Travis Delaney - Um Leben und Tod - Kevin Brooks - E-Book

Travis Delaney - Um Leben und Tod E-Book

Kevin Brooks

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Beschreibung

Band 3: Erfährt Travis endlich, wer seine Eltern ermordet hat - und kommt er lebend davon? Travis steht kurz davor, das Rätsel um den Mord an seinen Eltern zu lösen. Doch dann wird er entführt, zusammen mit dem Mann, den er für seinen ärgsten Feind hält. Die beiden müssen zusammenarbeiten, um zu überleben. Wer ist Freund, wer Feind in diesem grausamen Spiel, das Travis womöglich mit seinem Leben bezahlen muss?

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Kevin Brooks

Travis Delaney

Um Leben und Tod

Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Für Barbara, Jamie und Annie.

Ihr alle bedeutet mir unendlich viel.

1

Die M84-Blendgranate ist eine sogenannte nicht tödliche Explosivwaffe, die feindlichen Kräften in geschlossenen Räumen die Orientierung nimmt und sie kampfunfähig macht. Bei der Detonation erzeugt sie einen starken Lichtblitz und einen gewaltigen Knall von bis zu 180 Dezibel. Danach leidet jeder im Umfeld von zwei bis drei Metern unter vorübergehender Blind- und Taubheit, dazu kommen Störungen des Gleichgewichts und der Koordination, auch Gehirnerschütterungen sind möglich.

Der Mann mit der M84 in der Hand stand auf dem Gehweg vor dem Büro von Delaney & Co., einer kleinen Privatdetektei in Barton, Essex. Es war Samstag, der 23. November, um 21.07 Uhr – ein kalter Abend und auf der Straße nur wenig los. Das gedämpfte Stampfen von Musik trieb aus den Pubs und Clubs der nahen Innenstadt herüber und auf den Gehwegen hallten die Schritte von ein paar verstreuten Passanten. Alles Leute auf dem Weg ins Bartoner Nachtleben: eine Gruppe grölender junger Männer, die trotz der Kälte ohne Jacke herumliefen; ein Pärchen im Teenageralter, das Händchen hielt, eine Frau in den mittleren Jahren, die in High Heels vorbeistöckelte. Der Mann mit der M84 in der Hand war sich bewusst, dass er von jedem dieser Menschen gesehen werden konnte. Einige würden sich womöglich später an ihn erinnern und wären sehr wahrscheinlich in der Lage, ihn zu beschreiben, doch das kümmerte ihn nicht. Sein einziges Interesse galt der Aktion, die unmittelbar bevorstand.

Er schaute auf die Digitaluhr an seinem Arm. Noch zehn Sekunden.

Er verschob leicht die Position seiner Beine und machte sich für den Angriff bereit. Der Mann lehnte locker an der Mauer gleich rechts neben dem Bürofenster. Ein schwaches Licht fiel durch die geschlossene Jalousie auf der Innenseite des Fensters. Wegen der Jalousie konnte er das Büro nicht einsehen, doch das machte für ihn keinen Unterschied. Er wusste, dass sie dort drin waren.

Als er wieder auf seine Armbanduhr sah, schaute noch ein weiterer Mann auf einer identischen Uhr nach der Zeit. Dieser Mann war in dem Gebäude, er wartete mit drei anderen auf dem Flur vor dem Eingang zur Detektei. Alle Männer hatten Automatikpistolen, bestückt mit aufgesetztem Schalldämpfer und einer hochenergetischen Lichtquelle, und trugen dunkle Kleidung und dunkle Handschuhe.

Als der erste seine Hand hob und die ausgestreckten Finger hochreckte, um den anderen zu signalisieren, dass es in fünf Sekunden losging, nickten sie stumm und machten sich bereit, die Detektei zu stürmen.

Der Mann draußen zog den Sicherheitsstift aus der Blendgranate.

Er schaute ein letztes Mal auf seine Uhr.

Noch drei Sekunden …

Zwei Sekunden …

Eine.

Mit einer einzigen schnellen Bewegung stieß er seinen Ellenbogen gegen die Scheibe, drückte das Glas ein, riss dann die Jalousie herunter und warf die Blendgranate in das Büro.

2

Das Büro von Delaney & Co. bestand aus einem Hauptraum für Empfang und Verwaltung und einem abgetrennten hinteren Raum mit einer Verbindungstür zum Empfang. Als das Fenster barst und die M84 hereingeflogen kam, waren sechs Menschen in dem hinteren Büro – drei Männer, zwei Frauen und ein vierzehnjähriger Junge.

Der Vierzehnjährige war ich.

Ich hatte keine Ahnung, dass das Wurfgeschoss eine Granate war. Ich dachte bloß, jemand hätte einen Stein oder so was ins Fenster geworfen. Aber zwei der Männer, die mit mir in dem Büro waren, begriffen sofort. Doch trotz ihrer blitzschnellen Reaktion konnten sie nicht viel tun. Einer von ihnen – ein Mann Mitte fünfzig mit stahlgrauen Augen, der sich Winston nannte – schaffte es noch gerade, »GRANATE!« zu schreien, während der andere, ein Söldner namens Lance Borstlap, der in einem Sessel am anderen Ende des Raums saß, instinktiv den Kopf wegdrehte und seine Ohren mit den Händen abdeckte. Nur den Bruchteil einer Sekunde später traf die Granate den Boden und detonierte mit einem ohrenbetäubenden Knall und einem blendenden Lichtblitz – es schien, als würde die Welt explodieren.

Der Einzige von uns, der nicht völlig außer Gefecht gesetzt war, war Lance Borstlap. Deshalb konnte auch nur er reagieren, als die vier bewaffneten Männer, die draußen auf dem Flur gewartet hatten, in das Büro stürmten. Es war eher ein Reflex als eine gezielte Reaktion, denn trotz seiner Schutzmaßnahmen war er höchstens halb bei Bewusstsein. Er bekam mit, dass das Büro angegriffen wurde, hatte aber keine Ahnung, wer die Angreifer waren oder was sie wollten. Doch er war Berufssoldat und insofern instinktiv bereit, sich und seine Kollegen zu verteidigen, egal in welchem Zustand er sich befand. Deshalb zückte er, ohne zu überlegen, die Pistole, ganz automatisch. Unglücklicherweise hatten die Effekte der Blendgranate seine normalerweise blitzschnelle Reaktion verlangsamt, zudem hatte die Explosion die Beleuchtung zerstört und das ganze Büro in Dunkelheit getaucht, also sah Borstlap in der rauchgeschwängerten Schwärze des Raumes nur die blendend hellen Lichtstrahlen von den Waffen der Angreifer. Bis er seine Pistole bereit hatte und seine halb blinden Augen vor den Lichtstrahlen schützen konnte, war es zu spät. Auch die vier Männer waren Soldaten; sie begriffen sofort, dass einzig Borstlap eine Bedrohung darstellte. Sie zögerten keine Sekunde. Der erste, der durch die Tür drang, feuerte etwas zu hektisch und traf nur Borstlaps Arm und Schulter, doch der zweite handelte ruhiger und akkurater. Indem er sich einen Augenblick Zeit nahm, mit der schallgedämpften Pistole zu zielen, schoss er Borstlap direkt ins Herz und tötete ihn auf der Stelle.

Nachdem die Gefahr gebannt war, machten sich die vier Männer an ihre eigentliche Aufgabe.

Sie schwenkten die Lichtstrahlen durch den dunklen Raum und fanden schnell die zwei Menschen, auf die sie es abgesehen hatten. Der eine war Winston, der Mann mit den stahlgrauen Augen, der »GRANATE!« geschrien hatte. Er hing in einem Sessel neben dem Fenster. Weil er der Detonation am nächsten gewesen war, hatte es ihn am schlimmsten erwischt. Er war nicht bei Bewusstsein, sein Gesicht schwarz versengt und das Blut rann ihm aus Nase und Ohren.

Das zweite Ziel der Angreifer war ich.

Die Druckwelle hatte mich vom Stuhl gerissen und ich lag vor der Zimmerwand am Boden. Ich war zwar noch bei Bewusstsein, aber wirklich nur gerade so eben.

Einer der Männer bellte eine Anweisung, woraufhin sich die vier anderen aufteilten und ans Werk machten. Zwei gingen zu Winston hinüber, die anderen zwei kamen zu mir. Jeweils einer von ihnen hatte eine kleine Metallschachtel in der Hand, und während sie sich Winston und mir näherten, öffneten beide die Schachteln und nahmen eine bereits präparierte Spritze heraus.

