühlsbetonten Komplexe« und deren Auffassung als pathogenetische Abspaltungen oder »abgesprengte Teilpsychen(1)« (z. B. Jung 1934/2001, § 204/S. 116 ff.) lebten Janets Ideen erkennbar fort und nahmen schematheoretische Konzepte vorweg. Zum Verhältnis der Ideen Janets zur Verhaltenstherapie hat Hoffmann (2013) einen sehr lesenswerten Beitrag veröffentlicht. Als zentral für die »hysterischen« Symptombildungen wurde der Vorgang der Dissoziation im Kontext eines traumatischen Erlebnisses angesehen. Freud (1895) folgte zunächst der Traumahypothese(1) und nahm als Verursachung der hysterischen Symptome die oft mit der Pubertät einsetzende Reaktivierung einer nun als solche verstandenen, frühkindlichen sexuellen Traumatisierung an, in der eine angemessenen Abreaktion der ausgelösten Affekte verhindert wurde. Die Möglichkeit der Abfuhr des »eingeklemmten Affektes« würde dann entsprechend die Heilung befördern (»Katharsis«). Ähnliches geschieht heute vielleicht in manchen traumatherapeutischen Expositionsverfahren. Freud löste sich jedoch im Verlaufe seiner Forschungen von der Fokussierung auf ein Realgeschehen und legte den Schwerpunkt auf die unbewussten Bedeutungen, ihre Konflikthaftigkeit und Dynamik, die sich in seinen frühen Konzepten eines Unbewussten niederschlugen. Unter dem Begriff des ersten topischen Modells(1) fasste Freud das Unbewusste als Teil eines dreifach geschichteten Systems bestehend aus Bewusstem, Vorbewusstem(1) und Unbewusstem(2) (→ Abb. 2-1).

Abb. 2-1: Das erste topische Modell des Unbewussten.

Das Vorbewusste versteht Freud als latent bewusstseinsfähig und nur momentweise nicht bewusst, das Unbewusste hingegen dem Bewusstsein unzugänglich (z. B. Freud 1923). Zwischen den Systemen »unbewusst« und »vorbewusst« nahm er eine Zensur(1) an, die bestimmt, was und in welcher Form es herübertreten kann. Die Inhalte müssen sich dabei an »akzeptable« Vorstellungen als eine Art Transporter binden. Entscheidend für die Durchlässigkeit sind die Gebote der äußeren und inneren Normen und der Realität. Eine zweite Zensur wurde auf der Grenze zwischen vorbewusst und bewusst angenommen. Das entscheidende Interesse lag für Freud auf dem Unbewussten, das er aufgrund der es charakterisierenden Verdrängungsdynamik in Abgrenzung zum Vorbewussten als dynamisch Unbewusstes(1) bezeichnete. Nach Freud handelt es sich bei den Inhalten des dynamischen Unbewussten um die Repräsentanzen von Trieben in Form von Wünschen, Vorstellungen, Fantasien, Affekten oder Impulsen, die einmal verdrängt werden mussten (»Urverdrängung«) und weiter verdrängt werden müssen (»Nachdrängen«). Der Verdrängungsbegriff löste schließlich die Zentralität der Dissoziationsannahme ab.

Freud (1911) schreibt dem Unbewussten auch einen energetischen(1) oder ökonomischen Aspekt zu, bei dem Triebobjekte affektiv »besetzt« werden, diese Energie aber auch wieder abgezogen werden kann (»Besetzungsentzug«). Wir können uns solche Besetzungen als ein inneres Investment, z. B. in ein Befriedigung versprechendes Objekt, vorstellen, das bei erfahrener oder erwarteter Enttäuschung auch wieder rückgängig gemacht oder verschoben werden kann. Die investierten Ressourcen werden dann beispielsweise auf das Ich, den Körper, andere Personen oder Objekte gesammelt, in denen nun Befriedigungsmöglichkeiten verortet sind. Wenn wir nach einem Streit mit dem Partner denken »Sowas brauch ich nicht!«, so sprechen wir damit einen solchen Besetzungsentzug aus. Wir sammeln in Reaktion auf die erfahrene Enttäuschung unere Energie wieder auf uns oder auf die Vorstellung eines früheren Partners oder auf eine Kollegin, die mehr Erfüllung versprechen und entsprechend besetzt werden. Dieser Vorgang kann der Selbstwertregulation dienen oder auch die Lösung von einem Objekt ermöglichen, das tatsächlich nicht mehr erfüllend oder erreichbar ist.

Neben den energetischen Aspekten beschreibt Freud (1915a, S. 286 f.) unterschiedliche systemische Verfasstheiten für einerseits die Systeme bewusst und vorbewusst, andererseits das System unbewusst, d. h. das dynamische Unbewusste. Das dynamische Unbewusste ist durch den Primärprozess(1) (auch Primärvorgang) charakterisiert, die beiden anderen Systeme durch den Sekundärprozess(1). Der Primärprozess ist gekennzeichnet durch das Vorherrschen des Lustprinzips und die Phänomene von Verdichtung und Verschiebung. Verdichtung stellt eine Zusammenschiebung, Ballung und multiple Ladung von Objekten mit verschiedenen, (für das Bewusstsein) widersprüchlichen Bedeutungen und affektiven Valenzen dar. So kann eine Traumfigur mehrere Realfiguren bündeln. Verschiebung meint, dass Bedeutsamkeit und Wert (»Besetzung«) von einem Objekt auf ein anderes umdisponiert werden können.