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La Chapelle-Roobol, Suze

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Project Gutenberg's Trotzkopf als Grossmutter, by Suse la Chapelle-RoobolThis eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and withalmost no restrictions whatsoever.  You may copy it, give it away orre-use it under the terms of the Project Gutenberg License includedwith this eBook or online at www.gutenberg.orgTitle: Trotzkopf als GrossmutterAuthor: Suse la Chapelle-RoobolTranslator: Anna HerbstRelease Date: May 5, 2012 [EBook #39619]Language: German*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK TROTZKOPF ALS GROSSMUTTER ***Produced by Norbert H. Langkau, Katrin and the OnlineDistributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net

Anmerkungen zur Transkription:

Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen. Uneinheitliche Schreibweisen (zum Beispiel ehrfurchtsvoll / erfurchtsvoll, hilflos / hülflos, nämlich / nemlich, San Franzisko / San Francisko, Sofa / Sopha, um's Himmels willen / ums Himmelswillen / Ums Himmels willen) wurden beibehalten. Lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Diese Änderungen sind im Text gekennzeichnet, der Originaltext erscheint beim Überfahren mit der Maus. Zusätzlich findet sich eine Liste der vorgenommenen Änderungen am Ende des Textes.

Die Illustrationen — mit Ausnahme des Frontispiz — wurden an die inhaltlich passenden Textstellen verschoben.

Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt. Im Original in Antiqua gesetzter Text wurde kursiv markiert.

Anmerkungen zur Transkription (speziell für Handheld):

Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen. Uneinheitliche Schreibweisen (zum Beispiel ehrfurchtsvoll / erfurchtsvoll, hilflos / hülflos, nämlich / nemlich, San Franzisko / San Francisko, Sofa / Sopha, um's Himmels willen / ums Himmelswillen / Ums Himmels willen) wurden beibehalten. Lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Diese Änderungen sind im Text gekennzeichnet. Zusätzlich findet sich eine Liste der vorgenommenen Änderungen am Ende des Textes.

Die Illustrationen — mit Ausnahme des Frontispiz — wurden an die inhaltlich passenden Textstellen verschoben.

Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrt gesetzter Text wurde kursiv markiert. Im Original in Antiqua gesetzter Text wurde fett markiert.

TROTZKOPF ALS GROSSMUTTER

VON SUSE LA CHAPELLE-ROOBOL

AUTORISIERTE ÜBERSETZUNG AUS DEM HOLLÄNDISCHEN VONANNA HERBST

MIT 8 TONBILDERN VON WILLY PLANCK

Siebenunddreissigstes bis zweiundvierzigstes Tausend

STUTTGART

GUSTAV WEISE VERLAG

A. g. XIII.

Druck von Carl Hammer (Inh. Wilhelm Herget), Stuttgart.

„Großmama, Onkel Heinz ist noch immer nicht da. Wir werden gewiß zu spät an die Bahn kommen.“

„Nein, Irma, du hast Zeit genug, die Fahrt dauert kaum zehn Minuten.“

„Ich hab' solche Sehnsucht nach den Cousinen aus Amerika. Was für einer herrlichen Zeit gehen wir entgegen, nicht wahr, Großmütterchen?“ Und in ausgelassener Fröhlichkeit flog das schlanke, siebzehnjährige Mädchen mit dem schönen, blonden Kraushaar und den dunkelblauen Augen der alten Dame um den Hals.

Mit innigster Liebe schaute die verwitwete Frau Ilse Gontrau ihre Enkelin an. Ihr feines, schmales, von schneeweißem Haar umrahmtes Antlitz trug einen wehmütigen Ausdruck, der jedoch durch ein freundliches Lächeln verklärt wurde.

„Ja, Kind, auch ich bin sehr glücklich, daß Tante Marianne und Onkel Fritz aus Amerika zurückkommen und hier Wohnung nehmen wollen; ich sehne mich sehr danach, die Kinder kennen zu lernen.“

„Ist es nicht unbegreiflich, Großmama, daß Onkel Fritz die beiden Mädchen und den kleinen Karl allein vorausschickt und die drei gar noch in Paris gewesen sind? So 'ne große Reise und solch junge Mädchen!“

„Das hat auch mich in Erstaunen versetzt, liebe Irma. Aber ich denke, wir werden uns noch über vieles wundern. Amerikanische Mädchen sind so ganz anders erzogen als deutsche.“

„Ah, da kommt Onkel Heinz,“ rief Irma, die einen Wagen rollen hörte, und eilig lief sie hinaus.

„Wir wollen gleich gehen, Onkel, es ist schon spät.“

„Nur ruhig,“ versetzte die tiefe Stimme eines alten Mannes, „wir haben noch eine halbe Stunde Zeit, Jungfer Ungeduld. Ich muß erst einen Augenblick aussteigen, weil mein Fuß nicht so lange in derselben Stellung aushalten kann.“

„Macht die Gicht dir wieder zu schaffen?“

„Ja, natürlich, meine alten Knochen benehmen sich wieder schauderhaft.“

Brummend stieg der Professor aus dem Wagen, humpelte, auf einen Stock gestützt, durch den Flur und trat in das von der Sonne hell erleuchtete Zimmer.

Die Jahre waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen, sie hatten seine kraftvolle, breitschultrige Gestalt etwas gebeugt. Das faltige, von schlohweißem Haar und Bart umrahmte Antlitz zeigte oft einen barschen Ausdruck, denn es machte ihm Vergnügen, sich als launischen Brummbären aufzuspielen, aber die von buschigen, schwarzen Brauen beschatteten Augen konnten noch ebenso schalkhaft und humoristisch durch die goldene Brille gucken wie in jungen Jahren.

