Tierchen unlimited - Tijan Sila - E-Book

Tierchen unlimited E-Book

Tijan Sila

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Beschreibung

Irreparabel unglücklich und extrem gut gelaunt Tijan Sila erzählt in seinem turbulenten Debütroman »Tierchen unlimited« von einem Jungen im bosnischen Bürgerkrieg, seiner Flucht nach Deutschland und seinem Leben unter deutschen Neonazis. Und von den Tücken der Erinnerung. Sarajevo in den Neunzigern: Die Stadt steht unter Beschuss. Wie erlebt ein Kind den Krieg? Das Comictauschen wird durch Granatenhagel erschwert, der Strom zum Computerspielen ist ständig knapp, und die amerikanischen Soldaten lassen sich nur mit gestohlenen Sex-Heftchen zum Basketballspielen überreden. Oft gefährlich, aber vor allem aufregend und niemals langweilig. Der junge Ich-Erzähler möchte bleiben, aber seine Eltern halten es nicht mehr aus und hoffen auf einen Neuanfang in Deutschland. Nach einer verstörenden Flucht in einem Autobus erreicht der Junge mit seiner Familie Rheinland-Pfalz. Seine neuen Freunde sind Neonazis oder wollen zur Polizei, oder beides. Auch seine Schulfreundin Sarah, mit der er zusammen Gewichte stemmt und erste erotische Erfahrungen sammelt, begegnet ihm Jahre später als Polizistin wieder. Als ein Neonazi ihn bei einem Liebesabenteuer nachts aus dem Bett prügelt, nimmt sie für ihn Rache, und weckt dadurch Gespenster seiner traumatischen Vergangenheit. Wild, bedrückend genau und dabei hoffnungsvoll komisch erzählt »Tierchen unlimited« von einem jungen Mann, für den Grenzen nur existieren, um sie zu übertreten.

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Seitenzahl: 236

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Tijan Sila

Tierchen unlimited

Roman

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Tijan Sila

> Über dieses Buch

> Impressum

> Klimaneutraler Verlag

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungMotto1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. KapitelEpilog
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Für meine Frau Lena.

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What then? poor beastie, thou maun live!

Robert Burns: To a Mouse

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Ich floh nackt und blutend auf einem Rennrad. Das Blut floss aus Platzwunden, die ich auf den Lippen und Augenbrauen hatte, und aus meiner Nase, es sammelte sich in dunklen Zeilen auf meiner Brust. Fuhr ich über ein Schlagloch, stoben rote Tröpfchen in alle Richtungen davon, als schüttele sich ein Tier trocken, und meine Füße glitten aus den Pedalhaken. Sie kreisten beim Versuch des Wiedereinsteigens hilflos durch die Luft. Außerdem jaulte ich jedes Mal, da der Sattel den Aufprall der Laufräder wie ein Schlagkolben in den verletzten Schwellbereich meines Geschlechts leitete. Mein Penis, meine Hoden, sie hatten ihre ursprüngliche Form aufgegeben und waren zu einem dunklen Ödem verwachsen. Der Schrecken, der von diesen Verletzungen ausging, war groß. Manche Menschen haben sich einen Singsang aus Kindheitstagen behalten, mit dem sie sich in Krisen beruhigen können, ich nicht. Mein Singsang in dieser Nacht war: nie wieder baumeln, nie wieder baumeln.

Der Drang, meinen Körper zu berühren – nicht nur die Verletzungen –, war quälend, aber ich befürchtete zu stürzen, falls ich eine Hand vom Lenker nehmen würde. Ich war seit Jahren nicht mehr auf einem Fahrrad gefahren; nun war ich Arsch über Kopf Gefangener dieses Sportgeräts, das surrend und unbeirrt vorwärtsraste, solange ich in die Pedale trat. Und ich trat. Ich traute mich nicht, damit aufzuhören. Obwohl ich bestimmt schon zehn Kilometer hinter mir hatte, blickte ich immer wieder unter der linken Achsel nach hinten, um zu sehen, ob er mir folgte. Wer weiß, wozu ihn sein irrer deutscher Zorn befähigte.

 

Der Nasenbruch hatte eine dramatische Wirkung auf mein Gesicht. Während der Flucht sah ich mich zunächst nur in Schaufenstern. Ich raste, es war nach Mitternacht, mein Spiegelbild war ein Aufblitzen auf dunklen Flächen. Dennoch ahnte ich, dass ich entstellt war. Ich fühlte mich entstellt. Die Muskeln meines Gesichts schienen aufgebläht und ich hatte keine Kontrolle über meinen Kiefer. Wenn ich laut zu sprechen versuchte, machte ich nur Geräusche wie »Gnmnh!« und traurige Ellipsen mit dem Kopf. Das Blut tropfte die ganze Zeit aufs Oberrohr des Rennrads und flatterte als schleimiger Faden im Fahrtwind. Es wollte einfach nicht gerinnen.

