Türkei verstehen - Gerhard Schweizer - E-Book

Türkei verstehen E-Book

Gerhard Schweizer

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Beschreibung

Jahrelang haben sich die AKP und Präsident Erdogan zurückgehalten und religiöse sowie ideologische Distanz gewahrt. Der Islam erhält als Religion und Kultur in der Türkei mehr und mehr Einfluss. Die Trennung von Religion und Staat, das Kennzeichen des einzigen säkularen Staates im islamischen Kulturkreis, scheint nicht mehr strikt zu gelten. Dass die Türkei vielfach ganz anders und ungewöhnlich vielschichtig ist, ahnen viele, aber kaum jemand weiß es. Doch gerade die Entwicklungen der letzten Jahre belegen, wie dramatisch Erdogans Präsidialdemokratie den lebendigen türkischen Pluralismus verengt. Die Situation zwischen Erdogan und seinen Gegnern spitzt sich gefährlich zu. Kurden, Anhänger des IS, die Konflikte mit Europa, der fast schon militärische Dissens zu Russland, das gescheiterte Verhältnis zu seinen nächsten Nachbarn haben die politische Stimmung am Bosporus auf einen Siedepunkt getrieben. Der türkische Islam befindet sich derzeit in einem tiefgreifenden Umbruch. Gerhard Schweizer betrachtet anhand zahlreicher persönlicher Erfahrungen und Begegnungen in der Türkei, weshalb es zu einem derartigen, für europäische Betrachter so irritierenden Wandel gekommen ist. Zugleich greift er im historischen Rückblick bis auf die osmanische Zeit zurück, um die politischen und kulturellen Ursachen der heutigen Probleme deutlich zu machen.

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Seitenzahl: 862

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Dies ist der Umschlag des Buches »Türkei verstehen« von Gerhard Schweizer

Gerhard Schweizer

Türkei verstehen

Von Atatürk bis Erdoğan

Klett-Cotta

Impressum

Der Titel »Türkei verstehen« – erschienen 2016 – ist die völlig überarbeitete und ergänzte Neuausgabe des Titels »Die Türkei – Zerreißprobe zwischen Islam und Nationalismus«, Stuttgart, Klett-Cotta 2008.

Die vorliegende dritte Auflage 2023 wurde aktualisiert und erweitert; sie enthält die aktuellen Entwicklungen und den Ausgang der Wahlen von 2023.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2016, 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH,

gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung des Fotos Blaue Moschee, Istanbul © Tanatat pongphibool, thailand/gettyimages

Karten (S. 642 – 645): Gerhard Schweizer, Wien

Gesetzt von Eberl & Koesel Studio, Kempten

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-98779-9

E-Book ISBN 978-3-608-12260-2

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

WIE FERN IST UNS DIE TÜRKEI?

Der Türke in unseren Köpfen – und die Wirklichkeit

Atatürk, Erdoğan – und ein neuer Blick auf die Türkei

Islam und Verwestlichung

Die »Türkengefahr« – das historische Trauma

»Aggressiver Islam« – alte Ängste, neue Vorurteile

Die Angst vor den sozialen Problemen eines »unterentwickelten« Landes

Eine gespaltene Türkei

Allgegenwärtiger Islam

»Ich bin nicht religiös«

»AUF NACH EUROPA!«

Atatürk und die »Türkische Moderne«

Weshalb Atatürk zum Nationalhelden wurde

Gegen den »rückständigen Islam« – für die »moderne Zivilisation«

Eine westlich orientierte Oberschicht schon unter den Osmanen

Identitätskrise und blutige Aufstände

Die Rolle des Militärs als »Hüter der Verfassung«

Macht und Machtmissbrauch des Militärs

Der türkische Nationalismus und seine historischen Wurzeln

Der Vielvölkerstaat der Osmanen

Extremer Nationalismus – mit Vorbildern in Europa

Massaker an den Armeniern – erste radikal-nationalistische Konsequenz

Die Verdrängung des »Armenierproblems«

Türkischer und griechischer Nationalismus

»Türkisierte« Dörfer, in denen einst Griechen wohnten

Die »Grauen Wölfe« – neue Radikalisierung des türkischen Nationalismus

Der »Kurdenkonflikt« als Hypothek

Noch immer Schwierigkeiten mit ethnischer Vielfalt

»Fremd im eigenen Land« – Gespräch mit einem Kurden

Radikalisierung des kurdischen Nationalismus

Kulturelle Autonomie für die Kurden?

Kurden im Irak und Syrien – eine Verschärfung des Problems

»ZURÜCK ZUM ISLAM!«

Türkischer Islam und die Christen

Muslime und Christen – die Gemeinsamkeiten

Muslime und Christen – eine schwierige Beziehung

Erschwerte Bedingungen für Christen in der »säkularen« Türkei

Viele Kirchen – aber wo sind die Christen?

Offene Fragen. Audienz beim Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel

Der Konflikt um eine christliche Hochschule

»Islam-Faschisten« gegen Christen

Wie tolerant sind Christen im Nachbarstaat Griechenland?

Türkischer Islam – innere Spannungen

Konflikte zwischen Sunniten und Aleviten

Der Koran in arabischer oder in türkischer Sprache?

Widerstand gegen die historisch-kritische Interpretation des Koran

Kritik an »verfälschtem Islam« – der Erfolg des Reformtheologen Öztürk

Theologie und Sufismus – Öztürks Annäherung an Dschelaleddin Rumi

Ömer Özsoy und der »Euro-Islam«

Der moderne Ansatz bei Ednan Aslan

»Islamisierung« der Politik

Adnan Menderes, der erste »islamische« Politiker

Necmettin Erbakan, der erste erfolgreiche Ideologe des Islamismus

Turgut Özal, der religiöse Wirtschaftsfachmann

Neue Stärke des Islamismus

Dörflicher Islam in Großstadtslums: Folgen für die Politik

Religiöse und soziale Defizite als Nährboden des Islamismus

Der Streit um die Hagia Sophia und andere religiöse Symbole

Wie säkular und laizistisch ist die Türkei? Der sunnitische Islam als »Staatsreligion«

Die Kulturvereine der Derwischbruderschaft Naqschbandiya

Eine weitere »Islamisierung«?

Erbakan: Aufstieg und Krise des politischen Islam

Der »islamische« Politiker Recep Tayyip Erdoğan

Der Erdrutschsieg der AKP – und die Ursachen

Erdoğan, der »Hoffnungsträger«: Überraschungen in der Innen- und Außenpolitik

Erste Fragezeichen

Die wachsende Bedeutung der Imam-Hatip-Schulen

»Das Tal der Wölfe«. Der große Filmerfolg

Frauenrechte und Religion

Islamische Tradition und Reformen

Die noch immer mühsame Frauenemanzipation

Weibliche Imame, Frauen im Aufbruch ‒ und der Islam der AKP

Wie »islamisch« ist die Unterdrückung der Frau? Ein Kulturvergleich

Das Kopftuch in seiner religiös-politischen Dimension

Erdoğan und die »Islamisch-Türkische Moderne«

Die Entmachtung des Militärs – und andere markante Änderungen

Säkulare Sympathisanten der »islamischen« AKP

Erstmals ein »konservativ-islamischer« Staatspräsident 

Erste Anzeichen für einen stockenden Reformprozess der AKP

»Europäische« und »asiatische« Türken – der verschärfte Konflikt

Die Verfassungsreform von 2010 – mehr Demokratie?