Von der Gicht gezwungen, die ihn oft wochenlang an den Sessel festbannte, hatte er sich vor längerer Zeit pensionieren lassen. Obwohl er mit Vorliebe behauptete, ganz überflüssig in der Welt zu sein und keinem Menschen etwas nützen zu können, so wußten seine Freunde, wenn sie auch niemals eine derartige Anspielung wagen durften, doch nur zu gut, daß er vielen unentbehrlich war und es in der ganzen Stadt keinen so hilfsbereiten, wohltätigen Mann gab wie den alten Professor Fuchs. —

„Guten Abend, Frau Ilse,“ sagte er, während Irma sich den Hut aufgesetzt hatte und vor Ungeduld zitternd neben ihm stand.

„Sie sind doch noch ausgestiegen? Warum machen Sie sich unnütz müde?“

„Papperlapapp, ich bin kein im Sterben liegendes Jungfräulein. Müde machen! Es ist nicht mehr als recht und billig, daß einer, der den ganzen Tag nichts tut, wenigstens seinen alten Beinen Bewegung macht.“

„Ja,“ entgegnete Frau Ilse zustimmend, denn sie kannte seine kleine Schwäche, bei dem unschuldigsten Widerspruch hitzig aufzufahren; „aber müssen Sie nun nicht gehen?“ fügte sie freundlich hinzu.

„Ach ja, Onkel,“ schmeichelte Irma.

„Na, kleine Kröte, dann komm nur. ‚Kröte‘, das sagte ich auch immer zu deiner Mutter. Und nun wollen wir die Kinder meines andern Lieblings abholen. Wir werden alt, Frau Ilse!“

„Wir sind alt, Onkel Heinz, das Leben hat beinahe mit uns abgerechnet.“

„Unsinn, der Teufel ist alt! Vorwärts, Kind! Auf Wiedersehen, ich komme nochmal mit zurück.“

„Natürlich,“ stimmte Frau Ilse bei. Sie hörte ihn durch den Flur stapfen, den Wagenschlag zuwerfen und die Droschke fortfahren. Nun lehnte sie den Kopf an die Schlummerrolle des Lehnsessels, um wie gewöhnlich um diese Stunde etwas zu ruhen. Jetzt, vor all der Unruhe, die ihrer wartete, hatte sie das doppelt nötig. Aber trotzdem sie die Augen geschlossen hielt und die tiefe Stille, nur unterbrochen von dem regelmäßigen Ticken der schönen, altmodischen Standuhr, geradezu zum Schlummern aufforderte, vermochte Frau Ilse doch nicht einzunicken.

Unwillkürlich schweiften ihre Gedanken in die Vergangenheit zurück, und alle Ereignisse der letzten fünfundzwanzig Jahre zogen an ihrem Geist vorüber. Am Anfang stiegen nur heitere, lichte Bilder vor ihrer Seele auf: der stetig wachsende Erfolg Ruths, ihrer ältesten Tochter, die als Sängerin immer mehr Lorbeeren erntete und sich in der von ihr erwählten Laufbahn sehr glücklich fühlte. Dann kam die Verlobung Mariannes, ihres sanften, lieben Blondköpfchens mit Fritz, dem Sohne ihrer alten Freundin Rosi. Dies Glück war freilich mit Trauer gemischt, da Marianne ihrem Gatten nach San Franzisko folgen mußte. Aber in dem Bewußtsein, daß reiches Glück ihr Kind erwartete, hatten Ilse und Leo sich darein ergeben und ihrem Liebling, unter Tränen lächelnd, Lebewohl gesagt.

Auch als Ruth, die ihre Studien in Berlin und später in Paris fortsetzte, nach einiger Zeit Herz und Hand einem berühmten Geigenkünstler schenkte, hatten die Eltern freudig ihre Einwilligung gegeben. Zwar klagte Frau Ilse, daß ihre Töchter so bald schon das elterliche Nest verließen, doch ihr alter Freund, der Professor, so schwer ihm selbst auch die Trennung von seinen beiden kleinen Kröten fiel, bewies ihr lachend, daß nun die Zeit gekommen sei, ihre Memoiren zu beginnen, und Leo, ihr Gatte, sagte ernsthaft, sie hätten kein Recht, sich zu beklagen. Die Kinder folgten ihrer Bestimmung und täten nichts anderes, als was ihre Eltern auch vor Zeiten getan, sie hätten nur Ursache dankbar zu sein, daß beide den Mann geheiratet, den sie liebten. Ilse, mit ihrem elastischen, lebhaften Charakter, stark in der Liebe ihres Gatten und ihrer Freunde, lernte es, sich ins Unabänderliche zu schicken, und klagte nicht, daß sie mit ihren Kindern in Amerika nur brieflich verkehren und auf diese Weise erfahren konnte, daß ihre Enkel solch liebe Schätzchen seien. Ruth und ihr Mann weilten meist im Auslande oder in den großen Städten Deutschlands, doch dann und wann verbrachten sie einige Wochen bei ihren Eltern, und als sie erst einen Sohn und später ein Töchterchen bekamen, konnte Großmutter Ilse wenigstens diesen Enkeln ihre Liebe beweisen und die Freude genießen, sie von Zeit zu Zeit bei sich zu haben.