Der einzige Teil meines Körpers, der tatsächlich schmerzte, war mein Penis. Alles andere war taub, sandte mir aber Signale zu: Nichts stimmt mehr, Notstand und Katastrophe, schau dir doch mal dein Gesicht an. Also hielt ich an und schaute; schaute genau. Es war voll die schlechte Idee. Nachdem ich mich gesehen hatte, konnte ich noch schlechter denken als ohnehin schon: Mein Gesicht sah aus wie eine Aubergine, auf der jemand ausgerutscht war. Mein Schwanz auch. Es war schrecklich, und ich fing an zu weinen. Vor zwei Stunden war ich noch am Bumsen gewesen, nun würde ich nie mehr bumsen, weil ich aussah wie ein Monster. Ich legte beide Hände aufs Gesicht, hob es dem Himmel entgegen, bog meinen Rücken durch und heulte auf: »Muhuhuhu!«

Danach setzte ich mich auf das Rad und fuhr weiter. Ich hatte mich längst verirrt und folgte meinem Bauchgefühl, was auch eine schlechte Idee war, da ich inzwischen Dörfer durchquerte, von denen ich noch nie gehört hatte. Ich hatte jegliche Vernunft verloren und war nicht in der Lage, innezuhalten und mich an Straßenschildern zu orientieren. Gleichzeitig spürte ich mit panischer Dringlichkeit, dass ich so schnell wie möglich ärztlich versorgt werden musste, weil ich sonst für immer hässlich bleiben würde.

 

In einem Kaff namens Erpolzheim fuhr ein weißer Corsa an mir vorbei, ließ sich zurückfallen und schloss wieder auf. Der Beifahrer kurbelte seine Fensterscheibe runter und fragte, ob bei mir alles in Ordnung sei. Ich konnte ihn nur mit aufgerissenen Augen anstarren.

»Du siehst schlecht aus. Magst du dir nicht helfen lassen?« Es waren drei BASF-Rentner, die von einem Vereinstreffen heimkehrten. Sie sprachen im tiefsten Dialekt und nannten mich ständig »Bu«. Es dauerte mehrere Minuten, aber schließlich überredeten sie mich, abzusteigen, eine ihrer Fleecejacken anzuziehen und mich in ein Krankenhaus bringen zu lassen. Das nächstgelegene war in Frankenthal. Das bedeutete, dass ich dreißig Kilometer in die falsche Richtung gefahren war. »Wir tun das Rädchen hinne nei, gell?«, sprach der Fahrer, während er mich zum Wagen führte.

 

Sauerei, Schande, fanden sie. Derart von einem Nazi verdroschen zu werden, da hätte ich genauso gut in Bosnien bleiben können. Seltsamerweise hatte ich diesen Gedanken auch gehabt, aber er hatte nichts mit meinen Verletzungen zu tun. Sie fuhren mich durch diese Örtchen: Freinsheim, Weisenheim, Lambsheim. Schindeln, Rollläden, Doppelverglasung, Terrakotta, Maschendraht und Carports schmierten am Fenster vorbei und verpufften. Eine graue Membrane lag über Klinkern, Rolltoren, Deko-Brunnen und Zäunen. Die Straßenbeleuchtung verglimmt gerade. Gleich sind alle Lichter aus, dann leben die Bewohner dieser Straßen wie in einer Höhle und beklagen jeden Tag, was aus ihren Städtchen geworden ist. Es war mal so schön. Jeder kannte jeden, wir hatten alle Licht. Und so weiter.

 

In der Notaufnahme des Frankenthaler Krankenhauses stellte der Arzt fest, dass meine Nase gebrochen war, und zwar vertikal, was ungewöhnlich ist. Normalerweise spalten Fäuste Nasen nicht von oben bis unten entzwei, sie treffen sie seitlich und verschieben das Nasenbein in Richtung des Aufpralls. Er erklärte, es gebe drei Faktoren, die für meine Art von Nasenbruch notwendig waren: Die Nase musste frontal und von einer Faust in vertikaler Position getroffen werden.

»Hatte der Typ Riesenfäuste? Solche Teile?« Er breitete seine Hände mit gespreizten Fingern vor der Brust aus, als hielte er einen Basketball, und feixte. Riesenfäuste waren das dritte Kriterium.

Als er mir fröhlich eine Tamponade ins linke Nasenloch einführte, schrie ich vor Schmerz auf. Es war mir egal, was die hübsche Krankenschwester davon hielt. Der Mull fühlte sich an wie ein eiserner Tausendfüßler, der meinem Gehirn entgegenkroch, und ich war bis auf eine Fleece-Jacke splitternackt. Es gab keine Würde, die ich noch verlieren konnte.