Winston leistete überhaupt keinen Widerstand, als sich einer der Männer neben ihn hinkniete und die Nadel in seinen Arm stach.

Ich nahm zu diesem Zeitpunkt nur sehr verschwommen wahr, was geschah – erst später gelang es mir, alles so einigermaßen zusammenzusetzen –, ich stand noch immer unter Schock und in meinem Kopf wirbelte alles wild durcheinander. Ich war halb blind und taub, mein ganzer Körper fühlte sich zerschlagen und fühllos an. Doch als sich der zweite Mann mit einer Spritze neben mich kauerte, war ich immerhin so weit bei mir, dass ich seine Gegenwart bemerkte, und auch wenn ich nicht wusste, wer er war oder was er vorhatte, sagte mir mein Instinkt, dass er eine Gefahr darstellte und ich etwas gegen ihn unternehmen musste. Ich wusste, dass ich zumindest versuchen musste, ihn abzuwehren.

Er hatte sich links neben mich gehockt und ich lag einfach nur da und stöhnte mit halb geschlossenen Augen vor mich hin, um ihn glauben zu lassen, dass ich stärker weggetreten sei, als ich es tatsächlich war. Einen Moment lang tat er nichts – wahrscheinlich überprüfte er noch einmal die Spritze oder so was –, doch dann packte er plötzlich meinen linken Arm. Und in dem Moment rührte ich mich. So schnell ich konnte und mit aller Kraft, die ich besaß, zog ich ihn mit dem linken Arm zu mir ran und zielte gleichzeitig mit einem Rechtsausleger auf seinen Kopf. Ich bin ein ziemlich guter Boxer und unter normalen Umständen wäre er wahrscheinlich erledigt gewesen. Aber das hier waren keine normalen Umstände, und auch wenn ich meine ganze Kraft in den Punch legte und den Mann voll am Kinn erwischte, hatte ich doch unterschätzt, wie schwach ich war. Schon bevor ich traf, wusste ich, dass mein Schlag nichts ausrichten würde. Ich bewegte mich langsam und schwerfällig, wie unter Wasser, und ohne den Überraschungseffekt wäre es ihm bestimmt spielend gelungen, meinen armseligen Angriff abzuwehren. Auch so bezweifle ich, ob er den Schlag überhaupt spürte, jedenfalls hörte der Mann nicht auf mit dem, was er vorhatte. Er stieß mich bloß zurück, hielt mich am Boden fest und im nächsten Moment fühlte ich einen scharfen, brennenden Schmerz in meinem linken Arm.

Ich kämpfte noch einen Moment lang vergeblich – drehte und wand mich und versuchte nach ihm zu treten –, doch was immer er mir gespritzt hatte, es wirkte ziemlich schnell. Nach wenigen Sekunden wurde mir ganz komisch, als wenn alles von mir abgleiten würde, es schien weit weg und nicht mehr verbunden mit meinem Gehirn oder Körper … und das Nächste, was in mein Bewusstsein drang – oder eben nicht in mein Bewusstsein drang –, war eine sinnlose Leere, in der ich träumend dahintrieb und mich fragte, ob es das wohl war … das Ende … mein Ende … das Ende von Travis Delaney. Seltsamerweise hatte ich überhaupt keine Angst, ich war bloß neugierig, ob es wohl irgendeine Art Leben nach dem Tod gab … und wie es wäre … und wer dort wohl sein mochte … Oder war dies das absolute Ende von allem, für immer und ewig …?

Und das ist das Letzte, woran ich mich erinnere, ehe alles verschwamm und ich in ein völliges Nichts sank.

3

Als sich der Rauch lichtete, das Fünfmannteam der Angreifer verschwunden war und mich und den Mann namens Winston mitgenommen hatte, waren noch drei Überlebende in dem Büro: mein Großvater Joseph Delaney, dem die Firma Delaney & Co. gehört, Courtney Lane, Großvaters junge Geschäftspartnerin, und eine Frau Anfang sechzig, die Gloria Nightingale hieß und von ihm erst vor Kurzem als Assistentin eingestellt worden war.

Sie waren alle drei vollkommen desorientiert und unter Schock, doch ansonsten unverletzt. Und nachdem sie mein Fehlen bemerkt und überprüft hatten, dass Lance Borstlap tatsächlich tot war, teilten sie sich sofort auf und suchten das Bürogebäude und die umliegenden Straßen ab, nur für den Fall, dass ich in einem benebelten Dämmerzustand fortgelaufen war. Als sie sich überzeugt hatten, dass ich nirgends zu finden war und dass auch Winston fehlte, wir also aller Wahrscheinlichkeit nach beide entführt worden waren, hörten sie bereits in der Ferne das Heulen einer Polizeisirene.

»Okay, passt auf«, sagte Großvater eilig zu Courtney und Gloria. »Wir haben eine, höchstens zwei Minuten, bevor die Polizei hier ist. Ich versuche das mit Travis zu erklären, bevor sie Lance Borstlaps Leiche finden. Hoffentlich hören sie mir zu und fangen gleich an zu suchen. Wenn sie merken, dass hier jemand ermordet wurde, sind wir ihre Hauptverdächtigen, und das macht alles schwierig für uns. Garantiert werden sie uns erst mal festnehmen und zum Verhör ins Präsidium bringen.«

»Sollen wir ihnen das mit Winston sagen?«, fragte Courtney.

»Wir sagen ihnen alles«, antwortete Großvater entschieden. »Und ich meine wirklich alles – die Sache mit Omega, Winston, Borstlap … alles, womit wir es in den letzten Monaten zu tun hatten. Wir halten nichts zurück, verstanden? Es zählt jetzt nur, dass wir Travis wiederbekommen, und dafür ist es am besten, wenn wir in vollem Umfang mit der Polizei zusammenarbeiten. Keine Anwälte, keine Verschwiegenheit, keine Geheimnisse. Wir erzählen ihnen alles, was wir wissen.«

»Meinst du, wir können ihnen trauen?«

»Wir haben keine große Wahl«, sagte Großvater. Er unterbrach sich einen Moment und horchte auf die sich schnell nähernde Polizeisirene. Dann fuhr er fort. »Hat jemand irgendwas von den Angreifern erkennen können?«

Courtney und Gloria schüttelten den Kopf.

»Du?«, fragte Gloria zurück.

»Nein, aber ich glaube, ich habe einen von ihnen gehört … Ich bin mir nicht sicher – ich habe immer noch dieses Klingeln in den Ohren –, aber ich bilde mir ein, ich hätte die Befehle des einen mitbekommen.«

»Was hat er denn gesagt?«, fragte Courtney.

»Keine Ahnung … er hat Arabisch gesprochen.«

Courtney fluchte leise. »Glaubst du, das war al-Thu’ban?«

»Vielleicht«, antwortete Großvater und überlegte. »Al-Thu’ban hätte sicher allen Grund, sich Winston zu schnappen. Aber wieso Travis? Das verstehe ich nicht.«

Alle drei schauten zum Fenster, als draußen ein Polizeiwagen hielt und das Blaulicht durch die Dunkelheit zuckte.

»Sollen wir sagen, was wir über al-Thu’ban wissen?«, fragte Courtney schnell.

Großvater nickte. »Wie gesagt, wir halten nichts zurück.«

 

Zwei Polizisten in Uniform betraten das Büro vorsichtig, aber doch selbstbewusst, mit gezücktem und auslösebereitem Taser.

»Uns wurde eine Explosion gemeldet«, sagte der erste Beamte und sah sich argwöhnisch im Büro um, wo der beißende Rauchgeruch noch in der Luft hing.

»Ich kann das alles erklären«, begann Großvater, »aber als Erstes müssen Sie wissen –«

»Sind alle wohlauf?«, fragte der Beamte. »Keiner verletzt?«

»Uns geht es gut«, versicherte ihm Großvater eilig. »Aber mein Enkel –«

»Was ist mit Ihnen passiert?«, fragte der Beamte Courtney und starrte ihr Gesicht an.

Courtney erholte sich noch von den Verletzungen, die sie vor ein paar Tagen abbekommen hatte, als sie ein paar Schlägertypen fast umgebracht hätten. Ihr Gesicht war blau verfärbt und geschwollen und über einer besonders schlimmen Wunde am Hinterkopf trug sie einen Verband auf der rasierten Haut. Die Zeichen des Kampfes waren also unübersehbar.

