Toxische Macht - Christian Linker - E-Book

Toxische Macht E-Book

Christian Linker

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Beschreibung

Das brisante Porträt der Gesellschaft und unserer Zeit Eher zufällig ist die 24-jährige Studentin Coco Frahm in den Monaten nach dem Lockdown an die Spitze der neuen Partei »Future« gelangt. Dabei hatte Coco auf dem Gründungscamp der Partei ihre Gedanken zur »neuen Langsamkeit« ganz spontan geäußert. Doch mit ihrem Anliegen, endlich ernst zu machen mit dem »Raus aus der Stress- und Konsumgesellschaft«, traf sie ins Herz der Menschen. Und nun könnte sie plötzlich Bundeskanzlerin werden. Mit 24! Doch »besorgte Bürger« wollen Coco stoppen. Notfalls mit Gewalt – solange es wie Selbstmord aussieht. Ausgerechnet Cocos Ex-Freund Maikel soll den schmutzigen Job übernehmen. In der Nacht vor dem entscheidenden Wahlsonntag treffen Coco und Maikel aufeinander …

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Über das Buch

Eher zufällig gelangt die junge Studentin Coco in den Monaten nach dem Lockdown an die Spitze der neuen Partei FUTURE. Dabei hat Coco auf dem Gründungscamp der Partei ihre Gedanken zur »Neuen Langsamkeit« ganz spontan geäußert. Ihr Anliegen, endlich mit der Stress- und Konsumgesellschaft Schluss zu machen, trifft ins Herz der Menschen. So sehr, dass die 24-Jährige plötzlich Bundeskanzlerin werden könnte! Doch »besorgte Bürger« wollen Coco aufhalten. Notfalls mit Gewalt – solange es wie Selbstmord aussieht. Ausgerechnet Cocos Ex-Freund Maikel soll den schmutzigen Job übernehmen. In der Nacht vor dem entscheidenden Wahlsonntag treffen Coco und Maikel aufeinander …

 

 

 

 

Für Silke

1

Immerhin wird er mal von sich sagen können, er habe mit der späteren Bundeskanzlerin geschlafen. Aber wer will so was schon hören? Peinliches Gepose von einem, der verloren hat.

Maikel schaut ihr zu, wie sie zum Schluss nochmals von der Bühne in die Menge ihrer jubelnden Anhänger winkt. Etliche tragen bunte Corona-Masken in den Regenbogenfarben der Partei. Ist das noch Nostalgie oder schon wieder die Sorge vor der nächsten Welle? Es heißt ja, ohne die Pandemie würde es FUTURE heute gar nicht geben oder zumindest nicht so. Und erst recht keine Kanzlerkandidatin namens Coco. Scheinbar beiläufig schiebt sie sich den Hut (den Hut!) ein Stück aus der Stirn, bis ihre blonden Fransen darunter hervorschauen. Sie lächelt ihr scheinbar schüchternes Coco-Lächeln, bevor sie sich umdreht und mit der schlaksigen Eleganz ihrer überlangen Gestalt im Hintergrund verschwindet.

Maikel wischt den Livestream von seinem Handybildschirm fort und tippt auf die Fußball-App. Werder wieder chancenlos. Maikel leider auch. Er lässt die Hand mit dem Handy sinken, reibt sich mit Daumen und Zeigefinger der anderen die Nasenwurzel, wie alte weiße Männer das in seiner Vorstellung so tun, und sagt schicksalsschwer: »Sie wird gewinnen. Es ist gelaufen.«

»Gelaufen ist es erst morgen um achtzehn Uhr«, erwidert Posch. »Bis die Wahllokale schließen, kann noch einiges passieren.«

Der alte weiße Mann sitzt gegenüber von Maikels Schreibtisch in dem schweren alten Ledersessel, den er wohl nur für sich selbst in Maikels Büro hat stellen lassen, weil er der Einzige ist, der da jemals drinsitzt. Noch nie hat Maikel hier Besuch empfangen, außer von Posch.

Reine Durchhalteparolen, denkt Maikel. Nicht, dass Posch auch noch von Wunderwaffen anfängt … ha, ha. Einen gewissen Zynismus hat Maikel sich bewahrt, auch wenn er längst aufseiten der Leute steht, die er früher bekämpft hat. Und da ist auch noch ein kleiner Teil in ihm, der Coco den Sieg sogar gönnen würde. Warum muss er immer an Sex denken, wenn er sie sieht? Im Fernsehen oder auf Insta oder Facebook oder auf den Plakaten, mit denen das Land vollgepflastert ist.

FUTURE! Fürchtet euch nicht!

Er kratzt sich am Hinterkopf, als wäre da ein Phantomschmerz. Klar, er hätte sich einen neuen Hut kaufen können, aber das wäre Quatsch gewesen, denn der ist ja längst ihr Markenzeichen.

»Kannst jetzt mit Lächeln aufhören, Coco.«

Kerim sagt das, als wäre es witzig gemeint, doch das ist es nicht. Coco weiß, dass ihr Lächeln immer öfter einfriert.

Puh … es ist vorbei.

Endlich vorbei.

Das heißt – es könnte morgen erst so richtig anfangen. Alles. Aber zumindest der Wahlkampf ist zu Ende. Drüben vor der Bühne, auf dem Marktplatz, rufen noch immer tausend Leute ihren Namen. Der improvisierte Backstagebereich hier bietet ihr ein bisschen Privatsphäre.

»Du warst so wunderbar, Coco«, sagt Tabea und reicht ihr die Wasserflasche.

»Wir waren alle wunderbar, das ganze Team«, erwidert Coco, wie sie es an dieser Stelle immer tut. Sie setzt an und trinkt. »Ihr seid alle wunderbar, vor allem … ähm, du.«

»Sina«, sagt das Mädchen verlegen.

»Sina, klar. Entschuldige.«

»Nicht schlimm«, sagt Sina.

»Doch«, widerspricht Coco bitter. »Ist es.«

Gott, peinlich! Noch vor einem halben Jahr wäre ihr das nicht passiert. Dabei ist Sina eine Sensation, macht gerade Abi und kandidiert parallel für den Bundestag. Zwar hat sie keine Chance auf das Direktmandat, hier in … verdammt, wie heißt jetzt die Stadt noch mal? Also jedenfalls hier in der ostdeutschen Provinz, aber Sina ist die Nummer eins auf der Landesliste von Sachsen-Anhalt, sie wird es nach Berlin in den Bundestag schaffen, eine Sensation, wie gesagt, aber wer kann sich denn bitte gleich so viele Sensationen auf einmal merken? Die Partei ist ja voller sensationeller Leute mit sensationellen Geschichten. Die eigentliche Sensation sollte die Partei selbst sein. FUTURE.

In achtzehn Monaten von null auf dreiundzwanzig Prozent.

Die Fülle an Sensationen verdampft in Cocos Kopf. Immer öfter. Wie jetzt gerade. Ein diffuser Dunst. Dabei ist sie doch selbst dieser Tage die größte aller Sensationen: Coco, Studentin, vierundzwanzig, laut Umfragen vielleicht Deutschlands nächste Kanzlerin. Den Tag heute mitgerechnet, ist sie während des Wahlkampfes einhundertdreimal aufgetreten, in einhundertdrei verschiedenen Städten, manchmal drei an einem Tag, erst gestern waren sie noch in … ja, wo denn bloß? Neue Langsamkeit steht fett auf den Plakaten, es steht fett über dem Wahlprogramm, sie hat es Tausende Male ausgesprochen, bis der Slogan völlig hohl geworden ist. Langsamkeit?

Coco legt den Kopf in den Nacken. Wenn sich jetzt ganz langsam einer der Querträger der Bühnenkonstruktion da oben lösen und direkt auf sie stürzen … tragisches Ende einer Blitzkarriere … plötzlich und unerwartet …

Sie versucht, das Bild fortzuwischen.

Draußen singen sie ihren Namen. Es klingt wie im Fußballstadion: »Coco Kanzlerin, schalalalala!«

Noch ein kurzer Blick nach oben. Der Träger sitzt bombenfest.