Der Arzt lachte über mich. »Wer Schmerzen scheut, darf sich nicht hauen!« Dann sah er verschmitzt von seinem Drehhocker hoch zur Krankenschwester. Ein Blick kurz vorm Zwinkern: Habe ich recht, oder habe ich recht? Die Schwester lächelte zurückhaltend, dünn, und ich fragte mich, wieso. Weil sie mich ebenso sehr verachtete wie der Arzt, oder weil sie den Arzt dafür verachtete, dass er sich so überlegen fühlte, obwohl er nur ein Trottel war, der einen Audi TT fuhr und es liebte, für Freunde zu kochen? Ich blickte sie eindringlich an, um die Antwort zu erfahren. Als sie mir eine frische Eispackung für den Nacken brachte und mich fragte, ob sie mir sonst was Gutes tun könne, erkannte ich in ihrer Stimme Mitgefühl und wusste, dass ich ihr leidtat. Sie hielt mich für psychisch krank, und sie hasste den Arzt. Wenigstens das. Es machte mich sehr glücklich.

 

»Ich habe ein paar Kumpel in Heidelberg, denen wäre das nicht passiert.« Der Notarzt wechselte die Tonlage und sprach mit einem besonderen Ernst, bei dem er jedes Wort dehnte und die Augen zusammenkniff, als schaue er in die Ferne: Es ging um Männersachen. »Die machen Kung-Fu. Harte Jungs.« Er bewegte seine Fäuste im Kreis vor meinem Gesicht, entweder illustrativ, oder um mir zu zeigen, dass er sich den einen oder anderen Trick von seinen Freunden abgeschaut hatte und sich besser behauptet hätte als ich. »Die trainieren in einem Schloss, ist wie ein Shaolin-Kloster dort, die leben für ihre Kampfkunst. Nach vier Wochen bei ihnen kann dir kein Straßenschläger was.« Bla bla bla, das Bruce-Lee-Gelaber wollte nicht aufhören.

Die Krankenschwester verließ den Raum, ich saß stumm im Adrenalinloch und war voll träger Gefühle, die aneinanderscheuerten. Ihre Brösel wurden zu Gedanken. Hatte die Verletzung meines Geschlechtsorgans irreversiblen Schaden angerichtet? Und es war jetzt auch nicht so, als kannte ich keine Menschen, die hart wie Koffergriffe waren. Oder mir nie jemand das Kämpfen beizubringen versucht hatte; ich hatte eine gute Freundin, die in der ersten Bundesliga im Freistil gerungen hatte. Sarah. Wir waren als Teenager befreundet gewesen. Zu dem Zeitpunkt, als ich sie kennenlernte, lebte ich erst seit einigen Monaten in Deutschland. Sie hätte in dieses Schloss gehen und dort jeden ungespitzt in den Boden rammen können. Ein Jahrzehnt des Wettkampfs hatte ihren Körper geprägt. Da das Ringen von ihr erforderte, ihre Gegnerinnen vom Boden zu heben, notfalls über den eigenen Kopf, war sie stämmig. Durch Übungen wie schwere Kniebeugen, die diese Leistung verbessern sollten, waren Sarahs Quadrizepse enorm und die Hüfte breit geworden. Dies weckte die Illusion, sie wäre übergewichtig, wenn sie weite Pullover trug. Sobald sie jedoch ein T-Shirt anhatte, sah man, dass ihr Bauch vollkommen flach war. Dann bemerkte man auch ihre breiten Schultern und die ausgeprägte Kapuzenmuskulatur, beides Ergebnis häufiger Kopfbrücken. Eisige Augen, quadratische Symmetrie des Leibes – Sarah vermittelte den Eindruck maschineller Kampftüchtigkeit. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sie ihre Gegnerinnen einschüchterte.

 

In der Bundesliga zu kämpfen, zwang Sarah zu Krafttraining, und unsere Begegnung im Sportverein – wir kannten uns bereits flüchtig aus der Hauptschule, hatten aber nie lange miteinander gesprochen – führte dazu, dass ich ihr Rückenprogramm mitmachte. Die Idee mit dem Sportverein kam von meinen Eltern. Sie fanden mich zu schüchtern. Es bekümmerte sie, dass ich meine ersten Monate in Deutschland vor dem Fernseher verbracht hatte. Sie wünschten sich, dass ich an die frische Luft gehe, Freunde finde und Erfolg habe. Das mit dem Erfolg kam nicht so schnell wie der Rest.