Die Proteste im Gezi-Park und der Beginn einer Dauerkrise

Fethullah Gülen und sein Verständnis einer »Islamisch-Türkischen Moderne«

Erdoğan und Fethullah Gülen. Vom Bündnis zur Feindschaft

»Neo-osmanische« Außenpolitik – und die wachsende Distanz zur Europäischen Union

Die Türkei im Sog des syrischen Bürgerkriegs

Erdoğan und der radikale Islam

Erdoğans Zweifrontenkrieg gegen den »Islamischen Staat« und die Kurden

Erdoğan als Staatspräsident – und die Folgen

Das »Kurdenproblem« kehrt in die türkische Politik zurück

Der Mititärputsch am 15. Juli 2016 – und Erdoğans ziviler Gegenputsch

Fethullah Gülen als »Drahtzieher« des Putsches?

Die Zuspitzung der Krise nach dem Putsch

DER RADIKALE UMBAU DER REPUBLIK

Die eigentlichen Barrieren gegen »westliche Werte«

Der gespaltene Islam

Eine »türkische« Demokratie

Der Streit um die Änderung der Verfassung

Die Volksabstimmung am 16. April 2017 und das Verhalten der Auslandstürken

Gegen Darwin und den »ketzerischen« Islam der Ibn Rushd-Goethe-Moschee

Der Protestmarsch im Juni 2017, ein starkes Signal der Opposition

Abschied von Europa? Widersprüchliche Entwicklungen

Der Überlebenskampf des Autokraten

Die Präsidentschaftswahlen am 24. Juni 2018

Eine weiter wachsende Wirtschaftskrise und fragwürdige Entscheidungen

Die verlorenen Bürgermeisterwahlen in Istanbul und Ankara 2019. Ein Alarmsignal für die AKP

Erdoğans zweite Niederlage in Istanbul

Die Hagia Sophia wieder eine Moschee. Ein Symbol der »säkularen« Türkei verschwindet

Kommt ein tiefgreifender Umbruch? Der beginnende Präsidentschaftswahlkampf 2023

Widersprüche im Wahlkampf

Die Schicksalswahl und eine weiterhin gespaltene Nation

Die Wirtschaftskrise als Dauerproblem

Anhang

Anmerkungen

Zeittafel

Ausgewählte Literatur

Personenregister

Für Brigitte

WIE FERN IST UNS DIE TÜRKEI?

Probleme und Missverständnisse

Der Türke in unseren Köpfen – und die Wirklichkeit

Atatürk(1), Erdoğan(1) – und ein neuer Blick auf die Türkei

Wenn man Westeuropäer, besonders Deutsche, fragt, welche Namen türkischer Politiker ihnen spontan einfallen, nennen sie überwiegend nur zwei Namen: Atatürk(2) und Erdoğan(2).

Der eine hat sich ins historische Gedächtnis auch der Europäer als der Begründer der Republik Türkei verewigt, der mit seiner Vorstellung von »Türkischer Moderne« maßgeblich die Entwicklung seines Landes bestimmt hat. Der andere beherrscht seit seinem überraschenden und fulminanten Wahlsieg im November 2002 die Schlagzeilen der internationalen Medien mit seiner Botschaft einer »Islamisch-Türkischen Moderne«. Erdoğan(3) ist zum mächtigsten Politiker seit Atatürk geworden, und er beansprucht, Atatürk(3) in wesentlichen Grundfragen zu korrigieren und sich neben dem Begründer der Republik Türkei einen ebenso bedeutenden Platz zu sichern. Auffallend ist Erdoğans Ehrgeiz, bis 2023 als Staatspräsident im Amt zu bleiben und mit derselben Machtfülle wie einst Atatürk das Jahrhundert-Jubiläum der Republik Türkei zu feiern.

Recep Tayyip Erdoğan(4) hat zu Beginn des 21. Jahrhunderts als Führer der »konservativ-islamischen« Partei »Gerechtigkeit und Entwicklung« (AKP) die Türkei vor dem Beinahe-Staatsbankrott gerettet, hat dem Land eine Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs und sozialer Stabilität beschert, hat den religiösen wie ethnischen Minderheiten mehr Rechte eingeräumt. Das alles sind Errungenschaften, die Erdoğan(5) zum Hoffnungsträger machten, von dem man erwartete, dass er längst fällige Reformen in einer ideologisch erstarrten Republik einleiten werde.

Derselbe Politiker ist aber seit einigen Jahren dabei, diesen Ruf gründlich zu ruinieren. Er neigt zunehmend zu einem engstirnigen Nationalismus, geht hart gegen ethnische Minderheiten vor, engt die Meinungs- und Pressefreiheit ein – und kehrt damit in mancherlei Hinsicht zur Politik seiner Vorgänger zurück, ja, verschärft sie. Hinzu kommt eine Außenpolitik, welche die Türkei in die Bürgerkriegswirren des Nahen Ostens getrieben hat. So erlebt die Türkei nach einer mehr als zehn Jahre dauernden Phase der Stabilität nicht nur einen neu aufflammenden Konflikt mit der kurdischen Minderheit, sondern auch eine verstärkte Auseinandersetzung zwischen säkular und islamisch orientierten Türken sowie eine wachsende Konfrontation mit radikal-islamischen Bewegungen.

Wie hat es zu einer solchen erneuten Zuspitzung kommen können? Was unterscheidet Erdoğan(6) von Atatürk(4), was von anderen führenden türkischen Politikern der vergangenen Jahrzehnte?

Diese Frage versuchte ich bereits in einem Buch zu beantworten, das 2008 unter dem Titel Die Türkei. Zerreißprobe zwischen Islam und Nationalismus erschien. Der Titel hat seine traurige Aktualität behalten. Ich hatte mich, wie viele andere westliche Beobachter, damals von dem Optimismus leiten lassen, dass die »Zerreißprobe« ihre eigentlich kritische Phase bereits hinter sich habe. Es könne Erdoğan(7) mit seiner (anfangs) sehr pragmatisch ausgerichteten Politik gelingen, einen historischen Kompromiss zwischen den ideologisch einzementierten Fronten von Säkularisten, Laizisten und Islamisch-Konservativen herzustellen. Erdoğan(8) könne also mit Augenmaß jene Fehlentwicklungen korrigieren, die durch die einseitige politische Dominanz einer säkularisierten Bevölkerung in urbanen Ballungsräumen gegenüber einem religiös-konservativ verwurzelten Volk in Kleinstädten und Dörfern entstanden war. Was aber sind die gesellschaftlichen Kräfte, die die Türkei im Inneren immer noch und immer wieder bis zum Zerreißen anspannen? Welches sind die gesellschaftlichen Kräfte, die eine tiefgreifende Veränderung verhindern?

