TIONCALAI - Esther-Maria Herenz - E-Book

TIONCALAI E-Book

Esther-Maria Herenz

4,7

Beschreibung

Die Halbwölfin Neolyt ahnt nichts von ihren magischen Kräften, als sie ihrem kleinen Bruder Flit das Leben rettet. Dass sie damit gegen die Gesetze ihres Rudels verstößt, ist jedoch nicht ihr größtes Problem. Denn als ein Drachenreiter im Wald auftaucht, ist es ausgerechnet ihre Mutter, die sie drängt, das Rudel zu verlassen. Neolyt folgt dem Fremden in die Schule der Einhorn- und Drachenreiter – einen Ort voller Menschen und anderer bedrohlicher Wesen. Doch nicht hier lauert die wahre Gefahr, die Reiter interessiert mehr als nur Neolyts magisches Talent. In der Weißen Stadt wird ein Netz aus Intrigen um sie gesponnen, das es ihr unmöglich macht, Wahrheit und Lüge, Freund und Feind voneinander zu unterscheiden.

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Inhalt

Esther-Maria Herenz

Impressum

Über die Autorin

PROLOG

STERNE

Magie

Feuer und Besteck

Marcelo Lumis

Wolf und Mensch

Sternbilder

Mondschatten

Wahre Geschichten

Unter dem Spiegel

Ein Pferd aus Stein

Iylmania

Meer

Zauberhafte Steine

Grün

Auf dem Eis

Die Nacht

Ein Pinguin

DÓ DHÉAG

Xialenóll

Die wahren Reiter

Felyn Avac

Jagd

Danetro

Der Namato

Ratten

Falsches Spiel

Getrübte Wiedersehen

Die Adler

In den Mauern

Über den Fluss

Eine letzte Chance

Schatten der Vergangenheit

Falken lügen nicht

Zweifel

Das Einhorn

Die Todesklippen

DAS BUCH

Madra

Der Auftrag

Aufbruch

Der Lebende Wald

Die Winde

Falkenschwur

Sandsturm

Pläne

Das Versteck

Feuer

Schwarze Tage

Drachengesang

Danksagung

Esther-Maria Herenz

Tioncalai

Die Tochter der Weißen Wölfin

Impressum

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Spiegelberg Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2016

ISBN 978-3-939043-61-4

© Spiegelberg Verlag, Schweiz 2016

Titelbild: Florian Herold

Covergestaltung: Marcel Christen

Datenkonvertierung: Marktfotografen GmbH, www.marktfotografen.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung vom Spiegelberg Verlag reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Spiegelberg Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Sie finden uns im Internet unter www.spiegelberg-verlag.com

Über die Autorin

Esther-Maria Herenz wurde im Juni 1997 in Leipzig geboren. Fantasy-Bücher wie „Die Chroniken von Narnia“ und „Harry Potter“ zogen sie schon in jungen Jahren in ihren Bann. Bereits mit elf Jahren begann sie, an der Geschichte um die Halbwölfin Neolyt und ihr Einhorn Mondschatten zu schreiben, woraus im Laufe der Zeit ihr Debütroman „Tioncalai – Die Tochter der weißen Wölfin“ entstand. Nebst ihrer großen Faszination für die Welt der Fantasie ist Musik ein weiterer Mittelpunkt in ihrem Leben, ebenso wie die Wälder und das Meer ihrer zweiten Heimat - der Ostseeküste. Sie lebt zusammen mit ihren Eltern und drei ihrer vier Geschwister in Leipzig und absolviert dort an der Thomasschule das Abitur.

Für Popa,der meine ersten Geschichten zu Papier brachte.

PROLOG

Ich habe diese Zeilen ursprünglich nicht geschrieben, damit du die Wahrheit erfährst. Doch jetzt kannst du sie vielleicht gebrauchen. Mein Name ist Selay und ich bin die erste Tioncalai, ich bin als Erste den Bund mit einem Einhorn eingegangen. Ich wollte nie, dass es so kommt, aber Dimensionstore sind eine komplizierte Angelegenheit. Ursprünglich wollte ich in Yalyris das Schlimmste verhindern, aber wie es scheint, bin ich ungefähr viertausend Jahre zu früh bei den Einhörnern eingetroffen. Und obwohl ich alles verändern könnte, was geschehen wird, ist es meine grausame Pflicht, es genau dazu kommen zu lassen. Niemand darf das Schicksal umlenken.

Nun haben also die Einhörner mit meinem Volk einen Pakt geschlossen, den berühmten Pakt der Tioncalai oder auch Einhornreiter, wie sie sich später nennen werden. Viele mögen jetzt denken, das wäre unwichtig, das Leid habe doch erst begonnen, als er nach Yalyris kam. Doch begonnen hat alles mit dem ersten Einhornreiter. Mit mir. Nalien ist mir ein treuer Freund, manchmal scheint es mir, als ahne er etwas. Er war es schließlich auch, der Tage und Nächte auf der Klippe stand und mich erwartete. Jeden Tag, den wir gemeinsam verbringen – und das sind beinahe alle –, fühle ich mich schuldig, weil ich ihn und alle anderen belügen muss. Meine Brüder und Schwestern, die ich hierher mitgenommen habe, bewahren natürlich Stillschweigen über die Zukunft, doch auch ihnen fällt es schwer, diese schönen und klaren Wesen zu betrügen. Manchmal wünschte ich, ich hätte meinen Sohn nicht allein dort gelassen. Natürlich passt das Rudel auf ihn auf und es ist sicherer für ihn. Er sollte seinem Vater nicht begegnen.

So viele Lügen, nur um dem Schicksal gerecht zu werden. Trotzdem werde ich nicht aufgeben, und wenn nicht ich ihn aufhalten werde, so wirst doch wenigstens du es versuchen können. Wenn du das hier liest, werden wir uns noch nicht begegnet sein und du wirst mir auch nie begegnen, aber ich werde dich sehen. Doch bis dahin werden noch Tausende Jahre vergehen, denn ich bin der Anfang der Geschichte, du aber wirst ihr Ende sein.

STERNE

Weit weg vom Land der Einhörner und viele Jahre, nachdem das neue Zeitalter begonnen hatte, lauerte in Tukmelas Wäldern eine junge Wölfin ihrer Beute auf, noch nichts von den Einhornreitern ahnend.

Magie

Neolyt schlich tief ins Gras geduckt auf den Hasen zu. Der Wind stand günstig, er würde sie nicht bemerken. Noch ein Schritt, dann – doch plötzlich durchschnitt ein Schuss die Stille und der Hase sprang wie der Blitz im Zickzack davon. Erschreckt drehte Neolyt ihre Ohren in die Richtung, aus der der Schuss gekommen war. Sie konnte Menschenrufe und Hundegebell hören. Was sollte das? Bis zur Jagdsaison mussten es noch mindestens zwei Monde sein. Ihr Blick verfinsterte sich. Wilderer. Mordsüchtige Menschen mit Gewehren, die im Frühjahr die Jungen schossen. Letztes Jahr hatte ihr Rudel drei Welpen an sie verloren.

Sie wollte gerade davonlaufen, als sie ein klägliches Heulen vernahm, das ihr das Blut in den Adern erstarren ließ. Flit. Diese Mistkerle hatten ihn erwischt. Entgegen all ihrer Instinkte lief sie in die Richtung, aus der das Heulen gekommen war.

Immer wieder tauchte sie in den Schatten der Bäume unter, um nicht entdeckt zu werden, aber sie musste sich beeilen. Abermals heulte Flit. Dieser Dummkopf! Die Menschen würden ihn noch vor ihr finden! Sie lief weiter, ins Unterholz geduckt, vernahm schon das Bellen der Hunde, als sie ihn endlich entdeckte. Er schleppte sich hinkend durchs Gebüsch, eine deutliche Blutspur hinterlassend. Sie sprang auf ihn zu, packte ihren kleinen Bruder im Genick und verschwand mit ihm so schnell sie konnte im Unterholz. Über die versteckten Pfade, die sie wählte, würden ihr die Menschen nicht so leicht folgen können.

Das Bellen der Hunde und die Rufe der Menschen wurden immer leiser. Sehr gut, so viel war ihnen ihre Beute also nicht wert.

Auf einer kleinen Lichtung hielt sie schließlich an und legte Flit auf das Moos. Er zitterte am ganzen Leib und hatte die Augen weit aufgerissen. Ängstlich und flehend sah er sie an. Doch Neolyt wich seinem Blick aus. Nach den Gesetzen des Rudels hätte sie ihn nicht einmal vor den Menschen retten dürfen – wer verletzt war, wurde nicht gerettet, um das Rudel nicht in Gefahr zu bringen. Aber beim weißen Hirsch, sie konnte doch ihren eigenen Bruder nicht einfach sterben lassen!

Neolyt konzentrierte sich kurz und nahm dann ihre menschliche Gestalt an. In einer Tasche ihrer Hose fand sie den Beutel mit Heilsalbe, die ihr die Kräuterfrau aus dem Menschendorf gegeben hatte. Zum Glück hatte die Kugel Flit nur gestreift. Wäre sie eingedrungen, hätte sie ihm nicht mehr helfen können. Neolyt wusch die Wunde mit dem Wasser aus ihrer Trinkflasche aus und trug vorsichtig die Salbe auf. Gerade wollte sie einen Fetzen von ihrem Hemd abreißen, als hinter ihr ein Ast knackte. Blitzschnell fuhr sie herum. Ein Wilderer stand zwischen den Bäumen, das Gewehr auf ihren Bruder angelegt.