Die Erniedrigung, einem Mädchen an Kraft und Ausdauer unterlegen zu sein, ihre kühle Unterweisung ins richtige Kreuzheben, ihre Hände an meiner Hüfte, wenn sie mir half, mehr als drei Klimmzüge zu schaffen – die Nachmittage waren von der Erotik der Verkehrung bestimmt. Ich wünschte mir, Sarah näher kennenzulernen, vielleicht auch ein wenig aus widersprüchlicher Hoffnung, dass sie sich dann doch als bloße Frau hinter dem Panzer offenbaren würde. Aus dem gleichen Grund dachte ich, stärker werden zu müssen. Darin stimmte sie mir zu – ich könne ja keine Wasserkiste vom Boden heben. Im Kraftraum waren außer uns noch einige Schwimmer, deren gelegentliche Blicke mir sagten, dass Salzstangen in ihrer Welt nichts verloren hatten. Der Spiegel hinter der Kurzhantelreihe zeigte mir, dass sie recht hatten. Eine flache und dunkel behaarte Brust, darunter sichtbare Rippen über einem Fettknopf – ich war ein Fremder in ihrem Reich.

 

Um mich zu entlasten, log ich und erzählte Sarah von einem Onkel, der auch rang und sogar schon mal als Gast im Moskauer Olympia-Stützpunkt trainiert hatte. Ein »schön« war alles, was ich dafür bekam. Meine große Angst, unser gemeinsames Training könnte nicht zu Freundschaft führen, sorgte für seltsame Gedanken: Ich fragte mich, ob es vielleicht keine höhere Stufe der Intimität gab als gemeinsames Krafttraining. Das Schwitzen und die gelegentlichen Anstrengungsfürze konnten doch nicht unverbindlich sein.

 

Was trieb so jemanden wie Sarah an, jeden Morgen vor der Schule laufen zu gehen, zu hungern, sich zu verletzen, obsessiv zu werden?

In der nächsten Schulpause stellte ich ihr diese Fragen. Sie konnte ihre Leidenschaft nicht begründen. Die Stichworte ihres Versuchs waren »investierte Arbeit« und »Spaß«. Was für eine mysteriöse Frau, dachte ich. Immerhin hatte sie mich als ihren Trainingspartner ausgesucht: »Donnerstag wieder?«

 

Die Pausen zwischen den Sätzen verbrachten wir mit Gesprächen über unsere Schulziele. Zum Zeitpunkt meiner Einwanderung war ich vierzehn und wurde einer Hauptschule zugewiesen. Sarah wollte Polizistin werden. Und zwar »schon immer«. Mein »schon immer« war die vage Vorstellung eines akademischen Daseins – ein Plan, der aufgeschoben werden musste, weil meine Eltern bei ihrer Einwanderung das deutsche Schulsystem nicht gekannt und sich auf die behördliche Schulempfehlung eingelassen hatten. Als sie erfuhren, dass mich diese Schulart nicht zum Studium qualifizieren würde, war das Geschrei groß, insbesondere meins. Schließlich hatte meine Mutter Theoretische Physik und mein Vater Bibliothekswissenschaften studiert. Sie konnten sich gegen meinen Vorwurf, selbst das Privileg des Studiums genossen zu haben, aber es mir nun vorzuenthalten, nur mit einem selbstmitleidigen Verweis auf ihre unakademischen deutschen Existenzen als Laborhelferin und Drucksetzer wehren. Immerhin stand meiner Mutter eine Hilfsdozentur in Aussicht. Ich hatte deshalb vor, das Abitur später nachzuholen und anschließend zu studieren.

Sarah erklärte ihren Berufswunsch damit, dass sie die richtige »Eignung« besaß. Sie war »ordnungsliebend« und »hatte sich im Griff«. Die geborene Polizistin. Ich bekam es im Training zu spüren, da Sarah stets einen Trainingsplan dabeihatte, eine Liste über die von uns erreichten Lasten führte und nach zwei Monaten den Trainingsplan plötzlich änderte, damit unsere Körper sich »neuen Herausforderungen« stellten. Wenn Sarah beim Bankdrücken ungeschminkt über mir stand und flach zählte, waren Körper und Herausforderungen alles, woran ich dachte.

Meine Freundin hatte durch die Jahre des Ringens eine Neigung zur Grenzüberschreitung entwickelt – sie berührte mich häufig. Sie schubste mich. Wenn sie mich loben wollte, schlug sie mir mit flacher Hand auf die Brust oder den Rücken. Einmal hob sie mich sogar vom Boden an: Sie umfasste meine Hüfte mit ihren Armen, verschränkte die Fingerspitzen vor meinem Bauchnabel zu einem »S« und lupfte mich hoch, als wäre ich ein Kind, das am Kleiderhaken aufgehängt werden soll. Ich fand das erniedrigend, zeigte es jedoch nicht. Stattdessen versuchte ich einmal, als ich bei ihr zu Besuch war, sie mit roher Kraft zu Boden zu ringen. Ich war überzeugt, dass es mir bei Gelingen Klarheit bringen würde. Damit meine ich: Es würde meinen Gefühlen für Sarah zur Reife helfen. Ich würde ihr einfach sagen können:

