Tod im Herrenzimmer - Falk Guder - E-Book

Tod im Herrenzimmer E-Book

Falk Guder

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Beschreibung

Ein aufgeregter Landjäger stürmt in das Dienstzimmer des Bremer Kriminalkommissärs Otto von Weyhe: ›Verzeihen Sie bitte, Herr Kriminalpolizeikommissär, dass ich hier so reinplatze‹, stottert der junge Mann, ›mein Name ist Landjäger Horst Ahrens, Polizeidiener zu Diensten. Ich bin für den Stadtteil Osterholz zuständig und muss einen furchtbaren Mord melden.‹ Der Osterholzer Bauer Friedrich Horstmann ist ermordet worden. Erstochen mit einer afrikanischen Lanze, die noch aus seinem Körper herausragt. Was zunächst wie ein Raubmord erscheint, entwickelt sich schnell zu einer Kette von Ungereimtheiten. Um den Fall aufklären zu können, müssen von Weyhe und sein Assistent Hansen immer tiefer in die dunkle Vergangenheit des Großbauern eindringen. Die Spur führt nach Deutsch-Südwestafrika … Ein auf historischen Fakten beruhender und spannender Kriminalroman, der auch viel über das Leben in Bremen um 1900 mitteilt.

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Falk Guder

Tod im

Herrenzimmer

Historischer

Bremen-Krimi

Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek

registriert. Die bibliografischen Daten können online angesehen werden:

http://dnb.d-nb.de

Impressum

© 3. Auflage 2014 KellnerVerlag, Bremen • Boston

St.-Pauli-Deich 3 • 28199 BremenTel. 04 21 - 77 8 66 • Fax 04 21 - 70 40 58

[email protected] • www.kellnerverlag.de

Lektorat: Manuel DotzauerSatz: Meike KramerUmschlag: Designbüro MöhlenkampFoto Seite 52: Meike KramerFoto Seite 84: www.pixelio.de

ISBN 978-3-939928-75-1

Für

Marion, Nele und Bastian

Für Sach- und Worterklärungen siehe Glossar ab Seite 156.

Ferner finden Sie auf den Seiten 168/169 eine Karte vom historischen Bremen von 1905 sowie auf den Seiten 170/171 eine Übersicht der Kolonie Deutsch-Südwestafrika von 1910 (dem heutigen Namibia).

Falk Guder wurde 1973 in Bremen geboren und wuchs in der niedersächsischen Kleinstadt Weyhe auf. Er studierte in Vechta die Fächer Deutsch und Geschichte auf Lehramt und arbeitet heute als Realschullehrer an der Haupt- und Realschule in Twistringen.Bereits als Jugendlicher begeisterte er sich für Kriminalliteratur und später auch für Regionalgeschichte. »Tod im Herrenzimmer« ist sein erster Roman. Weitere Romane sind in Planung.

I

Fluchend, mit dem Wetter hadernd, trat Kriminalpolizeikommissär Otto von Weyhe in die Pedalen seines Fahrrades und versuchte angestrengt, dem Gegenwind zu trotzen, der ihm hart und unerbittlich entgegenwehte. Gerne hätte er in diesem Moment in einer Pferde- oder Straßenbahn gesessen und sich durch die Gegend fahren lassen, doch leider gab es diese Verkehrsmittel auf dem Weg von der Bremer Innenstadt nach Osterholz nicht, so dass er sich wohl oder übel mit Hilfe seines Fahrrades fortbewegen musste.