Sie gibt Tabea die Flasche zurück und fragt: »Steht dein Angebot noch? Du weißt schon – das Wochenendhaus deiner Eltern.«

»Klaro.«

»Gute Idee«, sagt Kerim, der mitgehört hat. »Da können wir ein bisschen runterkommen vor dem großen Tag.«

Coco legt eine Hand auf Kerims Arm und sagt leise, aber bestimmt: »Ich fahre allein.«

Kerim klappt den Mund auf, sagt aber nichts.

»Ich brauch ein paar Stunden nur für mich, okay?«

»Sicher.«

Sie wendet sich um, nimmt den Hut ab und fährt mit den Fingern über das dunkel schimmernde Band. Sie will allein sein, aber eigentlich auch nicht. Sie muss mit jemandem reden.

Gott, wie bescheuert! Sie hat seit Monaten praktisch nichts anderes mehr getan, als zu reden. Gefühlt mit allen achtzig Millionen Menschen in diesem Land, bis auf einen einzigen. Den, mit dem sie eigentlich am allerbesten reden kann. Den hat sie seit fast einem Jahr nicht mehr gesprochen.

Aber seine Handynummer hat sie noch.

Maikel kann es nicht lassen, er greift wieder nach dem Handy und suhlt sich in den Bildern und Videos. Twitter, Insta, Facebook, sie ist überall.

#post_corona_welt

#future

#wahlkampfabschluss

#cocomania

#cocokanzlerin

#die-mit-dem-hut

#fürchteteuchnicht

#neue_langsamkeit

Sie haben alles versucht. Posch und Maikel, die Akademie, die alternativen Medien bis hin zu Bot- und Trollarmeen. Aber ganz egal, was sie unternahmen: Coco und ihre Partei sind bloß immer stärker geworden.

Von wegen, FUTURE spielt die junge gegen die alte Generation aus? Unsinn. In der jubelnden Menge drängen sich Menschen jedweden Alters. Von wegen, FUTURE macht nur Politik für hippe Großstadt-Wessis? Unsinn. Die Abschlusskundgebung fand soeben in Quedlinburg statt, Landkreis Harz, Sachsen-Anhalt. Von wegen, ein Wahlsieg der Klimahysterikerinnen von FUTURE würde Zehntausende Menschen in die Arbeitslosigkeit stürzen? Unsinn. Auf der Bühne stand gerade sogar der berüchtigte Braunkohle-Bob und faselte von neuen Jobs in der Lausitz. Coco hat einfach …

Wieso steht jetzt ihr Name auf dem Display? Das Handy vibriert in seiner Hand. Maikel braucht eine Weile, um zu begreifen. Dann wirft er Posch einen Blick zu. Der glotzt in sein Cognacglas. Maikel zögert. Nach »damals« rief sie ihn eine Weile lang ständig an, er ging kein einziges Mal dran. Wann haben ihre Anrufe eigentlich aufgehört? Auch schon lange her.

Schließlich tippt er auf das grüne Icon.

»Hi.«

»Hey, Maikel. Ich weiß, du wunderst dich, dass ich dich gerade jetzt anrufe, und ich könnte fast verstehen, wenn du mich gleich wegdrückst.«

Komisch, plötzlich wieder ihre Stimme zu hören. Nicht im Fernsehen, Radio, Internet, sondern einfach so.

»Ich gratuliere dir erst morgen«, brummt Maikel.

Posch hebt den Kopf.

»Kann ich dich sehen? Ich muss … einfach dringend mit jemandem reden. Das ist alles so … die ganze Situation, ich meine: Gott, die Leute wollen, dass ich Kanzlerin werde und ich hab … ich muss einfach mit dir reden. Können wir uns sehen? Wo bist du gerade?«

»Im Büro, in Zscheproda. Die Akademie, für die ich arbeite – du hast vermutlich davon gehört.«

»Ich bin in der Nähe vom Harz, ich …«

»Ich weiß.« Er muss lächeln. »Quedlinburg. Sieht man ja auf allen Kanälen.«

Poschs Augen werden größer.

»Tabea, also Tabeas Eltern, die haben ein kleines Ferienhaus im Südharz. Ich bin auf dem Weg dahin. Hast du Zeit?«

Er kann Nein sagen. Schade, keine Zeit. Er kann anschließend zu Posch sagen, das wäre bloß irgendein alter Kumpel gewesen, jemand aus Maikels Zeit bei FUTURE. Wenn er jetzt Ja sagt … obwohl – das ist ja noch kein Todesurteil. Er kann es sich immer noch überlegen. Er hätte ein paar Stunden Fahrt, um eine Entscheidung zu treffen. Es liegt in seiner (in seiner!) Hand.

»Ja.«

»Danke! Echt. Ich schick dir die Adresse. Bis später.« Kurze Pause. »Ich freu mich.«

»Ich mich auch«, murmelt er und legt das Handy weg. Zittern seine Finger?

»Das war doch nicht etwa – sie?«, fragt Posch. Er hat sein Glas weggestellt. »Erzählen Sie schon, Maikel!«

»Sie will mich sehen«, flüstert Maikel. »Allein.«

»Ist das wahr?« Posch springt verblüffend behände auf. »Die Vorsehung reicht uns also im letzten Augenblick die Hand.« Er lacht leise. »Wir sollten die Vorsehung nicht enttäuschen. Kommen Sie mit.«

Maikel folgt seinem Chef aus dem Büro, über den Flur und die Treppe hinauf. Die hölzernen Stufen knarzen überlaut in der Stille, weil an diesem Samstag niemand hier ist außer ihnen beiden. Sie knarzen wie unter festen, entschlossenen Tritten, als wollten sie kaschieren, dass Maikels Beine puddingweich geworden sind. Poschs Büro liegt im zweiten Stock, unter dem Dach. Ein Blick über die endlosen Wälder, hinter denen die Welt so beruhigend weit weg erscheint.

Posch öffnet seinen Tresor und entnimmt ihm das Fläschchen Pentobarbital, das Maikel schon einmal in Händen gehalten hat. Es war doch nur ein Gedankenspiel, keine ernsthafte Option!

Damals hat er sich seltsamerweise nicht gefragt, warum Posch das Zeug überhaupt besitzt. Ob er es zu diesem oder einem ähnlichen Zweck besorgt hat oder vielleicht, im Fall der Fälle, für sich selbst?

»Ich glaube nicht, dass das jetzt noch irgendwas bringen würde«, sagt Maikel. Er findet selber, dass sich das wie eine Ausrede anhört. »Wir würden Coco doch bloß im letzten Augenblick zur Märtyrerin machen.«

»Haben Sie vergessen, dass wir über Suizid sprechen?«, entgegnet der Alte. Entweder bemerkt er Maikels Skrupel nicht oder er geht elegant darüber hinweg. »Selbstmörder sind Feiglinge. Wenn das noch heute Abend oder gleich morgen früh durch die Medien geht, wird das für FUTURE ein Schock sein. Die Coco-Jünger werden sich von ihr verraten und im Stich gelassen fühlen. Sie werden enttäuscht zu Hause bleiben. Nicht alle natürlich, nicht mal die meisten von ihnen. Aber die letzten Umfragen waren doch derart knapp, dass ein paar Tausend Stimmen den Unterschied machen können.«

Er hält Maikel das Fläschchen hin.

»Halten Sie das überhaupt für glaubhaft«, fragt Maikel. »Selbstmord?«

»Denken Sie an all die Gerüchte, dass Constanze Frahm an Burn-out leidet.«

»Gerüchte, die wir in die Welt gesetzt haben«, wendet Maikel ein.

Posch lächelt. »Manche Gerüchte erfüllen sich, wenn man sie nur oft genug wiederholt.«

Maikels Handy brummt. Coco hat ihm den Standort des Ferienhauses auf Google Maps markiert.

»Machen Sie sich keine Sorgen um Ihr Alibi. Erinnern Sie sich daran, was wir besprochen hatten.« Posch legt ihm väterlich eine Hand auf die Schulter. »Sind Sie bereit, Ihr Land zu retten?«

Zögernd streckt Maikel die Hand aus und steckt das Fläschchen ein. Es schaudert ihn. Wie ungeheuerlich! Jetzt wäre es hilfreich, Hass zu spüren. Hass ist die Waffe gegen Zweifel. Er ruft sich das Bild ins Gedächtnis. Coco und Kerim. Es funktioniert.