»Pass auf, wir müssen reden. Es ist ernst und auch nicht. Ich denke über dich nach.«

Was in den meisten Freundschaften der schwierigste Teil meines Vorhabens gewesen wäre, nämlich die Einleitung so eines Gerangels, war in unserem Fall überhaupt kein Problem. Wir redeten ja über nichts anderes als Körper: Gelenke, Muskelgruppen, Kalorienbedarf, Ketolyse, Dermatomykose. Es war normaler für mich, mit Sarah zu ringen, als sie ins Kino einzuladen – sie hatte mir bereits einige Würfe gezeigt. Also nahm ich einen ihrer gutmütigeren Schubser zum Anlass und erklärte, sie würde ihn büßen, und stürzte mich auf sie. Doch ich hatte keine Chance. Sarah warf mich über ihre Hüfte und setzte sich – kaum war ich auf dem Parkett gelandet – auf meinen Bauchnabel. »Befrei dich!« Da ich nichts von Schulterbrücken wusste, strampelte und tobte ich vergeblich unter ihr. Aber es erregte mich natürlich auch und irgendwann, es waren vielleicht zwei Minuten vergangen, ejakulierte ich, ohne dass sie es bemerkte. Damit es so blieb, gab ich vor, noch ein wenig weiterzukämpfen, bot ihr dann aber bald meine Aufgabe an. Meine Scham hatte zu diesem Zeitpunkt kosmische Dimensionen erreicht. Ihre Hüfte und Beine nun zu berühren, fühlte sich kreidig und bedeutungslos an. Sarah erklärte mir, wie ich mich hätte retten müssen, während sie mir hochhalf, aber das tröstete mich nicht mehr. Noch Stunden später schien es mir, als würde ich schwer atmen.

 

Sarahs Vater war einige Monate, bevor wir uns kennenlernten, verstorben. Er hatte sich erschossen, weil man seinen Neonazi-Sohn in meiner alten Heimat Bosnien getötet hatte. Dieser Idiot war runtergefahren, um auf kroatischer Seite gegen Moslems und Slawen zu kämpfen.

Sarahs Vater hatte nur drei Jahre gebraucht, um sich den Mut für den Selbstmord anzutrinken, was nicht überraschend war, denn vor dem Tod seines Kindes war sein Leben von Ruhe und Verzicht bestimmt gewesen. Dabei hatte er eigentlich Glück gehabt, denn er arbeitete als Polizeiausbilder und seine Vorgesetzten sahen davon ab, aus den – erst posthum entdeckten – Überzeugungen seines Sohnes ein Problem für den Vater abzuleiten. Er hätte seine Arbeit fortsetzen können, aber offenbar wog der Verlust des Kindes zu schwer. So schwer, dass er sich förmlich in den Ruin stürzte. Er erschien nicht mehr an seinem Arbeitsplatz, sondern zog hackedicht von Kneipe zu Kneipe, und er schlief nicht mehr, sondern döste nur noch in seinem Audi 100.

Die Kneipen, in denen er trank, waren alle dunkel gekachelt, hatten hölzerne Tresen und Gäste, die deutlich länger unglücklich lebten als er. Ich stelle mir die Gespräche zwischen diesen Menschen unerträglich vor: Sie waren bestimmt allesamt Monothematen, die um irgendwen trauerten und denen alles ein Anlass war, um von ihrem Unglück zu berichten. Es gab schlichtweg keine Situation, in der man verlassen genug sein konnte, um von ihnen Rettung zu erwarten. Sie trugen zum Teil noch Kleidung und Frisuren jener Epoche, in der sie ihr Unglück ereilt hatte, wie um zu zeigen, dass sie den Anschluss komplett verloren hatten; um dem Elend mit einem Minipli zu begegnen.

 

Sarahs Vater verließ die Familie ohne Erklärung und lebte drei Monate lang in seinem Auto. Dabei verbrauchte er fast die gesamten Familienersparnisse, bevor Sarahs Mutter seinen Zugang zu den Konten sperren konnte – ein Eingriff, den er mit dem Selbstmord zu sanktionieren gedroht hatte. Er blieb diesem Versprechen treu und erschoss sich auf dem Rücksitz des Audis. Im Tod erlaubte er sich ein Mätzchen, denn er schoss sich ins Herz und nicht in die Schläfe oder den Mund, wie man sich das sonst vorstellt. Die Pistole, die er dafür verwendete, war nicht seine Dienstwaffe, sondern eine kleine »Beretta 80«, die 1992 bei einem Raubüberfall auf einen chinesischen Imbiss in Züsow bei Rostock zum Einsatz gekommen war, wie sich nach der ballistischen Analyse herausstellte. Einer der Räuber hatte damit eine Bedienung geschlagen, wobei sich ein Schuss löste. Die Landespolizei Mecklenburg-Vorpommerns ging in diesem Fall nicht von vordergründig rassistischer Motivation aus, und es blieb unklar, wie die Waffe ihren Weg von der nördlichen Spitze Deutschlands in die Hände eines ehemaligen Polizeiausbilders im Südwesten des Landes gemacht hatte.