Der Wind schlug ihm weiter hart und unerbittlich ins Gesicht. Von Weyhe fiel es unglaublich schwer, dagegen anzuradeln und mit seinem Fahrrad auf dem unebenen Schotterweg voranzukommen. »Zum Glück«, dachte der Kommissär nur, »befinden wir uns bereits in Osterholz. Das Ziel kann also nicht mehr weit entfernt sein.«

Osterholz, der kleine Stadtteil im Osten der inzwischen fast 200.000 Einwohner zählenden Großstadt Bremen, war dünn besiedelt. Neben zahlreichen Ackerflächen und Wiesen, auf denen Kühe und Pferde weideten, passierten sie links und rechts des Weges vereinzelte Bauernhöfe, aber auch freistehende Häuser mit großen Grundstücken. Otto von Weyhe runzelte die Stirn. Osterholz hatte er von früher noch wesentlich ländlicher in Erinnerung gehabt. Aber auch in diesem Bremer Stadtteil hatte die Industrialisierung eindrucksvoll ihre Spuren hinterlassen. Nur noch ein Drittel der nicht ganz 2.000 Osterholzer (das hatte der Kommissär mal in der Zeitung gelesen) lebte noch von der Landwirtschaft. Die anderen Bewohner waren dagegen überwiegend Arbeiter und verdienten ihr Geld vorwiegend in den riesigen Hemelinger Zigaretten- oder Silberwarenfabriken.

Kriminalpolizeikommissär von Weyhe fluchte erneut laut vor sich hin, als ihm aufgewirbelter Staub von vorn direkt in das Gesicht schlug und er auf einmal einen sehr sandigen Geschmack im Mund verspürte. Seine Zähne knirschten geräuschvoll bei dem Versuch, den Sand zwischen seinen Zähnen irgendwie herauszubekommen.

Zu allem Übel hatte es gerade auch noch angefangen zu regnen, kleine Wassertropfen wehten auf den Kommissär und zwei weitere Männer herab, die vor ihm fuhren und ebenfalls mühsam versuchten, sich mit ihren Fahrrädern einen Weg durch den starken Wind zu bahnen.

Seit über einer Stunde waren sie jetzt schon unterwegs. Vergrellt verzog von Weyhe das Gesicht und versuchte weiterhin angestrengt, dem Gegenwind zu trotzen, um mit seinem jungen Assistenten, Kriminalwachtmeister Heinrich Hansen, sowie mit dem für Osterholz zuständigen Landjäger, Horst Ahrens, irgendwie Schritt zu halten. Als diese sich trotz aller Anstrengungen, die der Kommissär verzweifelt aufbrachte, allerdings immer weiter von ihm entfernten, schrie er ihnen, in der Hoffnung, dass sie ihn trotz des starken Windes hören würden, auf einmal wütend entgegen:

»Hansen! Ahrens! Jetzt warten Sie doch mal auf mich! Ich bin schließlich keine dreißig mehr!«

Kriminalwachtmeister Heinrich Hansen und Landjäger Horst Ahrens verlangsamten daraufhin augenblicklich ihr Tempo, so dass der Kommissär allmählich aufholen konnte. Von Weyhe konnte erkennen, dass Hansen ein leichtes Schmunzeln auf den Lippen hatte.

»Na warte, Bürschchen«, dachte er nur erbost, »dein Lachen wird dir schon noch vergehen. Wenn wir gleich am Tatort sind, schicke ich dich erst einmal zur Spurensuche durch den Kuhstall! Und zwar durch jeden einzelnen Fladen!«

Angestrengt trat der leicht übergewichtige Kommissär weiter in die Pedalen und dachte sehnsüchtig an den heutigen Vormittag zurück. Was hatte er sich doch, nach all den Turbulenzen der letzten Monate, mal wieder auf einen gemütlichen Tag in seinem Büro gefreut.

Seit dem 6. März, das war jetzt über vier Monate her, war es in der Stadt Bremen, beim gesamten Polizeiapparat und nicht zuletzt bei Kriminal-Polizeikommissär Otto von Weyhe selbst komplett drunter und drüber gegangen. Alles hatte damit begonnen, dass der deutsche Kaiser, Wilhelm II., an diesem Tag in Bremen zu Besuch gewesen war. Obwohl die Bremer Polizei, natürlich auch die Kriminalpolizei, im Vorfeld alles dafür getan hatte, dass der Kaiser bestmöglich geschützt war, war es dennoch, unfassbar für alle, zu einem Attentat gekommen, das sowohl Bremen als auch das gesamte Deutsche Reich in seinen Grundmauern erschüttert hatte. Ein Schlosser, Dietrich Weiland mit Namen, hatte sich urplötzlich aus einer Menschenmenge gelöst und mit voller Wucht ein Eisenstück auf den kaiserlichen Wagen geworfen. Bei diesem Anschlag wurde Kaiser Wilhelm II. schließlich leicht am Kopf verletzt.