»Ach, nichts«, wehrte Courtney ab, während sie instinktiv die Hand an ihr zerschundenes Gesicht hob. »Das ist schon vor ein paar Tagen passiert.«

Der Beamte beäugte sie einen Moment lang misstrauisch, dann wandte er den Blick zu der offenen Tür, die in den hinteren Büroraum führte. »Was ist da drin?«, fragte er.

»Mein Enkel ist entführt worden«, erklärte Großvater ungeduldig. »Sie müssen –«

»Zwingen Sie mich nicht, noch einmal zu fragen«, sagte der Beamte energisch, mit wachsender Besorgnis in seiner Stimme. »Was ist da drin?«

Großvater seufzte. »Ein Mann wurde erschossen. Sie finden da drin seine Leiche.«

Die zwei Beamten sahen sich argwöhnisch an, ihre plötzliche Anspannung war deutlich sichtbar.

»Ist sonst noch jemand da drinnen?«, fragte der erste meinen Großvater.

Großvater schüttelte den Kopf.

»Bleib du hier und behalt sie im Auge, Kyle«, sagte der erste Beamte zu seinem Kollegen. »Ich schau mal nach.«

Er zog eine Taschenlampe aus seinem Gürtel und machte sich vorsichtig auf den Weg in das hintere Büro.

»Pass auf dich auf, Mac«, sagte Kyle leise.

Mac antwortete nicht. An der Tür blieb er stehen und leuchtete mit der Lampe in das rauchgeschwärzte Büro, dann ging er langsam hinein. Kyle warf einen nervösen Blick auf Großvater und die beiden andern.

»Wir wurden von bewaffneten Männern überfallen«, erklärte Großvater bedächtig, um den Polizisten nicht noch mehr zu beunruhigen. »Einer von den Angreifern hat den da drinnen erschossen.«

»Halten Sie die Klappe!«, fauchte Kyle. »Bleiben Sie einfach, wo Sie sind, und seien Sie still, ja?« Er wandte sich zu dem hinteren Büro um. »Mac?«, rief er ängstlich. »Alles okay mit dir?«

Mac tauchte mit bleichem Gesicht in der Tür auf. »Er ist eindeutig tot. Und er war selbst auch bewaffnet. Handfeuerwaffe.«

»Verdammt, was …?«

»Mach Meldung«, verlangte Mac. »Ich behalte solange die drei hier im Auge. Wir brauchen mehr Leute, ein Kriminalteam, die Spurensicherung, einen Polizeiarzt –«

»Entschuldigen Sie«, sagte Großvater. »Ich verstehe ja, wie –«

»Ich hab gesagt, Sie sollen die Klappe halten«, fuhr Kyle ihn mit aller Schärfe an.

»Mein Enkel wurde ent –«

»Noch ein Wort von Ihnen«, sagte Kyle drohend und richtete seinen Taser auf Großvater, »dann zappe ich Ihnen den Mund zu. Verstanden?«

Als er merkte, dass es nutzlos war, hob Großvater die Hände und trat zurück. Die zwei Polizisten waren jung und unerfahren, wahrscheinlich hatten sie noch nie mit einem Mord zu tun gehabt. Sie waren in Panik, reagierten unnötig aggressiv. Es hatte keinen Sinn, sie noch mehr gegen sich aufzubringen. Warte einfach, sagte sich Großvater. Wenn sie dich tasern, hilft das Travis kein bisschen.

Er musste nicht allzu lange warten.

In weniger als fünf Minuten waren vier weitere Beamte in Uniform da, kurz darauf trafen ein Sanitätstrupp und die Feuerwehr ein. Ungefähr eine Minute danach tauchten drei Kriminalkommissare auf und übernahmen sofort die Kontrolle. Es war nicht schwer zu erkennen, wer von den drei Kommissaren das Sagen hatte – ein großer, schmaler Mann Ende vierzig mit dünnem Haarwuchs, der sich den Polizisten in Uniform als DCI Stringer vorstellte. Als er für einen Moment aufhörte, Anweisungen zu geben, nahm Großvater die Gelegenheit wahr und rief ihn.

»Entschuldigung, Chief Inspector!«

Stringer drehte sich um und sah Großvater mit stechendem Blick an.

»Bitte hören Sie mir einen Augenblick zu«, flehte ihn Großvater an. »Es ist absolut wichtig, dass ich mit Ihnen –«

»Sie werden auf dem Polizeirevier noch genug Zeit zum Reden haben«, sagte Stringer abweisend und wollte sich schon wieder wegdrehen.

»Das Leben eines Kindes steht auf dem Spiel«, beharrte Großvater.

Stringer hielt inne. Für ein, zwei Sekunden sah er Großvater mit todernstem Gesicht in die Augen, dann sagte er schnell etwas zu einem seiner Kollegen, winkte einen andern herüber und ging danach auf Großvater zu.

»Okay«, meinte er knapp, als er vor ihm stehen blieb. »Dann reden Sie.«

 

Bevor er als privater Ermittler anfing, hatte mein Großvater fünf Jahre bei der Militärpolizei und zwölf Jahre als Offizier beim militärischen Geheimdienst gearbeitet, also wusste er so ziemlich alles, was man wissen muss, um über ein Verbrechen zu berichten und Aussagen zu formulieren. Daher hatte der Chief Inspector nach fünf Minuten alles erfahren, was Großvater über die Entführung berichten konnte. Stringers Kollegin, eine Frau namens DS Cahill, hatte sich Notizen gemacht, während Großvater sprach. Sie besaß jetzt nicht nur eine genaue Beschreibung von mir – Alter, Größe, Gewicht, körperliche Erscheinung, Kleidung –, sondern auch eine präzise Liste aller anderen relevanten Details – Adresse, Handy- und Festnetznummer, Schule, Lebenssituation und so weiter.

»Was ist mit diesem Winston?«, fragte der Kommissar Großvater. »Ist er irgendwie verwandt mit Travis?«

»Nein«, antwortete Großvater. »Sie kennen sich, aber verwandt sind sie nicht.«

»Inwiefern ›kennen sie sich‹?«

»Das ist eine komplizierte Geschichte.« Großvater seufzte. »Hören Sie, ich verspreche, Ihnen später alles über Winston zu erzählen, aber im Moment geht es für mich nur darum, Travis zu finden. Und ich denke, das Gleiche sollte auch für Sie gelten. Winston kann auf sich selber aufpassen. Aber Travis ist noch ein Kind. Sie müssen auf der Stelle alles Notwendige einleiten. Starten Sie eine Vermisstensuche, hier in Barton und landesweit, suchen Sie nach Zeugen, finden Sie heraus, ob irgendjemand etwas gesehen hat –«

»Ich weiß, was ich zu tun habe, Mr Delaney«, sagte Stringer ruhig. »Sie müssen mir nicht erklären, wie ich meinen Job machen soll.«

»Okay, dann legen Sie los«, antwortete Großvater. »Ich bitte Sie.«

Stringer wandte sich an DS Cahill. »Sie wissen, was zu tun ist, Sandra. Schicken Sie sämtliche Details raus, stellen Sie ein Team zusammen, gehen Sie an die Medien –«

»Und wenn das nur ein Trick ist, Sir?«, antwortete sie und warf einen misstrauischen Blick auf Großvater. »Ich meine, was ist, wenn er bloß versucht, uns von der Morduntersuchung abzulenken?«

»Wir finden noch früh genug heraus, ob er lügt«, sagte Stringer. »Und falls es so ist, können wir uns später immer noch darum kümmern. Eine Morduntersuchung setze ich sowieso an, also kommt er am Ende nicht damit durch, falls er irgendwelche Tricks anwendet.«

»Aber wir haben nur seine Behauptung, dass sein Enkel entführt wurde, Sir. Uns fehlt jeder Beweis für eine Entführung. Im Moment ist nicht mal sicher, ob er überhaupt einen Enkel hat.«

»Dann finden Sie’s raus, Sergeant«, antwortete Stringer mit einem Hauch von Verärgerung in der Stimme. »Wie Mr Delaney gesagt hat: Unter Umständen steht das Leben eines Kindes auf dem Spiel. Und auch wenn Sie oder sonst wer Zweifel daran haben: Diese Sache hat Priorität. Ist das klar?«