Dann waren traurige Tage gekommen. Das Glück, das Ilse so lange treu geblieben, schien sie zu verlassen, und auch sie mußte die Erfahrung machen, daß in jedem Leben Tränen ebenso notwendig sind wie Freude, um uns zu tüchtigen, gereiften Menschen zu machen. Die Freundschaft zwischen den Althoffs und Gontraus verminderte sich mit den Jahren nicht; im Gegenteil, als auch Nellies Pflegetochter Annie sich mit einem Prediger vermählte und die Stadt verließ, hatten sich die beiden Freundinnen noch inniger an einander geschlossen, und es verging kaum ein Tag, an dem sie nicht zusammen kamen. Nun fing Nellie, die nie kräftig gewesen war, an zu kränkeln, wollte das aber vor Fred verbergen, der nach Annies Hochzeit wieder mehr denn je von der sorgenden Liebe seiner Frau abhängig geworden war. So merkte er nichts, und selbst vor Ilse verstand Nellie zu verheimlichen, wie elend sie sich oft fühlte. Endlich, während eines ungewöhnlich strengen Winters, fing sie an zu husten, anfangs wollte sie nichts darauf geben, bis der Doktor ihr das Ausgehen entschieden verbot. Die gute Nellie, die immer nur an andere und nie an sich gedacht hatte, wurde ernstlich krank, und als der Frühling seinen Einzug hielt, erlöste ein sanfter Tod sie von ihrem Leiden. Bis zum letzten Augenblick sorgte sie nur um ihren Fred und beklagte schmerzlich, daß er so einsam und traurig zurückbliebe. Hoffnungslos kniete der Direktor an ihrem Sarge und konnte sich nicht vorstellen, wie er ohne sein liebes, treues Frauchen leben solle; täglich ging er zu ihrem Grabe, schmückte es mit frischen Blumen und fühlte sich namenlos unglücklich. Am liebsten weilte er bei Gontraus, wo er mit Ilse stundenlang über seine geliebte Nellie reden konnte. Auch Ilse war untröstlich über den Verlust ihrer Freundin; sie hatte sie treu gepflegt und doch machte sie sich jetzt Vorwürfe, daß sie nicht genug für sie getan und dem sanften, aufopfernden Wesen die Liebe und Hingebung nicht mehr gelohnt hatte. Auch sie fand Trost in Althoffs Gesellschaft und wurde nicht müde ihn zu beklagen und mit ihm zu leiden.

Doch die Zeit ist das beste Heilmittel für alle Wunden, und so geschah es denn auch, daß der Direktor ab und zu seinen täglichen Spaziergang nach dem Friedhof versäumte, auch wieder über andere Dinge redete und nicht mehr so häufig zu Gontraus kam. Eines Abends, als Ilse mit Leo und Onkel Heinz aus einem Konzert heimkehrte, fanden sie eine gedruckte Anzeige vor, die ihr von der Verlobung Dr. Althoffs mit Frau Gebel, der Witwe eines Regierungsrates, Mitteilung machte.

Ilses Enttäuschung kannte keine Grenzen. Heftig warf sie den Brief auf die Erde und erklärte es für eine Schmach, daß Althoff Nellie, seine engelhafte Frau so rasch vergessen habe. Sie wollte ihn nie wiedersehen.

„Das ist doch übertrieben, liebste Ilse,“ sagte Leo. „Bedenke doch, wie Fred von seiner Frau gehegt, gepflegt und verwöhnt war und wie einsam und unglücklich der arme Mann sich nun fühlen mußte. Wenn er aufs neue häusliche Gemütlichkeit und Glück sucht, darfst du ihn wirklich nicht beurteilen.“

„Verehrte Frau,“ fügte der Professor in seinem gewohnten spöttischen Ton hinzu, „nicht alle Männer sind schon in der Wiege zu alten Junggesellen oder vertrockneten Bücherwürmern bestimmt!“

Ihre Worte gossen aber nur Oel ins Feuer. Der Trotzkopf der Jugendzeit, der sich jetzt so selten zeigte, daß man seine Existenz beinahe vergessen hatte, kam wieder einmal zum Vorschein.

„Unsinn,“ rief sie heftig, „natürlich müßt ihr ihm die Stange halten; die Männer sind sich alle gleich, herzlose Egoisten, welche die Liebe einer Frau nicht verdienen und sie nur zu schnell vergessen.“

„Aber Ilse,“ wandte Leo ein.

„Schweig still, du würdest es gerade so machen, wenn ich gestorben wäre,“ klagte sie weinend.

„Das weißt du wohl besser, Liebste,“ nahm Gontrau ernst das Wort. „Aber wir dürfen andere nicht gleich verurteilen, wenn sie unter Umständen anders handeln, als wir an ihrer Stelle getan hätten. Wenn auch nicht alle Männer imstande sind, nur einmal im Leben und für immer zu lieben, so ist es doch sehr gut möglich, daß ihre Zuneigung warm und echt ist.“

„Kein einziger Mann besitzt die Fähigkeit, nur einmal im Leben zu lieben,“ erklärte Ilse, noch immer zürnend, „ausgenommen der meinige,“ fügte sie plötzlich hinzu, den traurigen, vorwurfsvollen Blick bemerkend, mit dem Leo sie anschaute, und sie schmiegte den Kopf an seine Schulter.

Professor Fuchs sah die beiden an, und als Ilses Blick dem seinen begegnete, meinte sie einen eigentümlichen Ausdruck darin zu lesen und fragte:

„Na, Herr Professor, Sie sind natürlich wieder nicht meiner Meinung?“

Aber statt der streitsüchtigen Antwort, die sie zu hören erwartete und auf die gewöhnlich ein hitziger Wortwechsel folgte, erwiderte Onkel Heinz milde:

„Nein, Frau Gontrau, denn ich weiß, daß es Männer gibt, die ebenso treu wie eine Frau zu lieben vermögen, ihr ganzes Leben lang, selbst ohne Gegenliebe und ohne die Hoffnung, jemals glücklich zu werden.“

Gedankenvoll starrte er vor sich hin, und sein Antlitz zeigte denselben Ausdruck, der Ilse jetzt nicht mehr — wie vor vielen Jahren — in Bestürzung versetzte, der sie jetzt nur mit Mitleid erfüllte, warum, wußte sie selbst nicht zu sagen.