Es knallte, die Kugel flog.

Instinktiv stellte sich Neolyt in ihre Bahn und streckte die Hand aus. Zu spät wurde ihr klar, wie dumm das war. Wie in Zeitlupe flog die Kugel auf sie zu, als wolle sie den Moment des Aufpralls hinauszögern. Nur wenige Handbreit von ihr entfernt schien sie in der Luft stehen zu bleiben.

Schien? Neolyt blinzelte. Die Kugel bewegte sich tatsächlich nicht. Erschrocken zog sie ihre Hand zurück und mit einem dumpfen Geräusch fiel die Kugel ins Moos.

Neolyt achtete nicht auf den Wilderer, der mit panischen Blicken davonhastete, und auch nicht auf Flit, dessen Augen vor Erstaunen riesig geworden waren.

Was um alles in der Welt hatte sie getan?

Deor hatte sich als Dörfler verkleidet und in eine der Dorf­kneipen gesetzt, um ein paar ­Neuig­keiten aufzu­schnappen, die auf potenzielle Schüler hinwiesen. In letzter Zeit machte ein Gerücht die Runde, im Wald würde eine Hexe leben, die sich in einen Wolf verwandeln könne. Meistens war so etwas nur dummes Gerede, aber das war, wie Valria immer behauptete, schließlich sein Spezialgebiet. Sie leitete die kleine Gruppe von Reitern, die hier in Tukmela nach Kindern mit magischem Potenzial suchten.

„Sie hat dem Wolf, den ich angeschossen habe, das Blut ausgesaugt, und als ich sie erschießen wollte, hat sie die Kugel in der Luft angehalten und auf mich zurückgelenkt. Ihr wisst ja, dass ich mich normalerweise von Nichts aus der Ruhe bringen lasse, aber da lief‘s mir kalt den Rücken runter, kann ich euch sagen.“ Das war der Jäger, der behauptet hatte, die Hexe gesehen zu haben.

Die Männer an seinem Tisch sahen ihn mit großen Augen an.

„Der Wald war mir noch nie so richtig geheuer“, meinte einer von ihnen schließlich.

„Erinnert ihr euch an den großen Brand, letztes Jahr an der Nordseite?“

Sie nickten und ihnen war anzusehen, dass sie nicht gerne daran zurückdachten.

„Mein Cousin Erik hat geschworen, dass das, was den Brand ausgelöst hat, ein Drache war.“ Der Sprecher hatte die Stimme gesenkt und sich tief über den Tisch gebeugt. „Und außerdem sagte er, dass auf dem Drachen ein Mensch saß.“

Deor verkniff sich ein Lächeln. An diese Geschichte erinnerte er sich nur zu gut. Er war mit einem seiner Schüler über den Wald geflogen – natürlich vorsorglich mit einem Sichtschild geschützt –, doch hatte dessen junger Drache plötzlich den Feuerhusten bekommen, mitten im Flug. Da hatte auch der beste Sichtschild nichts geholfen.

Das Gespräch der Männer wandte sich wieder uninteressanteren Themen zu und Deor stand auf, um zu gehen. Für heute hatte er genug gehört. Er schmiss dem Wirt noch zwei Groschen auf die Theke, dann war er auch schon draußen. Die kühle, klare Luft war nach dem stickigen und verrauchten Wirtshaus ein Segen. Er gähnte ausgiebig und machte sich auf den Weg zu seiner Drachin Jufra, die sich etwas außerhalb des Dorfes versteckt hielt.

Auf einmal sah er aus dem Augenwinkel eine huschende Bewegung. Jeder andere hätte es für eine Sinnestäuschung gehalten, aber er hatte nicht umsonst eine jahrelange Ausbildung über sich ergehen lassen, ganz zu schweigen von den Erfahrungen, die er während des einen oder anderen Spionageeinsatzes gesammelt hatte. Deor ging langsam weiter, um kein Aufsehen zu erregen, bog um die Ecke und legte einen Unsichtbarkeitszauber über sich. Dann kehrte er wieder um und schlug die Richtung ein, in die die Gestalt verschwunden war. Es war in den engen Gassen zwischen den Häusern zu dunkel, um etwas zu sehen. War es am Ende nur – doch da hörte er Stimmen. Zu einem Flüstern gesenkt kamen sie aus der Hütte neben ihm. Leise schlich er zu einem der Fenster und spähte hinein, aber drinnen war es so dunkel, dass er nichts erkennen konnte.

„… hat dich gesehen“, sagte gerade die Stimme einer älteren Frau.

„Ich weiß. Was erzählt er?“ Das war ein Kind, vermutlich ein Mädchen.

„Stuss, nehme ich an. Du wärst eine Hexe, die ihre Gestalt verändern könne, und hättest eine Kugel in der Luft angehalten.“

„Das habe ich doch nur gemacht, um Flit zu beschützen.“

„Soll das heißen, der Teil mit der Kugel stimmt auch?“

„Ja, Irla, aber ich weiß wirklich nicht, wie. Es ist einfach so passiert.“

„Na schön. Aber wenn du die Kugel doch abgelenkt hast, wozu brauchst du dann die Heilsalbe?“

„Er ist vorher schon angeschossen worden und ich muss den Verband erneuern.“

„Dann gebe ich dir am besten noch Verbandszeug mit, bevor du das schöne Hemd noch völlig ruinierst.“

Man hörte, wie in einer Kiste gekramt wurde.

„Was sagt eigentlich deine Mutter dazu?“

Eine Weile schwieg das Mädchen.

„Mein Vater ist sehr wütend, weil ich die Gesetze des Rudels nicht geachtet habe und zu menschlich wäre“, sagte sie schließlich stockend.

„Aber das ist doch nichts, wofür man sich schämen muss. Es gibt nicht nur schlechte Menschen.“

„Das hat meine Mutter auch gesagt, und dass er froh sein solle, dass Flit noch lebe und uns nichts passiert sei.“

„Deine Mutter ist eine vernünftige Wölfin. Steck das in die Tasche und geh. Pass aber auf, dass dich niemand sieht, Neolyt.“

„Danke, Irla.“

Die Tür öffnete sich, das Mädchen sah sich um und verwandelte sich dann in einen Wolf. Bemerkenswerte Kräfte, dachte Deor und folgte auf leisen Sohlen dem Wolf in den Wald hinein. Hoffentlich war ihr Rudel nicht allzu weit entfernt.

Der Mond war schon lange aufgegangen, als Neolyt endlich die Lagerstätte ihres Rudels erreichte. Während des ganzen Weges hatte sie das Gefühl gehabt, jemand würde sie verfolgen, aber sie hatte niemanden gesehen oder gerochen. Auf leisen Pfoten schlich sie zu Flit hinüber und nahm wieder ihre menschliche Gestalt an. Mit geschickten Fingern nahm sie den alten Verband ab. Die Wunde war gut verheilt, trotzdem würde sie noch einmal die Salbe auftragen müssen. Dann legte sie ihm den frischen Stoff um.

„Schlaf gut“, flüsterte sie ihm zu. Nur ein paar Wölfe lagen zwischen den Felsen, die meisten waren auf Jagd, aber Neolyt hatte von Irla Brot bekommen und außerdem war sie jetzt zu müde, um durch den Wald zu hetzen. Sie kuschelte sich dicht neben ihren Bruder, die Ohren wachsam aufgestellt.

Als der Morgen graute, entschied Deor sich endlich, das Mädchen zu wecken. Leise trat er auf die Lichtung mit den Felsen und schlich zu ihr hinüber. Doch kaum, dass er mehr als ein paar Schritte getan hatte, erwachten die ersten Wölfe und hoben misstrauisch ihre Nasen in die Luft. Langsam kniete er sich hin und löste den Unsichtbarkeitszauber. Sofort sprangen die Wölfe auf und liefen knurrend auf ihn zu, doch er blieb ruhig sitzen, die Hände flach auf den Boden gedrückt und den Blick gesenkt. Er hätte sie alle mit einem einzigen Zauberspruch besiegen können, aber er war schließlich nicht die ganze Nacht durch den Wald geschlichen, um den Hass des Mädchens auf sich zu lenken.

„Ich komme in Frieden“, versuchte er es, in der Hoffnung, die Wölfe würden ihn verstehen.

Eine weiße Wölfin trat vor. Ihre Bewegungen waren geschmeidig und kraftvoll zugleich und ihr Blick verriet ihm, dass sie sich seines friedvollen Vorhabens bewusst war.

Wer seid Ihr und was wollt Ihr?, fragte sie in Gedanken.

Ich bin Deor, Nelars Sohn, und ein Drachenreiter. Im Dorf gehen Gerüchte um, eine eurer Wölfinnen sei nicht ganz das, was sie scheint.

Was soll das heißen? Sie knurrte leise.

Man sagt, sie sei ein Mensch und sie hätte magische Kräfte. Er hielt kurz inne, doch die weiße Wölfin ließ sich nichts anmerken. Wenn das wahr ist, muss sie mit mir kommen, um euch nicht in Gefahr zu bringen. Wir werden sie ausbilden.

Zur Tioncalai?

Ja, sie wird eine Einhornreiterin.

Dann ist es also so weit, hörte er die Wölfin noch denken, bevor sie die Verbindung löste.

Neolyt trat von hinten an die anderen Wölfe heran, die einen Mann umzingelt hatten, der offenbar der Gedankenrede mächtig war. Ihre Mutter wandte sich ihr zu.