»Ich melde mich, Herr Posch.«

Coco biegt auf die Autobahn und fädelt sich in den Verkehr ein. Ein alter Golf. Freunde von Freunden von Tabea haben ihn spontan aufgetrieben und Coco, die eigentlich nur im absoluten Notfall ein Auto benutzt, hat ihren großen Rucksack auf die Rückbank geworfen und ist losgefahren. Hier handelt es sich ja irgendwie tatsächlich um einen Notfall. Das Handy steckt in einer Halterung an der Frontscheibe und zeigt ihr den Weg durch die sattgrüne Landschaft. In den Mittelgebirgen beginnt der Frühling später als anderswo. Alles so frisch und unverbraucht, explodierende Lebenslust, bereit für einen neuen Anfang. Der perfekte Moment für eine historische Zäsur. Das morgige Datum hat sich ihr in die Stirn eingebrannt.

Gott, es könnte wirklich passieren!

Die ganze Zeit über ist ihr das wie ein witziges Gedankenexperiment vorgekommen, sogar heute Morgen noch. Bundeskanzlerin. Mit Tabea und Kerim ist sie vor ein paar Wochen den Organisationsaufbau des Kanzleramts durchgegangen. Sie haben versucht zu verstehen, was all die verschiedenen Funktionen überhaupt bedeuten, und dann haben sie überlegt, wer bei einem Wahlsieg welchen Job kriegen sollte. Tabea natürlich Büroleiterin, wie jetzt quasi auch schon. Kerim meinte im Scherz, er würde gern die Leitung der Geheimdienste übernehmen, aber Coco dürfte ihn vor allem in der Fraktion brauchen. Kanzleramtsministerin sollte lieber irgendjemand mit Erfahrung im Berliner Politikbusiness werden – Gizem oder jemand anderes von den Ü30-Leuten. Alles rein theoretische Gedankenspiele, wie gesagt. Was haben sie gelacht, während sie Namen in das Organigramm kritzelten. So wie wenn du dir mit dreizehn ausmalst, dein eigenes Leben würde mal verfilmt, und du überlegst, welcher Hollywoodstar welchen Mitschüler verkörpern könnte. Doch in dem Augenblick, als Coco vorhin die Bühne verließ, da ist es ihr jäh bewusst geworden: Es kann passieren!

Aber lebt sie nicht längst schon in dieser Politikblase? Ohne dass sie es sich bis jetzt richtig klargemacht hat? Meetings und Briefings, Interviews und Homestorys, 17-Stunden-Tage vom Pressefrühstück bis zum Spendendinner und Tabea schickt ihr stets die aktuellen Hintergrundinfos aufs Handy und Kerim die Stichworte für die Liveschalte mit den Tagesthemen und irgendjemand hat währenddessen vegane Sandwiches besorgt und jemand anderes ist zum Waschsalon geflitzt und hat ihre Klamotten gewaschen. Von wegen: neue Langsamkeit. Sie kann sich kaum erinnern, wann sie zuletzt selbst gewaschen hat. Oder geputzt oder gekocht. Sie hat zwar keinen Hunger – seit Wochen schon hat sie eigentlich keinen Hunger mehr –, aber sie hat plötzlich Lust zu kochen. Sie könnte ja irgendwo anhalten und ein paar Lebensmittel kaufen. Doch das hieße wieder Autogramme geben und für Selfies lächeln und vermutlich auch, von irgendwelchen Hatern beschimpft zu werden. Sie schaltet das Radio ein.

»… hat zur selben Zeit auch FUTURE nochmals seine Anhänger mobilisiert. Bei der Abschlusskundgebung im sachsen-anhaltinischen Quedlinburg betonte Spitzenkandidatin Constanze Frahm, dass die morgige Wahlentscheidung …«

Coco drückt Knöpfe, überall laufen jetzt Nachrichten, es gibt kein Entkommen – ah, doch. Fußballbundesliga. Bayer Leverkusen mit erdrückendem Ballbesitz, doch die Werkself schafft es nicht, ihre Dominanz in zählbare Ergebnisse umzusetzen, sprich: endlich ein Tor zu erzielen.

Sie macht das Radio aus und gibt sich dem beruhigenden Brummen des alten Benzinmotors hin. Auf dem Beifahrersitz liegt der Hut.

Ich scheiß auf FUTURE, hat Maikel damals gesagt. Und ich scheiß auf dich, Coco. Leb wohl.

Natürlich hat sie niemandem erzählt, dass sie ihn angerufen hat. Die anderen hätten sicher versucht, es ihr auszureden.

Der Gedanke, ihn heute Abend wiederzusehen, prickelt auf ihrer Haut. Fast mehr als der Gedanke an morgen. Er hat etwas ähnlich Verruchtes an sich wie ihr erster Kuss damals.

Damals, am Beginn der Pandemie, war Social Distancing angesagt und Fremde zu küssen hätte fast schon als eine Art fahrlässiger Tötung gelten können. Das heißt – eigentlich kannte Coco niemanden, der ernsthaft Angst davor hatte, sich selbst mit dem Virus zu infizieren. Aber es ging darum, die Ausbreitung zu stoppen, um nicht Zehntausende von Toten zu riskieren. Darum waren Unis und Schulen und Clubs und Kinos und Kneipen und fast alles andere geschlossen und natürlich würde es keine Party zum Semesterbeginn geben.

Wenn es eine Party gegeben hätte, wären Coco und Maikel sich womöglich gar nicht über den Weg gelaufen. Doch es gab eben keine Party in jenem Frühjahr, dafür andauernd alle möglichen Videokonferenzen – zum Austausch mit der Lerngruppe aus der Uni oder zur Vorbereitung auf die Bachelorarbeit oder einfach zum Quatschen mit den Freundinnen aus der Schulzeit in Leverkusen. Oder als Online-Workshop von und für Fridays for Future. Coco fand solche Meetings wahnsinnig anstrengend, ohne dass sie sagen konnte, wieso genau. Nach einer halben Stunde hatte sie regelmäßig genug davon, auf die vielen kleinen Gesichter in den vielen kleinen Rechtecken zu starren. Dann begann sie, in anderen Tabs ihres Browsers stumme Filmchen anzusehen oder ihre E-Mails zu checken oder ihr Bankkonto, während sie hoffte, dass die Aufmerksamkeitsanzeige der Software tatsächlich deaktiviert war. Außer an diesem Nachmittag Ende März, an dem ihre Mitbewohnerin Tabea sie freundlich genötigt hatte, an einem Treffen zur Planung des nächsten Klimastreiks teilzunehmen. Der Streiktag sollte nach den Osterferien stattfinden, in der ersten Woche des neuen Semesters, und fiel natürlich wie alles andere auch dem Virus zum Opfer. Stattdessen sollte online gestreikt und demonstriert werden und mit Plakaten an den Fenstern und auf den Balkonen.

»Wenn wir mal ehrlich sind«, sagte gerade ein Typ mit Hut auf dem Kopf, »kam Corona gerade zum richtigen Zeitpunkt für uns. Ich hatte schon länger den Eindruck, dass der Bewegung die Puste ausgeht. Wisst ihr, was ich meine?«

Coco wusste es nicht, aber sie fand es trotzdem interessant, weil dieser Typ nicht nur einen sehr coolen Hut trug, sondern auch hinreißende Sommersprossen hatte. Unten links stand sein Name: Maikel.

»Zu den Demos sind zuletzt immer weniger Leute gekommen«, fuhr Maikel fort, »und zugleich haben viele aus der Bewegung immer mehr gearbeitet, rund um die Uhr, bis zum Umkippen. Mir fallen auf Anhieb zwei, drei Leute ein, die der Lockdown quasi vor dem Burn-out gerettet hat.«

Er hockte auf einem Bett, vielleicht ein WG-Zimmer. Trug er den Hut immer auch indoor oder bloß, wenn eine Kamera lief? Na, jedenfalls stand er ihm. Keine Frage.