Wenn Frau Ilse bei ruhigerer Überlegung auch zugeben mußte, daß Direktor Althoffs Benehmen zu entschuldigen war, so empfing sie ihn doch mit sehr kühler Höflichkeit, als er ihr seine Braut vorstellte. Instinktiv fühlten beide, daß die alte Freundschaft aufgehört hatte, und obwohl sie sich dann und wann sahen, war doch von dem früheren herzlichen Verkehr keine Rede mehr. Ilse konnte es Fred nicht verzeihen, daß er Nellies Platz von einer andern einnehmen ließ. Als es sich nach einiger Zeit herausstellte, daß seine zweite Frau lange nicht so liebevoll und sanft war wie die verstorbene, daß der Direktor recht schön unter dem Pantoffel stand und von Verhätscheln und Verwöhnen keine Rede war, empfand sie nicht das geringste Mitleid mit ihm, sondern erklärte, daß er nur ernte, was er verdient hatte.

Wieder vergingen viele Jahre. Die Enkel in San Franzisko wurden groß und schrieben nette deutsche Briefchen an Großpapa und Großmama Gontrau. Ruths Sohn, der jetzt im vierzehnten Jahre stand, fing an, eine so überraschende musikalische Begabung zu zeigen, daß seine Eltern stark daran dachten, auch ihn die Künstlerlaufbahn einschlagen zu lassen. Da geschah etwas Schreckliches und der schwerste Schlag, der sie treffen konnte, beugte Ilse für eine Zeit völlig nieder.

Obwohl fast sechzig Jahre alt, stand Professor Gontrau doch noch in voller Manneskraft und kam seinen vielen Amtsgeschäften mit Eifer und Treue nach. Ihm und Ilse schwanden die Jahre fast unmerklich dahin, und beide sahen für ihr Alter wunderbar jung und frisch aus. Das kam von dem vielen Glück, das ihnen das Schicksal bescherte, und von der großen Liebe, mit der sie sich gegenseitig umgaben. Da zog sich Gontrau, der nie krank gewesen war, eine Erkältung zu, die er anfänglich vernachlässigte. Sie hatte eine schwere Lungenentzündung zur Folge, die ihn innerhalb einer Woche dahinraffte. So schnell und heftig hatte die Krankheit zugenommen, daß Ruth und ihr Mann, die in Paris weilten, kaum Zeit fanden, an das Sterbebett ihres Vaters zu eilen, und erst ein paar Stunden vor seinem Hinscheiden eintrafen. Sie waren tief betrübt; ihre Kinder, Gustav und die kleine Irma, weinten heiße Tränen, weil der liebe Großpapa, an dem sie so zärtlich hingen, von ihnen ging. Fritz und Marianne schrieben aus San Franzisko trostlose Briefe.

Im Kreise der Rechtsgelehrten, zu dem Professor Gontrau gehörte, herrschte große Betrübnis, aber kein Schmerz war mit der starren Verzweiflung zu vergleichen, die sich Ilses bemächtigt hatte. Von allen Seiten wurden ihr Zeichen der Teilnahme entgegengebracht. Ruth und die Kinder blieben wochenlang bei ihr. Die Tochter bot allem auf, um ihre Mutter zu trösten. Professor Fuchs zeigte in seiner eigenartigen Weise, wie innig er mit der Witwe fühlte. Flora Werner kam selbst vom Lande herein und war so herzlich, daß Onkel Heinz, der sie immer noch überspannt gefunden und sich nie viel aus ihr gemacht hatte, sich ganz mit ihr aussöhnte. Doch alles war vergebens, Ilse wollte keinen Trost gelten lassen. Bis dahin noch eine hübsche, stattliche Dame hatte sie sich im Laufe weniger Monate in eine alte Frau mit schneeweißem Haar verwandelt; die früher so lebhaften Augen starrten erloschen aus dem bleichen, hager gewordenen Antlitz, die stets so beschäftigten Hände lagen tagelang müßig im Schoß!

Mit Tränen in den Augen hatte Ruth sie oft umarmt und angefleht, sich um aller derer willen, die sie so innig liebten, doch ein wenig aufzuraffen.

„Ich kann nicht, Kind,“ lautete die traurige Antwort, „selbst wenn ich wollte. Glaube mir, das beste für mich wäre, wenn ich deinem teuren Vater bald folgen könnte.“

Mit zusammengezogenen Brauen und einem Gesicht, das sich je länger je mehr verdüsterte, bemerkte Onkel Heinz, der fast täglich in dem Gontrauschen Hause weilte, diese traurige Veränderung. Anfangs hatte er das größte Verständnis für Ilse gehabt und nicht gewußt, wie zart er mit ihr umgehen sollte. Allmählich aber sah er die Sachen mit andern Augen an und beschloß einmal ein ernstes Wort zu reden.

„Wissen Sie, Frau Gontrau,“ begann er, als er mit ihr allein war, „woraus wir, meiner Ansicht nach, Trost schöpfen können, wenn wir unsre Liebsten verloren haben?“

Ilse schlug die brennenden Augenlider auf und schaute ihn fragend, mit einem Schimmer von Interesse an.

„Wenn wir in ihrem Geiste weiterleben,“ fuhr der alte Mann fort, „wenn wir genau dasselbe tun, womit wir sie glücklich machten, als sie noch bei uns weilten.“

„Vielleicht,“ versetzte Ilse mit bitterm Lächeln.