Neolyt, es ist an der Zeit, dass du in der Magie unterwiesen wirst. Du wirst mit diesem Mann zu den Einhorn- und Drachenreitern gehen, die dich ausbilden werden.

In ihrem Kopf überschlugen sich die Fragen. Hatte sie tatsächlich Magie gebraucht? Konnte sie nicht hierbleiben? Was waren die Einhorn- und Drachenreiter? Warum sollte sie in Magie unterwiesen werden?

Es ist zu gefährlich, wenn du hierbleibst. Du könntest die Magie unbewusst einsetzen und großen Schaden anrichten. Du brauchst einen Lehrer, glaub mir.

Ja, Mlema. Aber – wann werde ich wiederkommen? Normalerweise nannte Neolyt ihre Mutter bei ihrem richtigen Namen, Anuim. Doch in ihrer Aufregung benutzte sie wieder das wölfische Wort für „Mama“, wie in der Zeit, als sie ein Welpe gewesen war.

Bald, Alna, bald, erwiderte Anuim zärtlich. Sie sprach Neolyt oft so an, wohl, weil sie ihre einzige Tochter, ihre einzige Alna war. Vielleicht auch etwas später. Aber du wirst uns sicher besuchen können.

Neolyt versuchte tapfer, sachlich zu bleiben, doch die Seite des achtjährigen Mädchens in ihr brach schließlich doch hervor.

„Ich will nicht alleine weg! Bitte, Mlema. Ist es, weil ich Flit geholfen habe? Ich konnte ihn doch nicht sterben lassen! Ich werde nie wieder die Gesetze brechen, versprochen, nie wieder!“, rief sie, ohne zu merken, dass sie ihre menschliche Gestalt angenommen hatte. Tränen liefen ihr über die Wange.

Aber Alna. Natürlich ist das keine Bestrafung. Du wirst sehen, es wird dir sehr gefallen. Ihre Mutter legte die Pfoten auf ihre Schultern und sah ihr in die waldgrünen Augen. Es ist wirklich wichtig, dass du eine Einhornreiterin wirst.

Deor räusperte sich. „Ich werde jetzt meinen Drachen rufen. Erschreckt nicht, sie wird euch nichts tun.“

Wenige Minuten später hörten sie ein Rauschen über ihren Köpfen und ein blaugrüner Drache landete etwas entfernt auf der Lichtung.

„Komm, wir fliegen zum Stützpunkt.“ Deor streckte ihr seine Hand entgegen, doch Neolyt betrachtete sie nur misstrauisch, stand auf und sah sich nach ihrer Mutter um, die bereits zu der Drachin gegangen war. Ehrfürchtig folgte sie ihr und sah die Drachendame mit großen Augen an. Zögernd streckte sie die Hand aus und strich mit den Fingern über die glänzenden Schuppen an ihrem Hals.

Die Drachin drehte den Kopf zu ihr und Neolyt wich erschrocken zurück.

„Hab keine Angst. Wie heißt du?“ Ihre Stimme klang warm und freundlich.

„Neolyt“, flüsterte sie und trat wieder ein Stückchen näher.

„Das ist ein schöner Name. Ich bin Jufra. Und hab keine Angst vor Deor. Normalerweise ist er sehr freundlich, wenn er nicht gerade kleine Wölfinnen am frühen Morgen aus ihrem Rudel nimmt.“ Ein Lächeln umspielte ihre Lippen und auch Neolyt lächelte vorsichtig.

„Wir müssen jetzt wirklich los“, drängte Deor. „In ein paar Stunden muss ich wieder zurück sein.“

„Mlema!“ Wieder hatte Neolyt Tränen in den Augen, während sie ihre Mutter umarmte.

Mach dir keine Sorgen, Alna. Die Reiter sind alle sehr nett. Und versprich mir, dass du dich benimmst.

Neolyt nickte und lief zu Deor hinüber, der sie vor sich in den Sattel hob.

„Fliegen wird dir gefallen“, meinte Jufra und stieß sich vom Boden ab. Sie flogen über den Wipfeln der Bäume, Jufra legte sich zwischen den Hügeln in die Kurve und stieg mit einigen kräftigen Flügelschlägen noch höher, um sich dann im Sturzflug wieder in das Meer aus Bäumen zu stürzen. Ein unbeschreiblich schönes Gefühl breitete sich in Neolyts Bauch aus. Sie schrie auf vor Freude, die Tränen der Trauer hatte der Wind schnell getrocknet.

Sie würde eine Einhornreiterin werden.

Der Anfang des Endes.

Feuer und Besteck

Neolyt sah sich mit weit aufgerissenen Augen um. So viele Menschen hatte sie noch nie gesehen. Die meisten beachteten sie gar nicht, doch manche bedachten sie mit flüchtigen, neugierigen Blicken.

Jufra war mit ihnen vor etwa einer Viertelstunde einfach in einen Acker eingetaucht, als wäre er aus Wasser. Dann hatten sie sich zu Neolyts grenzenloser Überraschung in einer riesigen Halle befunden, in der viele andere Drachen in kleinen Höhlen in den Wänden saßen. Jufra war zu einer der Höhlen geflogen und darin gelandet. Deor hatte sie abgesattelt und war verschwunden, nachdem er sie aufgefordert hatte, hier zu warten, bis er wiederkäme. Nun saß Neolyt am Rand der Höhle und sah den Drachenreitern bei ihren Flugmanövern zu.

Ein bisschen eingeschüchtert war sie schon von den vielen Menschen, aber es war auch alles so aufregend!

Die Tür an der Rückwand der Höhle ging auf und Deor trat wieder ein.

„Komm, Neolyt. Valria möchte dich sehen.“

Sie nahm ihre wölfische Gestalt an und wollte ihm folgen, doch er blieb stehen und sah sie besorgt an.

„Es wäre besser, wenn du ein Mensch bleibst. Nur, wenn es dir nichts ausmacht, natürlich.“

Neolyt schüttelte den Kopf und verwandelte sich wieder zurück. Daran würde sie sich noch gewöhnen müssen.

Von einem schmalen Gang, der direkt hinter den Drachen­höhlen entlangführte, gelangten sie in einen breiteren und höheren Raum, in dem viel Trubel herrschte. Kleine, braune und mit ihrer ledrigen Haut, dem großen Kopf und dem dünnen Hals eigentlich hässlich aussehende Drachen zogen Karren oder dackelten treuäugig hinter ihren Besitzern her. Stämmige Ponys in allen Farben, mit zotteliger Mähne und einem Horn auf der Stirn trugen Säcke und Körbe auf dem Rücken. Neolyt blickte einem braungescheckten, dicken Pony neugierig hinterher.

„Ist das ein Einhorn?“, fragte sie Deor, der sie sicherheits­halber an die Hand genommen hatte, sonst wäre sie in dem Trubel wohl verloren gegangen.

Seufzend folgte er ihrem Blick.

„Im weitesten Sinne des Wortes ja, aber eigentlich nicht.“

Neolyt wollte noch mehr fragen, doch Deor zog sie weiter an kleinen, hässlichen Drachen vorbei und an Einhörnern, die eigentlich keine waren. Irgendwann gelangten sie aus den mit Holz befestigten, überfüllten Gängen in einen aus hellem Stein gehauenen Korridor, der von unzähligen Lampen erleuchtet wurde, die ein ruhiges, orangegelbes Licht verstrahlten.

„Sind das Kerzen?“, fragte Neolyt, immer noch neugierig allem Ungewohnten gegenüber. Obwohl sie schon ein paar Mal Kerzen gesehen hatte, interessierte sie auch dies.

„Nein, das sind kleine Flammengeister, die für diesen Zweck heraufbeschworen wurden.“

Neolyt staunte mit großen Augen. Flammengeister, das war noch ungewohnter als Kerzen.

„Warum nehmt ihr keine Kerzen?“, hakte sie nach, weil heraufbeschwören viel anstrengender klang als anzünden.

„Das erkläre ich dir später. Jetzt musst du erst einmal einen guten Eindruck auf Valria machen.“ Obwohl er ihr bei diesen Worten scherzhaft zuzwinkerte, verschwand ihre Neugier abrupt und an ihre Stelle trat die alte Schüchternheit und auch die Angst, die sie gegenüber Menschen ­empfand. Dazu kam, dass diese hier Magier waren, Drachen und unechte Einhörner hatten und ihr außerdem einfiel, wie tief sie unter der Erde war und wie weit weg von ihrem Rudel, dem Wald und ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrem Bruder.

Deor öffnete eine kleine, hölzerne Tür. Dahinter lag ein gemütlicher Raum voller Regale und Schränke, die allesamt mit Papieren, Büchern und Kästchen vollgestopft waren. Auch auf dem Boden stapelten sich Bücher. Inmitten dieses Durcheinanders stand ein wuchtiger Schreibtisch, an dem eine junge Frau saß, die bei ihrem Eintreten aufblickte und sich zu einem leicht gestressten Lächeln zwang.

Deor sah sich mit hochgezogenen Augenbrauen um. „Brauchst du Hilfe beim Aufräumen?“, fragte er spitz.

„Ja, ich weiß. Ich versuche schon seit Wochen, ein größeres Büro zu bekommen, aber die Typen vom Handel sind der Meinung, dass sie ihre eigenen ganz dringend benötigen. Und ich ertrinke hier fast in Anmeldelisten, Formularen, Adressenlisten, Einverständniserklärungen, Briefen, Bittstellungen und noch mehr Formularen“, erklärte die junge Frau, die wohl Valria sein musste, während sie aufstand und, über Bücherstapel kletternd, hinter dem Schreibtisch hervorkam.