 

Ich vergaß diese Geschichten wieder, nachdem wir uns an einem Abend unter der Bettdecke und nach einigem Armflechten und Gefinger endlich küssten und viel rieben; begleitet vom Zirpen statischer Entladungen unserer Wollsocken sagte mir Sarah häufig, wie viel stärker ich geworden war. Sehr gut sei das. Genauso weiter. Irgendwann aber:

»Nein. Die Energie!«

Ihr stand nämlich ein Wettkampf bevor.

Wir wurden nie ein Paar; bis wir uns nach dem Schulabschluss aus den Augen verloren, blieben wir Freunde, die sich manchmal küssten. Sarah rang mich zweimal wöchentlich auf ihre Matratze nieder, klemmte mein Gesicht zwischen ihre Handflächen und die Lippen schürzten los. Es geschah unangekündigt, und das Warten auf ihren nächsten Überfall war meine Medizin. Sie hielt mich aufrecht. Was für eine seltsame Freundschaft, dachte ich damals. Eine deutsche Freundschaft. So läuft das hier. Ich kapiere gar nix, aber ich mag es.

 

Ich war zu dieser Zeit erst seit einem Jahr in Deutschland und hatte im Jahrzehnt davor nur berechenbare bosnische Freundschaften erlebt. Sie hatten ausgesprochene Regeln und Abläufe, beide so explizit und allgemeingültig, als habe man sich kurz nach der Geburt vertraglich zu ihnen verpflichtet. Jeder Junge wusste, was andere Jungs von ihm erwarteten, und dies änderte sich auch nicht, als der Krieg ausbrach.

Der Freundeskreis meiner Grundschuljahre in Sarajevo bestand ausschließlich aus den Kindern des Viertels, in dem ich lebte. Es war ein Rechteck aus vier Wohnblocks, die eine kleine Grünanlage, einen Basketballkorb, Parkplätze und eine Garagenreihe einschlossen und ihrerseits selbst an jeder Außenseite an eine Verkehrsstraße angrenzten. Es war nicht klar, ab wann eine Ansammlung von Wohnhäusern und Blocks zu einem Viertel wurde, aber eine Umrahmung durch Straßen schien entscheidend. Unsere Wahrnehmung von Nachbarschaften folgte städteplanerischen Schritten. Man hatte in den Jahrzehnten, die auf den Zweiten Weltkrieg folgten, lose Gruppen von Wohneinheiten vergleichbarer Größe gebaut, in rechten Winkeln geordnet und mit Straßen umrandet. Čengić Vila, der Stadtteil, in dem ich lebte, bestand aus Hunderten solcher Zellen.

Es war normal, dass es mit Nachbarsvierteln »Krieg« gab – ohne Grund und aus nichts als Erlebnislust. Bei diesen Fehden wurde ich glücklicher Zeuge und trostloses Opfer einiger spektakulärer Schlägereien. Kinder aus anderen Vierteln besuchten zwar dieselbe Schule wie ich, waren aber potenzielle Feinde. Im Grundschulalter war ausschließlich Nachbarschaft eine Grundlage für Freundschaft.

Im ersten Kriegsjahr wollte ich das ändern; ich versuchte, mich mit einem Jungen anzufreunden, weil wir gemeinsame Interessen hatten, und ich fühlte mich dabei sehr rebellisch, weil unsere sozialistische Schulerziehung diesen Fall nicht vorsah.

Wie fand er mich? Jemand schickte ihn zu unserer Wohnungstür. Er war im ersten Kriegsherbst auf einem Fahrrad ins Viertel gekommen und hatte nach Jugendlichen gefragt, die sich für Videospiele interessierten. Scheinbar war ich meinen Kameraden als »so einer« aufgefallen. Wir fingen an, Zeit miteinander zu verbringen, weil ich viele Spiele besaß, die er nicht hatte, aber wollte. Zumindest anfangs. Als sich dies irgendwann änderte, weil ich im Gegensatz zu ihm keine Quellen für neue Spiele hatte, änderte sich auch unser Verhältnis, doch dazu später mehr.