„Sie aber tun das nicht,“ fuhr Onkel Heinz erbarmungslos fort. „Oder glauben Sie, der gute Gontrau würde sich darüber freuen, wenn er wüßte, daß Sie sich so gehen lassen, sich sogar gegen die Liebe Ihrer Kinder gleichgültig zeigen und auf dem besten Wege sind, Ihre Gesundheit zu zerstören und sich aufzureiben?“

„Zum Glück weiß er das nicht.“

„Sind Sie dessen ganz sicher? Und selbst wenn dem so wäre, der Gedanke, in dem Geist und Sinn unserer lieben Verstorbenen weiter zu leben, ist ein festes, köstliches Band, das uns mit ihnen verbindet. Jedenfalls finde ich Sie in Ihrem Leid ganz besonders egoistisch und undankbar.“

Ilse stand auf, ihre trüben Augen fingen an zu funkeln, etwas von ihrer alten Natur wurde wach in ihr, und sie rief entrüstet: „Wie dürfen Sie es wagen, so zu mir zu sprechen? Ich verlange nichts, als daß man mich mit meinem Schmerz allein läßt! Egoistisch, undankbar! Wie sollte ich Ursache haben, dankbar zu sein, ich, über die das größte Leid gekommen ist, das eine Frau treffen kann!“

Onkel Heinz ließ sich jedoch nicht abschrecken; er war schon froh, daß er sie aus ihrer Apathie aufgerüttelt hatte, und fuhr ruhig fort:

„Egoistisch, weil Sie nur an sich denken und ganz vergessen, daß es Ihre Pflicht ist — und nichts weiter als Ihre Pflicht und Schuldigkeit — für Ihre Kinder zu leben und ihnen durch doppelte Liebe den Vater zu ersetzen. Undankbar, weil Sie all das Gute nicht erkennen, was Ihnen noch geblieben ist. Wer sind Sie denn, Frau Ilse, und auf welchen Standpunkt stellen Sie sich eigentlich, um so viel vom Leben fordern zu dürfen?“

„Ich?“ stammelte sie verständnislos.

„Ja, Sie,“ wiederholte er heftig. „Alle Segnungen, die ein Menschenleben glücklich gestalten können, sind Ihnen zu teil geworden. Sie haben eine sorgenlose Jugend genossen, waren schön und gesund, durften den Mann heiraten, den Sie unaussprechlich liebten. Ihre Kinder haben Ihnen nie eine trübe Stunde bereitet; auch an irdischen Glücksgütern fehlte es nicht. Mehr als dreißig Jahre waren Sie mit Ihrem Manne vereint und haben die denkbar größte Seligkeit erfahren.“

„Ja, aber eben gerade deshalb ist es jetzt so fürchterlich,“ schluchzte Ilse. „Gerade weil ich meinen Mann so geliebt habe, so glücklich mit ihm gewesen bin, kann ich ihn nicht entbehren, und es ist so trostlos, ohne ihn leben zu müssen. Aber davon wissen Sie nichts, das können Sie nicht verstehen.“

Onkel Heinz lächelte traurig.

„Nein, das kann ich natürlich nicht verstehen; aber wissen Sie, Frau Gontrau, was ich außerdem auch nicht verstehe? Daß Sie sich niemals die Frage vorgelegt haben, in welchen Beziehungen Sie denn so viel besser, weiser und liebenswürdiger sind als andre, um so bevorzugt zu werden. Denn ich sage Ihnen, tausende schmachten nach dem Glück, das Ihnen mühelos in den Schoß gefallen ist. Tausende müssen im Leben sich begnügen, die reichbesetzte Tafel anderer zu sehen, und lernen, sich neidlos an fremdem Glück zu freuen, ohne daß ihnen von den begehrenswerten Schätzen das Geringste zu teil wird.“

Seine Stimme klang seltsam bewegt, was ihr nicht entging; und als sie durch ihre Tränen zu ihm aufschaute, sah sie, daß er ganz gerührt war. Freundlich reichte sie ihm die Hand und flüsterte:

„Sie haben Recht, ich will mich zusammennehmen.“

Und sie hielt Wort. Zwar wurde sie nicht mehr die alte Ilse, die sie früher gewesen war, aber sie lernte, sich in das Unabänderliche schicken, zehrte vom Glück, das sie früher besessen hatte, und konnte dankbar sein für das, was ihr geblieben war. Niemand, selbst Ruth nicht, erfuhr, was der alte Professor mit ihr verhandelt hatte. Ihre Kinder schrieben die günstige Veränderung der alles heilenden Zeit zu.

Einige Jahre später baten Ruth und ihr Gatte, Heinrich von Holten, Großmama Ilse, ihr Töchterchen Irma auf unbestimmte Zeit in ihr Haus zu nehmen. Durch ihren Beruf gezwungen, waren sie viel auf Reisen und konnten nie lange an einem Ort verweilen. Dies unstäte Leben mußte die Erziehung des heranwachsenden Mädchens ungünstig beeinflussen. Mit Gustav war das etwas anderes; der Knabe spielte bereits so meisterhaft Klavier, daß er seine Eltern nicht nur begleitete, sondern sich schon selber öffentlich hören ließ. Irma aber war nicht künstlerisch veranlagt, für sie paßte dies ruhelose Leben nicht. Mit welcher Freude Frau Ilse die Bitte ihrer Tochter erfüllte, läßt sich denken. Sie fühlte sich oft sehr einsam, und nun, wo die hübsche, lustige Irma ihr Gesellschaft leistete, erwachte wieder viel von ihrer früheren Lebenslust.