Um diese Ambivalenz verständlich zu machen, habe ich 2016 das Buch unter dem Titel Türkei verstehen. Von Atatürk bis Erdoğan aktualisiert. Hier gehe ich auf die Ursachen ein, weshalb Erdoğan(9) auf dem Höhepunkt seiner Macht und seines Erfolgs bereits 2008 begann, in die Krise zu steuern. Diese Entwicklung lässt sich aber nur vor dem Hintergrund früherer Jahrzehnte begreifen. Für die einerseits machtvolle Stellung der Türkei innerhalb der islamischen Welt wie auch für die unbewältigten Probleme sind neben Atatürk(5) und Erdoğan(10) eine Reihe weiterer Politiker verantwortlich. Um nur einige zu nennen, die in meinen Ausführungen ebenfalls einen breiten Raum einnehmen: Ismet Inönü(1), Adnan Menderes(1), Turgut Özal(1), Süleyman Demirel(1), Bülent Ecevit(1), Necmettin Erbakan(1), Abdullah Gül(1), Ahmet Davutoğlu(1).

Zur Darstellung kommt in diesem Zusammenhang aber auch, dass sich in der Türkei durch die »Zerreißprobe« zwischen sehr unterschiedlichen politischen Ideologien eine äußerst vielfältige Kultur entwickelt hat. Gerade in der Türkei haben muslimische Theologen, Wissenschaftler wie auch Literaten beträchtlichen Einfluss, um den Islam aus den Fesseln einer unreflektiert gelebten Tradition zu lösen. Sie stehen in Opposition nicht nur zu radikal-islamischen Ideologen, sondern auch zum »konservativen Islam« von Erdoğans(11)AKP, darüber hinaus zu einer undifferenzierten Religionskritik säkularer Nationalisten.

Nicht der Islam bildet die Ursache für die Krise der Türkei, sondern die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die einen Diskurs über Reformen der Religion, ja überhaupt einen vorurteilslosen Gedankenaustausch erschweren. Es ist der fehlende Pluralismus besonders in der Politik. Diese Struktur, die weit zurückreicht bis in das Sultanat der Osmanen, ist bisher von keinem Reformer grundsätzlich durchbrochen oder hinterfragt worden. Eine solche Problematik teilt die Türkei allerdings mit nahezu allen Ländern der islamischen Welt – letztlich auch mit vielen nichtmuslimischen Ländern in Asien, Afrika, Lateinamerika. Schon aus diesem Grund wäre es falsch, die Krisensituation in der Türkei monokausal mit einem angeblich nicht reformierbaren Islam zu koppeln.

Aber weil im Oktober 2005 die offiziellen Beitrittsverhandlungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union begonnen haben, konzentriert sich die Frage auch darauf: Könnte die Mitgliedschaft ausgerechnet eines islamischen Landes nicht die Identität »abendländischer Kultur« gefährden? Kann ein Muslim mit seiner so anders gearteten Religion und Kultur geistig überhaupt in Europa ankommen? Es sind Fragen, die seit der zugespitzten Krisensituation unter Erdoğan(12) sich wieder besonders auf den türkischen Muslim verlagern und noch mehr als bisher scharfe Diskussionen auslösen. Sobald wir jedoch die vielschichtigen Probleme der Türkei näher betrachten, ergeben sich eine Reihe von Überraschungen.

Islam und Verwestlichung

»Ich bin in Europa angekommen!« Der türkischstämmige Diskussionsteilnehmer sagte es mit Nachdruck. Er antwortete auf die Behauptung eines Deutschen, die Türken könnten geistig niemals in Europa ankommen; ihre andersartigen Traditionen machten es ihnen grundsätzlich unmöglich.

Das Wortgefecht entzündete sich auf einer Islam-Tagung in Deutschland. Der Ort ist austauschbar; derartige Konfrontationen sind exemplarisch besonders für Städte, in denen muslimische Zuwanderer ganze Wohnviertel prägen.

Der türkischstämmige Mann, etwa 30 Jahre alt, erklärte, er sei in Köln geboren und habe dort Abitur gemacht, sei deutscher Staatsbürger und kenne Deutschland besser als die Türkei. Auch seine Eltern, die vor 40 Jahren aus Istanbul zugewandert seien, hätten keine Schwierigkeiten gehabt, in Europa anzukommen. Warum auch? Bereits Atatürk(6) habe der Türkei den Weg nach Europa gewiesen, die Scharia abgeschafft und durch eine Gesetzgebung nach westlichem Vorbild ersetzt, dies wollten viele Deutsche noch immer nicht wahrhaben.

Aber der Islam? Der Islam als Religion, widersprach ihm heftig einer der deutschen Diskussionsteilnehmer, sei doch eine zutiefst fremde Religion, die sich niemals mit europäischen Werten vereinbaren lasse. Da möge von türkischen Politikern noch so sehr betont werden, ihr Land sei unterwegs nach Europa. Der Islam selbst verhindere geistig jede Integration in Europa, das zeige doch gerade die aktuelle Entwicklung in der Türkei.

Im Publikum entstand Unruhe. Es war ein gemischtes Publikum, überwiegend Deutsche, aber auch einige Deutschtürken, Vertreter einer integrierten Mittelschicht, deren Familien schon seit einer oder zwei Generationen in der neuen Heimat lebten. Bei der erwähnten Islam-Tagung hatte ich über die geistige Verwandtschaft von Islam und Christentum referiert. Nur ein Teil des Publikums stimmte mir zu, nicht der Islam sei das eigentliche Problem, sondern die mangelnde Information über die fremde Kultur.

Solche Diskussionen werden auf Islam-Tagungen besonders prononciert geführt. Aber Auseinandersetzungen über die »Fremdheit« der islamischen Kultur werden in europäischen Medien bekanntlich oft noch viel emotionaler ausgetragen und gewinnen dann Breitenwirkung mit Folgen für die Beziehungen zwischen westlichen und muslimischen Völkern. In Deutschland spielt naturgemäß der Bezug auf den türkischen Islam sowie die politisch unruhige Entwicklung in der Türkei eine herausragende Rolle. Denn von den rund vier bis fünf Millionen Muslimen, die hierzulande leben, sind knapp über drei Millionen Türken, so die Zahlen im Jahr 2016.[1] Sie sind seit den 1960er-Jahren überwiegend als »Gastarbeiter« gekommen und geblieben. Diese Türken aber haben »alle«, so die weitverbreitete Meinung, ein »Stück Türkei« mitgebracht und halten daran selbst noch Generationen später unverrückbar fest. Wenn sich also Deutsche von einer »islamischen Parallelgesellschaft« im eigenen Land bedroht fühlen, ist zuallererst von den Türken die Rede.