Was folgte, waren natürlich unzählige Untersuchungen, Verhöre und gegenseitige Schuldzuweisungen gewesen, bis der Fall vor ein paar Tagen, zur Erleichterung aller Beteiligten, endlich abgeschlossen und zu den Akten gelegt worden war. Dietrich Weiland wurde letztlich für unzurechnungsfähig befunden und in eine Heilanstalt eingeliefert.

Otto von Weyhe trat weiter angestrengt in seine Pedalen und dachte erneut mit Wehmut an den heutigen Vormittag zurück. Eigentlich hatte er sich fest vorgenommen, nur in seinem Büro zu bleiben und den ungemütlichen Außendienst seinen jüngeren Kollegen zu überlassen. Er wollte, an diesem ungewohnt stürmischen, ungemütlichen Tag im Juli, dem zwölften des Jahres 1901, lediglich ein paar Akten bearbeiten und zwei längst überfällige Abschlussberichte schreiben. Gemächlich hatte er sich erst einmal einen Kaffee zubereitet, sich die Schuhe ausgezogen und es sich dann, mit der ersten Akte in der Hand, in seinem großen Schreibtischstuhl bequem gemacht.

Otto von Weyhe liebte sein Büro, das sich in der ersten Etage des Alten Stadthauses, gleich neben dem Bremer Rathaus, befand, über alles. Von hier konnte er dem Treiben der Bremer Bevölkerung auf dem Marktplatz sowie in der Innenstadt jederzeit zuschauen, wenn er der stupiden Akten- und Büroarbeit zwischendurch mal überdrüssig war und sich seine Augen nach etwas Abwechslung sehnten. Die Blicke nach draußen entspannten ihn kurzzeitig und vermittelten ihm stets das Gefühl, am Leben, welches sich außerhalb des Kriminalpolizeigebäudes abspielte, irgendwie teilzuhaben.

Während er noch angestrengt sein Fahrrad über den holprigen Schotterweg lenkte, wiederholten sich die Geschehnisse des Vormittags in seinen Gedanken:

Gerade als er sich zum wiederholten Male entspannt in seinem Stuhl zurückgelehnt hatte und seine Akte weiter studieren wollte, hörte er auf dem Flur des Polizeigebäudes auf einmal ein lautes Gepolter. Augenblicklich unterbrach von Weyhe seine Aktenarbeit und horchte auf.

Er hörte, dass ein Mann laut und aufgeregt auf einen anderen einredete. Der Mann schien sehr erregt zu sein, von Weyhe konnte hören, dass er nur halbe, unvollständige Sätze von sich gab und völlig außer Atem zu sein schien. Dann näherten sich seinem Büro auf einmal schnelle Schritte.

Ehe der Kommissär darüber nachdenken konnte, was sich auf dem Flur des Polizeigebäudes abspielte, wurde, ohne dass jemand vorher anklopfte, die Tür seines Büros aufgerissen. Ein völlig verstörter junger Landjäger stürmte in sein Zimmer, dicht gefolgt von Otto von Weyhes jungem Assistenten, Kriminalwachtmeister Heinrich Hansen.