Alle diese Ereignisse zogen an Ilses Geist vorüber, während sie in ihrem gemütlich eingerichteten Wohnzimmer saß. Sie erkannte, wie sie es eigentlich Onkel Heinz verdankte, daß sie nun mit Freuden der Ankunft ihrer unbekannten Großkinder entgegensah, und sich auf die spätere Heimkehr von Fritz und Marianne aus dem fernen Lande freuen konnte; und ein Gefühl der Dankbarkeit gegen ihren alten Freund erfüllte sie. —

Unterdessen waren Professor Fuchs und Irma auf dem Bahnhof angelangt und schritten ziemlich ungeduldig auf dem überdachten Bahnsteig hin und her, um die Ankunft des Zuges zu erwarten.

„Glaubst du, daß wir sie schnell herausfinden, Onkel?“ fragte Irma.

„Aber natürlich, sie werden Lärm genug machen.“

„Ich bin so schrecklich neugierig; wenn der Zug nur erst käme, es ist nicht mehr auszuhalten!“

Ein schriller, langgezogener Pfiff in der Ferne, ein immer lauter werdendes Getöse verriet, daß die Wartezeit ein Ende hatte.

„Ruhig!“ mahnte Onkel Heinz, als Irma ihn mitten ins Menschengewühl hineinziehen wollte. „Glaubst du, mir macht's Vergnügen, auf meinen schmerzenden Fuß getreten zu werden? Wir bleiben hier stehen, dicht neben dem Eingang, da müssen sie vorbeikommen, und wir können sie nicht verfehlen.“

Irma wäre lieber weitergegangen, aber sie nahm sich zusammen, reckte sich, so viel sie konnte, und bemühte sich, mit ihren scharfen Augen die Erwarteten zu entdecken.

„Ach, ich fürchte, sie sind nicht da,“ flüsterte sie enttäuscht.

„Ich glaube, du bist meine Cousine Irma von Holten,“ sagte plötzlich eine helle Stimme in reinstem Deutsch dicht neben ihr, und vor ihr standen zwei junge Mädchen mit einem Knaben von etwa zehn Jahren.

„Maud! Agnes!“ rief Irma erfreut, „seid ihr's wirklich? Ach wie schön, daß wir euch gefunden haben.“

Sie war doch etwas verlegen und warf rasch einen Seitenblick auf die Amerikaner. Die beiden Mädchen waren groß und schlank, trugen sehr einfache Reisekostüme von dunklem Stoff, gut, aber ohne jede Verzierung gearbeitet, um den Hals einen weißen Kragen mit einer hübsch geschlungenen Krawatte. Irma fand, daß sie jungenhaft aussahen, besonders Maud, deren dunkles Haar kurz geschnitten war. Beide trugen Filzhüte mit einem breiten glatten Band und einer steif aufrechtstehenden Hahnenfeder. Der Knabe sah allerliebst aus. Er war klein für sein Alter, hatte aber ein kluges, verschmitztes Gesicht. Mit seinem langen Beinkleid, seiner kurzen Jacke und hohem Hut glich er einem Herrn en miniature. Alle drei schienen ihren Handkoffer mit Vergnügen selbst zu tragen; in ihrer Kleidung wie in ihrem Äußern lag etwas höchst Korrektes, und sie sahen durchaus nicht ermüdet und abgespannt aus.

„Sie müssen Onkel Heinz sein,“ sagte Maud, auf den Professor zutretend, „Vater und Mutter haben uns so viel von Ihnen erzählt, daß wir sie überall herausfinden würden.“

„Na, na, ihr Taugenichtse, eure Eltern haben mich seit zwanzig Jahren nicht gesehen, was können sie da noch von mir behalten haben?“ fragte der Professor, dessen Antlitz vor Freude strahlte.

„O,“ nahm der kleine Karl das Wort, „Sie sind gewiß nur ein bißchen weißer geworden, aber den Spitzbart und das lustige Gesicht haben Sie wohl immer gehabt.“

„Nu hör' mir einer so 'nen Junker Naseweis an, was sagst du zu so 'nem Dandy, Irma?“

Die Amerikaner waren so zutraulich und liebenswürdig, daß es Irma nach kaum fünf Minuten schien, als hätten sie sich schon seit Jahren gekannt.

An der Treppe, die vom Bahnsteig hinunterführte, bot Agnes Onkel Heinz den Arm, und der kleine Junge lief voraus, öffnete die Türen des Wartesaales und sah sich sofort nach dem Wagen um. Dienstfertig riß er den Schlag auf, half den jungen Damen und Onkel Heinz beim Einsteigen und kletterte, da im Innern kein Platz mehr für ihn war, auf den Bock; das alles tat er mit einer Gewandheit und Selbstverständlichkeit, als ob er zwanzig und nicht zwölf Jahre alt wäre.

„Aber wir vergessen ja das Gepäck,“ rief Irma, „wo sind eure Koffer?“

„Wir haben nichts weiter als unser Handgepäck,“ entgegnete Maud.

„Nichts als diese kleinen Köfferchen, und damit habt ihr eine solche Reise gemacht?“

„Nun, was brauchen wir mehr? Ein gutes, handfestes Reisekostüm, eine seidene Bluse und ein heller Rock, das genügt. Wäsche kann man an jedem Ort kaufen oder waschen lassen. Viel Gepäck auf der Reise ist unpraktisch.“

Nach einer Viertelstunde hielt der Wagen vor dem Hause der Frau Gontrau. Die Doppeltüre öffnete sich, noch ehe der Kutscher klingeln konnte. Bebend vor Rührung stieg Irma zuerst aus und ging ins Vorzimmer. Dort stand Großmutter Ilse und hieß ihre Enkelkinder mit Tränen in den Augen willkommen.