»Ja, Sir.«

»Gut. Dann an die Arbeit.«

4

Bis Großvater, Courtney und Gloria aus den Büroräumen geführt wurden, wimmelte es dort von Menschen. Weitere Polizisten in Uniform und weitere Kriminalbeamte waren erschienen, die Spurensicherung begann mit der Tatortuntersuchung und ein Polizeiarzt hatte sich eingefunden, um den Tod von Lance Borstlap zu bestätigen. Das Bürogebäude selbst war rundum mit Polizeiband abgesperrt und draußen auf der Straße hatte sich eine Traube von Schaulustigen versammelt. Auch die örtlichen Medien waren da – Pressereporter, ein Fernsehteam –, und weil die Polizei noch keine Stellungnahme herausgegeben hatte, kursierten alle möglichen Gerüchte: Es war ein Terroranschlag, ein Selbstmordattentat, eine Schießerei zwischen rivalisierenden Gangs; ein Einzeltäter hatte einen Amoklauf veranstaltet; es gab mindestens ein Todesopfer, vielleicht auch mehr, darunter auch der oder die Mörder. Andere Gerüchte waren weniger sensationslüstern – es hatte ein Leck in der Gasleitung gegeben, eine harmlose Explosion, die Polizei und die Medien überreagierten mal wieder.

Großvater, Courtney und Gloria wurden mit Jacken über dem Kopf aus dem Gebäude geführt, um ihre Identität zu schützen. Sobald sie draußen waren, wurden sie zu drei verschiedenen Polizeiwagen gebracht, und beim Verlassen des Tatorts konnten die drei unter ihren improvisierten Hauben nur eine flackernde Wolke aus roten und blauen Lichtern erkennen, die von der Kolonne an Einsatzfahrzeugen vor dem Bürohaus stammte.

Während Großvater hinten in einem Zivilfahrzeug der Polizei saß, auf jeder Seite von einem Zivilbeamten flankiert, galten seine Gedanken allein mir. Das einzig Positive für ihn war, dass sich die Angreifer, wenn sie mich oder auch Winston töten wollten, sicher nicht die Mühe gemacht hätten, uns erst mitzunehmen. Wer auch immer sie sein mochten und warum auch immer sie mich entführt hatten, sie wollten mich lebend. Und solange ich am Leben war …

»Ich werde dich finden, Trav«, murmelte Großvater vor sich hin. »Das verspreche ich dir. Bleib nur bitte am Leben, hörst du? Wo immer du bist, ich werde dich finden.«

 

Sie wurden nicht über ihre Rechte belehrt oder verhaftet, als sie auf dem Polizeirevier ankamen, aber Großvater, Courtney und Gloria waren sich sehr bewusst, dass ihr Dortsein als »Personen von besonderem polizeilichem Interesse« und Zeugen eines Verbrechens nur dem Anschein nach freiwillig war. Jeder Versuch, das Polizeirevier zu verlassen, würde verweigert und wenn nötig gewaltsam verhindert werden, das war ihnen klar.

Nicht dass einer von ihnen die Absicht hatte zu gehen.

Es zählt nur, dass wir Travis wiederbekommen, hatte Großvater gesagt, und dafür ist es am besten, wenn wir in vollem Umfang mit der Polizei zusammenarbeiten. Keine Anwälte, keine Verschwiegenheit, keine Geheimnisse. Wir erzählen ihnen alles, was wir wissen.

Courtney und Gloria zweifelten keine Sekunde daran, dass Großvater recht hatte.

Die drei waren auf dem Revier getrennt worden und mussten sich, bevor die Befragungen im eigentlichen Sinn losgingen, einer langwierigen und ermüdenden Reihe von Untersuchungen, Kontrollen und Überprüfungen unterziehen. DCI Stringer wollte nichts riskieren. Er begriff, dass sich dieser Fall zu einer größeren Sache entwickeln konnte und möglicherweise von hohem öffentlichem Interesse war. Auch wenn er realistisch genug war, zu wissen, dass er ihn wahrscheinlich nicht mehr lange behalten würde, war er im Moment der leitende Beamte und entschlossen, dafür zu sorgen, dass in dieser frühen Ermittlungsphase alles nach Lehrbuch lief. Niemand sollte irgendwelche dummen Fehler machen, die den Fall zu einem späteren Zeitpunkt gefährden könnten; jedenfalls nicht, solange er der Chefermittler war.

Zunächst gab es eine gründliche medizinische Untersuchung, um sicherzustellen, dass alle drei körperlich und geistig in der Lage waren, eine Befragung durchzustehen. Danach wurden ihre Fingerabdrücke genommen, ein DNA-Abstrich gemacht, ihre Fingernägel auf Rückstände und ihre Hände auf Schmauchspuren untersucht. Kleidung und andere Habseligkeiten wanderten zur Überprüfung in die Kriminaltechnik. Stringer sorgte persönlich dafür, dass sie ihre Rechte, den Grund ihres Hierseins und das, was sie in den nächsten paar Stunden erwartete, klar und deutlich verstanden. Jedem von ihnen wurde ein Anruf gewährt. Großvater nutzte ihn, um seiner Frau (meiner Großmutter) zu sagen, was geschehen war, während Courtney die Pflegerin anrief, die sich um ihre Mutter kümmerte (ihre Mutter leidet an Alzheimer), um zu hören, ob mit ihrer Mum alles in Ordnung sei und die Pflegerin die Nacht über bei ihr bleiben könne.

Nur Gloria rief niemanden an.

Fast eine Stunde nach ihrer Ankunft auf dem Polizeirevier wurden die drei dann in getrennte Verhörräume geführt und die Befragung fing endlich an.

 

DCI Stringer entschied sich, die Befragung mit sechs Kommissaren durchzuführen, einschließlich ihm selber, jeweils zu zweit und im stündlichen Wechsel. Jedes Zweierteam befragte also eine Stunde lang einen Zeugen, danach wurde das Ganze für fünf Minuten unterbrochen und die Befrager wechselten zu einem anderen Zeugen, dann ging die Prozedur von vorne los. Es war ein etwas unorthodoxes Verfahren, doch in Anbetracht der ungewöhnlichen Umstände hielt es Stringer für die effektivste Methode. Es hielt die Kommissare frisch und die Zeugen auf Trab, außerdem konnte die Stimmigkeit der Aussagen so leichter überprüft werden.

»Wenn sie uns alle in etwa die gleichen Antworten geben«, erklärte Stringer seinem Befragungsteam, »können wir davon ausgehen, dass sie die Wahrheit sagen. Falls ihre Geschichten aber nahezu wörtlich identisch sind, gehe ich jede Wette ein, dass sie lügen.«

Stringer und sein Partner, ein erfahrener Kommissar namens Aaron Blackwell, bildeten das erste Team, das mit Großvater begann. Sobald sie den Raum betraten, erkundigte sich Großvater nach mir.

»Gibt es schon irgendwelche Neuigkeiten über Travis?«, wollte er wissen. »Haben Sie irgendeine Spur, irgendetwas, das weiterführt, irgendetwas, das vielleicht –«

»Wir arbeiten dran, Mr Delaney«, sagte Stringer und setzte sich ihm gegenüber. »Wir haben ein Spezialteam zusammengestellt, Dutzende von Beamten durchkämmen die Straßen auf der Suche nach Zeugen, wir haben alle Kräfte im Land informiert … ich gebe Ihnen mein Wort, es wird alles getan, was in unserer Macht steht, okay?« Er unterbrach sich und sah Großvater an. »Ich verstehe, wie quälend das Ganze für Sie ist, aber im Augenblick können Sie uns am besten helfen, wenn Sie uns in allen Einzelheiten erzählen, was heute Abend in Ihrem Büro passiert ist. Alles, was wir darüber wissen, unterstützt uns bei unserer Suche nach Travis. Einverstanden?«

Großvater nickte.

Stringer warf DS Blackwell einen Blick zu und Blackwell startete das Aufzeichnungsgerät, das vor ihnen auf dem Tisch stand. Stringer wartete, bis der lange Piepston endete, nannte die Zeit und die Namen der anwesenden Personen und danach richtete er seine Aufmerksamkeit auf Großvater.