»Verzeihen Sie bitte, Herr Kriminalpolizeikommissär von Weyhe, dass ich hier so reinplatze«, stotterte der junge Mann augenblicklich los, »mein Name ist Ahrens. Horst Ahrens. Landjäger Horst Ahrens, Polizeidiener zu Diensten. Ich bin für den Stadtteil Osterholz zuständig. Und muss leider einen furchtbaren Mord melden!«

Von Weyhe und Hansen hatten sich, überrascht natürlich vom hektischen Auftritt des Landjägers, zunächst nur fragend angeschaut. Die verschiedensten Gedanken schossen dem Kommissär augenblicklich durch den Kopf:

»Horst Ahrens? Polizeidiener? Furchtbarer Mord? In Osterholz? Was genau war passiert ...?«

Nachdem sich von Weyhe und Hansen nach einigen Sekunden wieder gefasst hatten, wandte sich der Kommissär schließlich mit ruhiger Stimme an den jungen Mann:

»Nun beruhigen Sie sich doch erst einmal, Ahrens, und setzen Sie sich. Kommen Sie erst einmal zur Ruhe. Danach können Sie uns von diesem ›furchtbaren Mord in Osterholz‹ immer noch berichten.«

Der Landjäger nickte daraufhin nur stumm und setzte sich, immer noch erregt und aufgewühlt, auf den großen Schreibtischstuhl des Kommissärs. Tief und langsam atmete er durch.

Nach einigen Minuten, nachdem die Erregung allmählich nachgelassen und er tatsächlich einigermaßen zur Ruhe gekommen war, begann er schließlich zu erzählen, was sich in Osterholz so Schreckliches zugetragen hatte:

»Gestern Abend wurde in meinem Osterholzer Zuständigkeitsbereich, auf einem riesigen Bauernhof am Rande des Stadtteils, ein furchtbares Verbrechen verübt. Friedrich Horstmann, der Besitzer des Hofes, wurde auf grauenvolle Art und Weise ermordet!«

Von Weyhe und Hansen tauschten kurz einige Blicke aus. Beiden war der Name des Toten allerdings kein Begriff, einen Friedrich Horstmann kannten sie nicht.

»Friedrich Horstmann«, fuhr der Landjäger fort, »wurde 1869 in einem kleinen Dorf südlich von Bremen geboren. Seine junge Magd, Alma Schmidt, die ich am Tatort noch kurz verhörte, erzählte mir, dass er einige Jahre in Deutsch-Südwestafrika gelebt und es dort mit seiner Viehwirtschaft wohl zu großem Wohlstand gebracht hatte. Vor knapp zwei Jahren, im Juni 1899, war er schließlich wieder in den Norden des Deutschen Reiches zurückgekehrt und hatte sich mit seinem Vermögen in Osterholz einen riesigen Bauernhof mit großen Ländereien gekauft. Hier wohnte er dann zusammen mit seinem Gesinde, der Magd Alma Schmidt, dem Knecht Wilhelm Stenzel sowie dem Knecht Johann Schütte, der allerdings inzwischen auf einem anderen Hof arbeitet.

Friedrich Horstmann, dies alles erzählte mir die Magd, war wohl ein sehr harter Mann mit einem sehr heftigen Temperament. Vor allem wenn er betrunken war, was fast täglich der Fall gewesen sein soll, entwickelte er eine unglaubliche Brutalität seiner Umwelt gegenüber. Ständig kam es zu Streitigkeiten mit seinen Knechten oder auch Gästen in der örtlichen Kneipe. Alma Schmidt schloss sich seit den letzten Wochen abends sogar ständig oben in ihrer Kammer ein, so große Angst hatte sie inzwischen vor ihrem Arbeitgeber und seinen gefährlichen, unkontrollierten Tobsuchtsanfällen.«

Kriminalwachtmeister Hansen hörte seinem Kollegen Horst Ahrens aufmerksam und interessiert zu. Kriminalpolizeikommissär von Weyhe dagegen verzog leicht das Gesicht.

»Ahrens«, unterbrach er die Ausführungen des Landjägers, »das alles ist wirklich sehr interessant. Aber schildern Sie uns doch jetzt bitte den Mord, der sich dort zugetragen haben soll.«

Ahrens nickte nur kurz und fuhr fort:

»Wie schon erwähnt, hatte es Horstmann in Deutsch-Südwestafrika zu einem wohlhabenden Mann gebracht. Nachdem er den Bauernhof in Osterholz gekauft hatte, richtete er sich in dem größten Raum, der sich in der unteren Etage befindet, ein stattliches Herrenzimmer ein, wohin er sich abends stets alleine zurückzog, wenn er nicht gerade in der Kneipe war und dort seiner gewohnheitsmäßigen Trinksucht nachging. Zutritt hatte außer ihm nur Alma Schmidt, damit sie gelegentlich mal putzen oder aufräumen konnte.