„Liebste, beste Großmutter! Sehen wir dich endlich?“ riefen die Mädchen, und alle drei eilten zu gleicher Zeit auf sie zu.

Während einiger Minuten hörte man nichts als unterdrücktes Schluchzen, Liebkosungen und einzelne Ausrufe. Endlich beruhigten sich die Gemüter ein wenig und entzückt schaute Ilse die Kinder an.

„Sehen Sie mal, Onkel Heinz,“ rief sie erregt, „ist Maud nicht ihrem Vater wie aus den Augen geschnitten? Und Agnes, du gleichst auf ein Haar deiner lieben Mutter, auch so blond und sanft. Wann kommen eure Eltern, liebe Kinder?“

„In sechs Wochen etwa, Großmama. Wir müssen erst ein Haus mieten und einrichten.“

„Wem seh ich ähnlich, Großmama?“ fragte Karl.

„Das weiß ich noch nicht, mein lieber Junge.“

„Die Mutter sagt,“ nahm Maud das Wort, „daß er viel vom Großvater hat,“ und sie schaute nach einem lebensgroßen Porträt Leos, das an der Wand hing.

Das gab Ilse einen Stich ins Herz. Ach, wie oft hatte Leo sich auf das Wiedersehen mit seinen Kindern und Enkeln gefreut; wie innig hatte er gewünscht, daß sein Schwiegersohn Fritz einen Wirkungskreis in ihrer Nähe finden und seinem Adoptivvaterlande Lebewohl sagen möchte. Nun, wo sich sein Wunsch erfüllte, konnte er sich nicht mehr daran erfreuen. Verräterisch bebten die Lippen der alten Frau, da bemerkte sie, wie Onkel Heinz sie ernst und ermutigend anschaute. Der Gedanke, daß er nur zu gut verstand, was in ihr vorging, gab ihr Kraft; tapfer schluckte sie die Tränen hinunter und sagte heiter:

„Aber Kinder, ihr müßt ja totmüde sein. Irma, führe sie nach oben und zeige ihnen ihre Zimmer, dann können sie sich vor dem Abendessen etwas ruhen.“

„Nicht nötig, Großmama,“ fiel Agnes lebhaft ein. „Wir haben heute nacht im Zuge herrlich geschlafen und es uns ganz bequem gemacht. Das Einzige, was uns nottut, ist etwas zu essen. Nicht wahr, Maud? Nicht, Karl?“

„O, dann gehen wir gleich zu Tisch,“ schlug Ilse vor. „Folgt mir nur ins Eßzimmer, Kinder. Kommen Sie, Onkel Heinz!“

Lachend nahm sie den Arm des alten Herrn und schritt voraus, während Irma sich im Stillen wunderte, wie man länger als zwanzig Stunden in einer Tour reisen und dann erklären konnte, nicht müde zu sein.

Bald war die ganze Familie gemütlich um die Abendtafel versammelt. Der Tisch war festlich gedeckt mit einem weißen Tuch, in das mit feiner, blauer Baumwolle Figuren und Sprüche eingestickt waren, und zeigte Überfluß an wertvollem, altdeutschem Porzellan, schön geschliffenem Kristall, Blumen und Früchten. An dem altmodischen kupfernen Kronleuchter waren alle Kerzen entzündet und auf dem Buffet von Eichenholz standen sogar ein paar Flaschen Sekt in Eis.

Die amerikanischen Gäste taten dem Festmahl die größte Ehre an, und alle schwatzten lustig und lebhaft durcheinander.

„Kinder,“ fragte Ilse im Laufe des Gesprächs, „wie gefällt euch Paris?“

„Herrlich, Großmama. Eine großartige, fröhliche Stadt. Entzückend mit all den großen Plätzen und Parks, dem vielen Grün und der Blumenpracht. Jetzt war es ganz besonders schön, denn Flieder und Kastanien standen in vollster Blüte.“

„Herrscht nicht ein schrecklicher Trubel dort?“

„Nein, bei uns geht's lebhafter zu, da gibt's viel mehr Lärm und Hasten, und die Menschen haben mehr zu tun, aber in Paris ist alles eleganter, reicher.“

„War's euch nicht angst, so ganz allein in der großen fremden Stadt?“ fragte Irma neugierig.

„Ganz allein?“ rief Karl lachend; „wir waren doch zu dritt.“

„Ja, aber ihr seid doch so jung und wart fremd und hattet keine Bekannten, die euch herumführen und euch alles zeigen konnten.“

Maud lachte. „Wir kannten niemand; Tante Ruth hat, glaube ich, an einige Familien geschrieben, sich unserer anzunehmen. Aber wir fanden es so umständlich, erst Besuche zu machen, das nahm uns Zeit, und es gab doch so viel zu sehen.“

„Das ist schade,“ meinte Ilse. „Ohne Begleitung konntet ihr doch nicht in die Theater gehen, und dadurch habt ihr viel verloren.“

„Ich verstehe dich nicht, Großmama, wir sind in verschiedenen Theatern gewesen.“

„Allein?“

„Wir drei und manchmal wir beide, wenn es für Karl zu spät wurde.“

„Ihr beiden jungen Mädchen allein, des Abends, im Pariser Theater,“ sagte Ilse erstaunt, „wußten eure Eltern das?“

„Natürlich, Großmama. Wir gehen immer allein aus, überall hin. Alle amerikanischen Mädchen tun das, und niemand findet etwas darin.“

„Ich würde das nicht wagen,“ gestand Irma.