»Also«, sagte er, »lassen Sie uns ganz am Anfang beginnen. Was genau haben Sie heute Abend in Ihrem Büro gemacht, Mr Delaney?«

Großvater schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, das ist ganz und gar nicht der Anfang. Wenn Sie wirklich verstehen wollen, was heute passiert ist, muss ich beim 16. Juli dieses Jahres beginnen.«

Stringer runzelte die Stirn. »Was war am 16. Juli?«

»An diesem Tag wurden Travis’ Eltern, mein Sohn und meine Schwiegertochter, von einem Mann umgebracht, der sich Winston nennt.«

5

Zweieinhalb Stunden später, als Stringer und Blackwell gerade Gloria Nightingale befragten, klopfte es an der Tür und ein Polizist in Uniform kam herein. Er ging zu Stringer und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Stringer schaute einen Moment nachdenklich, dann sah er auf seine Uhr und sagte: »PC North hat soeben den Raum betreten, das Interview wird um 1.57 Uhr unterbrochen.« Er fasste über den Tisch und schaltete das Aufzeichnungsgerät ab. »Es tut mir leid, Ms Nightingale«, erklärte er Gloria, »aber wir haben gerade etwas Wichtiges erfahren. Ich komme zurück, so schnell ich kann.«

Er stand auf und verließ zusammen mit PC North den Raum.

Eine Viertelstunde später betrat er den Verhörraum, in dem Großvater befragt wurde, begleitet von zwei Männern in Anzügen. Die Kommissare, die Großvater befragten, schauten sich zu ihnen um, wobei deutlich zu sehen war, dass sie die beiden Männer nicht kannten.

DCI Stringer erklärte den Kommissaren, sie sollten die Befragung unterbrechen. Die runzelten die Stirn und schauten verwirrt, folgten aber den Anweisungen. Sobald der Rekorder ausgeschaltet war, forderte DCI Stringer sie auf, den Raum zu verlassen.

Als sie fort waren, sagte Stringer zu Großvater: »Diese beiden Herren würden gerne ein vertrauliches Gespräch mit Ihnen führen.«

»Wer sind die zwei?«, fragte Großvater und betrachtete die beiden Männer.

»Das werden sie Ihnen selbst erläutern.«

Stringer war offenbar nicht glücklich über die Situation. Der Ausdruck im Gesicht des Chefermittlers war Großvater jedenfalls allzu vertraut. So sah ein Mann aus, der Befehlen gehorcht, die ihm gegen den Strich gehen.

»Danke, Chief Inspector«, sagte einer der Männer im Anzug zu ihm. »Wir übernehmen das jetzt.«

Stringer nickte bloß, zwang sich, den herablassenden Ton zu ignorieren, und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.

Die beiden Männer im Anzug warteten, dass er die Tür schloss, danach setzten sie sich zu Großvater an den Tisch. Derjenige, der mit Stringer gesprochen hatte, war ein unauffällig wirkender Mann Anfang fünfzig. Seine ganze Erscheinung ließ sich nur mit dem Wort »unauffällig« beschreiben – unauffällige Größe, unauffällige Gestalt, braune Haare, braune Augen, ein Gesicht, das man fast sofort wieder vergaß. Ehrlich gesagt fand Großvater, er sah dermaßen unauffällig aus, dass es schon fast wieder auffällig war. Sein Begleiter war jünger als er und bei Weitem nicht so unauffällig. Er war groß, hatte sehr blasse Haut und lange schwarze Haare, die er über den Kopf nach hinten gegelt trug. Er hatte dunkelgrüne Augen, einen Ziegenbart und einen irgendwie brutal wirkenden Mund. Rechts am Hals war eine hässliche Narbe zu sehen, direkt neben dem Adamsapfel.

»Ich bin John Holland«, sagte der Unauffällige zu Großvater, »und das ist mein Kollege Elias Ames. Wir arbeiten in dem Fall mit der Polizei zusammen und würden gern mit Ihnen über –«

»Ich spreche mit Ihnen über gar nichts, solange ich nicht weiß, für wen Sie arbeiten«, unterbrach ihn Großvater und warf einen Blick zu der Kamera an der Wand. Das kleine rote Licht, welches signalisierte, dass sie eingeschaltet war, leuchtete nicht mehr. Großvater schaute wieder zu Holland und Ames. »Sind Sie vom MI5?«

»Nicht wirklich«, antwortete Holland.

»Antiterroreinheit?«

»So was in der Art.«

»Das reicht mir nicht«, sagte Großvater. »Wie ich gerade gesagt habe: Wenn Sie mit mir reden wollen, noch dazu vertraulich und bei ausgeschalteter Kamera, werden Sie mir schon erklären müssen, wer Sie sind.«

Holland seufzte. »Es würde Ihnen nichts sagen.«

»Probieren Sie’s.«

Holland warf Ames einen Blick zu und so, wie er ihn ansah – quasi um Erlaubnis bittend –, war für Großvater klar, dass Ames sein Vorgesetzter sein musste. Ames sagte zunächst nichts, sondern saß nur da und überlegte, doch nach einer Weile nickte er Holland kurz zu – überlass das mir – und wandte sich dann selbst an Großvater.

»Wir sind eine nationale Sicherheits-Taskforce, die unter dem Namen Strategic Operations arbeitet«, flüsterte er mit Reibeisenstimme. »Sie werden noch nie etwas von uns gehört haben, weil es uns offiziell gar nicht gibt.«

»Und was ist die Aufgabe von Strategic Operations?«

»Das darf ich Ihnen nicht sagen.«

»Warum nicht?«

»Hören Sie, Joseph … ist das in Ordnung, wenn ich Sie Joseph nenne?«

»Joe ist okay.«

Ames nickte. »Das Einzige, was Sie über uns wissen müssen, Joe – und das Einzige, was ich Ihnen sagen werde –, ist Folgendes: Wir haben die Befugnis, alles zu unternehmen, was wir für notwendig halten, um dieses Land zu schützen.«

»Zu schützen wovor?«

»Vor Bedrohungen aller Art.«

»Zum Beispiel?«

»Im Moment konzentrieren wir uns auf eine Terrororganisation namens al-Thu’ban.«

»Ach so, verstehe«, sagte Großvater wissend. »Jetzt begreife ich. Sie sind an al-Thu’ban interessiert, gar nicht an Travis. Travis kümmert sie im Grunde nicht –«

»Das stimmt nicht –«

»Es geht Ihnen nur darum, al-Thu’ban aufzuspüren.«

»Sie irren sich, Joe«, sagte Ames entschieden. »Hören Sie, ich gebe gern zu, dass wir nur wegen unseres Interesses an al-Thu’ban in den Fall involviert sind, aber das heißt nicht, dass uns Travis egal ist.« Er sah Großvater an. »Ich kann Ihnen versichern – und ich gebe Ihnen mein Wort: Was immer geschieht, für uns hat die Sicherheit und das Wohl Ihres Enkels oberste Priorität. Okay?«

Für Großvater war das alles andere als okay – er hatte schon vor langer Zeit aufgegeben, Menschen zu vertrauen, vor allem Menschen wie Holland und Ames –, doch im Augenblick beschloss er, seine Gedanken für sich zu behalten.

»Und was wollen Sie von mir?«, fragte er Ames.

»Wir wissen alles über Omega, Joe. Wir wissen, dass Lance Borstlap ein Omega-Agent war, und wir wissen, dass der Mann, den Sie als Winston kennen, der operative Kopf der Organisation ist. Wir wissen auch, dass sein richtiger Name Andrew Winston Carson ist.«

»Das ergibt Sinn«, sagte Großvater und nickte gedankenverloren. »Vor Kurzem habe ich im Internet ein altes Foto gefunden, das angeblich drei Agenten einer Spezialeinheit während des Golfkriegs in Kuwait zeigt, und einer von ihnen ähnelt auffällig Winston, wie er in jungen Jahren ausgesehen haben muss. Laut Bildlegende handelt es sich bei diesem Mann um Sergeant Andrew W. Carson und es wird behauptet, dass er kurz nach der Aufnahme des Fotos gefallen sei.«

»Er wurde schwer verwundet«, erklärte Holland, »aber durch DNA-Proben lässt sich nachweisen, dass er noch äußerst lebendig ist. Wir haben Carson und Omega seit Langem überwacht. Wir wissen alles über ihre Verwicklung mit al-Thu’ban, doch warum al-Thu’ban Carson und Ihren Enkel entführt hat, ist uns noch unklar. Um das herauszufinden, brauchen wir Ihre Hilfe. Wenn wir in Erfahrung bringen, wieso die beiden entführt wurden, könnte uns das helfen, Travis zurückzubekommen.«

»Sie scheinen ziemlich sicher, dass al-Thu’ban hinter der Entführung steckt.«

»Absolut sicher«, antwortete Ames knapp.