»Ich bin in Europa angekommen!« Dieses Bekenntnis eines Deutschtürken wird oft in seiner ganzen Tragweite gar nicht verstanden. Der junge Mann meint ein säkularisiertes Europa, in dem es keine Staatsreligionen mehr gibt, sondern ein Nebeneinander unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse und Weltanschauungen mit gleichen Entfaltungsmöglichkeiten – weshalb wir den Begriff »christliches Abendland« nur noch historisch verstehen können. Liberale Deutschtürken betonen häufig, dass sie in ihrer Wahlheimat Europa der eigenen Religion zwar treu blieben, aber »säkulare«, »laizistische« Muslime seien und den anderen Konfessionen und Weltanschauungen den notwendigen Respekt entgegenbrächten. Ich habe mehrfach erlebt, dass solche Muslime ihre Mitbürger mit ironischem Unterton daran erinnern, wie unverzichtbar die Errungenschaften einer säkularen Aufklärung seien. Aber wie repräsentativ sind sie?

Realität sind eben auch die zahlreichen Informationen über das Entstehen von »islamischen Parallelgesellschaften« mitten in Europa: dass sich muslimische Zuwanderer in Großfamilien mit ihrer patriarchalischen Struktur gegen eine nicht verstandene »westliche« Gesellschaft abschotten. Diese Muslime halten meist unverändert an den Traditionen ihrer dörflichen oder kleinstädtischen Heimat fest, etwa der strikten Unterordnung der Frauen oder der Zwangsehe. Der Bildungsstand solcher Menschen ist oft niedrig; meist wissen sie gar nicht, was wirklich im Koran steht, und erachten daher oft jede überkommene Tradition unreflektiert als Glaubensgebot. Entsprechend orientiert sich ihre Religiosität an einer diffusen konservativen Form von Islam.

Westliche Kritiker, die sich auf diesen Islam beziehen, haben insofern recht, als hier tatsächlich ein schwerwiegendes Integrationsproblem besteht. Aber den einen Islam gibt es gar nicht, sondern sehr viele unterschiedliche Ausprägungen. Beträchtlich ist die Zahl jener türkischen Muslime, die zwischen einer traditionsgeleiteten Religiosität und einer notwendigen Anpassung an moderne Lebensformen eine vermittelnde Position einnehmen. Ihr Typus verdient besondere Aufmerksamkeit, weil gerade sie bei den aktuellen politischen, sozialen und kulturellen Umbrüchen der Türkei eine wichtige Rolle spielen.

Im Folgenden konzentriere ich mich vor allem auf die Vielfalt des Islam in der Türkei selbst. Denn nicht die knapp über drei Millionen Menschen türkischer Abstammung in Deutschland, sondern die rund 79 Millionen Bürger der Republik Türkei bedeuten die eigentliche Herausforderung. Wenn nämlich mit einer EU-Mitgliedschaft die politischen Grenzen noch um Vieles durchlässiger würden, gewänne die Türkei mit der Masse ihrer muslimischen Bevölkerung erheblich mehr Einfluss in Europa und besonders in Deutschland. Erst vor dem Hintergrund dieser Zukunftsperspektive bekommt jene eingangs formulierte Befürchtung genauere Konturen: Ein dann verstärkt importierter Islam könnte die Probleme erheblich verschärfen, weil eben diese fremde Religion nicht zu Europa passe, das sehe man doch an der aktuellen Entwicklung in der Türkei.

Wie gestaltet sich die Entwicklung in der Türkei tatsächlich?

Die Türkei hat ganz andere religiöse, politische und kulturelle Rahmenbedingungen als etwa arabische Staaten oder der Iran. Atatürks(7) Reformwerk schuf schon in den 1920er-Jahren strukturelle Veränderungen, die mit einer derartigen Konsequenz in der islamischen Welt beispiellos waren und sind. Und so schien die Türkei bisher Vorbildcharakter als ein islamisch geprägter Staat zu haben, in dem ein religiös-politischer Fundamentalismus keine Chance hatte. Seit den 1970er-Jahren haben jedoch islamisch orientierte Parteien mit deutlicher Kritik an der Verwestlichung immer mehr an Einfluss gewonnen, zuerst unter Führung von Necmettin Erbakan(2), seit 2002 unter Erdoğan(13). Bahnt sich eine grundsätzliche Abwehr von kulturellen Einflüssen aus Europa an?

Für westliche Beobachter ist die Situation immer schwieriger zu beurteilen. Bei genauerem Hinsehen stellen wir nämlich fest, dass sogar die Begriffe »Säkularisierung«, »Laizismus«, »Demokratie«, die zu Leitprinzipien der modernen Türkei geworden sind, bei weitem nicht deckungsgleich mit unseren Vorstellungen sind. Wenn also ein liberaler Deutschtürke von sich sagt, er sei in Europa angekommen, so kann er sich hier nur sehr eingeschränkt auf das Reformwerk Atatürks(8) mit seinem Motto »Auf nach Europa!« berufen. Er muss vielmehr, um diese Aussage voll und ganz einzulösen, noch einmal einen Transformationsprozess durchlaufen haben und wird dann erst ein wirklich »europäischer Muslim« sein. Wir müssen uns daher auf die Frage konzentrieren, worin denn die grundsätzlichen Unterschiede zwischen einer »Türkischen Moderne« im Sinne Atatürks(9) und einer europäischen, westlichen Moderne bestehen.

Diese Frage drängt sich demnach nicht erst seit den sehr widersprüchlich anmutenden Aktionen eines islamisch orientierten Politikers wie Erdoğan(14) auf, sondern eben auch schon angesichts früher wirkender, strikt an Atatürk(10) ausgerichteter Politiker. Die Diskussionen über die aktuellen Veränderungen in der Türkei nehmen aber vor allem im deutschen Sprachraum noch einmal an Schärfe zu, seit Erdoğan(15) versucht, im Amt des Staatspräsidenten eine ähnliche Machtfülle wie Atatürk(11) zu erreichen und sein Präsidialsystem zu etablieren, das ganz auf seine Person zugeschnitten ist. Das Misstrauen sitzt tief, und eine rationale Debatte über die politischen und kulturellen Ursachen bleibt schwierig.

Um einen vorurteilsfreien Blick auf die Türkei zu gewinnen, müssen wir uns zunächst bewusst machen, mit wie vielen Vorurteilen wir selbst noch zu kämpfen haben. Das Thema Türkei ist für uns vor allem auch mit einem historischen Trauma belastet, das untergründig unser Urteil mitbestimmt.

Die »Türkengefahr« – das historische Trauma

Den Türken sei zweimal die Belagerung von Wien misslungen. Nun aber brächten sie mit ihrer massenhaften Zuwanderung ganz friedlich zuwege, was ihnen durch Feuer und Schwert nicht möglich gewesen sei. Sie würden das Abendland schleichend islamisieren, und bei diesem Vorhaben profitierten sie auch noch von unserer Demokratie, unserer Religionsfreiheit . . .