»Aber genau jetzt dürfen wir nicht nachlassen«, sagte Tabea. Das klang ein bisschen spooky, denn Coco hörte Tabeas Stimme zuerst aus dem Nebenzimmer und dann einen Sekundenbruchteil zeitversetzt über den Lautsprecher ihres Laptops. Coco stöpselte die Kopfhörer ein, drehte eine ihrer langen Locken um den Zeigefinger und versenkte sich in die Betrachtung des Sommersprossengesichts unter dem Hut, während Tabea sagte: »Immerhin hören die Politikerinnen und Politiker jetzt endlich mal auf die Wissenschaft, zumindest beim Thema Corona. Das ist doch was, oder? Davon kann die ganze Gesellschaft was mitnehmen. Und wenn die Krise vorbei ist, müssen wir gut aufgestellt sein, damit wir …«

Coco ließ ihre Locke los, öffnete den Chat und schrieb diesem Maikel eine PN: Was sollten wir denn dann deiner Meinung jetzt tun, statt einfach weiterzumachen wie bisher?

»… und dann werden wir bereit sein«, sagte Tabea nebenan.

Es war irgendwie affig, zu zweit in derselben kleinen Wohnung zu sitzen und an zwei verschiedenen Geräten dieses Meeting zu verfolgen – ökologisch erst recht Quatsch. Aber sich zu zweit einen Bildschirm zu teilen war bloß noch nerviger, sie hatten es schon ausprobiert. Und außerdem hätte Coco auf diese Weise nicht privat chatten können.

Spazierengehen, schrieb Maikel zurück. Das macht den Kopf frei.

Und wo spazierst du so?, fragte Coco. Wohnst du auch hier in Köln?

Ja. Und ich suche noch eine Person, die mir spaziert. Natürlich mit 1,5 m Sicherheitsabstand.

Dating in Zeiten der Ausgangsbeschränkungen – es hatte den Reiz des Verbotenen. Coco fuhr mit der fast menschenleeren Straßenbahn hinüber auf die linke Rheinseite und traf Maikel im Volksgarten, wo sie an der Terrasse des verschlossenen Restaurants mit den angeketteten Tischen und Stühlen vorbei und unter den blühenden Bäumen um den kleinen Weiher herum flanierten. Das war schön. Und mit ihm zu reden war noch schöner. Meistens kamen ihr Jungs oder Männer entweder zu einsilbig vor oder sie laberten zu viel herum, ohne richtig etwas zu sagen. Bei Maikel hatte sie das Gefühl, er brauche nie ein Wort zu viel und auch keines zu wenig. Müßig zu überlegen, ob es sich auch unter normalen Umständen so perfekt angefühlt hätte – die Zeiten waren eben nicht normal, und niemand wusste, ob sie es je wieder werden würden und wann. Irgendwann blieben sie stehen und Maikel unterschritt den Sicherheitsabstand.

Und Coco schob ihm den Hut aus der Stirn und küsste ihn.

Küssen und Reden lässt sich praktischerweise auch sehr gut im Bett, das kam der allgemeinen Situation entgegen. Maikel verzichtete darauf, an Ostern zu seinen Eltern nach Bremen zu fahren, und auch Coco, deren Elternhaus nur ein paar Kilometer weiter weg in Leverkusen stand, verlegte das österliche Familientreffen ins Internet. So verbummelten die beiden etliche halbe Tage im Bett und diskutierten über Virologie und Klimawandel oder über die ziemlich unbefriedigende Rolle, die Prinz Philip, Duke of Edinburgh, als Ehemann an der Seite der britischen Königin zu spielen hatte – jedenfalls in der Netflix-Serie The Crown, die Coco und Maikel sich bingewatchingmäßig reinzogen. Auch die ständigen Online-Meetings und die Livestreams der zum neuen Semester wieder einsetzenden Vorlesungen ließen sich vom Bett aus verfolgen. Selbst der Online-Klimastreik wäre vom Bett aus möglich gewesen, und sie kamen sich ein bisschen wie John Lennon und Yoko Ono vor, die vor einem halben Jahrhundert etwas Ähnliches praktiziert hatten.

Doch Tabea sorgte dafür, dass sie aus dem Bett rauskamen. Sie bollerte an Cocos Tür und rief: »Los, raus, wir müssen Plakate verteilen! Ihr beiden kommt gefälligst mit.«

»Man darf aber nur maximal zu zweit rausgehen«, widersprach Maikel.

Da polterte Tabea ganz ungeniert ins Zimmer, zeigte auf ihn und sagte streng: »Leute, die zusammen in einem Haushalt leben, können zusammen draußen rumlaufen, auch wenn sie mehr als zwei Personen sind. Und du wohnst ja quasi schon längst hier.«

»Aber ich bin später noch mit ’nem Kumpel verabredet«, wehrte Maikel ab. »Auch zum Plakate-Aufhängen, drüben in der Südstadt.«

»Schreib ihm, dass er rüberkommen soll«, brummte Tabea. »In der Südstadt muss man eh niemanden mehr überzeugen. Hier im Rechtsrheinischen schon, wir brauchen jede helfende Hand.«

»Aber die Regeln?«

»Dann bilden wir halt zwei Zweiergruppen. Ich mach schon mal Kaffee.«

Tabea dampfte ab und knallte die Tür hinter sich zu.

Maikel kroch wieder unter die Bettdecke, legte seinen Kopf auf Cocos Bauch und fragte: »Ist deine Mitbewohnerin immer so ironiefrei?«

»Nee, sonst ist die ganz witzig«, meinte Coco. »Aber beim Klima kennt sie kein Pardon. Und sie organisiert für ihr Leben gern.«

»Na, dann.« Maikel robbte unter der Decke hervor und setzte sich auf. »Lass uns gehorchen. Wenn ich bei deiner Mitbewohnerin verkacke, hat unsere Beziehung keine Chance.«

Beziehung, dachte Coco. Hatten sie eine Beziehung? Der Lockdown erschien ihr manchmal wie ein verworrener Traum. Zwischendurch hielt sie es für denkbar, dass sie eines Tages aufwachte und nicht nur das Virus wäre fort, sondern auch Maikel. Beide hatten gleichermaßen etwas seltsam Unwirkliches an sich. Sie kannte Maikel kaum vier Wochen und bis jetzt hatten sie so gut wie nichts miteinander erlebt außer Sex und langen Gesprächen und Pizzabestellen und Serienschauen. Andererseits gab es sicher Leute, deren Ehe über Jahrzehnte hinweg so funktionierte.

»Außerdem«, schob er nach und grinste, »hab ich mir so viel Mühe mit dem Schild gegeben.«

»Gott!«, stöhnte sie. »Wenn’s sein muss.«

Sie schwang sich aus dem Bett und betrachtete Maikels Klamotten, die auf dem Boden verstreut lagen. Spontan griff sie nach seinem Panamahut, setzte ihn auf und stellte sich vor den Spiegel. Ihr langes Haar quoll darunter hervor wie ausgegossenes Gold.

»Kann ich so an der Demo teilnehmen?«

»Nackt teilnehmen ist kein Problem«, meinte er. »Hängt nur davon ab, wie du die Kamera ausrichtest. Ich glaub eh, dass die Hälfte der Leute bei diesen Online-Konferenzen in Wirklichkeit ohne Hose im Bett sitzt. Oder höchstens mit Schlafanzug.«

Coco lachte.

»Ich meine doch den Hut, Mann. Findest du, dass er mir steht?«

»So was von«, sagte er. »Besser als mir, wenn du mich fragst. Nicht nur, weil du nackt bist.«

Coco legte den Kopf schräg und fummelte ein paar Strähnen unter dem Hut hervor. Drückte die Brust raus, reckte das Kinn, drehte sich ins Profil. Sie war nicht mehr vierzehn, sie war erwachsen und kam damit klar, eins vierundachtzig groß zu sein; sie musste schon lange nicht mehr dauernd den Kopf und die Schultern nach vorn hängen lassen, weil ihr die eigene Größe unangenehm war. Aber mit Hut, nee. Too much. Sie drehte sich um und warf Maikel den Hut wie einen Frisbee zu. »Dein Ding, Indiana Jones.«

Als sie wenig später angezogen in die WG-Küche kamen, betrachtete Tabea gerade das große Pappschild, das Maikel gestern Abend gebastelt hatte. Es zeigte ein rundes Verkehrszeichen – Höchstgeschwindigkeit 130 – und darunter den Schriftzug: »Tempolimit ist kein Grund für Kastrationsangst!«

»Warum schaust du so kritisch?«, fragte Coco.