Die Einrichtung von Horstmanns Herrenzimmer ist mehr als luxuriös. Lederne Sessel, elegante Couchtische und ein prunkvoller Schreibtisch aus Eichenholz gehören unter anderem zum Mobiliar. Überall an den Wänden hängen Erinnerungen aus seiner Zeit in Deutsch-Südwestafrika, zum Beispiel eine alte Flagge, Speere, Schilde, Rinderfelle sowie verschiedene Antilopenköpfe. Zudem verfügt das Herrenzimmer über eine eigene Bar mit unzähligen verschiedenen Rum- und Whiskysorten. Gestern Abend ging Alma Schmidt, nach eigenen Angaben, nach einem harten Arbeitstag relativ früh zu Bett. Laut ihrer Aussage war sie wohl auch relativ schnell eingeschlafen. Nachts wurde sie dann auf einmal durch einen gellenden Schrei geweckt, der, wie sie zu hören glaubte, wohl von Friedrich Horstmann ausgestoßen worden war.«

»Warum ist sie nicht gleich nach unten gerannt und hat nach dem Rechten geschaut?«, unterbrach Kriminalwachtmeister Hansen neugierig den Landjäger. »Das wäre doch eigentlich das Erste gewesen, was man tun würde, wenn man nachts jemanden schreien hört.«

»Sie verließ ihre Kammer nicht, weil sie seine Wutanfälle kannte und sich nichts Besonderes dabei dachte«, erwiderte Ahrens daraufhin nur kurz. »Wie schon erwähnt, geriet Horstmann oftmals in Raserei, wenn er etwas getrunken hatte. Alma Schmidt berichtete mir, dass er wohl des Öfteren nachts durchdrehte sowie laut und unverständlich im Haus herumschrie.«

»Fahren Sie fort, Ahrens«, schaltete sich nun auch der Kommissär ein. »Der Mord. Was hat es nun mit dem Mord auf sich?«

»Ja, der Mord ... Am nächsten Morgen stand Alma Schmidt, früh wie immer, auf und ging ihrer Arbeit in den Ställen nach. Als sie nach einiger Zeit, auf dem Rückweg vom Kuhstall, zufällig außen an dem Herrenzimmer vorbeikam, entdeckte sie auf einmal, dass ein Fenster sperrangelweit offen stand. Nichtsahnend näherte sie sich dem Fenster und schaute von außen in das Zimmer hinein. Was sie dort sah, verschlug ihr nach eigenen Angaben wohl komplett die Sprache. Hysterisch, schreiend, einer Ohnmacht nahe, lief sie danach sofort in ihren Holzschuhen zu mir, um mir von dem schrecklichen Erlebnis zu berichten.«

»Was hat sie denn nun gesehen?!«, wurde von Weyhe jetzt langsam wirklich etwas ungeduldig. »Nun erzählen Sie es doch endlich, Ahrens!«

»Also, Alma Schmidt rannte, wie schon gesagt, geradewegs mit ihren Holzschuhen zu mir und berichtete mir bruchstückhaft von dem, was sie so Schreckliches in dem Herrenzimmer gesehen hatte ...«

Von Weyhe hatte Mühe, sich zu beherrschen und den jungen Landjäger nicht laut zusammenzuschreien. Ahrens sollte nicht den kompletten Tagesverlauf von ihm und der Magd erzählen, sondern endlich von dem Mord berichten. Ob die Magd in ihren Holzschuhen oder gar barfuß zu ihm unterwegs gewesen war, interessierte ihn dabei herzlich wenig.