Derart beziehungsreiche Anspielungen sind nicht nur in Wien selbst, sondern zur Genüge auch in deutschen Städten zu hören. Dabei beschränkt sich die »massenhafte Zuwanderung« in Deutschland auf bisher 3 Millionen Menschen türkischer Abstammung, dies sind bei einer Gesamtbevölkerung von 82 Millionen lediglich 3 bis 4 Prozent. In Österreich, einem Land mit 8 Millionen Einwohnern, leben rund 230 000 Menschen mit türkischem Migrationshintergrund. Es sind Zahlen, die sich im letzten Jahrzehnt kaum geändert haben.

Die Türken vor Wien 1529 und 1683 . . . Gerade weil diese zwei weit zurückliegenden Ereignisse unvergessen sind, können sie umso besser für die Gegenwart instrumentalisiert werden.

Über Jahrhunderte war für uns im deutschen Sprachraum wie auch für Südosteuropäer die Furcht vor den Türken gleichbedeutend mit derjenigen vor dem Islam. Diese Furcht war nicht unbegründet. Schließlich hatte das Osmanische Reich vom 14. bis ins 17. Jahrhundert sein Herrschaftsgebiet immer weiter über den Vorderen Orient und Nordafrika bis weit hinein nach Europa ausgedehnt, zuletzt bis an die Grenzen Österreichs. Die Angst vor dieser militärischen Bedrohung war gepaart mit der Sorge, dass die Muslime den Christen kulturell ebenbürtig, wenn nicht gar in mancher Hinsicht überlegen seien. Die Erinnerung an die Bedrohung durch die Türken wirkt bis heute nach. Vorrangig gilt das für den Großraum Wien. Als ich 1976 in die Donaumetropole übersiedelte, war einer meiner ersten diesbezüglichen Eindrücke eine Gedenktafel vor der gotischen St.-Othmar-Kirche in Mödling, einem beliebten Ausflugsziel der Wiener. Dort ist zu lesen:

An dieser Stelle wurde im Juli 1683 fast die ganze Bevölkerung des Marktes Mödling von feindlichen Horden niedergemetzelt, als die Türken gegen Wien zogen.

Die Steintafel war im Juli 1933 an der Kirchenmauer angebracht worden, unmittelbar bevor in Wien der 250. Jahrestag des Sieges über die Türken begangen wurde. Entsprechende Mahntexte finden sich in anderen Orten der Umgebung Wiens, so in Hainburg, nahe der slowakischen Grenze. Dort ist an einem mittelalterlichen Stadttor, dem sogenannten Fischertor, zu lesen:

Dem Andenken der am 12. Juli 1683 nach Erstürmung der Stadt von den Türken niedergemetzelten Einwohner Hainburgs.

Und in Perchtoldsdorf zeigt ein buntes Glasfenster der gotischen Pfarrkirche sehr drastisch, wie Soldaten in orientalischer Tracht Häuser anzünden und mit Krummsäbeln und Lanzen wehrlose Menschen töten. Solche erst aus dem 20. Jahrhundert stammenden und somit recht jungen Darstellungen könnten glauben machen, die Massaker von 1683 hätten erst vor ein bis zwei Generationen stattgefunden und seien deshalb in der Erinnerung ein noch nicht verarbeiteter Schock – und es seien die Greueltaten muslimischer Eroberer um Vieles schlimmer für Österreichs Landbevölkerung gewesen als die von feindlichen Soldaten aus »christlichen« Staaten (was historisch eindeutig widerlegt werden kann).

Es hat eine tiefgehend symbolische Bedeutung, dass am 12. September 1983 – dem 300. Jahrestag des Sieges über die Türken vor den Toren Wiens – Papst Johannes Paul II.(1) zu einem Gedenkgottesdienst nach Wien kam und bei einer Messe unter freiem Himmel mit Hunderttausenden Menschen an den epochalen Triumph der Christenheit erinnerte. Es ist auch kein Zufall, dass Papst Benedikt(1)XVI. im Jahr 2006 ausgerechnet am 12. September an der Universität Regensburg seine berühmt-berüchtigte Rede hielt, die die Überlegenheit des »vernunftbetonten« Christentums über den Islam herausstellte. Er knüpfte mit dem Datum seines Vortrages bewusst an die Niederlage der Türken vor Wien an.

Bei meinen Reisen zu den Moldauklöstern Rumäniens entdeckte ich auf den prächtigen Fresken der Außenmauern neben den Darstellungen biblischer Szenen immer wieder auch historische Motive, die die Bedrohung durch das Osmanische Reich zum Thema haben: die Belagerung von Konstantinopel 1453, das Sterben christlicher Märtyrer unter den Krummsäbeln beturbanter Gestalten und als markanter Höhepunkt die Darstellung von Männern in Turban und Kaftan, die am Tag des Jüngsten Gerichts darauf warten, ins Höllenfeuer geworfen zu werden.

Zu Zeiten, als die Osmanen bis vor die Tore Wiens rückten, waren die Ängste durchaus nachvollziehbar, auf den Kirchtürmen Mitteleuropas würde bald der Halbmond aufgepflanzt und in den eroberten Gebieten Christen mit »Feuer und Schwert« zum Islam bekehrt. Eine religiös-politische Propaganda auf christlicher Seite hatte alles getan, um diese Furcht zu verstärken und damit den Widerstand zu mobilisieren. Aber zu denken geben sollte die Tatsache, dass auch im 21. Jahrhundert viele Europäer eine derartige Propaganda für historisch korrekt halten. Dabei ist durch die Forschung das Gegenteil belegt. Wenn auch Christen unter der Herrschaft der Osmanen nicht die gleichen Rechte wie Muslime besaßen, so konnten sie doch relativ frei ihren Glauben leben, hatten Zugang zu vielen Berufen, sogar in der höheren Verwaltung, und genossen größere Rechtssicherheit, als dies umgekehrt muslimischen (und auch jüdischen) Minderheiten im christlichen Abendland vergönnt war. Massaker an Andersgläubigen hatten selten religiöse Gründe und waren eher politisch motiviert. Mit gleicher Härte gingen türkische Muslime auch gegen Glaubensbrüder vor, sobald sie sich mit ihnen um Macht und Privilegien stritten.

Erst seit dem 18. Jahrhundert findet sich bei uns in Westeuropa eine Toleranz, die über die islamische Duldung andersgläubiger Monotheisten hinausgeht und den Islam an Freizügigkeit übertrifft. Es ist die säkulare Toleranz, die nicht nur allen Religionen, sondern ebenso den nichtreligiösen Weltanschauungen wie auch dem Atheismus gleichermaßen Freiheit zubilligt. Dieser aus dem Geist der Aufklärung hervorgegangene Pluralismus musste gegen den Widerstand der Kirchen, gegen den Absolutheitsanspruch christlicher Konfessionen durchgesetzt werden, dabei sind die Aufklärer selbst in vielen Bereichen ihres Denkens christlicher Ethik verbunden geblieben.