»Weiß nicht«, meinte Tabea. »Ich versteh ja die Aussage … aber irgendwie find ich phallische Metaphern immer ein bisschen alte-weiße-Männer-mäßig.«

»Aber genau um die geht’s doch«, widersprach Maikel, »die alten weißen Männer. Das sind die Letzten, die sich noch gegen ein Tempolimit wehren. Gerade jetzt, wo wegen Corona die Autobahnen leer sind, drücken sie richtig auf die Tube, als wollten sie unbedingt, dass die Leitplanke dem Virus zuvorkommt. Gestern Abend fandest du’s noch cool.«

»Da hatte ich auch acht bis neun Gläser Pinot Noir.«

»Man muss die Leute eben da abholen, wo sie stehen«, meinte Coco und goss Kaffee in ihren Thermobecher. »Beziehungsweise wo sie rasen.«

»Von mir aus.«

Sie klemmten sich weitere schon vorbereite Plakate und Pappschilder unter die Arme und zogen los.

War Tabea ironiefrei, wie Maikel meinte? Nee, natürlich nicht, überlegte Coco. Nur im Vergleich zu ihr viel klarer, viel konsequenter. Wütender irgendwie auch. In den Metropolen dieses Landes ist ein links-alternativer Lebensstil vor allem erst mal das: ein Lifestyle. Im ländlichen Sachsen-Anhalt hingegen war das eine Entscheidung, die einen eine Menge Freunde kosten konnte, so hatte Tabea das mal erklärt. Vielleicht war ihre Jugend auf dem Lande einfach härter gewesen als Cocos Aufwachsen hier am Rhein. Von Cocos Elternhaus bis zur Uni fuhr man nicht länger als von dem heruntergekommenen Haus in Köln-Kalk, wo sie und Tabea seit eineinhalb Jahren wohnten. Cocos Vater Thorsten hatte es eine hirnrissige Idee genannt, nach Köln zu ziehen, wo doch die Mieten gerade explodierten, aber Coco wollte halt das richtige Studileben mit WG und so. Tabea war die perfekte Mitbewohnerin. Sie hatten sich an der Uni kennengelernt und Coco hatte Tabeas Enthusiasmus bewundert, sie sogar ein klein wenig darum beneidet. Tabea war von Anfang an »dabei« gewesen, also bei Fridays for Future, als noch kaum jemand den Namen Greta Thunberg kannte, und hatte Coco förmlich mitgerissen, sie zu den Demos mitgenommen und zu Vorträgen und Diskussionsrunden. Schnell hatten beide Frauen festgestellt, dass sich Tabeas preußische Strenge – nicht nur beim Klimaschutz – mit Cocos rheinischer Leichtigkeit gut ergänzte. Schließlich will niemand einen Planeten retten, auf dem alle Leute schlechte Laune haben.

»Hier, der Baum wäre gut für ein Plakat«, meinte Tabea. »Und da drüben die Straßenlaterne.«

Maikel zog einen Kabelbinder durch die vorgebohrten Löcher und befestigte das Teil.

»Hey, Maikel!« Der Typ stand plötzlich vor ihnen. Vollbart, Männerdutt, breites Lächeln. »Alter, da bist du ja. Ihr seid ganz schön fleißig, wie?«

»Hi«, nuschelte Maikel mit einem zweiten Kabelbinder zwischen den Zähnen und nickte zu den beiden Frauen hin. »Das – das sind Constanze …«

»Coco«, warf Coco ein, »so nennen mich alle.«

»… und Tabea. Und das ist Lutz. Wir kennen uns aus der Germanistik und waren letztes Jahr oft zusammen bei den Demos.«

Er zog den zweiten Kabelbinder fest und betrachtete sein Werk.

Lutz nickte den beiden Frauen zu und sagte: »Cooles Schild, Tabea.«

Tabea deutete mit dem Daumen auf Maikel und meinte: »Ist von ihm.«

»Ah«, machte Lutz, »du bist deiner Männerkiste treu geblieben.«

»Was für eine Männerkiste?«, fragte Coco.

»Habt ihr übrigens das mit der Parteigründung mitgekriegt?«, fragte Lutz übergangslos.

Maikel schüttelte den Kopf. »Eine Partei?«

»Da war jetzt so ’ne Diskussion auf dem Discord-Channel der AG Struktur. Ein paar Leute haben vorgeschlagen, eine Partei fürs Klima zu gründen. FUTURE.«

»Nie gehört«, sagte Maikel. »Ehrlich gesagt war ich in den letzten Wochen nicht so wahnsinnig aktiv, ich hab mehr so …«

Seitenblick auf Coco, Grinsen, seine Sommersprossen tanzten.

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, sagte Tabea, die anscheinend voll informiert war. »’ne Menge Leute meinen, dass das der Anfang vom Ende der Klimaschutzbewegung wäre. Wir stehen doch schließlich hier, um die Parteien aufzurütteln, die es schon gibt. Um Druck auf die Politik zu machen. Man kann nicht Druck auf etwas machen, von dem man selbst ein Teil ist.«

»Ja, schon klar.« Lutz nickte. »Vor zwei Monaten hätte ich das auch gesagt. Da war ich sicher, dass Parteien sowieso nichts bringen, nur Kampagnen und Aktionen. Aber durch Corona ist alles anders geworden. Die Leute vertrauen plötzlich wieder der Politik, den klassischen Medien und so. Und irgendwie geht es ja inzwischen auch um viel mehr als nur das Klima.«

»Nur das Klima?«, wiederholte Tabea argwöhnisch. »Was heißt denn: nur?«

»Ich denke, es geht um eine komplett neue Art zu leben«, sagte Lutz. »Schaut mal – wir sehen doch durch den Lockdown, wie schnell eine ganze Gesellschaft sich aus ihren Gewohnheiten lösen kann, wenn sie bloß mal kapiert, wie viel auf dem Spiel steht. Und eine solche neue Art zu leben müsste man irgendwie … na, mir fällt kein gutes Wort dafür ein.«

»Hey, ihr Studenten!« Auf der anderen Straßenseite hatte sich im ersten Stock eines Hauses ein Fenster geöffnet und ein Mann im Feinrippunterhemd beugte sich heraus. »Ihr seid doch Studenten, oder? Das Kontaktverbot gilt immer noch, falls ihr das nicht mitgekriegt habt!«

Tabea holte schon Luft, um eine deftige Erwiderung über die Straße zu brüllen, doch Lutz sprach unverdrossen weiter: »Jedenfalls – wer, wenn nicht wir, hat denn die Visionen und die Kompetenzen, um politisch für eine neue Lebensart zu kämpfen? Also der Plan ist, Anfang August mit einem großen Barcamp zu starten. Natürlich nur, wenn bis dahin wieder Versammlungen stattfinden dürfen.«

»Seid ihr taub?«, rief der Kerl im Unterhemd. »Sollen wir normalen Leute wegen so Hanseln wie euch am Ende alle krepieren? Ich ruf gleich die Polizei!«

»Ja, machen Sie nur«, rief Tabea. »Ohne Klimaschutz krepieren wir eh.«

»Wär doch vielleicht auch was für dich, Maikel«, sagte Lutz, wobei er immerhin zwei Schritte rückwärtsging, um eine Art Distancing zu simulieren. »Ich meine dieses Barcamp. Du könntest sicher einen Workshop zu deiner Männersache anbieten.«

»Was ist das denn jetzt für eine Männersache?«, wollte Coco wissen.

»Ich hatte ein literaturwissenschaftliches Seminar, da ging es um Männlichkeit.« Kurz sah Maikel zu Boden, als sei das ein schlüpfriges Thema. »Also – was für Fiktionen stecken dahinter, welche Bilder und Konstrukte gibt es da, was ist dran an der Rede von toxischer Männlichkeit, solche Sachen.«

»Wow, das find ich gut«, sagte Tabea mit ihrem Preußenernst im Blick. »Ich predige schon seit Jahren, dass Genderthemen nicht nur was für Frauen sind. Und überhaupt – dass Männer lernen, ihre Männlichkeit neu zu definieren.«

»Also die Definition von letzter Nacht fand ich eigentlich schon ganz …« Coco brach ab. »Wirst du etwa rot, Maikel?«

Sie fasste seinen Kopf mit beiden Händen und küsste ihn. Tabea runzelte die Stirn. Wobei – es war doch witzig, oder nicht? Gerade diese ganzen Gendersachen sollte man viel unverkrampfter sehen, fand Coco. Sie boxte Tabea kumpelhaft gegen die Schulter und sagte: »Sorry. Verliebte sind manchmal peinlich.«

»Anzeige ist raus!«, rief der Mann von seinem Fenster aus und hielt mit triumphierendem Blick sein Handy in die Höhe.