„Du könntest das Büro ja teilen“, schlug Deor vor und gab sich keine Mühe, eine ernste Miene zu bewahren.

„Sicher. Und dann lege ich mir vielleicht noch ein drittes und viertes zu, zwischen denen ich ständig hin und her renne. Ich bin eben nicht für das Büroleben geschaffen“, fügte sie seufzend hinzu. Dann wanderte ihr Blick zu Neolyt hinüber, die sie bis dahin nicht beachtet hatte, und zog die Augenbrauen hoch.

„Ein bisschen jung, ja?“, fragte sie Deor. „Wie alt bist du, Neolyt?“

„Acht Winter“, erklärte sie, unsicher, ob das gut oder schlecht war.

Valria seufzte abermals und fuhr sich mit der Hand über die Augen.

„Deor, das können wir nicht machen. Zehn Jahre, das mag noch gehen, außerdem war er schon fast elf. Aber acht Jahre ist absolut unmöglich! Dafür werden wir niemals die Erlaubnis bekommen. Und wer wird sich bereiterklären, sie zu unterrichten?“

Deor kniff die Lippen zusammen. „Das kann ich machen“, entgegnete er.

„Du hast aber schon einen Schüler und außerdem überleg doch mal, sie ist noch ein Kind!“

Neolyt runzelte die Stirn. „Als Wolf bin ich sogar schon erwachsen“, unterbrach sie die beiden Erwachsenen.

„Als Wolf?“, fragte Valria verständnislos.

„Ich bin ein Halbwolf“, erklärte sie mit anfänglich fester Stimme. „Also eigentlich glaube ich, mehr Wolf als Mensch, weil ich nämlich leichter ein Wolf sein kann, als ein Mensch.“ Sie wurde leiser und verstummte schließlich unter den verblüfften Blicken der beiden Erwachsenen.

Deor und Valria sahen sich an. Dann lächelten beide.

„Das ist natürlich etwas anderes und ich denke, es dürfte auch kein Problem sein, dass Deor dich und Yewan unterrichtet“, erklärte Valria, nun viel freundlicher. „Es tut mir leid, aber ich konnte ja nicht ahnen, dass du ein Halbwolf bist. Deor kann dir jetzt erst einmal dein Zimmer zeigen und dich ein bisschen herumführen.“

Deor nickte, verabschiedete sich und führte Neolyt nach draußen auf den mit Flammengeisterlampen beleuchteten Flur.

„Du darfst ihr das nicht übelnehmen, ja? Sie ist ein bisschen gestresst und eigentlich hasst sie es, im Büro zu arbeiten. Normalerweise ist sie Leiterin einer Spezialgruppe, aber wir wurden hierherbeordert, um nach Schülern zu suchen. Und jetzt muss sie den lieben langen Tag Formulare ausfüllen, die Arme.“ Er sah aus, als täte ihm das überhaupt nicht leid.

„Magst du sie nicht?“, fragte Neolyt deshalb verwundert, während sie eine Wendeltreppe hinabstiegen.

„Doch. Aber ich bin froh, nicht an ihrer Stelle zu sein. Außerdem war sie ursprünglich die einzige aus unserer Einheit, die sich auf die Zeit hier gefreut hat.“ Abermals grinste er breit. „Komm, wir schauen nach, ob Yewan, mein anderer Schüler, auch schön fleißig die Aufgaben löst, die ich ihm gegeben habe.“ Sie gingen einen weiteren hohen Gang entlang und betraten dann durch eine zweiflügelige Holztür einen Raum voller Bücher. Gleich neben der Tür stand ein Tisch, an dem ein älterer Herr saß, der sich mit einer Lupe in der Hand über ein altes Buch beugte. Als sie eintraten, sah er auf.

„Ah, Deor, wen bringst du schon wieder mit?“, fragte er verschmitzt und lächelte Neolyt freundlich an.

„Ich heiße Neolyt“, erklärte sie ihm, immer noch etwas schüchtern.

„Sag, Neolyt, hast du schon einmal ein Buch gelesen?“, fragte er weiter, während er aufstand und auf seinen Stab gestützt hinter dem Schreibtisch hervorkam.

„Ich … ich kann gar nicht richtig lesen“, gab sie leise zu und wurde rot.

„Das ist nicht so schlimm, ich werde es dir beibringen“, schlug der Alte ihr vor und sein Lächeln wurde noch breiter und wärmer. „Im Übrigen bin ich Deas, der Wächter der Bibliothek. Obwohl es hier nicht viel zu bewachen gibt, außer Bücherwürmern und Papiermotten.“

Neolyt musste kichern und fragte sich, ob das tatsächlich stimmte oder Deas diese Wesen soeben erfunden hatte.

„Ich kann sie heute Nachmittag bei dir vorbeischicken“, meinte Deor und nickte dem Alten zum Abschied noch einmal zu.

„Denkst du, er wird mir auch schreiben beibringen?“, fragte Neolyt ihn hoffnungsvoll, während sie durch die Regalreihen gingen.

„Natürlich. Das macht er immer, wenn wir einen Analphabeten aufgabeln.“

„Analphawas?“

„Das ist jemand, der nicht lesen und schreiben kann“, erklärte er schnell.

„Ach so.“

In einer der gemütlichen Leseecken saß ein Junge tief über ein dickes Buch gebeugt und kritzelte gerade etwas auf ein Blatt Pergament.

„Yewan, ich habe dir schon hundertmal erklärt, dass ich deine Schrift nicht entziffern kann, wenn du nicht hinschaust, während du etwas schreibst“, tadelte Deor ihn, doch sein Blick milderte die Worte.

„Wenn ich noch ein bisschen übe, kannst auch du sie lesen. Aber nur Übung macht den Meister und aller Anfang ist bekanntlich schwer.“ Yewan grinste übers ganze Gesicht, dann fiel sein Blick auf Neolyt und Neugier trat in seine Augen. Er stand auf und kam auf sie zu. Er musste mindestens drei Winter älter sein als sie und überragte sie um ungefähr anderthalb Köpfe.

„Ich bin Yewan“, erklärte er freundlich und streckte ihr die Hand entgegen.

„Neolyt“, entgegnete sie und schüttelte seine Hand.

„Sie wird jetzt auch meine Schülerin werden und vielleicht könnt ihr euch schon mal ein bisschen austauschen. Ich muss nur kurz schauen, wo noch ein Bett für sie frei ist. Bin gleich wieder da.“

Yewan grinste ihm hinterher und ließ sich wieder in den Sessel fallen.

„Das kann dauern. Setz dich doch.“ Er deutete auf den Sessel neben sich.

Neolyt ging hinüber. Sie versank so tief in dem weichen Polster, dass ihre Füße kaum noch den Boden berührten.

„Wie alt bist du?“, fragte der blonde Junge mit den blauen Augen. Er wirkte nett.

„Acht Winter. Und du?“

„Ich bin elf“, erwiderte Yewan ein wenig selbstzufrieden.

„Was machst du da?“, fragte sie und versuchte, einen Blick auf seine Notizen zu erhaschen.

„Ach, Hausaufgaben, die Deor mir aufgegeben hat. Er geht damit nicht gerade sparsam um.“ Abermals breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus und Neolyt hatte das Gefühl, als wären seine Muskeln wie Gummis, die immer wieder in diese Position zurückkehrten. Aber das war gut so und deshalb grinste sie zurück.

„Seit wann unterrichtet dich Deor schon?“

„Weiß nicht genau, vielleicht ein reichliches Drei­vierteljahr?“

Dann hatte Valria also vorhin von ihm gesprochen.

„Hat er noch andere Schüler?“

„Nicht mehr. Darain hat letztes Jahr die Prüfung abgelegt. Spitzenergebnisse, hab ich gehört.“ Er schnitt eine Grimasse und wirkte trotzdem noch nett. „Er war ein aufgeblasener Besserwisser“, stellte er fest. „Er wusste echt auf alle Fragen eine Antwort und jede freie Minute hat er hier rumgesessen und ein Buch nach dem anderen auswendig gelernt.“ In gespieltem Misstrauen kniff er die Augen zusammen. „Ich hoffe, du bist nicht auch so?“

Neolyt wurde wieder rot, eine nervige Angewohnheit ihres Gesichts.

„Ehrlich gesagt, weiß ich überhaupt nichts über Drachen und Magie und so. Ich … ich kann noch nicht einmal lesen.“

Yewan legte ihr seine Hand auf die Schulter.

„Hey, das ist doch nicht schlimm. Ich konnte auch nicht lesen, als ich zu den Reitern kam, und es ist zwar eine sauschwere Sache, das zu lernen, aber Deas ist ein wirklich guter Lehrer.“ Er lächelte und diesmal war darin nichts Schelmisches zu sehen.

„Gut, aber selbst wenn ich lesen kann, glaub ich nicht, dass ich die ganzen Bücher hier auswendig lernen werde.“ Sie ließ ihren Blick über die vielen hohen Regale gleiten.

„Nee. Ich reite lieber durch den Wald oder übe zu kämpfen.“

Neolyts Augen leuchteten auf. „Man lernt hier auch, wie man reitet und kämpft?“, fragte sie neugierig.

„Na, zu reiten sowieso, es heißt ja nicht umsonst Drachenreiter und Einhornreiter. Aber richtig zu kämpfen lernen nur die mit genügend Magiepotenzial – und die müssen sich dann auch noch dafür entscheiden, Kämpfer zu werden“, erklärte er ihr.