 

Janez lebte bei seinem Vater, die Mutter hatte die Familie verlassen – etwas, das mir vollkommen unvorstellbar erschien. Der Junge, sein Vater und ihre Katze: ein Rätsel. Wenige Wochen, nachdem wir uns kennenlernten, besuchte ich ihn in seiner Wohnung, und da sein Vater – ein gedrungener Akademiker der Technischen Universität – selten zu Hause war, konnten wir so viel spielen, wie wir wollten. Irgendwann fing Janez auch an, mich zu besuchen und Zeit in meinem Viertel zu verbringen, meistens, wenn es bei uns gerade Strom gab. Meiner Clique war er suspekt. Er sah aus wie ein kompletter Horst: fehlgewachsen, dürr und so hellhäutig, dass alle Kapillaren und Äderchen sichtbar waren. Rote Lemurenaugen und völlig weltfremd – das war Janez. Während meine Freunde und ich über den Krieg redeten, über die Waffen, die Soldaten an der Front einsetzten, oder über unseren Hunger und die Lust auf Hot Dogs und Coca-Cola, sprach Janez über Computerspiele und Tolkien, der Krieg schien ihn nicht zu beschäftigen, es sei denn er ärgerte sich über die seltene Verfügbarkeit von Strom.

Was ihn allen noch suspekter machte: Es war schwer, ihn ethnisch zu identifizieren. Der Krieg hatte uns zu Namenskundlern gemacht, und wir konnten jeden Vornamen einer der verfeindeten Ethnien zuordnen. Menschen, die wie ich aus Mischehen stammten, bereiteten keine Probleme, solange man mit ihnen aufgewachsen war, aber Janez war neu, und er trug einen slowenischen Vor- und einen muslimischen Nachnamen. Außerdem nervte seine Lebensuntüchtigkeit meine Kumpel. Ich musste einiges an gutem Zusprechen leisten, damit er dabei sein konnte, wenn wir irgendwas unternahmen. Es war mir unbedingt wichtig, ihn als Freund bezeichnen zu können. Er war entschieden anders, ganz und gar nicht der typische Bub aus Sarajevo, und ich wollte der einzige Junge meines Viertels sein, der mit einer kauzigen Freundschaft prahlen konnte. Er spielte lieber Videospiele, als sich zu prügeln oder mit Flaschen und Steinen zu werfen, und damit brach er Regeln. Jungs masturbierten zusammen, wobei es ihnen oft um mehr als das Abströmen ging – manchmal ging es darum, jemanden zu demütigen. Dann wurde der Schwächste im Kreis ergriffen und mehrfach bekleckert. Für Jungs hatte alles irgendwie Gewalt zu sein, ein Leben aus Starren, Drohen, Reißen, Schlagen. Und es war gut, ich war glücklich als Junge. Ich boxte mich regelmäßig, schrie den ganzen Tag: »Komm doch her!« und »Hoch den Rock, rein den Pflock!«. Ich kannte alle Fußballgesänge, ich war dabei, und zwar immer. Zugleich kann ich schwer beschreiben, wie aufregend es für mich war, dass Janez diese Normen ignorierte. Es handelte sich um eine bewegliche Begeisterung, die im Gegensatz zu den gebrochenen Regeln vage blieb, die Ahnung eines kommenden Jahrzehnts neuer Erlebnisse. Wenn ich in mich ging und überlegte, was ich an Janez mochte, half ich mir mit Bildern, von denen das drängendste war: Seine Welt war flauschig.

Bevor ich ihn zum ersten Mal besuchte, träumte ich sogar, Janez lebe in einer Wohnung mit samtigen dunkelgrünen Wänden, und überall piepsten Tierchen, die ich nicht sehen konnte. Ich wachte durstig auf, holte mir Wasser aus der Sauerkrauttonne, öffnete heimlich ein Fenster im Kinderzimmer und schaute mir das Viertel an: ein asphaltiertes Becken. Und jetzt war auch noch Krieg.

 

Leider stand eben das, was ich an Janez so interessant fand, einer Freundschaft im Wege – er feierte sie schlicht und einfach nicht so ab wie wir. Er verstand sie nicht.

Jungenfreundschaften im ehemaligen Jugoslawien waren von sozialistischen Narrativen geprägt. Die Erziehung von Grundschülern sollte das Ethos der Partei spiegeln, und das erschloss sich mir damals nur in Gegensätzen: oben ein kaltes, lauerndes appolinisches Gesicht, das Keuschheit, Nüchternheit und Leidensfähigkeit forderte, und darunter ein triebhafter, dämonischer Torso, der Härte, Kampf, Rivalität oder Opfer gut fand. Das bedeutete in der Praxis, dass wir von Lehrern für das »Denunzieren« abschreibender Schüler streng bestraft wurden und sich unter Jungs schon im Kindesalter ein Männlichkeitskult entfaltet hatte, bei dem es ums Zelebrieren und Nachweisen von Loyalität ging, ob nun durch Beistand bei Faustkämpfen oder das gegenseitige Erteilen von Nachhilfe. Das galt für alle Jungs, die ich kannte, nur nicht für Janez, der gegen die Laufrichtung schlurfte.