»Na gut, lasst uns mal lieber auseinandergehen«, sagte Maikel. »Ich hab schon von Leuten gehört, die mussten zweihundert Euro abdrücken, weil sie zusammen im Park saßen.« Er gab Coco einen Kuss und sagte: »Ich zieh noch was mit Lutz weiter. Kommst du später zu mir?«

»Wenn wir bis dahin nicht im Knast sitzen«, antwortete Coco.

Die beiden Männer wandten sich zum Gehen und Coco sah ihnen nach.

»Verrückte Idee, eine Partei zu gründen«, sagte Tabea, »und das mitten in der Pandemie. Kann mir kaum vorstellen, dass in diesem Sommer irgendwo so was wie ein Barcamp stattfinden wird.«

»Nee«, meinte Coco nur. Ein Barcamp oder Kongress oder dergleichen wäre ohnehin das Letzte, was ihr einfiele, wenn sie an den Sommer dachte. Vielmehr sah sie Weinberge und Pinienhaine und wilde Atlantikwellen vor sich, und ganz kurz zog die plötzliche Sehnsucht ihr die Brust zusammen, so stahlhart und körperlich griff das Fernweh nach ihr. Eigentlich war der Plan gewesen, in diesem Semester die Bachelorarbeit zu schreiben und dann nach dem Abschluss für ein paar Wochen mit Zelt und Rucksack durch Frankreich, Spanien und Portugal zu touren, vielleicht allein, vielleicht mit ein paar Leuten, und dann im Herbst ins Masterstudium zu starten. Aber in diesem Frühjahr schien es fraglich, ob es im Sommer überhaupt wieder erlaubt sein würde, ins Ausland zu reisen.

Wie das klang, wenn man sich solche Worte durch den Kopf gehen ließ: Reisen ins Ausland erlaubt … solche Formulierungen kannte Coco bloß aus Fernsehdokus über die DDR und den Mauerfall. Wobei – damals hatten sich ja auch mitten in der allgemeinen Unsicherheit Leute zusammengefunden, um neue Parteien zu gründen. Konnte man das vergleichen? Nee, eher nicht. Damals hatte bestimmt Aufbruchstimmung geherrscht, jedenfalls kein Lockdown.

Vielleicht kam die Idee der Parteigründung auch bloß daher, dass die Leute sich nach irgendeiner Perspektive sehnten, nach irgendeinem Projekt über den Tag hinaus.

Ob Maikel eigentlich auch so ein Projekt war?, fragte sie sich unwillkürlich. Über den Tag hinaus?

Als sie an diesem Abend in seinem Bett lag, fragte sie ihn: »Was genau verstehst du eigentlich unter toxischer Männlichkeit?«

Maikel griff zu seinem Handy, suchte in seinen WhatsApp-Chats nach einem Bild und hielt es ihr hin. Sah aus wie ein Ausschnitt aus einem Porno, fotografiert aus der Sicht eines Mannes, der ein sehr junges Mädchen von hinten penetriert und mit einer Hand die beiden langen Zöpfe des Mädchens festhält, als wären es die Zügel eines Pferdes. Darunter stand: Klima-Gretel wird ökologisch sauber recycelt.

Coco nahm das Handy und scrollte einmal hinauf und wieder hinunter.

»Gott, wer schickt dir so einen Scheiß?«

»Ein Typ aus meinem Abijahrgang. Jerko. Das ist ’ne WhatsApp-Gruppe von den Jungs, mit denen ich früher rumgehangen hab, damals in Bremen.«

Sie scrollte wieder nach unten. Maikel hatte geschrieben: Jerko, du arme Wurst. Brauchst du solche Wichsvorlagen, weil du sonst keinen hochkriegst aus lauter Angst, dass Mädchen mit eigener politischer Meinung deine Männlichkeit bedrohen?

Darauf folgten Antworten wie: Alter, hast du deinen Humor verloren? Oder: Ist es schon so weit, dass wir uns sogar hier unter Buddys selber zensieren müssen? Bald darf man gar nix mehr sagen.

Maikel nahm ihr das Handy wieder aus der Hand und sagte: »Keiner von den Jungs ist irgendwie rechts oder ein sogenannter Klimawandel-Leugner oder so was. Die finden das einfach nur lustig. Aber dahinter steht diese Rollenzuschreibung: Als Mann lässt du dir von einer Frau nichts vorschreiben. Du hast die Macht und dein Pimmel ist dein Zepter.«

»Sag mal, übertreibst du da nicht ein bisschen?«

»Im Gegenteil. Hast du mal ernsthaft Songtexte von Leuten wie Kollegah oder Farid Bang angehört? Wo alle Frauen Schlampen sind außer Mutti, wo geile Autos und goldene Uhren deinen Status definieren und jeder Kerl ’ne Schwuchtel ist, der nicht seine Feinde disst, indem er deren minderjährige Töchter in den Arsch fickt?«

»Ähm … nein. Hab ich nicht. Ich hör eher Lizzo oder Missy Elliot, aber die haben auch ziemlich explizite Texte.«

»Es geht nicht darum, ob die Texte explizit sind. Sondern um die Zuschreibungen dahinter. Wenn Kollegah dir sagt, dass du dringend der Boss sein sollst, weil du sonst kein richtiger Mann bist, und dass du dazu einen Boss-Cock brauchst, ist das ja nur die extremste Form der Botschaft. Es beginnt natürlich viel früher. Dass du auch im einundzwanzigsten Jahrhundert als Junge noch komisch angeguckt wirst, wenn du im Kindergarten mit Puppen spielst. Oder wenn du dich für Gedichte interessierst statt für fette Autos. Oder wenn du auf Tanzen stehst statt auf Fußball.«

»Hm …«, machte Coco und schaute zur gegenüberliegenden Wand, an der ein ziemlich großer Wimpel des SV Werder Bremen hing.

»Findest du, dass man dir deine Begeisterung für Fußball aufgezwungen hat?«, fragte sie. »Falls du dich umorientieren willst, könnte ich dir zumindest einen besseren Verein anbieten.«

Maikel lachte. »Bevor ich Fan von einem Plastikclub wie Bayer Leverkusen werde, geh ich lieber zum Bodenturnen. Aber ohne Scheiß: Ich will doch nicht, dass man alle Jungs umerzieht. Ich will nur, dass Jungs und Männer die Wahlfreiheit haben. Ohne sich erst mühsam aus einer Schublade rauskämpfen zu müssen. Ich meine – ich stehe auf Fußball und auf Gedichte. Und ehrlich gesagt fände ich es sehr geil, in einem Porsche Cayenne mit zweihundertvierzig Sachen über die Autobahn zu brettern. Ich habe aber die Freiheit, es bleiben zu lassen. Weil ich halt auch verstehe, dass SUVs Klimakiller sind und außerdem tödliche Waffen im Straßenkampf des Großstadtdschungels. Ich habe die Freiheit, statt im Porsche auf meinem alten Hollandrad durch die Stadt zu cruisen, ohne dass ich mich deswegen weniger männlich fühle. Und ich will dafür kämpfen, dass jeder Junge und jeder Mann diese Freiheit erleben kann.«

»Verstehe. Aber ein Boss sein, das würdest du auch ganz gern, oder?«

Er setzte sich auf. »Wie meinst du das?«

»Du kannst gut reden«, sagte sie, »du hast eine klare Haltung und die kannst du gut rüberbringen. Sicher wirst du ein guter Lehrer, Deutsch und Geschichte, deine Studienfächer, das passt perfekt. Aber du könntest genauso gut in die Politik gehen.«

»Du denkst an diese Partei, die sie gründen wollen?«

Coco nickte und sah ihn vor sich, wie er im Bundestag am Rednerpult steht. Die tanzenden Sommersprossen, den Hut. Ob man im Bundestag wohl einen Hut tragen durfte? Er würde sich fulminante Redeschlachten mit den AfD-Leuten liefern und die Videos davon würden viral gehen. Doch etwas an diesem Bild störte sie, und schließlich kam sie drauf.