Wenn aber Christen unter der Herrschaft osmanischer Muslime ihren Glauben relativ frei leben konnten, wirkt es verstörend, dass 1915 mehr als eine Million armenische Christen von türkischen Soldaten aus Anatolien vertrieben oder getötet wurden und 1923 über eine Million griechischer Christen die Türkei verlassen mussten. Wo bleibt hier die vielgerühmte islamische Toleranz? Wenn wir mit Türken über diese Ereignisse sprechen, bekommen wir meist zu hören, diese Minderheiten seien nicht aus religiösen Gründen bekämpft worden, sondern weil sie in der Gründungsphase der Republik eine politische Bedrohung dargestellt hätten. Unter osmanischer Herrschaft hingegen hätten Armenier und Griechen viele Jahrhunderte lang wie alle anderen Christen die vom Koran vorgeschriebene Duldung als Angehörige einer »Buchreligion« genossen.

Fragen bleiben offen, vor allem, wenn wir den Blick auf die Gegenwart der Türkei richten.

»Aggressiver Islam« – alte Ängste, neue Vorurteile

»Christen die Kehle durchgeschnitten.« Eine Schlagzeile wie diese, die im April 2007 durch die westlichen Medien ging, schien mit neuer Aktualität die Klischees einer »Türkengefahr« und eines aggressiven Islam zu bestätigen. Mitglieder einer radikal-islamischen Organisation hatten in der ostanatolischen Stadt Malatya ein christliches Verlagshaus besetzt und drei der Mitarbeiter getötet. Die Männer hätten an die türkischen Muslime Bibeln verteilt; es gelte, den Islam vor christlicher Missionierung zu schützen. Mit ähnlichen Argumenten war ein Jahr zuvor in der nordtürkischen Stadt Trabzon ein katholischer Priester ermordet worden. Wie sind solche Ereignisse zu bewerten? Wächst nicht gerade in der Türkei ein besonders starkes Ressentiment gegen Christen und straft alles Lügen, was Muslime selbst – und auch viele Orientalisten – über die Toleranz des Islam sagen?

So schrecklich derartige Ereignisse sind – durch die Art der Berichterstattung entsteht ein falsches Bild von der Situation in der Türkei. Die Häufung solcher Meldungen erweckt den Eindruck, als seien radikal-islamische Organisationen weit verbreitet und hätten erheblichen Rückhalt in der türkischen Bevölkerung. Mehr noch: Je stärker das Gewicht auf solcher Berichterstattung liegt, desto mehr sehen sich unzureichend informierte Leser und Hörer in der vorgefassten Meinung bestätigt, der Islam sei ohnehin eine »radikale« Religion. Umgekehrt wird allerdings in türkischen Medien jeder Brand- und Mordanschlag auf Türken in Deutschland ähnlich aufgebauscht, und diese Berichte erzeugen ein genauso einseitiges Bild, indem sie suggerieren, die meisten Deutschen, ja Europäer seien rassistisch.

Ich bereise die Türkei seit 1964. Zu meinen stärksten Eindrücken zählt, dass viele Türken den Ausländern nicht nur sehr wohlwollend und unvoreingenommen, sondern auch sehr gastfreundlich begegnen. Über Religion sprechen viele Türken jedoch kaum. Sie leben den Islam – unreflektiert – als eine Summe vielfältiger Traditionen und zeigen wenig Interesse, ihren Glauben demonstrativ zu bekunden oder sich gegen andere religiöse Überzeugungen abzugrenzen. Sofern sie sich von Ausländern respektiert fühlen, bringen sie ihrerseits den Fremden Respekt und Freundlichkeit entgegen. Diese Erfahrung können wir nicht nur in der Türkei, sondern auch in vielen anderen Ländern der islamischen Welt machen. Die Schwierigkeiten beginnen erst, sobald die Einheimischen Ablehnung spüren.

Im Gespräch mit gebildeten Türken rückt das Thema Religion allerdings immer wieder in den Mittelpunkt. Den meisten meiner Diskussionspartner war die geistige Verwandtschaft der drei großen monotheistischen Religionen Islam, Christentum und Judentum sehr vertraut und sie wussten darüber oft besser Bescheid als viele Christen. Manche betonten sogar, dieses Wissen über die Gemeinsamkeiten müsste einen nachhaltigen Dialog fördern. Bei längeren Gesprächen wurde dann zwar stets deutlich, dass die Muslime ihren Glauben für den einzig wahren halten, weil aus ihrer Sicht andere Religionen höchstens abgeschwächt über Teile der göttlichen Offenbarung verfügen. Aber mit solchen Argumenten ähneln sie jenen Christen, die trotz aller Bekenntnisse zur Toleranz letztlich von der Überlegenheit ihrer eigenen Religion überzeugt sind.

Auf politischer Ebene zeigen sich dagegen größere Widersprüche. Seit den 1970er-Jahren sind in der Türkei die Priesterseminare sowohl der griechisch-orthodoxen als auch der armenischen Kirche geschlossen, dies auch noch 2016, außerdem ist der öffentlich-rechtliche Status der Kirchen stark eingeschränkt. Darüber hinaus dominiert der sunnitische Islam alle anderen Glaubensgemeinschaften, auch die der schiitisch geprägten Aleviten. Allein die Sunniten haben in der Praxis jene Entfaltungsfreiheit, die laut der laizistischen Staatsverfassung auch allen anderen Konfessionen zusteht. Auf diesbezügliche Fragen erhalten westliche Beobachter meist die Antwort, die rechtlichen Einschränkungen für Christen hätten nichts mit einer Aversion gegen deren Religion zu tun, sondern es handle sich um nationale Notwehr, da Griechen und Armenier ihren Widerstand gegen den türkischen Staat noch immer nicht ganz aufgegeben hätten. Solche Antworten sind nicht geeignet, das Misstrauen der Europäer zu beseitigen.

Die türkischen Politiker, ob nun betont säkular oder islamisch orientiert, geben meist keine eindeutige Auskunft über ihre Haltung zu Andersgläubigen. Viele grenzen sich zwar mehr oder weniger deutlich gegen radikal-islamische Organisationen ab, die zu Gewalt gegen Andersgläubige neigen. Aber alle lassen bislang eine eindeutige Politik vermissen, mit der sie sich für eine Verbesserung der Rechtssituation von Nichtmuslimen engagieren.

Allerdings gibt es in der Türkei muslimische Reformtheologen, die unter anderem entschieden für eine weitreichende Toleranz gegenüber Andersgläubigen eintreten. Diese Reformer knüpfen einerseits an die Tradition kritischer Koranauslegung an, wie sie im Goldenen Zeitalter des Islam vom 9. bis zum 13. Jahrhundert weit verbreitet war, andererseits an westlich aufgeklärtes Denken. Hieraus entsteht ein Islam, der in seinen Intentionen jenem Christentum ähnelt, das durch die europäische Aufklärung hindurchgegangen ist. Dies wird im Einzelnen zu zeigen sein.