„Was bist du für ein Dummchen,“ fuhr Maud fort. „Wie umständlich und lästig ist es, immer von irgend jemand abhängig zu sein. Wir sind's gewöhnt, alles allein und selbständig zu besorgen. Und das ist wirklich das einzig Richtige.“

„Aber Kinder,“ fragte Ilse, „habt ihr in Paris denn nie eine unangenehme Begegnung gehabt?“

„Nicht ein einzigesmal, Großmama,“ versicherte Agnes. „Niemand achtete auf uns, ruhig und still, den Reiseführer in der Hand, gingen wir unsres Weges. Hatten wir was zu fragen, wiesen die Leute uns stets freundlich und höflich zurecht. Wir waren immer sehr einfach gekleidet, und jeder sah gleich, daß wir Fremde waren.“

„Nun,“ nahm die Großmutter wieder das Wort, „ich versichere euch, daß in meiner Jugend niemand so was gewagt hätte. Und ich war noch ein kecker Tollkopf, aber davor wäre mir doch bange gewesen. Was sagen Sie dazu, Onkel Heinz?“

Der alte Herr hatte behaglich schmunzelnd zugehört.

„O!“ meinte er, „mir gefällt das alles ausgezeichnet; Sie wissen ja, daß ich auf die übertriebenen Formen und Komplimente nichts gebe. Ich bin für die amerikanischen Mädchen. Und da nun gerade der Sekt eingegossen wird, schlage ich vor, sie leben zu lassen.“

Fröhlich stimmte jeder in dies Lebehoch ein; aber nun war es spät geworden, und man trennte sich. Die jungen Gäste wurden auf ihre Zimmer geführt, und bald herrschte tiefste Stille im ganzen Hause.

Am nächsten Morgen sandte die strahlende Maisonne Lichtfunken durch die Stäbe der heruntergelassenen Jalousien in Irmas Zimmer, und endlich gelang es ihr, das junge Mädchen aufzuwecken. Irma richtete sich auf und schaute umher in dem hübschen Gemach mit den hell bezogenen Möbeln und den weißen, mit blauen Schleifen aufgenommenen Gardinen. Sie rieb sich die Augen, nickte den Bildern ihrer Eltern und ihres Bruders, die auf dem Schreibtisch standen, einen Morgengruß zu und dann, ohne daß sie sich recht darauf besinnen konnte, fiel ihr ein, daß gestern abend etwas sehr Nettes passiert war. Ach ja, die Ankunft der amerikanischen Cousinen! Sie sah nach der Uhr und merkte mit Schrecken, daß es schon sehr spät war und sie die Zeit verschlafen hatte. Eilig sprang sie aus dem Bett und kleidete sich an.

Bei Großmama schadete das nichts, die machte kein böses Gesicht, wenn sie ein bißchen spät herunterkam, aber was würden die amerikanischen Cousinen denken? Irma war ein recht verwöhntes Kind, ein verzogenes Püppchen; da sie aber so liebenswürdig, sanft und herzlich war, ließ Großmutter Ilse ihr in ihren kleinen Liebhabereien und Neigungen, die sie nur noch bezaubernder machten, ihren freien Willen. Sie war nicht eitler als die meisten jungen Mädchen, obwohl sie wußte, daß sie ein reizendes Gesichtchen hatte, mit blauen Vergißmeinnichtaugen und einer Fülle krausen goldblonden Haares. Sie hielt sehr darauf, nett angezogen zu sein, und brauchte viel Zeit zur Toilette, aber das Resultat war dann auch stets ein so befriedigendes, daß die Großmutter, selbst wenn sie zuweilen über solche Zeitvergeudung schalt, sich heimlich gestehen mußte, daß das kleine Ding unwiderstehlich reizend aussah.

Denselben Gedanken hatten auch die amerikanischen Cousinen, als Irma nun endlich in einem blau und weiß gestreiften Morgenkleide sich zu ihnen gesellte, und der kleine Karl, der sich bereits im Zimmer seiner Schwestern befand, erklärte Irma für das schönste Mädchen, das er je gesehen.

„Dummer Junge!“ rief sie lachend, aber geschmeichelt fühlte sie sich doch. „Was ist das mit euch?“ fuhr sie fort, erstaunt erst die beiden Mädchen ansehend und dann im Zimmer umherblickend.

Maud und Agnes waren, wie Karl, bereits zum Ausgehen gerüstet, bis auf Hut und Handschuhe. Aber auch das Zimmer war schon völlig fertig, die Betten gemacht, die Waschtische in Ordnung gebracht, überall Staub gewischt, ja Agnes war beschäftigt, den Pflanzen, die auf dem Balkon standen, Wasser zu geben.

„Warum habt ihr das alles selbst besorgt?“ fragte Irma verwundert.

„Das sind wir so gewöhnt.“

„Aber dazu sind doch die Dienstmädchen da.“

„Gewiß,“ versetzte Maud, „doch wir lieben es nicht, uns bedienen zu lassen. Was wir selbst tun können, tun wir auch selber. Bei uns haben wir keine Bedienten in dem Sinne, wie ihr das versteht. Zu gewissen Arbeiten, die wir nicht verrichten können, kommen Leute stundenweise jeden Tag; dann gehen sie wieder. Sie werden fast als unsres Gleichen angesehen. Die Mutter erzählte uns, daß es hier ganz anders ist, aber so rasch können wir uns daran nicht gewöhnen.“

Großmutter Ilse erwartete das junge Volk im Eßzimmer, dessen weit offenstehende Glastüren in den Garten führten. Nach dem Frühstück wurde ein Tagesprogramm entworfen. Die Mädchen wollten sich am liebsten gleich nach einer passenden Wohnung umsehen. Sie ersuchten Großmama und Irma nachzudenken, welches Stadtviertel das geeignetste wäre, damit sie keine unnötigen Wege zu machen brauchten.