„Was gibt es denn sonst noch?“

„Na, du kannst zum Beispiel Heiler werden, vielleicht auch Forscher oder Experimenteller, wie sie sagen. Oder man könnte, wenn man tatsächlich nichts Besseres zu tun hat, in die Räte gehen. Und natürlich gibt’s noch die Leute vom Handel, die haben ein bisschen weniger Potenzial, und am wenigsten haben die ganz einfachen Leute, die Schmiede und Bauern und so. Die sind von einem Einhorn oder Drachen ausgewählt worden und haben meistens Reiter als Eltern, sonst wären sie gar nicht zu uns gekommen. Und sie kriegen natürlich auch nicht so eine großartige Ausbildung. Aber wir dürfen auf jeden Fall zwischen Kämpfer und Heiler wählen. Und Ratssprecher“, setzte er hinzu, das Gesicht wieder zu einer Grimasse verzogen.

„Was ist das? Ein Ratssprecher?“

„Na … also das sind die Leute, die die wichtigen Ent­scheidungen zu fällen haben, die für die Staatskasse verantwortlich sind und so …“, antwortete er ihr ein bisschen unbestimmt.

„Was hast du gegen sie?“

„Viele von ihnen machen ziemlich viel Mist, vor allem die Hochräte. Das sind die mit viel Einfluss und Macht. Und wenn jemand Neues mit tollen, neuen Ideen kommt, um sie abzulösen, bleibt ihm trotz allem nichts anderes übrig, als den alten Mist weiterzumachen, weil sie schon so tief drinstecken, dass kein Weg zurückführt. Und so geht es immer weiter. Wenigstens haben wir keine absolute Monarchie mehr.“

„Und das ist gut?“

„Ja. Obwohl wir es leider noch immer nicht zu einer Demokratie geschafft haben.“

Neolyt verstand nicht ein Wort.

„Und warum gehst du nicht in die Räte und versuchst, das durchzusetzen?“

Doch die Antwort blieb Yewan erspart, da in diesem Augenblick Deor wieder auftauchte.

„Na, worüber redet ihr gerade?“

„Ratsprobleme“, erklärte Yewan mit einem stolzen Unterton.

„Seit wann interessierst du dich dafür?“

„Tu ich gar nicht. Und genau darüber reden wir.“

„Gut …“, erklärte Deor, für einen Moment aus dem Konzept gebracht. „Neolyt, ich habe ein Zimmer für dich gefunden und es werden auch schon passende Sachen für dich bereitgelegt. Und Yewan, ich gebe dir den Nachmittag frei, unter der Bedingung, dass du keinen Unsinn anstellst.“

„Würde ich nie tun“, beteuerte Yewan und zwinkerte Neolyt zu.

„Du kommst nach dem Mittagessen bitte wieder hier hoch, Neolyt.“

Sie nickte. „Wo ist mein Zimmer?“, fiel ihr dann noch ein zu fragen.

„Lora wird es dir zeigen. Sie wartet draußen vor der Bibliothek“, antwortete Deor und bedeutete ihr, dass sie gehen durfte.

Vor der Bibliothek stand eine kleine, pummelige Frau mit einem netten rosa Gesicht und neben ihr blinzelte ein ebenfalls etwas pummeliges, hellbraunes Fasteinhorn neugierig durch die Mähnenfransen.

„Du musst Neolyt sein, nicht wahr?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort. „Ich bin Lora, aber das hat Meister Deor dir sicher schon gesagt. Ich bin so etwas wie die Betreuerin für die weiblichen Schülerinnen, ich wasche eure Sachen, mache eure Zimmer sauber, aber das ist kein Grund, sie absichtlich einzusauen.“ Sie holte kurz Luft und dann ging es auch schon weiter. Wie ein Wasserfall redete sie unaufhörlich auf Neolyt ein und machte nur Pausen, um Luft zu holen, und egal über wen oder was sie sprach, die ganze Zeit lächelte ihr pausbäckiges Gesicht. Neolyt fragte sich allmählich, ob wohl alle Reiter die Angewohnheit hatten, ununterbrochen zu grinsen oder zu lächeln.

Als sie in dem Korridor mit den Mädchenzimmern vor der Nummer 17 angelangt waren, hatte Neolyt eine Menge Dinge über andere Leute erfahren, die sie nicht verstand, sie nicht interessierten und sie alle miteinander sehr wenig angingen. Lora zückte einen Schlüsselbund, den Neolyt neugierig beäugte – schlaue Sache, immer ein Schlüssel für eine Tür –, und schloss einen kleinen Raum mit drei Betten, drei Schränken und drei Schreibtischen auf, von denen augenscheinlich jeweils nur zwei besetzt waren. Auf dem dritten Bett lagen eine schwarze Leinenhose und eine blaue Tunika.

„Das sind deine Sachen, in deinem Schrank hängen noch ein paar Wechselsachen und etwas zum Anziehen, falls du mal raus willst, ansonsten ist das Bad ganz hinten im Flur links und wenn du dich umgezogen hast, zeige ich dir den Speisesaal.“ Damit ging sie hinaus und Neolyt hatte endlich ihre Ruhe.

Schnell schlüpfte sie in die neuen Kleider. Der Stoff fühlte sich weich an auf der Haut. Ihre alten hängte sie ordentlich in den kleinen Schrank neben ihrem Bett. Dann sah sie sich noch einmal um. Hier würde sie also von nun an wohnen. Auf einmal fühlte sie sich einsam und allein, doch schnell verdrängte sie dieses Gefühl und ging hinaus auf den Flur, auf einen erneuten Redeschwall gefasst, der auch prompt eintrat.

„Ach, das passt dir ja wundervoll und es ist viel bequemer als das, was du vorher getragen hast, nicht wahr? Und viel sauberer natürlich, hattest du dieses Hemd eigentlich jemals gewaschen?“ Abermals redete und erzählte Lora den ganzen Weg über bis zum Speisesaal, den man schon vom anderen Ende des Ganges aus hören konnte.

„Machen die schon wieder einen Lärm“, bemerkte Lora, nur kurz ihren Redeschwall unterbrechend, dann ging es weiter mit einer Geschichte über den Freund des Mannes einer Cousine zweiten Grades.

Lora hatte recht gehabt, Lärm war ein sehr passendes Wort für den Zustand des Speisesaals. Löffel schwebten in der Luft, Suppe wurde dem Nachbarn über die neue Hose gekippt und Wasser über das Hemd des anderen. Neolyt hielt einen Teller mit warmer Suppe und einen Löffel in der Hand und sah sich im Raum um. Da sie Yewan nirgendwo entdecken konnte, setzte sie sich schließlich an den Rand einer laut schnatternden Mädchengruppe. Dann sah sie auf den Löffel und auf die Suppe, seufzte und fragte sich, wie um alles in der Welt sie mit dem einen das andere in ihren Mund befördern sollte. Das einzige, was sie in menschlicher Gestalt bisher zu sich genommen hatte, war Brot und Wasser gewesen. Nie aber hatte sie so etwas wie einen Löffel, geschweige denn eine Gabel oder ein Messer benutzen müssen. Einige Minuten saß sie nur da und sah sie sich um, in der Hoffnung, es sich bei den anderen abgucken zu können. Aber es sah zu kompliziert aus, als dass sie es hätte nachvollziehen können.

„Hey, schmeckt dir deine Suppe nicht?“, fragte auf einmal das Mädchen neben ihr. Sie hatte zwei lange, blonde Zöpfe und ihr neugieriges Gesicht war von Sommersprossen übersäht.

Neolyt wurde rot. Sicher würden die andere sie aus­lachen, wenn sie zugab, nicht mit einem Löffel umgehen zu können, aber schließlich antwortete sie trotzdem: „Ich weiß nicht genau, ich hab noch gar nicht gekostet.“

„Warum denn nicht?“

„Ich … na ja, ich hab vorher noch nie mit einem Löffel gegessen und …“

Das Mädchen grinste. „Du verarschst mich, oder?“

„Nein, ehrlich. Ich hatte ja auch nie einen Grund dazu. Bei uns im Rudel wurde immer gejagt und ich glaube, Reh und Wildschwein kann man nicht so gut mit dem Löffel essen.“

„Bei dir im Rudel? Sag bloß, du bist bei Wölfen aufgewachsen.“ Die Stimme des Mädchens klang ziemlich ungläubig.

„Doch, natürlich. Ich bin ein Halbwolf.“

Die Augen der anderen weiteten sich.

„Ehrlich? Ist ja total irre! Dann ist es ja klar, dass du das nicht kannst. Aber ich kann’s dir zeigen, pass auf.“ Sie nahm ihren Löffel in die Hand und bedeutete Neolyt, es nach­zumachen. Dann lachte sie. „Nein, schau, du musst den Löffel auf den Mittelfinger legen – ja –, den Zeigefinger daneben – genau … – und den Daumen drüber – nein, schau mal, so. Gut. Und jetzt nimmst du so die Suppe drauf und steckst dir alles zusammen in den Mund.“ Aufmerksam beobachtete sie, wie Neolyt sie nachahmte und streckte ihr dann die Hand entgegen. „Ich bin Aely. Aber die meisten nennen mich Elly.“

Neolyt nickte. „Ich bin Neolyt. Mich hat bis jetzt noch kaum ein Mensch irgendwie genannt.“

„Darf ich mir einen Spitznamen für dich ausdenken?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort. „Mmh … wie wär’s mit … Neo? Ach nee, das klingt doof. Aber Nel ist gut, oder? Ja, Nel ist ein guter Name. Gefällt er dir auch?“ Neolyt nickte zustimmend, obwohl sie keine Ahnung hatte, wozu ein Spitzname gut war.