Großvater starrte ihn an und wartete auf eine Erklärung, aber Ames saß nur schweigend da und starrte zurück mit einem Blick, der alles bedeuten konnte. Großvater überlegte, ihn zu einer Erklärung zu drängen, doch er begriff schnell, dass er überhaupt keine brauchte. Er war sich genauso sicher wie Ames, wer die Entführer waren – warum also sollte er Zeit damit vertun, seine Gewissheit zu bestätigen?

»Teilt die Polizei Ihre Überzeugung?«

Ames nickte. »Die vorläufigen Ermittlungsberichte und auch die Zeugenaussagen bestätigen Ihre Version des Tathergangs. Zwei unabhängige Zeugen behaupten, vier ›arabisch‹ wirkende Männer gesehen zu haben, wie sie zwei schlaffe Körper in einen dunklen Lieferwagen à la Ford Transit schleppten, der in der Straße vor ihrem Büro stand, und es gibt absolut keinen Hinweis, dass Sie oder Ihre Mitarbeiterinnen etwas mit der Erschießung von Lance Borstlap zu tun hatten.«

»Dann sind wir also nicht mehr verdächtig?«

»Nein.«

»Was wissen Sie sonst noch, das uns die Polizei nicht sagt?«, fragte Großvater. »Haben die schon eine Spur von den Entführern?«

»Einer der Zeugen glaubt, sich an einen Teil der Autonummer zu erinnern. Die Polizei geht dem nach, aber ich bezweifle stark, dass dabei irgendwas rauskommt.«

Großvater nickte. »Der Lieferwagen ist gestohlen.«

»Oder die Kennzeichen sind gefälscht.«

Großvater sah Ames an. »Sie haben mir immer noch nicht gesagt, was genau Sie von mir wollen.«

»Zum jetzigen Zeitpunkt wollen wir nur einfach alles hören, was Sie über Omega und al-Thu’ban wissen.«

»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Großvater, »und es hat keinen Sinn, wenn ich nicht ganz am Anfang beginne. Ich weiß nicht genau, was von alldem relevant für Sie ist –«

»Überlassen Sie es uns, das zu beurteilen, Joe. Sie erzählen uns einfach, was Sie wissen.«

Großvater holte tief Luft und stieß sie dann langsam wieder aus. Er war sich ganz sicher, dass Holland und Ames das meiste ohnehin wussten, vielleicht sogar alles. Doch er war lange genug Sicherheitsoffizier gewesen, um zu verstehen, dass es manchmal nur eine Möglichkeit gibt, eine Sache zu lösen: Geduld bewahren, die Zähne zusammenbeißen und einfach weitermachen.

6

»Am frühen Abend des 16. Juli«, erzählte Großvater Holland und Ames, »kamen mein Sohn Jack und seine Frau Isabel bei einem Verkehrsunfall ungefähr zehn Kilometer außerhalb von Barton ums Leben. Sie waren auf dem Weg nach London. Auf einer Ausfahrt der A12 kam ihr Wagen von der Fahrbahn ab und schleuderte gegen einen Baum. Jack war sofort tot, Isabel starb auf dem Weg ins Krankenhaus.«

»Gehe ich recht in der Annahme, dass Jack und Isabel die Detektei Delaney & Co. damals allein geführt haben?«, fragte Holland.

Großvater nickte. »Ich habe die Firma 1994, nach meinem Ausscheiden aus der Armee, gegründet. Zwei Jahre später kamen Jack und Izzy dazu und arbeiteten mit mir zusammen. 2003 habe ich mich aus der Detektei zurückgezogen und die beiden haben sie übernommen.« Er unterbrach sich einen Moment und räusperte sich. »Zur Zeit des Unfalls arbeiteten sie an einem Vermisstenfall … na ja, sie glaubten zumindest, es wäre nur ein Vermisstenfall, doch das Ganze stellte sich als wesentlich komplexer heraus. Ein alter Freund von Jack – John Ruddy, der einen Boxclub in Barton betreibt – hatte sie engagiert, um einen vielversprechenden jungen Boxer namens Bashir Kamal zu finden. Kamal trainierte gerade für seinen ersten großen Profikampf, als er plötzlich verschwand. Seine Eltern behaupteten, er sei nach Pakistan geflogen, um für seine kranke Großmutter zu sorgen, aber Ruddy glaubte ihnen nicht.« Großvater sah Holland an. »Soll ich Ihnen wirklich von Kamals Verbindungen zum MI5 erzählen? Ich bin sicher, Sie wissen weit mehr darüber als ich.«

»Kann sein«, stimmte Holland zu. »Aber wir würden trotzdem gern Ihre Version der Geschichte hören.«

»Also gut, erst eine ganze Weile nach dem Unfall gelang es uns allmählich, die Dinge zusammenzufügen … um genau zu sein, brachte Travis das meiste in Erfahrung. Er fing an, den letzten Fall von Jack und Izzy zu untersuchen, und nur durch seine Hartnäckigkeit und Entschlossenheit fanden wir schließlich heraus, dass Kamal als Informant für den MI5 gearbeitet hat. Zumindest hatte Kamal das die Leute dort glauben lassen. Wir wussten, dass Jack und Izzy etwas über Kamals Verbindung zum MI5 herausgefunden hatten und deswegen an dem Tag nach London wollten, um sich mit jemandem vom MI5 zu treffen. Klar war uns auch, dass sowohl die CIA als auch Omega nach Kamal suchten.«

»Wussten Sie vorher schon von Omega?«

Großvater nickte. »Zum ersten Mal hörte ich von der Organisation Mitte der Achtzigerjahre, als ich noch beim militärischen Geheimdienst arbeitete. Damals kursierte das Gerücht, eine kleine Gruppe von unzufriedenen Geheimdienstoffizieren habe sich zusammengetan und einen inoffiziellen Geheimdienst gegründet. Viele hielten das bloß für Gerede, doch ich hatte die ganze Zeit den Verdacht, dass die Geschichte stimmte. Und so war es tatsächlich, wie ich inzwischen weiß. Und ich bin mir fast sicher, Jack und Izzy wurden von dieser Organisation umgebracht.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Omega kannte die Wahrheit über Kamal. Sie wussten, dass er nur vorgab, ein Informant des MI5 zu sein, aber in Wirklichkeit ein al-Thu’ban-Mitglied war. Al-Thu’ban hatte Jahre gebraucht, ihn zu ihrem Mann im Innern des MI5 zu machen. Doch Omega konnte das nicht beweisen, und ausgerechnet zu der Zeit, als sie versuchten, genügend Material gegen Kamal zusammenzubringen, um ihn als Maulwurf zu enttarnen, wurden Jack und Izzy in die Situation hineingezogen, zunächst ohne etwas zu ahnen. Aufgrund verschiedener Verwicklungen war Omega damals gezwungen, Kamal aus dem Verkehr zu ziehen und ihn in einem Lagerhaus in Barton zu verstecken. Sie hatten ihn überzeugt, dass sie ihn vor der CIA schützen würden, die wiederum in Verbindung mit einem versuchten Bombenanschlag auf die amerikanische Botschaft in London nach ihm fahndete. Jack fand heraus, wo sie ihn versteckt hielten, und Omega nahm nun an, dass er und Izzy sich mit dem MI5 treffen wollten, um ihnen den Aufenthaltsort zu verraten.« Großvater unterbrach sich wieder und versuchte, seine Gefühle aus der Stimme herauszuhalten. »Ich weiß bis heute nicht, ob Omega die beiden tatsächlich umbringen wollte, aber was auch immer ihre Absicht war, am Ende haben sie Jack und Izzy von der Straße gedrängt und getötet.«

»Haben die Omega-Leute das Ihnen gegenüber zugegeben?«

Großvater schüttelte den Kopf. »Wir stellten Winston und die andern schließlich in diesem Lagerhaus, doch sie entwischten uns zusammen mit Kamal, bevor wir die Möglichkeit hatten, sie mit der Sache zu konfrontieren.«