Aber das Bild vom türkischen Islam wäre unvollständig, ohne auf den Sufismus einzugehen. Diese religiöse Strömung, die seit dem 9. Jahrhundert besteht und im türkischen Kulturraum zu besonderer Blüte gekommen ist, hat schon in der Epoche des klassischen Islam die Idee von der Gleichwertigkeit aller Religionen entwickelt. Wenn auch viele der Derwischbruderschaften im Verlauf der Jahrhunderte zu religiös-politischem Machtmissbrauch neigten und deshalb von Atatürk(12) 1925 verboten wurden, so ist doch das geistige Erbe des Sufismus in der Türkei nach wie vor lebendig und bildet, wie ebenfalls zu zeigen sein wird, eine besonders inspirierende Alternative zu dogmatisch engstirnigem Verhalten.

Angesichts dieser Vielfalt ist es problematisch, den Blick vorrangig auf das schmale Segment des religiös-politischen Radikalismus zu richten. Wir vernachlässigen damit die zahlreichen Entwicklungen, die zwar weniger spektakulär, aber umso nachhaltiger die Zukunft der Türkei mitbestimmen.

Die Angst vor den sozialen Problemen eines »unterentwickelten« Landes

Bis in die 1980er-Jahre haben wir von »Gastarbeitern« gesprochen. Das so freundlich klingende Wort sollte die Erinnerungen an den nationalsozialistischen Begriff »Fremdarbeiter« verdrängen und eine viel menschlichere Behandlung ausländischer Arbeitskräfte signalisieren. Aber tatsächlich haben viele von uns im »Gastarbeiter« herablassend einen nur geduldeten Bittsteller gesehen, der aus einem wirtschaftlich notleidenden Land kam und nach etlichen Jahren Arbeit in Westeuropa wieder in seine Heimat zurückkehren sollte. Genau diese Haltung brachten wir lange Zeit – oder bringen sie immer noch – den Türken entgegen.

Die ersten »Gastarbeiter« waren allerdings Italiener, Spanier, Griechen und Jugoslawen. Auch sie waren damals dem Vorurteil ausgesetzt, aus »primitiven« Dörfern zu stammen, in denen es noch keine religiöse Toleranz, kein Bewusstsein für Demokratie, keine Gleichberechtigung von Mann und Frau, keine Arbeitsmoral in unserem Sinne gebe. Und auch bei ihnen setzten wir voraus, dass sie nach wenigen Jahren wieder in ihre »unterentwickelte« Heimat zurückkehrten, denn ihre sozialen Verhaltensweisen seien ohnehin nicht mit unserer Gesellschaft kompatibel. Allerdings sind Italiener, Griechen und andere Zuwanderer aus dem »Süden« heute kaum mehr mit einem derartigen Stigma behaftet, weil sie inzwischen weitgehend integriert sind – und weil ihre Herkunftsländer beachtliche wirtschaftliche Fortschritte erzielt haben.

Anders die Türken. Im Zusammenleben mit ihnen haben wir den schwierigen Entwicklungsprozess noch vor uns. Hier geht es nicht nur um die Angst, dass der Islam doch viel fremder ist als ein süd- oder osteuropäisches, »archaisch« geprägtes Christentum, sondern darum, dass auch die sozialen Probleme um Vieles gravierender sind. Und das Unbehagen wächst, sobald diese »Gastarbeiter« die Staatsbürgerschaft ihres »Gastlandes« annehmen. Dann, so die Meinung, würden umso mehr wirtschaftliche Probleme aus ihrer Heimat importiert und gefährdeten unser sozial ausgeglichenes System, etwa indem slumähnliche Siedlungen entstünden, ähnlich wie es sie an den Rändern türkischer Städte gibt. Ein Stück Unterentwicklung aus einer armen Region würde sich damit in einem hochentwickelten Industriestaat etablieren. Mit letzter Konsequenz könnte das bedeuten: Falls die Türkei EU-Mitglied würde, könnte ganz Europa in den Sog von Problemen der sogenannten Dritten Welt gerissen werden. Und dies wäre auf einen Staat zurückzuführen, dessen Bevölkerung schon heute fast 80 Millionen zählt und in zwei bis drei Jahrzehnten möglicherweise die 100-Millionen-Grenze überschritten haben wird.

1923, im Gründungsjahr der Republik, waren noch nahezu 90 Prozent der Türken Analphabeten, zu Beginn des 21. Jahrhunderts waren es nur noch rund 17 Prozent. Mit dieser Quote liegt die Türkei zwar im Spitzenfeld der islamischen Länder, ist aber trotzdem noch weit entfernt vom westeuropäischen Standard. Ist die Türkei also noch immer unterentwickelt?

Mit Blick auf die Wirtschaftsdaten lässt sich die Frage zunächst verneinen. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts betrugen die jährlichen Wachstumsraten zwischen sechs und acht Prozent; sie waren somit um Vieles höher als in den hochentwickelten Ländern Westeuropas und vergleichbar mit jenen von China und Indien. Entsprechend konnte die Türkei als »zukunftsträchtig« gelten und als »Schwellenland« bezeichnet werden. Aber das ist nur die eine Seite. Um das Jahr 2000 war die türkische Wirtschaft dem Zusammenbruch nahe, so dass nicht nur westliche, sondern auch türkische Beobachter den Staatsbankrott befürchteten. Es könnte sich in naher Zukunft auch unter Erdoğan(16) eine Situation wiederholen, die man schon in den vergangenen Jahrzehnten beobachten musste: Kurze Phasen des wirtschaftlichen Booms wechseln sich periodisch mit teilweise tiefgehenden Wirtschaftskrisen ab.

Solche Wechsel sind für die türkische Wirtschaft nicht untypisch. Verantwortlich hierfür ist die ökonomische Rückständigkeit vieler Dörfer besonders im zentralen und östlichen Anatolien. Hinzu kommt das Elend in den Randgebieten vieler großer Städte, in denen vor allem Zuwanderer aus Notstandsgebieten leben. Wenn es nur auf einige Ballungsräume in der westlichen Türkei sowie die Touristenzentren an der türkischen Küste ankäme, die teilweise so modern und gepflegt wirken wie Städte und Dörfer in Norditalien, dann würde die Türkei nicht als der vielzitierte »Problemfall« gelten. Aber unterentwickelte Regionen Anatoliens drücken den Durchschnittswert der Statistik. Und so betrug das Bruttosozialprodukt des Landes zu Beginn des 21. Jahrhunderts nur ein Zehntel desjenigen skandinavischer Länder oder Deutschlands.[2]

Im Jahr 2007 lag die Wirtschaftsleistung pro Kopf bei 30 Prozent des EU-Durchschnitts; das entsprach dem Niveau der damals jüngsten EU-Mitglieder Rumänien und Bulgarien, die als Europas »Armenhäuser« gelten.[3] An dieser Situation hat sich 2016 nichts grundsätzlich geändert. Die Türkei zählt auch heute zu jenen Ländern mit den höchsten Einkommensunterschieden zwischen Reich und Arm.

Es stellt sich die Frage, ob auf lange Sicht nicht die unsichere Wirtschaftslage der Türkei ein größeres Problem für die europäische Integration darstellt als der vielbeschworene Kulturkonflikt mit dem »fremden« Islam.