„In welchem Zimmer bist du eigentlich?“

„Ich glaube, siebzehn.“

„Oh, das ist ja toll. Dann sind wir im gleichen Zimmer. Bei uns wohnt noch Elbea, sie ist unglaublich hübsch, ich beneide sie so um ihre braunen Locken, aber sie sagt eigentlich nie etwas. Ab dem nächsten Jahr haben wir das Zimmer für uns, sie ist dann nämlich fertig mit der Ausbildung. Du bist ganz neu, oder? Wann bist du angekommen?“

„Heute Vormittag.“

„Bei wem hast du Unterricht?“

„Ich weiß nicht genau. Deor ist mein Mentor und Deas soll mir lesen und schreiben beibringen. Habe ich dann noch andere Lehrer?“

„Kann sein. Manchmal werden alle Schüler zusammen von Wadne im Schwertkampf unterrichtet.“

Der Speisesaal leerte sich allmählich und auch Neolyt hatte schließlich ihre Suppe aufgegessen.

„Danke noch mal“, sagte sie, während sie aufstand, und lächelte Elly zu.

„Gerne doch. Beim Abendessen können wir mit Messer und Gabel weitermachen.“

„Wir essen zweimal am Tag?“ Neolyt war verwundert. Im Rudel hatte es allerhöchstens alle zwei Tage etwas gegeben.

„Dreimal.“ Elly grinste. „Wir sehen uns heute Abend, ja?“ Dann war sie auch schon verschwunden.

Ein paar Stunden später saß Neolyt in der Bibliothek an einem Tisch neben Deas und malte konzentriert einige Zeichen auf ein Stück Pergament, die schon auf einem anderen standen, dort aber viel ebenmäßiger aussahen.

„Gut, Neolyt, und jetzt lies sie mir bitte noch einmal vor.“

Sie seufzte, das ging nun schon seit Stunden so.

„M, Q, W, E, N, R, B, T, V, Z, C, U, X, O, L, P, I, K, A, J, S, H, D, G, F und … Ypson.“

„Ypsilon.“

„Mein ich ja. Ypsilon.“ Sie lehnte sich zurück. Das war anstrengender, als sie gedacht hätte.

Etwas weiter hinten saß Deor, in ein Buch vertieft. Neolyt sah ihn neidisch an, sie würde auch gerne so gut lesen können wie er, dann wären diese ganzen Übungen ein Klacks für sie.

„Dann machen wir jetzt weiter mit …“ Deas griff weit über den Tisch und stieß dabei mit dem Arm gegen die Lampe mit dem Flammengeist, die zu Bruch ging und ihren Inhalt auf Neolyts Übungspergament kippte. Kleine, züngelnde Flammen tanzten über das Papier. Ohne zu zögern, geschweige denn nachzudenken, erstickte Neolyt sie mit der bloßen Hand, und als sie sie zurückzog, war es, als wäre das Feuer nie dagewesen. Auch ihre Handfläche und Finger wiesen keinerlei Verletzung auf.

Ein überraschter Ausruf kam von Deas, dann wandte er sich zu Deor um. „Du hättest mich ruhig vorher warnen können, dass sie über Feuerkräfte verfügt.“

„Was?“, fragte Deor, aus den Untiefen des Buches gerissen.

„Du hast sie noch nicht geprüft, stimmt’s?“ Deas seufzte und schüttelte den Kopf. „Ich hätte mich beinahe zu Tode erschreckt, als sie ihre Hand aufs Feuer gelegt hat.“

„Feuer also. Na dann kann ich mir die Prozedur ja sparen.“ Und Deor versank wieder in seinem Buch.

Deas schüttelte abermals den Kopf, dann setzten sie den Unterricht fort.

Am Abend war Neolyt so gerädert und in ihrem Kopf schwirrten die Buchstaben und Wörter so wild durch­einander, dass sie sich kaum darüber wunderte, dass irgendein Schwachkopf das Fleisch einfach angebraten hatte. Geduldig lernte sie von Elly den Gebrauch von Messer und Gabel.

Irgendwann später, als ihr keine Ausrede mehr einfiel, das komische Fleisch nicht essen zu müssen, lies sich Yewan neben ihr auf die Bank fallen und machte sich heißhungrig über das braune Fleisch her.

„Schmeckt das?“ Sie sah ihm skeptisch zu, wie er sich Gabel für Gabel in den Mund schob.

Er kaute hinter und erwiderte mit halbvollem Mund: „Überhaupt nift. If kann deinf gerne effen.“ Er schluckte und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Nein. Lesen und schreiben macht hungrig. Ich hab mich nur gewundert, weil es so aussieht, als wäre es angebraten worden.“

Bei diesen Worten fing Yewan derart an zu lachen, dass ihm die Tränen in die Augen traten. Dann sah er sie an und fragte noch immer breit grinsend: „Das hast du ernst gemeint, oder?“

„Natürlich.“

„Hast du noch nie gebratenes Fleisch gegessen?“

„Nein. Macht man das normalerweise so? Das ist doch verrückt. Im Rudel wäre niemand auf eine so blöde Idee gekommen.“ Sie schüttelte verwirrt den Kopf, weil Yewan erneut lachte. „Was ist denn jetzt schon wieder?“

„Fleisch braten … blöde Idee“, brachte er nur zwischen zwei Lachanfällen heraus. Als er sich schließlich beruhigt hatte, hakte er noch einmal nach: „Dann bist du also wirklich ein Halbwolf?“

„Woher weißt du das?“

„Von Deor. Ich dachte, er will mich auf den Arm nehmen. Und eigentlich sollte ich dich auch nicht darauf ansprechen.“

Neolyt nickte und schnitt ein Stück des Fleisches ab. Sie kaute, hielt inne, kaute weiter und schluckte hinter, dann schüttelte sie sich und schob ihren Teller demonstrativ Yewan hinüber. Er kicherte wieder.

„Da sag ich nicht nein.“

Neolyt stand auf und ging runter zu den Schüler­zimmern. Die Lampen in den Korridoren verdunkelten sich zunehmend, wahrscheinlich, um Tag und Nacht zu simulieren, wofür Neolyt hier unter der Erde schon das Gefühl verloren hatte. Schließlich erreichte sie todmüde Zimmer 17, klopfte und nach einiger Zeit wurde die Tür von einem großen, schlanken, braungelockten Mädchen mit dunkelgrünen Augen geöffnet. Sie lächelte freundlich.

„Hi. Du bist Neolyt, oder? Elly hat mir schon von dir erzählt. Ich bin Elbea, aber das weißt du sicher schon.“

Neolyt nickte und ging zu ihrem Bett hinüber.

„Ich muss nochmal in den Hausaufgabenraum, aber ich werde euch nicht wecken, wenn ich wiederkomme, versprochen.“ Sie sah kurz auf den Flur. „Elly kommt auch schon.“ Dann war sie verschwunden und wenig später öffnete sich die Tür und Elly kam herein.

„Wo warst du noch?“, fragte Neolyt, eher uninteressiert an der Antwort.

„Ach, Hausaufgaben machen. Ich will jetzt einfach nur noch ins Bett.“

Das konnte Neolyt voll und ganz nachvollziehen.

Sie folgte Elly in die Waschräume und, nach vollzogener Prozedur, wieder zurück in ihr Zimmer. Dort zog sie sich um und ließ sich todmüde ins Bett fallen. Elly löschte das Licht.

Eigentlich hatte Neolyt gedacht, sofort Schlaf zu finden, aber in der Stille und der Dunkelheit kehrte das Gefühl der Einsamkeit zurück. Im Wald war es nie so dunkel geworden, die Bäume hatten gerauscht und im Sommer die Grillen gezirpt, hin und wieder ein Vogel gezwitschert oder ein Bach geplätschert. Hier aber, viele Schritt unter der Erde, war die Stille so erdrückend, dass sie meinte, kaum atmen zu können. Neolyt konnte die Hand nicht vor Augen sehen und das Gefühl beschlich sie, die Wände würden immer näher rücken und sie zerquetschen. Sie fühlte sich gefangen, eingesperrt, vergraben. Angst stieg in ihr hoch, pure Angst, doch zwang sie sich, sie nicht hinauszuschreien, sondern leise weinend, starr in ihrem Bett liegen zu bleiben.

„Kannst du nicht schlafen?“, flüsterte auf einmal eine Stimme neben ihr.

Neolyt wollte nichts sagen, so tun, als ob sie schliefe, doch ein leiser Schluchzer entrang sich ihrer Kehle.

„Hey, was ist los?“ Ganz schwach glommen die Flammen­geisterlampen auf.

„Nichts.“ Ihre Stimme klang erstickt, sie hätte sich selbst kein Wort geglaubt.

Sie spürte, wie Elly sich auf ihren Bettrand setzte und ihr übers Haar strich.

„Tut mir leid, dass ich heute so viel geredet habe. Das muss beschissen gewesen sein, fremde Umgebung und lauter fremde Leute, die pausenlos auf einen einquatschen. Aber ich wollte einfach nicht, dass du mich etwas fragst. Es wäre mir total peinlich gewesen, schließlich bist du bei Wölfen aufgewachsen und fändest mich bestimmt total blöd.“

„Warum?“ Neolyt setzte sich auf und blinzelte die Tränen aus ihren Augen weg.