»Wissen Sie, wohin sie verschwanden?«

»Wir haben seitdem ständig versucht, es herauszufinden, doch sie haben jahrzehntelang unbemerkt operiert und sind außergewöhnlich gut darin, sich unsichtbar zu machen. Deshalb entschieden wir uns, es auf andere Weise zu probieren. Anstatt selbst zu versuchen, sie aufzuspüren,wollten wir sie aus der Deckung zwingen. Unsere Strategie war, sie glauben zu lassen, dass wir ihnen wesentlich dichter auf den Fersen seien, als wir es tatsächlich waren, und sie auf diese Weise womöglich zu provozieren, gegen uns vorzugehen. Und sobald sie aus ihren Löchern kämen, wollten wir zuschlagen. Unglücklicherweise haben sie uns überlistet, uns überrumpelt … oder besser gesagt, sie haben mich überrumpelt …«

»Also ist das der Grund, weshalb Winston und Borstlap heute Abend in Ihrem Büro waren?«

Großvater nickte. »Ich war allein, als sie kamen. Travis, Courtney und Gloria waren in einer anderen Sache unterwegs und ich wartete auf ihre Rückkehr. Winston und Borstlap überwältigten mich im Büro und hielten mich dort fest, bis die anderen drei zurückkamen.«

»Hat Winston gesagt, was er von Ihnen wollte?«

»Er ist nicht mehr dazu gekommen. Vermutlich ging es ihm darum, dass wir mit unseren Recherchen über Omega aufhörten. Er hatte mit Sicherheit einen Plan, wie er uns zwingen konnte, sie in Ruhe zu lassen, irgendeine Drohung, die sich nicht ignorieren ließ, aber gerade als er anfangen wollte zu reden, stürmte al-Thu’ban unser Büro.«

»Wussten Sie zu dem Zeitpunkt, dass es al-Thu’ban war?«, fragte Ames.

»Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wer hinter dem Überfall steckte. Doch als ich hörte, wie einer von ihnen etwas auf Arabisch sagte, lag die Vermutung schon nahe.«

»Wie viel wissen Sie über al-Thu’ban?«

»Ehrlich gesagt so gut wie nichts«, gab Großvater zu. »Ich weiß, dass al-Thu’ban auf Arabisch Schlange bedeutet und dass die Leute eine unglaublich brutale Terrororganisation bilden …« Er schaute zu Ames. »Wissen Sie, wie sie Bashir Kamal die perfekte Legende verschafft haben, damit er den MI5 unterwandern konnte?«

Ames nickte. »Sie haben seinen Bruder durch einen Selbstmordanschlag umgebracht.«

»Und der Attentäter, den sie benutzten, war ein zwölfjähriger Junge.« Großvater schüttelte ungläubig den Kopf. »Wie kaltblütig muss jemand sein, um über so etwas auch nur nachzudenken? Ganz zu schweigen davon, es dann wirklich in die Tat umzusetzen?«

»Ich fürchte, das ist eines der Markenzeichen dieser Gruppe – die absolute Gleichgültigkeit gegenüber allem menschlichen Leben –, und genau deshalb müssen wir sie eliminieren, bevor sie weiter wächst.« Ames sah Großvater an. »Ich nehme an, Sie haben schon mal von AQAP gehört?«

»Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel.«

»Genau. Al-Thu’ban hatte ursprünglich eine lose Verbindung zur AQAP, doch vor ein paar Jahren gab es irgendein Zerwürfnis zwischen ihnen und am Ende ging al-Thu’ban seine eigenen Wege. Im Moment ist die Organisation noch relativ klein – wir schätzen die Mitgliederzahl auf höchstens zwei- bis dreihundert –, aber sie wächst schnell und die Zuwachsrate steigt ständig. Wenn es in dem Tempo weitergeht, könnte al-Thu’ban schon bald die größte Bedrohung werden, die wir je erlebt haben.«

Es fiel Großvater nicht schwer, zwischen den Zeilen zu lesen und zu verstehen, was Ames wirklich meinte – eliminieren, neutralisieren, aus dem Verkehr ziehen … egal wie man es nannte, es lief immer auf dasselbe hinaus: Strategic Operations hatte genau genommen nicht die Absicht, al-Thu’ban-Terroristen zu schnappen und vor Gericht zu stellen – das Ziel war vielmehr, die Leute zu töten.

»Wo kommen diese al-Thu’ban-Leute her?«, fragte er.

»Sie haben keine bestimmte geografische Basis. Es handelt sich um eine sehr bewegliche Organisation ohne feste Strukturen. Sie akzeptieren keine Grenzen und bleiben nie länger als ein paar Wochen am selben Ort. Ihre Mitglieder sind so verstreut, dass sie nahezu überall Kontakte und Unterstützer haben – im Jemen, in Somalia, Afghanistan, Algerien, Pakistan, Europa … es ist alles sehr offen und flexibel.«

Großvater überlegte eine Weile schweigend, dann sagte er: »Das alles ergibt überhaupt keinen Sinn. Ich meine, ich kann ja verstehen, dass sie hinter Winston her sind, nach dem, was er mit Bashir Kamal gemacht hat, aber wenn ihr Ziel Rache ist, wieso machen sie sich dann die Mühe, ihn zu entführen? Wieso töten sie ihn nicht einfach? Sie haben doch auch nicht eine Sekunde gezögert, Borstlap zu töten.«

»Wir wissen nicht, warum sie Winston entführt haben. Das ist eines der Dinge, die wir versuchen herauszufinden.«

»Und wieso haben sie Travis mitgenommen? Das ist doch erst recht unlogisch. Er hatte ja keine Schuld an dem, was Kamal passiert ist, und nach dem, was Sie mir über al-Thu’ban erzählt haben, sind diese Leute doch klug genug, das zu wissen. Und ihnen muss doch auch klar sein, dass Massen von Polizisten und Geheimdienstagenten ausschwärmen, wenn sie einen vierzehnjährigen Jungen entführen, und dass im ganzen Land nach ihnen gefahndet wird. Was ist so wichtig an Travis, dass sie solch ein Risiko eingehen? Geld kann es ja wohl nicht sein, oder? Wenn es ihnen um ein großes Lösegeld ginge, dann hätten sie doch ein Kind ausgewählt, dessen Eltern Multimillionäre sind. Ich bin ja gern bereit, ihnen jeden einzelnen Penny zu geben, den ich auftreiben kann, aber die müssen doch wissen, dass da nie viel herauskommen wird.«

»Ich stimme mit Ihnen überein, dass das Ganze im Moment scheinbar nicht viel Sinn ergibt«, sagte Ames. »Aber sobald die Entführer Kontakt aufnehmen, wird hoffentlich einiges klarer werden.«

»Was glauben Sie, wann das passieren wird?«

»Normalerweise erfolgt der erste Kontakt innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach der Entführung. Unsere Techniker haben bereits Ihren Festnetzanschluss und Ihre Handys mit speziellen Aufzeichnungsgeräten verbunden, das heißt, sobald die Entführer per Telefon Kontakt aufnehmen – was sie ganz sicher tun werden –, wird der Anruf aufgezeichnet und analysiert und ein Ortungssystem wird versuchen, ihn zurückzuverfolgen. Aber ich muss Sie warnen: Nach unseren bisherigen Erfahrungen mit al-Thu’ban dürfte es ziemlich unwahrscheinlich sein, dass wir mit der Rückverfolgung des Anrufs Erfolg haben werden. Sie benutzen offenbar ein codiertes Umleitungsprogramm. Es blockiert nicht nur jeden Versuch, die Nummer zurückzuverfolgen, sondern leitet das Suchsignal so um, dass es am Ende in der ganzen Welt hin und her springt.«

»Wer führt jetzt wirklich die Ermittlungen?«, fragte ihn Großvater. »Die Polizei oder Strategic Operations?«

»Wir arbeiten mit der Polizei als Tandem zusammen«, antwortete Ames.

Mit anderen Worten, dachte Großvater, es ist eure Ermittlung, aber nachdem es euch offiziell gar nicht gibt, leitet nominell weiter die Polizei die Untersuchung.

»Wie sieht es mit den Medien aus?«, fragte er. »Ist die Entführung schon in den Nachrichten? Gibt es eine Pressekonferenz? Was ist mit –?«

»Im Moment denken wir, es ist das Beste, wenn wir die Angelegenheit unter Verschluss halten«, sagte Holland.