»Aber ich glaube auch«, sagte sie und räusperte sich. »Ich glaube, wenn du wirklich was verändern willst, dann darfst du diese toxische Männlichkeit nicht mit toxischen Mitteln bekämpfen.«

Er schaute ernsthaft überrascht. »Welche toxischen Mittel?«

»Abwertung«, sagte sie. »Was du in dieser WhatsApp-Gruppe geschrieben hast. Dass dein alter Kumpel keinen mehr hochkriegt. Das ist ja kein Argument, sondern du machst ihn lächerlich, mit genau demselben Kackbild von Männlichkeit. Oder dein Schild heute an dieser Ampel. Von wegen Kastrationsangst.«

Maikel schwieg und sah an die Decke. Schließlich murmelte er: »Guter Punkt. Darüber muss ich mal in Ruhe nachdenken.«

»Das glaub ich dir sogar.«

»Hä? Was jetzt?«

»Dass du drüber nachdenkst. Das ist doch eigentlich eine Phrase, mit der man ein unliebsames Thema beendet. Komischerweise trau ich dir aber zu, dass du dir wirklich die Zeit nehmen wirst, darüber nachzudenken.«

Er wandte das Gesicht zu ihr und schaute sie an, als sähe er sie zum allerersten Mal.

»So was hat noch nie jemand zu mir gesagt. Du bist echt … tiefgründig.«

Coco musste lachen.

»Das hat wiederum zu mir noch nie einer gesagt. Dass ich tiefgründig wäre. Ich glaube, die meisten Leute halten mich eher für oberflächlich.«

»Wer?«

»Meine Eltern. Meine große Schwester. Tabea sicher auch. Und eigentlich haben sie recht. Ich halte mich selber auch für oberflächlich, ehrlich gesagt.«

»Warum das denn?«

»Keine Ahnung. Muss ich wohl ebenfalls mal in Ruhe drüber nachdenken.«

»Vielleicht ist das der Schlüssel. Das in Ruhe nachdenken.«

»Versteh ich nicht. Ruhe?«

»Ja.« Er nickte. »Nenn es meinetwegen Entschleunigung. Wir sehen doch jetzt gerade im Lockdown, auf wie viele Dinge man verzichten kann. Und dass Achtsamkeit keine Phrase ist. Ich bin echt mal gespannt, ob am Ende der Krise davon was übrig bleibt. Oder ob wir uns anschließend noch mehr Stress und Druck machen, um die Wirtschaft wieder aufzubauen, bevor das nächste Virus zuschlägt.«

Coco runzelte die Stirn und schaute an die Decke. Eigentlich war sie immer ganz gut darin gewesen, gegen die Uhr zu spielen, sie war immer hauchdünn just in time, sowohl mit den Creditpoints an der Uni wie auch mit ihren Buzzerbeatern beim Basketball. Oder beim Bouldern: gucken, entscheiden, zupacken, hochziehen. Sie konnte blitzschnell Bilder, Wörter, ganze Texte erfassen, als bestünde der ganze Alltag aus Swipen wie bei Tinder. Was sie für Oberflächlichkeit hielt, war vermutlich der Preis dafür. Wer virtuos über die Oberfläche surft, kann nirgendwo tiefer eindringen. Aber dieses Hochgeschwindigkeitsleben war in diesem Frühjahr gegen eine unsichtbare Wand namens COVID-19 geknallt und zu Boden gegangen und da lag es nun und staunte über seine umherkullernden Einzelteile, die irgendwie nur noch wenig Sinn zu ergeben schienen.

Hinter der Wand lag Leere.

Sie inhalierte Maikels Geruch und genoss seine Nähe.

Maikel brachte in ihr was zum Klingen und sie in ihm.

Sie schlug die Bettdecke zurück, drehte sich zu ihm und setzte sich rittlings auf Maikels Schoß.

»Danke für deine Gedanken«, flüsterte sie und küsste ihn. »Aber eine Frage hab ich noch. Die Sache mit dem Porsche. Dass du lieber mit deinem Hollandrad fährst und dass das für dich Freiheit bedeutet, das klingt ziemlich gut.«

»Nicht wahr?« Er vergrub sein Gesicht zwischen ihren Brüsten.

»Aber es sagt sich auch leicht, solange du Student bist und keine reichen Eltern hast und das mit diesem Auto eh unrealistisch ist. Doch was würdest du tun, wenn dir plötzlich jemand einen Porsche Cayenne vor die Tür stellen und dir den Schlüssel in die Hand drücken würde?«

»Pah.« Er hob den Kopf und sah sie an. »Dann würde ich natürlich … hm. Keine Ahnung.«

2

Es tut so verdammt gut, das Gaspedal durchzutreten und den Cayenne auf zweihundert hochzuziehen, auf zweihundertzehn, zweihundertzwanzig und volles Rohr an den ganzen Cucks auf der rechten Spur vorbeizubrettern. Von Manowar schaltet er auf Danheim um, vom hymnischen Metal zu düsterem Pagan-Folk mit dem treibenden Rhythmus eines uralten nordischen Rituals. Blotjarl. Was für eine ungeheuerliche Vorstellung, einen Menschen zu töten. Nein, nicht irgendeinen Menschen, sondern die eigene Ex-Freundin. Nein, nicht irgendeine Ex-Freundin, sondern die Frau, auf der die Hoffnungen einer ganzen Nation ruhen. Na, zumindest die Hoffnungen von der Hälfte einer Nation. Ihre Leute haben alles getan, um sie als große Versöhnerin zu inszenieren. Nach den Jahren, in denen sich das Land immer tiefer gespalten hat, soll dieses Mädchen die Macht haben, die Menschen wieder zueinanderzubringen.

Bullshit.

Das Gegenteil ist der Fall, denn wenn sie gewinnt, wird es zum Bürgerkrieg kommen. Wer genau hinhört – und das kann Maikel schließlich, genau hinhören –, kriegt mit, wie es an den Rändern gärt. Und es sind nicht die Kräfte von rechts, die den Krieg erklären, sondern Coco und ihre Bewegung mit all den Gutmenschen, Klima-Hysterikern, Gender-Extremisten, Öko-Faschisten, die den Krieg angezettelt haben. Die, die immer angeblich so tolerant sind und selbst Toleranz einfordern für ihre Homoehe und Flüchtlingsliebe, sie gönnen der anderen Hälfte der Bevölkerung nicht den Urlaubstrip mit dem Flugzeug nach Malle und nicht den SUV in der Garage und nicht mal mehr das Steak auf dem Teller. Außerdem haben Cocos Leute die Lehren aus der Coronakrise verraten, sie wollen nichts mehr wissen von den Veränderungen, die Corona gebracht hatte. Denn wenn die Pandemie doch eines bewiesen hat, dann die totale Schädlichkeit der Globalisierung, des Multikulturismus, der offenen Grenzen. Es gibt eben keine One-World, es hat sie auch nie gegeben, das war schon immer eine Illusion, doch Maikel hat lange daran geglaubt, viel zu lange, bevor er seine Augen öffnete.

Alte Freunde sagen, er hätte sich um hundertachtzig Grad gedreht, ein paar beschimpfen Maikel inzwischen schon als Nazi. Das muss er eben aushalten. Dabei war er es nicht, der sich geändert hat, jedenfalls nicht im Innern, nicht im Kern. Im Kern ist es ihm immer um Freiheit gegangen, um die Möglichkeit, sich entscheiden zu können zwischen Cayenne und Hollandrad. Viel zu lange ist er blind dafür gewesen, dass die anderen in ihrer Arroganz und ihrem Kontrollwahn unter Freiheit immer nur ihre eigene Freiheit verstehen. Dass sie unter dem Deckmantel der Toleranz eine Gesinnungsdiktatur errichten wollen, totalitärer als alle zuvor.