„Na ja, weil ich eben einfach nur aus irgendeinem Kaff in Yalyris komme und nur rein zufällig entdeckt wurde.“

„Wie denn?“

„Ich bin mit meiner Mutter zur Auswahl der neuen Reiterschüler gegangen, weil wir gerade in der Hauptstadt waren und ich unbedingt hinwollte. Tja, irgend so ein Dummkopf hat dann halt gedacht, ich wäre auch ein Kandidat, mich auf die Tribüne gezogen und ich wurde ausgewählt. Meine Mutter hat erst totales Theater gemacht, weil ich zur Ausbildung woanders hinsollte, aber schließlich hat sie mich doch gehen lassen.“

„Da siehst du. Überhaupt kein Zufall – Schicksal. Bei mir war es Zufall. Ich bin nicht mal ausgewählt worden. Deor ist einfach nur gekommen, weil es eine Geschichte gab. Und meine Mutter hat sich gar nicht aufgeregt. Sie hat gesagt: Geh mit, bald kommst du ja wieder. Sonst nichts.“ Abermals füllten sich ihre Augen mit Tränen.

Elly nahm sie in den Arm, strich ihr übers Haar und murmelte tröstende Worte. Es war ein gutes Gefühl, umarmt zu werden.

„Ich glaube, deiner Mutter liegt sehr viel an dir und sie wollte sicher nur dein Bestes.“ Neolyt hörte, wie Elly schnaubte. „Aber vielleicht hätte sie dich vorher fragen sollen, was du möchtest.“

Neolyt nickte und löste sich aus der Umarmung. Mit einer energischen Bewegung rieb sie sich die Tränen aus den Augen und lächelte die Freundin an. „Danke. Ich denke, jetzt kann ich schlafen. Können wir das Licht ein bisschen anlassen?“

Sie schlief tatsächlich ein, tief unter der Erde, weit entfernt von ihrer Familie, nicht ahnend, worauf sie sich eingelassen hatte, was alles aus diesem Anfang erwachsen würde, wie oft sie sich wünschen würde, alles wäre anders gewesen und sie wäre nie zu den Einhornreitern gekommen. Aber im Bett neben ihr lag ihre erste echte Freundin.

Sie mögen den schweren Weg mit ihr gehen.

Marcelo Lumis

Als Neolyt am nächsten Morgen erwachte, waren die Lampen in ihrem Zimmer kaum heller geworden, es musste wohl noch sehr früh sein. Müde ging sie zum Waschraum und war überrascht, dort bereits Elly anzutreffen.

„Morgen“, murmelte Neolyt und spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht, um wach zu werden.

„Morgen. Gut geschlafen?“

„Ging so“, log Neolyt. Obwohl das Licht geleuchtet hatte, war sie noch mehrere Male aus beängstigenden Träumen aufgeschreckt und fühlte sich nun, als hätte sie die ganze Nacht einen Hasen durch den Wald gehetzt. Sie wusch sich und ging dann zurück, um sich anzuziehen. Es war ein ungewohntes Gefühl, sauber zu sein, wenn auch nicht unangenehm.

Im Speisesaal saßen noch nicht viele Leute, hauptsächlich Lehrer und ein paar ältere Schüler. Neolyt war dafür äußerst dankbar, der Lärm hätte ihren empfindlichen Ohren arg zugesetzt. Nachdem sie etwas gelbes Zeugs gegessen hatte, das Elly als Rührei bezeichnete, was Neolyt nicht so recht nachvollziehen konnte, schließlich war der Inhalt von Eiern flüssig und hauptsächlich durchsichtig, fühlte sie sich schon besser, und als sie Yewan auf sich zukommen sah, lächelte sie sogar.

„Auch schon wach?“, fragte er und blieb neben ihr stehen.

„Schon eine Weile“, antwortete sie.

„Tja, nicht jeder kann ein Langschläfer sein. Aber Deor wird froh sein, er meinte, du sollst in die Bibliothek kommen, wenn du fertig mit dem Frühstück bist.“

„Alles klar, dann mach ich mich mal auf den Weg.“

Neolyt wandte sich um und stellte ihr Geschirr auf einen Wagen, der daraufhin wie von selbst losfuhr und in rasanten Kurven zur Küchentür schlitterte. Neugierig sah sie ihm nach. War so etwas normal oder funktionierte das mit Magie?

Sie beeilte sich, in die Bibliothek zu kommen.

„Guten Tag“, grüßte sie Deas und stellte sich auf Zehen­spitzen, um über den Schreibtisch blicken zu können, an dem er saß.

„Guten Morgen, Neolyt“, antwortete er und nahm seine Lesebrille ab. „Deor ist dort hinten, er hat noch ein bisschen zu tun, müsste aber bald fertig sein. Geh nur ruhig schon mal zu ihm.“

Neolyt machte sich auf den Weg, unterwegs fuhr sie mit dem Finger die vielen Buchrücken entlang. Irgendwie schienen die Schatten in der Bibliothek zu leben, sie blieben niemals an einer Stelle. Mit den Fingern folgte sie dem Weg eines Lichtflecks und legte den Kopf in den Nacken, um nach der Lichtquelle zu suchen. Zu ihrem Erstaunen schwebte ein leuchtender Puschelball von der Decke herab. Zögerlich streckte sie die Hand aus und kicherte, als die Fellkugel darauf landete. Auf einmal öffnete sich ein Schlitz darin und ein kleines Männchen streckte seinen mit langen Fühlern besetzten Kopf heraus.

„Guten Morgen“, sagte es. „Marcelo Lumis ist mein Name, stets zu Diensten.“

„Ich bin Neolyt. Was heißt zu Diensten?“

„Ich leuchte“, sagte er nur.

„Dann bist du ein Flammengeist?“, fragte sie neugierig.

„Nein!“ Beleidigt zog er das Wort in die Länge. „Ich bin ein Glühwichtel, das sollte man doch sehen!“ Marcelo stieg endgültig aus seinem fliegenden Puschelball hinaus. Seine Haut war durchgehend von einem blassblauen Ton, nur die Spitzen seiner Fühler und sein Hinterteil, das an das einer Wespe erinnerte, leuchteten hellgelb. Er trug ein dunkelblaues Jackett mit vier Ärmeln für seine spindeldürren Ärmchen. Auch seine Beine, der Hals und der Kopf waren sehr dünn.

„Entschuldigung. Ich hab noch nie einen Glühwichtel gesehen.“

„Aha, Neuzugang. Freut mich sehr.“

Neolyt erschrak, als der Puschelball plötzlich, der nun, da der Glühwichtel nicht mehr darin saß, auch nicht mehr leuchtete, zwei große, runde, schwarze Augen öffnete.

„Keine Sorge, Batch ist nicht gefährlich. Ziemlich ungefährlich sogar, sehr gutmütig“, erklärte Marcelo. „Und stupide.“

„Was heißt stupide?“, fragte Neolyt.

„Dumm, begriffsstutzig, engstirnig, einfältig, borniert, hirnverbrannt, minderbemittelt, schwachköpfig, schwerfällig oder, umgangssprachlich, auch blöd oder doof“, sagte der Glühwichtel und warf damit weit mehr Fragen auf, als er beantwortete, aber Neolyt verzichtete darauf, sie zu stellen. „Wen oder was suchst du hier?“, fragte er.

„Deor. Deas meinte, er müsse irgendwo dahinten sein.“

„Ich bring dich hin“, bot Marcelo an und setzte sich in Batchs offenes Maul.

Eine Weile gingen, beziehungsweise schwebten sie schweigend nebeneinander her.

„Frisst Batch dich nicht, wenn du in ihn hineinsteigst“, fragte Neolyt schließlich, nachdem sie die beiden längere Zeit beobachtet hatte.

„Nein“, antwortete Marcelo, als wäre diese Vorstellung absolut abwegig. „Wieso sollte er? Er ist nicht intelligent genug zum Schlucken und Verdauen. Batch existiert. So, wie jeder Baschou.“

„Dann isst er gar nichts? Wie kann er überleben?“

„Gar nicht. Batch lebt nicht, im weitesten Sinne des Wortes. Er existiert.“

Neolyt beließ es dabei, auch wenn sie es nicht verstand.

„Dort ist er“, sagte Marcelo schließlich und deutete auf einen Sessel, der mit dem Rücken zu ihnen stand. Er verneigte sich, dann stieg er in Batch hinein und klappte den Mund des Baschou zu.

Neolyt ging um den großen Sessel herum. Deor saß nicht darin.

„Deor?“, fragte Neolyt und trat näher.

„Hallo“, sagte der Sessel.

„Was?“, fragte Neolyt verblüfft.

„Ich habe Hallo gesagt“, erklärte der Sessel und gähnte mit einem Mund aus Kordeln.

„Hallo“, sagte Neolyt. „Ist es normal, dass du sprichst?“

„Ja.“ Der Sessel sprach melodisch und weich, wie man es von einem Samtsessel erwartete. „Du willst zu Deor?“

„Ähm, ja, genau. Ist er nicht hier?“

„Doch. Ich sag ihm Bescheid.“

Eine Weile beobachtete sie den Samtbezug, bis sich etwas darunter zu bewegen schien und mit einem Mal Deor aus dem Sessel auftauchte.

„Guten Morgen, Neolyt“, sagte er und lächelte ihr zu.