»Nachdem Alma Schmidt mir also alles erzählt hatte, ging ich schließlich mit ihr zusammen zurück zum Horstmannhof ...«

Von Weyhes Halsschlagader begann zu pochen.

»Wenn der Kerl jetzt nicht gleich ...«

»Als wir den Hof schließlich erreichten und das Herrenzimmer betreten wollten«, fuhr Ahrens mit seiner ausführlichen Berichterstattung unbeirrt fort, »war die Tür von innen verriegelt. Die Magd hatte keinen Schlüssel zu dem Zimmer, den besaß nur Friedrich Horstmann. Ich überlegte kurz, ob ich die Tür aufbrechen sollte, aber aus Angst, eventuell wichtige Beweise zu vernichten, entschloss ich mich schließlich, von außen durch das Fenster zu klettern. Ich ging also um den Hof herum und schwang mich auf den nicht sehr hoch gelegenen Fensterrahmen. Bevor ich allerdings auf der anderen Seite wieder hinunter in das Zimmer sprang, fiel mein Blick auf einmal auf den grausam zugerichteten Hofbesitzer.«

Horst Ahrens machte eine kurze Pause.

»Herr Kriminalpolizeikommissär, Herr Kriminalwachtmeister, Sie können sich nicht vorstellen, wie mir der Schrecken in die Glieder fuhr. Fast wäre ich hintenüber vom Fensterrahmen gefallen, so zu Tode erschrocken war ich. Friedrich Horstmann saß mit weit aufgerissenen Augen und verzerrtem Gesicht in einer Ecke des Herrenzimmers und rührte sich nicht mehr. Sein Gesicht war mit Blut überströmt. In seiner Brust befand sich eine lange, wohl afrikanische Lanze, deren Spitze an seinem Rücken wieder ausgetreten war. Vor dem Toten lag ein mit Blut bespritzter Revolver auf dem Boden. Der ganze Raum war voller Blutspritzer. Bücher, Papiere und Glasscherben lagen überall auf dem Fußboden herum, auch die Schubladen des Schreibtisches waren allesamt aufgebrochen und lagen herausgerissen und teilweise zersplittert auf dem Boden des Zimmers. Nachdem ich mich mühsam von meinem Schock erholt hatte, befragte ich noch kurz die Magd, die ebenfalls stark unter Schock stand, und machte mich umgehend auf den Weg zu Ihnen in die Innenstadt, um der Kriminalpolizei den Mord zu melden.«

Nachdem der junge Landjäger schließlich seinen ausführlichen Bericht beendet hatte, wurde es im Bremer Kriminal-Polizeigebäude auf einmal sehr hektisch. Kriminalpolizeikommissär Otto von Weyhe, Kriminalwachtmeister Heinrich Hansen und Horst Ahrens besprachen noch einmal kurz den weiteren Tagesablauf, um danach rasch das Büro zu verlassen und die Treppe, die zum Haupteingang führte, hinunterzustürmen. Um den Tatort zu sichern und etwaige Beweise sicherzustellen, das wusste der Kommissär aus seiner langjährigen Diensterfahrung heraus, mussten sie umgehend handeln.

Schnell stürmten er und Hansen noch eine weitere Treppe hinunter, um ihre Fahrräder aus dem Keller zu holen. Dann verließen die drei Polizisten schließlich das Gebäude, um sich unverzüglich auf den an diesem Tag beschwerlichen Weg nach Osterholz zu begeben.