 

Vielleicht muss ich ein bisschen ausschweifen, um zu verdeutlichen, wie sehr er sich von uns unterschied. Ich muss von den Dingen erzählen, die wir unternahmen. Viele davon waren erst durch den Krieg möglich geworden. Ich erinnere mich besonders gut an das Anzünden des Müllbergs in meinem Viertel. Da der Abfall zwei Jahre lang nicht abgeholt worden war, war eine Miniaturdeponie angewachsen, die sich über einen Parkplatz für sechs Autos erstreckte und das Wrack eines ausgebrannten Citroens DS verschluckt hatte. Am Ende war sie drei Meter hoch. Ein Turm. Uns interessierten vor allem die Spraydosen der Kippe, die nach einiger Zeit explodierten, wenn wir sie ins Feuer warfen. Oder wie Raketen davonschossen. Und wir suchten nach Plexiglas-Stücken, die, wenn angezündet, so schmolzen, dass wir mit den Tropfen unsere Namen auf Betonwände schreiben konnten. Wir malten nässende Penisse. Oder Schimpfwörter. Als uns unsere Eltern mit der Warnung vor gefährlichen, krebserregenden Dämpfen Angst machten, gaben wir den Müll auf und spielten lieber Fußball, Basketball und ihre vielen Varianten mit diffizilen Regelwerken. Die Müllberge blieben, brannten weiter und zogen andere Tierchen an. Hunderudel durchwühlten sie auf der Suche nach vergessenen Kalorien. Der Fund eines Tetrapaks ließ sie in Raserei geraten. Die Eichhörnchen erklommen ihre Gipfel auf der Suche nach Füllmaterial für ihre Nester. Es gab nicht mehr genug Bäume, in denen sie nisten konnten, und daher zu wenig Laub. Sie schliefen in der Kanalisation.

Wir beobachteten, wie vier Eichhörnchen den Kadaver einer Katze in Stücke rissen und die Fleischfetzen davontrugen. Das war so furchtbar. Eichhörnchen hatten uns enttäuscht. Sie waren nicht mehr unsere putzigen roten Freunde. Sie waren Ratten in Bomberjacken.

Menschen wachten in Sarajevo jeden Morgen mit dem Gedanken auf: »Lieber Gott, lass mich heute nicht sterben. Ich bin zu jung. Ich habe Besseres verdient.« Aber Tierchen haben keine Vorstellung vom Tod. In ihren Schädeln schwappt eine Mischung aus Jetzt und Ewigkeit hin und her. Und kleine Gedanken wie: »Gnarf, Gnarf, geiler Katzenkadaver.«

 

Eine weitere Unternehmung war das gemeinsame Stehlen. Im Sommer stahlen wir Obst. Wir verließen unser Viertel und liefen in die Randbezirke an den Ausläufern der Berge, die Sarajevo umgaben. Dies dauerte von meinem Viertel aus nicht länger als eine halbe Stunde. Wenn wir die Reihen der Wohnblöcke verlassen und einen Zopf von Zugschienen überquert hatten, fanden wir uns auf ungepflasterten Straßen wieder. Diese Gegenden waren uns unerklärlich, da die Menschen hier über viel mehr Raum zum Leben verfügten als wir. Ihre Häuser standen weit auseinander, als kleine Flecken auf weiten Grundstücken. Unser Ziel waren die Obstbäume. Wir erklommen sie und warfen ihre Früchte Freunden zu, die sie entweder mit offenen Plastiktüten auffingen oder vom Boden aufsammelten. Jeder Raubzug endete mit der Flucht vor dem Besitzer, und auf sie folgte die Suche nach dem nächsten Garten. Wir hielten vor allem nach Äpfeln, Kirschen und Pflaumen Ausschau. Von den Letzteren mochten wir besonders die gelben, etwa Spillinge, oder die seltenen grünen reine claude verte-Pflaumen, die wir zu »Renoklode« slawisiert hatten. So lief das jedenfalls in den Jahren vor dem Krieg.

Der Krieg änderte alles, auch unser Vorgehen beim Obstklau, denn der erste Winter war unerbittlich gewesen. Die Temperaturen sanken auf minus zwanzig Grad, die Heizungen funktionierten nicht, und jede einzelne Fensterscheibe der Stadt war entweder durch direkten Beschuss oder den Luftdruck naher Detonationen geborsten und notdürftig mit durchsichtiger Folie aus UN-Hilfspaketen ersetzt worden. Alle schliefen in Skianzügen. Unsere Eltern tauschten ihre Autos gegen alte Kanonenöfen und fingen an, in der Wohnung mit Holz zu heizen und zu kochen. Wir verheizten Bücher, Regale, Türen, Parkettböden. Holz wurde so selten und teuer, dass am Ende der ganze Wohnblock auf einem gemeinsamen Ofen kochen musste.