„Guten Morgen. Ist das bei allen Sesseln so?“

„Nein“, erklärte er und stand auf. „Die meisten hier sind ganz normal. Aber ein paar können dich verschlucken, damit du beim Lesen deine Ruhe hast.“

„Aber der Sessel meinte, es wäre normal, dass er reden könne.“

Deor gluckste belustigt. „Natürlich sagt er das. Für ihn ist es nichts Ungewöhnliches. Siehst du, du würdest doch auch sagen, dass es normal ist, dich in einen Wolf zu verwandeln, nicht wahr?“

„Ja. Aber das ist doch auch ein bisschen normal, oder? Es gibt sicher viele Leute, die sich in einen Wolf oder etwas anderes verwandeln können.“

„Oh nein, Neolyt. Das können nur ganz wenige Menschen. Es heißt, manche Elfen hätten diese Fähigkeit und auch ein paar Kobolde in der Simeb-Wüste. Aber Leute wie dich gibt es nur ganz selten. Man könnte sogar behaupten, dass du die einzige Halbwölfin derzeit bist.“

„Wirklich? Was ist die Simeb-Wüste?“

„Das heben wir uns für den Geografieunterricht auf“, antwortete Deor und stieg über einen Teppich, der sich auf dem Gang zusammengerollt hatte und zu schnarchen schien.

„Geografie?“, hakte Neolyt nach und sah neugierig zum Teppich zurück, während sie Deor zwischen den Bücher­regalen folgte.

„Da bringe ich dir etwas über die Beschaffenheit Yalyris’ oder die Entstehung von Gebirgen und Winden bei.“

„Was ist Yalyris?“

„Das ist das Land, in dem die Einhorn- und Drachenreiter herrschen und unsere Hauptstadt Xialenóll liegt. Aber dort leben auch viele andere Wesen, zum Beispiel in der Simeb-Wüste.“

„Aha.“

Sie gingen weiter, bis sie an Deas’ Schreibtisch angelangt waren.

„Du gehst schon?“, fragte der Bibliothekswächter und sah auf.

„Ja, aber ich schick sie dir heut Nachmittag wieder vorbei.“

„Gut. Schönen Tag noch“, meinte Deas und wandte sich wieder seinen Pergamenten zu.

Deor und Neolyt setzten ihren Weg durch die Gänge der unterirdischen Schule fort, die von Flammengeistern in hellwarmes Licht getaucht wurden. Schließlich hielten sie vor einer kleinen Tür, die auf eine Handbewegung Deors hin aufsprang. Der Raum dahinter war klein, doch durch ein Fenster fiel Tageslicht hinein. Neolyt trat näher heran und versuchte, nach draußen zu sehen, doch dann fiel ihr wieder ein, dass es hier unter der Erde gar keine Fenster geben konnte.

„Warum …“, begann sie und drehte sich um, doch der Schrank, den Deor soeben geöffnet hatte, verschlug ihr die Sprache. Bis zur Decke reichten die Etagen des hölzernen Riesen, die voller magischem Krempel zu sein schienen.

„Anfängerspeicher“, sagte Deor und zu ihrer Verblüffung rutschten die Etagen nach unten und von oben tauchten neue auf. Ob das normal für einen Schrank war?

Schließlich hielten die Bretter an und Deor nahm einen gefleckten, wachteleigroßen Stein heraus, warf ihn einmal kurz in die Luft und legte ihn dann auf einen kleinen, steinernen Tisch. Der Schrank verschwand in der Wand, die ebenfalls aus Stein war.

„Hier wirst du in den nächsten Tagen den grundlegenden Umgang mit Magie erlernen“, erklärte ihr Deor. „Es ist nämlich nicht ungefährlich zu zaubern, vor allem am Anfang. Es kann alles Mögliche schiefgehen, aber mit solchen Magiespeichern hier“, er deutete auf den Stein, „sind die schlimmsten Gefahren gebannt.“

Neolyt sah ihn erwartungsvoll an, gespannt darauf, wie es weiterging.

„Du musst den Stein berühren und dir das, was du tun willst, vorstellen. Das erfordert eine Menge Konzentration, aber keine Sorge, wir fangen ganz leicht an.“ Er legte eine kleine, weiße Feder neben den Stein auf den Tisch. „Lass die Feder schweben und ruf mich, wenn du es geschafft hast. Ich bin nebenan bei Yewan, aber ich werde dich hören und dann sehen wir weiter.“ Gerade, als er den Raum verlassen wollte, schien ihm noch etwas einzufallen. „Und hier sind noch mehr Federn, falls … etwas schiefgehen sollte.“ Er deutete auf eine Kiste, die neben der Stelle stand, an der eben noch der Schrank gewesen war. Dann hatte sich die Tür auch schon hinter ihm geschlossen.

Neolyt atmete tief durch, doch ihr wild klopfendes Herz ließ sich dadurch nicht beruhigen. Zögernd trat sie näher an den Tisch heran. War es wirklich so einfach? Würde sie tatsächlich gleich Magie benutzen? Das war so aufregend!

Sie hielt den Atem an und legte die Hand auf den gefleckten Stein. Es kribbelte leicht, aber das war wohl die Aufregung. Dann richtete sie den Blick auf die Feder und dachte mit aller Kraft: Flieg!

Aber es tat sich nichts.

Flieg!, dachte sie noch einmal, doch die Feder machte keinerlei Anstalten, sich in die Luft zu heben. Enttäuscht suchte Neolyt nach anderen Worten, die die Feder vielleicht dazu bringen würden, sich ihrem Willen zu beugen. Doch auch auf Schweb, Steig auf, Erhebe dich und Beim dreisten Käsemond, jetzt heb endlich deinen Kiel in die Luft! reagierte sie nicht. Trotzig schob sie das Kinn vor. Beim letzten Mal war es ihr ganz leichtgefallen zu zaubern, sogar ohne so einen Stein. Was hatte sie jetzt also falsch gemacht? Konzentrierte sie sich nicht genug?

Neolyt richtete ihren Blick starr auf die Feder und konzentrierte sich so lange auf den kleinen weißen Tauge­nichts, bis er urplötzlich in Flammen aufging.

Zuerst erschrocken, lächelte sie doch bald ungläubig. Sie hatte gezaubert! Sie hatte tatsächlich Magie gebraucht! Es war zwar nicht ganz das gewesen, was sie hatte erreichen wollen, aber doch Zauberei. Sie nahm sich eine neue Feder und beugte sich konzentriert über den Tisch. Deor hatte gesagt, sie solle sich vorstellen, wie die Feder flog, das konnte so schwer nicht sein. Mit aller Kraft stellte sie sich vor, die Feder würde sich endlich von dem steinernen Tisch erheben. Doch anstatt ihrem Wunsch Folge zu leisten, nahm sie eine knallgrüne Färbung an. Neolyt runzelte die Stirn, ließ sich dadurch jedoch nicht aus der Fassung bringen. Abermals konzentrierte sie sich und die Feder zerfiel zu Staub.

Die nächsten drei Federn explodierten nach wenigen Minuten in gelben, blauen und violetten Flammen, die vierte floss als spärliches Rinnsal davon, die fünfte schrumpfte erst auf die Hälfte ihrer ursprünglichen Größe, um dann wie ein Insekt davonzukrabbeln, und die sechste verwandelte sich mit einem leisen Puff und ein wenig grünem Qualm in eine Primel. Doch Neolyt war begeistert. Zu was sie alles fähig war! Dass die Federn nicht im Traum daran dachten zu fliegen, störte sie nicht.

Doch irgendwann wurde sie der brennenden, bunten und vergrößerten oder verkleinerten Federn müde. Irgendetwas musste sie falsch machen. Vielleicht bestand ein Unterschied zwischen dem Versuch, eine Feder zum Fliegen bringen zu wollen, und sie fliegen zu lassen. Sie nahm den Stein fest in die Hand und stellte sich vor, die Feder hochzuheben. Ohne Mucken erhob sie sich einige Handbreit vom Tisch und blieb dort schweben. Neolyt hob die Hand und berührte sie vorsichtig, woraufhin sie wieder hinabfiel.

„Deor“, rief sie und kurze Zeit später öffnete sich die Tür und ihr Mentor trat ein.

„Hoppla“, sagte er, als er beinahe auf ein Federtier trat. „Interessant, was du alles anstellst, wenn du eine Feder fliegen lassen sollst.“

„Nicht wahr?“ Neolyt strahlte.

„Und hast du auch geschafft, was du machen solltest?“

„Natürlich.“ Neolyt nahm den Stein fest in die Hand und die Feder erhob sich wieder in die Luft.

„Sehr schön.“ Er sah auf ein merkwürdiges Gerät an seinem Handgelenk und notierte dann etwas auf einem Blatt Pergament. „Kaum eine Stunde. So schnell wird die fliegende Feder selten gemeistert. Dann wollen wir mal.“

Abermals ging er zum Schrank hinüber und holte eine weitere Kiste heraus, die er zwischen sich und Neolyt auf den Tisch stellte. In der nächsten Stunde ließ Neolyt die verschiedensten Dinge durch den Raum schweben. Es gelang ihr meist auf Anhieb, die Gegenstände in die Luft zu befördern, und mit jedem Mal wuchsen ihr Stolz und ihre Begeisterung. Sie konnte zaubern! Sie konnte richtig, wahrhaftig zaubern! Und es fiel ihr absolut leicht.

„Mich würde interessieren, wie du die Sachen fliegen lässt“, sagte Deor schließlich und pflückte einen Kerzenleuchter vor sich aus der Luft.

„Mit dem Stein“, sagte sie und hielt den Magiespeicher hoch. Das war doch selbstverständlich.

„Ja, aber was stellst du dir dabei vor?“