II

Nervös, abwechselnd von einem Bein aufs andere wippend, stand der junge Mann mit dem großen, runden, breitkrempigen, dunklen Hut im Hamburger Hafen am Petersenkai, Schuppen 29, und wartete ungeduldig darauf, endlich auf dem riesigen Dampfschiff mit Namen »Admiral«, das sich majestätisch vor ihm aufgebaut hatte, an Bord gehen zu dürfen. Unruhig griff er zum wiederholten Male in die Innentasche seiner hochgeschlossenen Weste, um zu kontrollieren, ob die Fahrkarte, die er in den Tagen zuvor für viel Geld bei der Ost-Afrika-Linie gelöst hatte, sich noch an ihrem rechten Platz befand. Tief holte er noch einmal Luft und atmete kräftig durch, bevor auch er schließlich an Bord des gigantischen Dampfschiffes gehen und das riesige Deck mit seinen schwarzen Lederschuhen betreten durfte. Mit einem Hauch von Wehmut und zugleich Abenteuerlust lehnte er am Bug über die Reling gebeugt und beobachtete, wie zunächst die Landungsstege hochgewunden und die Anker gelichtet wurden. Er hörte, wie eine Kapelle an Land noch das ihm wohl bekannte Lied »Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus« spielte. Dann spürte er, wie sich die »Admiral« schließlich langsam in Bewegung setzte und sich allmählich immer weiter vom vertrauten Ufer entfernte. Vom Schuppen aus winkte den Abfahrenden eine große Menschenmenge mit weißen Tüchern zu, der junge Mann registrierte, dass um ihn herum viele Männer, Frauen und Kinder Tränen in den Augen hatten. Ihm selbst fiel dieser Teil des Abschiedes merkwürdigerweise nicht sonderlich schwer.

»Wahrscheinlich«, so dachte er, »liegt das daran, dass ich schon seit ein paar Tagen keinen vertrauten Angehörigen mehr in meiner Nähe hatte. Nun, alter Junge, gibt es kein Zurück mehr!« Dieses schoss dem jungen Mann im Bruchteil einer Sekunde noch durch den Kopf, als er sich umdrehte, der Reling langsam den Rücken kehrte, eine Treppe hinabstieg und sich unter Deck begab.

Ein neuer Lebensabschnitt hatte soeben unweigerlich für ihn begonnen, bei dem es galt, den Blick nur noch nach vorn zu richten. Ein Lebensabschnitt, der ihn einerseits mit zahllosen Ängsten und Ungewissheiten, andererseits aber auch mit großen Hoffnungen und Wünschen erfüllte.

Nach einiger Zeit verließ das Dampfschiff den mächtigen, großen Hamburger Hafen mit seinen unzähligen Schiffen, Booten, Kasten und Lagerhäusern und gelangte alsbald in die große Nordsee. Nach drei Tagen befand es sich bereits in Antwerpen, wo die »Admiral«, nachdem sie von einem Lotsen an die Landungsbrücke dirigiert worden war, das erste Mal vor Anker ging. Weitere drei Tage blieb das Schiff schließlich in dem großen belgischen Hafen, um Unmengen von Kohle und fertigem Material für riesige Anlagen in Übersee, vor allem für den Eisenbahnbau, an Bord zu laden. Die Passagiere vertrieben sich unterdessen die Zeit vornehmlich in der Stadt, da die Tage an Bord durch die Beladung der Frachtgüter alles andere als angenehm oder gar »gemütlich« waren. Nur zum Essen, das stets abends gegen sechs Uhr serviert wurde, fanden sich in der Regel alle wieder auf dem riesigen Dampfer ein.

Während die meisten Schiffsinsassen das Ende dieses für sie eher langweiligen und langwierigen Aufenthaltes herbeisehnten, versuchte der junge Aussiedler mit dem breitkrempigen, dunklen Hut, der im Hamburger Hafen an Bord gegangen war, seine Zeit in Antwerpen so gut und sinnvoll, wie es irgendwie ging, zu verbringen. Er ging einfach mal in eine Kneipe, um dort ein Bier zu trinken, oder ging nur in einem der schönen Antwerpener Parks spazieren, um sich dort die warme Frühlingsluft um die Nase wehen und die wiedererstarkte Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen. Auch in die belgische Hauptstadt, nach Brüssel, machte er zwischendurch mal einen Abstecher. Tief beeindruckt zeigte er sich hier vor allem von den riesigen Bauten, allen voran von dem Königspalast sowie auch dem Triumphbogen.