»Was soll das heißen?«

»Wir geben keine Informationen an die Medien.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Großvater mit einem Stirnrunzeln. »Die Chance, Travis zu finden, ist doch viel größer, wenn jeder im Land nach ihm sucht.«

»Ja, aber es erhöht auch den Druck auf die Entführer. Und wenn sie erst einmal glauben, dass es zu riskant ist, Travis zu behalten …« Holland warf Großvater einen ernsten Blick zu. »Die werden ihn sicher nicht einfach so gehen lassen, verstehen Sie?«

Großvater fluchte leise, als ihm klar wurde, dass Holland recht hatte.

»Die Polizei hat eine Presseerklärung herausgegeben, in der es heißt, ein Leck in der Gasleitung habe die Explosion verursacht«, erklärte Holland. »Die Medien haben die Geschichte nicht restlos geschluckt, aber sie verschafft uns fürs Erste ein bisschen Zeit.« Er schaute auf seine Uhr, dann sah er zu Ames. Ames nickte. Holland wandte sich wieder an Großvater. »DCI Stringer wird Sie und Ihre Mitarbeiterinnen sehr bald gehen lassen und wir raten Ihnen allen dringend, nach Hause zu fahren und sich ein bisschen auszuruhen. Wir richten vorübergehend eine Kommandozentrale in Barton ein und ich habe Ihnen schon unsere Handynummern geschickt. Wenn Sie also irgendwas brauchen oder einfach nur reden wollen, können Sie jederzeit einen von uns anrufen, Tag und Nacht.«

»Danke«, sagte Großvater.

Er sah zu, wie sich Holland und Ames langsam erhoben.

»Wir melden uns, Joe, okay?«, sagte Ames.

Großvater nickte und die beiden Männer drehten sich um und gingen.

 

Es war inzwischen nach drei Uhr morgens und Großvater fühlte sich vollkommen zerschlagen. Er war seit mehr als achtzehn Stunden auf den Beinen. Die Druckwelle einer Blendgranate hatte ihn körperlich aus den Schuhen geworfen und mental hatte die Entführung seines Enkels das Gleiche getan. Er war hin und her geschubst worden, man hatte ihn seiner Kleidung beraubt, die Polizei hatte ihn fast drei Stunden lang in die Mangel genommen und jetzt hatten ihm Holland und Ames den Kopf mit einer Lawine verwirrender Informationen gefüllt. Mit Sicherheit hatten sie ihm nicht einmal annähernd alles gesagt, was sie wussten, und ein beträchtlicher Teil dessen, was sie ihm gesagt hatten, war wohl bestenfalls eine verdrehte Version der Wahrheit.

Daher ratterte Großvaters Kopf trotz der unendlichen Müdigkeit immer noch weiter. Es gab so viele unbeantwortete Fragen in seinem Schädel, so viele Dinge, die nicht zusammenpassten, so vieles, was schlicht und ergreifend nicht logisch klang …

Vergiss die Logik, sagte er sich und schüttelte die Müdigkeit aus seinem Kopf. Konzentrier dich auf das einzig Wichtige: Travis zurückzubekommen.

Er rieb sich die Augen, ordnete die Gedanken in seinem schmerzenden Kopf und zwang sich, alles noch einmal neu zu überdenken.

7

Während Großvater allein in einem Verhörraum im Bartoner Polizeirevier saß, erwachte ich langsam aus der tiefen Ohnmacht, in die mich die Spritze versetzt hatte. Im ersten Moment glaubte ich, ich müsse zu Hause in meinem Bett sein – ich wachte auf, wo also sollte ich sonst sein? Doch noch bevor ich wieder bei vollem Bewusstsein war, begriff ich, dass das nicht der Fall war. Ich schien irgendwie auf dem Boden zu liegen, das war schon mal verkehrt, und es war auch nicht der Teppichboden in meinem Zimmer. Der war nämlich nicht steinhart und eiskalt und er roch auch anders. Der Boden, auf dem ich lag, roch feucht und moderig und die eisige Luft müffelte genauso übel.

Nein, das hier war nicht mein Zimmer. Da gab es nicht den geringsten Zweifel.

Eine Minute lang blieb ich still liegen, hielt die Augen geschlossen, überlegte und horchte. In meinem Kopf hämmerte es wie verrückt und Mund und Hals fühlten sich an wie Schmirgelpapier. Erst da begriff ich, wie unsäglich durstig ich war, durstiger als je zuvor in meinem Leben. Ich versuchte, den Durst zu ignorieren und mich zu konzentrieren. Es dauerte eine Weile, ehe sich der Nebel in meinem Kopf lichtete, doch schließlich konnte ich mich vage wieder erinnern. Wie ich mit Großvater, Courtney und Gloria im Büro war … wie ich in Winstons kalte stahlgraue Augen starrte … wie ich mir versprach, koste es, was es wolle, und egal wie lange es auch dauern würde, Winston für das bezahlen zu lassen, was er meinen Eltern angetan hatte … und dann plötzlich das Klirren von Glas, als die Fensterscheibe barst, eine hirnzerfetzende Explosion … und wie mir danach jemand eine Nadel in den Arm gejagt hatte …

Wie lange ist es her, dass all dies passiert ist?, fragte ich mich. Und wo bin ich jetzt?

Ohne mich zu bewegen, öffnete ich langsam die Augen. Das Einzige, was ich von dort, wo ich lag, sehen konnte, waren ein dreckiger Steinboden und eine nackte Backsteinwand. Ungefähr zwei Meter von mir entfernt verlief eine breite Kreidelinie und auf meiner Seite der Linie stand eine Zweiliterflasche Wasser. Ich widerstand dem Drang, zu der Flasche zu kriechen, bewegte nur langsam den Kopf und sah mich weiter um. Allmählich begriff ich, dass ich mich in einer Art Keller befand – Backsteinmauern, keine Fenster, eine nackte Glühbirne, die an einem Kabel von einem Balken hing. Am anderen Ende des Kellers führte eine Holztreppe zu einer geschlossenen Tür hoch.

Inzwischen starb ich förmlich vor Durst, deshalb versuchte ich nun doch, mich aufzusetzen und zu der Wasserflasche zu kriechen, aber auf einmal merkte ich, dass meine Arme in Handschellen lagen und meine Beine zusammengekettet waren. Instinktiv zerrte und riss ich an der Kette und an den Handschellen, doch ich wusste, ich vergeudete nur meine Zeit. Handschellen und Kette waren aus Stahl – unverwüstlich, unaufbrechbar –, und selbst wenn ich ihnen irgendwie hätte entkommen können, wäre ich trotzdem nicht frei gewesen. Eine weitere Kette war eng um meine Taille gewickelt – zu eng, um mich herauszuzwängen, und mit einem Schloss an eine weitere Kette gekoppelt. Die zweite Kette wiederum hatte man an einem schweren Holzpfeiler befestigt, der vom Boden zur Decke reichte. Ich war also nicht nur an Händen und Füßen gefesselt, sondern auch noch fest an einen massiven Stützpfeiler gekettet.

Auf einmal vergaß ich mich, sekundenlang riss und zerrte ich an den Ketten, fluchte und stieß sinnlos meine Schulter gegen den elenden Pfeiler …

»Wenn du so weitermachst, verletzt du dich bloß«, hörte ich eine vertraute Stimme sagen.

Ich riss den Kopf herum in Richtung der Stimme und erblickte Winston. Er saß auf der anderen Kellerseite, mit dem Rücken an einen zweiten Holzpfeiler gelehnt. Auch er war in Handschellen und angekettet. Er sah nicht besonders gut aus. Seine Augenbrauen waren versengt, sein Gesicht noch schwarz von der Explosion der Granate. Dort, wo man die Haut trotzdem noch sehen konnte, wirkte sie kränklich blass und wie verdorrt. Von der energiegeladenen, selbstsicheren Ausstrahlung, die er sonst immer hatte, war nichts mehr zu spüren. Er wirkte jetzt wie ein müder alter Mann.

»Trink ein bisschen Wasser«, sagte er und deutete mit dem Kopf in Richtung Flasche. »Du bist dehydriert von dem Zeug, das sie uns gespritzt haben. Dein Körper braucht unbedingt Flüssigkeit.«

Ich humpelte ungeschickt zu der Flasche hinüber und hob sie auf. Die Fesseln um meine Knöchel waren gerade lose genug,