Natürlich ist Coco nicht die treibende Kraft dahinter, sie ist ja selbst eine Getriebene. Bei ihren letzten Auftritten in der Öffentlichkeit ist sie ihm immer mehr wie eine Marionette vorgekommen. Puppenhaft, mechanisch, fremdgesteuert. Vielleicht wird es am Ende eine Erlösung für sie sein.

Er versucht, es sich vorstellen: Ankommen, Wiedersehen, Hallo, lange her, blabla. Was trinken? Ja, gute Idee. Sie wird ihm den Rücken zudrehen oder kurz aus dem Raum gehen, er kippt ihr das Zeug ins Glas, in Clubs passiert das ständig, kann also nicht so schwer sein. Und der Rest auch nicht. Kein Blut, keine Schmerzen, sie wird einfach einschlafen wie Dornröschen. Nur ohne den Prinzen. Der Prinz war er ja selbst, und zwar lang genug.

Ja, so könnte es gehen.

Nur eines fehlt noch. Der Wille.

Thymos. Mit nichts anderem hat er sich während der letzten Monate so intensiv beschäftigt. Also theoretisch. Jetzt kommt der Praxistest. Du musst es wollen. Denk an Kerim. Das hilft.

Einen Tick zu spät tritt er auf die Bremse, und kurz fühlt er die unbändige Lust, diesen räudigen Dacia Logan, der sich da unversehens auf die linke Spur verirrt hat, einfach wegzurammen. Er blendet auf, hupt, gestikuliert, sieht die aufgerissenen Augen des Fahrers vor sich in dessen Rückspiegel und gönnt sich den Spaß, nachdem der Dacia endlich Platz gemacht hat, an ihm vorbei- und ebenfalls auf die rechte Spur zu ziehen und ihn dabei so haarscharf zu schneiden, dass der Typ am Steuer hart bremsen muss und fast den Siebentonner hinter sich in den eigenen Kofferraum kriegt.

Hat gutgetan. Trotzdem sollte er das lassen, fällt ihm plötzlich ein. Sonst schreibt sich noch irgendein selbst ernannter Tugendwächter das Kennzeichen auf und Maikels Alibi wäre im Eimer.

Konzentrier dich, Mann.

Der alte Golf rollt auf die Tankstelle zu und Coco checkt rasch die Personen ab. Nur eine Zapfsäule ist besetzt, ein alter Mann schiebt gerade den Tankstutzen in die Öffnung seines Lieferwagens. Im Shop erkennt sie den Tankwart und zwei Frauen, die an einem Stehtisch lehnen. Eigentlich ganz überschaubar. Sie hält neben der Waschanlage, nimmt ihr Portmonee und steigt aus. Der Alte hebt den Kopf, glotzt sie an, starrt zu dem Wahlplakat hinüber, das auf der anderen Straßenseite hängt, dann wieder zu ihr. Unwillkürlich fährt sie sich mit der Hand übers kurze Haar. Eigentlich sieht sie sich auf den Plakaten gar nicht ähnlich, denkt sie jedes Mal. Vor allem ohne Hut.

Sie betritt den Shop und sofort beginnen die beiden Frauen an ihrem Stehtisch miteinander zu tuscheln. Wobei sie wahrscheinlich eh schon die ganze Zeit ins Gespräch vertieft waren, aber Coco glaubt trotzdem, dass es nun um sie geht. Rasch greift sie eine Packung Nudeln aus dem Regal und geht zur Kasse. Frisches Gemüse gibt es natürlich nicht im Tankstellenshop, egal, Hauptsache, sie ist gleich wieder weg.

»Alles?«, fragt der Tankwart. »Nicht getankt?«

»Nee, nicht getankt.« Coco zögert, dann sagt sie: »Bitte noch eine rote Gauloises.«

»’tschuldigung«, sagt jetzt eine der beiden Frauen. »’tschuldigung? Sind Sie Coco Frahm?«

Coco dreht sich zögernd zu ihnen um.

»Klar, das ist sie«, sagt die andere, eine Rothaarige in Jeansjacke. »Eindeutig das Coco-Virus.«

Die, die zuerst gesprochen hat, schiebt ihre große grüne Brille ein Stück nach unten, um Coco über die Ränder hinweg zu mustern.

»Das ist schon das dritte Mal heute«, sagt Coco und bemüht ein Lächeln. »Ich sehe ihr wohl ziemlich ähnlich.«

»So ein Zufall«, meint die Rothaarige. »Und Sie tragen sogar dieselben Klamotten.«

»Bitte?«

Die Frauen nicken synchron zu einem Flachbildschirm, der in der hinteren Ecke des Raumes unter der Decke hängt. Coco hat ihn beim Reinkommen gar nicht bemerkt. Ohne Ton läuft ein Nachrichtensender, am unteren Bildschirmrand tickern die Zwischenstände vom Fußball vorbei und darüber sieht Coco sich selbst, wie sie von der Bühne aus in die Menge winkt.

»Ist das dein Golf da draußen?«, fragt die Bebrillte. »Ich dachte, ihr hasst Autos.«

»Sorry … ich bin einfach völlig fertig, okay? Ich brauch ein bisschen Ruhe.«

»Hättest du ja gleich sagen können«, brummt die Rothaarige. »Aber das Lügen liegt dir wohl, hm?«

Coco merkt, dass eine innere Maschine anspringt. Die Maschine unterdrückt routiniert den ersten Impuls, einfach zu gehen, und auch den zweiten, nämlich die beiden Ladys mit einem bösen Spruch kurz, aber wirksam zu zerstören, sie sendet Sätze an Cocos Sprachzentrum, offene, kompetenzorientierte Fragen, um mit den beiden Frauen ins Gespräch zu kommen, sich für ihre Sorgen zu interessieren, ihre Themen ernst zu nehmen, sich auf sie …

Kackmist! Coco zieht ihrer inneren Maschine den Stecker, bezahlt Nudeln und Kippen und geht, ohne die beiden zu beachten, hinaus. Dort schließt der Alte gerade den Tankdeckel seines Lieferwagens ab und ruft: »Hey, junge Frau!«

Coco beschließt, ihn zu ignorieren, und öffnet die Fahrertür.

Der Alte kommt ein paar Schritte auf sie zu, zeigt auf das Wahlplakat auf der anderen Straßenseite und sagt: »Das sind doch Sie, oder? Hören Sie, junge Frau. Seit Jahren bin ich zu keiner Wahl mehr gegangen, aber morgen tu ich’s noch mal. Ich mach ein Kreuz bei Ihrer Partei, hören Sie? Sie sind meine letzte Hoffnung darauf, dass diese Welt doch noch nicht komplett im Arsch ist.«

»Oh, danke.« Kurz fährt die Maschine noch mal hoch und projiziert ein Lächeln auf ihr Gesicht.

Der Alte lächelt auch, seine Augen leuchten. »Enttäuschen Sie mich nicht, Mädchen.«

Coco steigt ein, wirft Nudeln und Kippen auf den Beifahrersitz und brettert zurück auf die Straße. Mit einer Hand am Lenkrad schnallt sie sich an, drückt aufs Gas, bis der Motor aufjault, als würde er an ihrer Stelle heulen.

Enttäuschen Sie mich nicht!

Das Gesicht des Alten steht ihr noch ganz kurz vor Augen und reiht sich dann in einen endlosen Chor aus Hundertausenden von Gesichtern ein. Ein Parkplatzschild fliegt vorbei. Coco fährt wieder raus, hier ist es einsam, kein anderes Auto, keine Menschenseele. Sie hält an und reißt die Folie von der Zigarettenpackung. Sie hat kein Feuerzeug gekauft, aber in diesem altertümlichen Wagen gibt es einen Zigarettenanzünder.

Gott, tut das gut. Der Rauch vermischt sich mit dem Dunst der Leere ihres Kopfes und sediert das bisschen, was an Gedanken noch übrig ist.

Die beiden Tussen im Shop waren doof. Aber das ist nicht schlimm, mit so was kommt sie klar. Diese beiden Frauen erwarten nichts von ihr und können also auch niemals von ihr enttäuscht sein. Der Alte schon. Wie Millionen andere. Allen voran Kerim. Und Tabea. Und Sina und überhaupt alle.

Nee, nicht alle. Maikel nicht.