Als der Dampfer nach drei Tagen endlich fertig beladen war, fuhr er von Antwerpen denselben Weg zurück durch die Schelde und ging einen Tag darauf schließlich in Dover, an der Küste Englands, ein weiteres Mal vor Anker, um dort unter anderem weitere Passagiere an Bord zu nehmen. Vorbeifahrende Segel- und Kriegsschiffe grüßten dabei stets ehrfurchtsvoll den majestätischen »Admiral«.

Im Anschluss an diesen kurzen Aufenthalt an der englischen Küste nahm das Dampfschiff in den darauffolgenden Tagen ordentlich Fahrt auf, zwischen dreizehn und fünfzehn Kilometer legte es nun in der Stunde zurück. Auch das Wetter war zur Freude der Passagiere weiterhin ausgezeichnet, die Sonne schien unaufhörlich und das Wasser des Atlantiks glitzerte hell auf der Oberfläche. An Deck der Ersten Klasse spielte schon am frühen Morgen die Schiffskapelle, allerorts waren die Menschen fröhlich und gut gelaunt.

In Las Palmas wurde dann noch einmal ein Zwischenstopp eingelegt, um Früchte, Kartoffeln, Gemüse und vor allem Frischwasser an Bord zu nehmen. Auch Händler wurden in Las Palmas zwischenzeitlich auf das Schiff gelassen, die den Passagieren Muscheln, Messer, verzierte Dolche, Zigarren und den Damen sogar Spitzenkleider anboten. Zahlreiche Boote mit Einheimischen, die um Präsente bettelten, umlagerten zudem das Schiff. Ein Rudel Farbiger tauchte in der ungeheuren Tiefe nach geworfenen Geldstücken und brachte sie, unter dem Gejohle einiger angetrunkener Passagiere, schließlich wieder an die Oberfläche. Als es dunkel wurde, mussten die Einheimischen wieder von Bord. Der Kapitän gab noch die Anweisung, die Kabinen gut zu verschließen, da die Einheimischen angeblich alles klauten, was nicht »niet- und nagelfest« war. Um Mitternacht stach die »Admiral« dann wieder in See.

Als die Sonne am nächsten Morgen aufging, befand sich das Schiff auf offenem Meer, die Küste war komplett verschwunden. Jetzt lagen zwei wunderschöne Wochen vor den Passagieren des Dampfschiffes, sonnige Tage mit fortwährend blauem Himmel und wunderschöne Abende an Deck sollten von nun an ihre ständigen Begleiter sein.

Vorn übergebeugt, mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht, stand der junge Aussiedler erneut am Bug an der Schiffsreling und schaute verträumt in das glitzernde und funkelnde Kielwasser. Das Meer machte auf ihn den Anschein, als sei es elektrisch aufgeladen. Der Himmel war hell und klar, die Sonne brannte ihm wohltuend auf der Haut.

»Bis jetzt«, dachte er nur gedankenverloren, »habe ich meine Entscheidung noch nicht bereut. Im Gegenteil! Von mir aus darf es gerne so weitergehen wie bisher! Ich hätte absolut nichts dagegen!«

Dann stiegen jedoch auch leichte Zweifel in ihm auf, er hob kurz den Kopf und blickte steil hinauf zum Himmel, um danach erneut das Haupt zu senken und weiter vorn übergebeugt in das glitzernde und funkelnde Kielwasser des gigantischen Dampfschiffes zu schauen. Das Lächeln auf seinem Gesicht war urplötzlich verschwunden.

Insgeheim ahnte er, dass dieses Abenteuer noch lange nicht beendet war und dass es sich nicht so unkompliziert fortsetzen würde wie bisher. Zahlreiche Schwierigkeiten würden sich ihm sehr wahrscheinlich noch in den Weg stellen, die er allesamt, wie auch immer, irgendwie erfolgreich meistern musste. Dessen war er sich absolut sicher. Urplötzlich wurde ihm auf einmal heiß im Gesicht, starke Selbstzweifel stiegen in ihm auf. Was würde ihn in der neuen Heimat wohl alles erwarten?