Eine gespaltene Türkei

Allgegenwärtiger Islam

Wer noch jenes Bild der Türkei aus den Tagen Atatürks(13) im Kopf hat, aus einer Zeit, in der der Islam aus dem öffentlichen Leben weitgehend verdrängt war, erlebt bei einem ersten Besuch des Landes eine Reihe Überraschungen.

In allen türkischen Städten ertönt der Gebetsruf des Muezzins von unzähligen Minaretten, meist durch Mikrophone verstärkt und ohrenbetäubend laut. Tradition und Technik sind hier eine seltsame Symbiose eingegangen, für europäische Ohren Faszination und Nervenprobe zugleich. Dabei hatte Atatürk(14) den öffentlichen Gebetsruf als unzulässige Propaganda für eine »private Weltanschauung« zunächst strikt verboten und ihn erst 1932 auf Druck der Bevölkerung in türkischer Sprache wieder erlaubt. Aber seit 1950 ist der Gesang vom Minarett wieder auf Arabisch, der Sprache des Koran, zu hören. Und da Mikrophone die Lautstärke erheblich steigern, ist die Öffentlichkeit des Gebetsrufs sogar um Vieles eindringlicher, als sie in osmanischer Zeit hätte sein können.

Die Moscheen werden erheblich häufiger und zahlreicher besucht als bei uns die Kirchen. Und auch im Alltag ist die Religion sehr präsent. Es findet sich kaum eine Teestube, in der nicht sakraler Wandschmuck angebracht ist, etwa Koransprüche in arabischen Schriftzeichen, das Bild der Kaaba von Mekka oder anderer Wallfahrtsstätten. Diesen Eindruck können wir vor allem in Städten gewinnen, deren historische Kerne mit einem Labyrinth verwinkelter Gassen, mit Moscheekuppeln und Minaretten ohnehin noch die Atmosphäre des osmanischen Zeitalters vermitteln. Aber selbst in westlich geprägten Neustadtvierteln, die sich mit ihrem Flair kaum von südeuropäischen Städten unterscheiden, sehen wir häufig in Restaurants mit betont moderner Einrichtung sakralen Wandschmuck. Dies gilt sogar für manche Restaurants, in denen von morgens bis abends auf großen Bildschirmen Videoclips abgespielt werden mit Sequenzen, die in den historischen Zentren undenkbar wären: grell geschminkte Schlagersängerinnen mit langem, blondgefärbtem Haar und aufreizend kurzen Röcken, ihre Körper beim Singen lasziv verrenkend, mit männlichen Sängern in herausforderndem Blickkontakt – aus der Sicht eines traditionell denkenden Muslims »unislamische Dekadenz«. Doch gerade hier kann man erleben, dass der Kellner plötzlich das lautstarke Video abdreht, sobald von draußen der Gebetsruf des Muezzins ertönt.

Allgegenwärtig erscheint der Islam ebenso, wenn man mit Autobussen in Anatolien unterwegs ist. Allah koruşun, Maşaallah. Diese beiden Aufschriften sind oft an der Frontscheibe von Autobussen angebracht, meist in grellen Farben. Die erste Aufschrift ist türkisch, die zweite arabisch, aber beide bedeuten dasselbe: »Gott beschütze uns.« Gemeint ist der Schutz vor Unfällen. Häufig ist über dem Fahrer ein Koranspruch zu lesen, oder es hängt dort ein Amulett, das vor Krankheiten und dem bösen Blick schützen soll. Bei Fahrten kreuz und quer durch die Türkei fällt die Vielzahl der neugebauten Moscheen auf, oft nüchterne Zweckbauten im Fertigbaustil mit silbrig glänzender Aluminiumkuppel. In einem Türkei-Reiseführer des Jahres 1998 lese ich, dass sich die Zahl der Moscheen seit 1988 fast verdoppelt hat und dass die Zahl der Mekkapilger im selben Zeitraum von Jahr zu Jahr gestiegen ist.[4] Ein Ende dieses religiösen Booms ist nicht abzusehen. Aber am meisten muss die Auskunft verblüffen, dass der Religionsunterricht an türkischen Schulen Pflichtfach ist und keine Möglichkeit besteht, sich ihm zu entziehen. Dieses Gesetz widerspricht nicht nur unserem westlichen Modell eines säkularen und erst recht eines strikt laizistischen Staates, sondern auch den Intentionen Atatürks(15), der den Islam als »private Weltanschauung« betrachtete.

Der westliche Beobachter kann in der Republik Türkei allerdings auch ganz andere Eindrücke gewinnen – in Gesprächen mit erklärten Anhängern Atatürks(16).

»Ich bin nicht religiös«

Ich fahre mit dem Expressbus von Istanbul, der ehemaligen Hauptstadt, nach Ankara, der jetzigen Hauptstadt. Es ist ein komfortabler Bus, in dem viele Geschäftsleute reisen. Neben mir sitzt ein älterer Türke mit Anzug und Krawatte, sein Habitus verrät ihn als Angehörigen der oberen Mittelschicht. Er spricht mich auf Deutsch an und erzählt, er habe längere Zeit in Frankfurt als Diplomingenieur gearbeitet und letztes Jahr mit seinen beiden Söhnen einen Betrieb in Ankara eröffnet.

Wir reden zunächst über ganz allgemeine Themen des türkischen wie des deutschen Alltags, bis das unverbindliche Gespräch eine Überraschung bringt. Ich will wissen, an welchem Tag der darauffolgenden Woche der Fastenmonat Ramadan beginne und ob die Fastengebote noch immer einen großen Einfluss auf den Alltag in der Türkei hätten. – Er habe keine Ahnung, wann der Ramadan nächste Woche beginne, antwortet er. – Wie? Er sei doch Muslim. – »Ich bin nicht religiös«, erklärt er. – Er halte sich also nicht an die Fastengebote des Ramadan? – Nein. – Ob es viele Türken gebe, die den Ramadan ignorierten? – Viele. Zumindest gelte das für Leute in den westlichen Provinzen. Anders sei das allerdings im Osten der Türkei. Dort sei die Bevölkerung noch sehr konservativ. Ohnehin gelte das für einen Großteil der Dörfer. – Das Fasten im Monat Ramadan sei immerhin vom Koran vorgeschrieben, wende ich ein. Was denn für ihn der Koran bedeute? – Der Koran? Er wiegt unschlüssig den Kopf. Was solle er da sagen? Im Leben seiner Eltern habe Religion keine Rolle gespielt, er könne sich nicht erinnern, dass sein Vater oder seine Mutter jemals in eine Moschee gegangen seien. Den Koran kenne er nur vom Hörensagen.

Nein, seine Eltern seien keine Atheisten, antwortet er auf meine diesbezügliche Frage. In der Türkei gebe es bis heute kaum einen Muslim, der sich dezidiert zum Atheismus bekenne, so etwas würde angesichts der rigiden Gesetzgebung kaum jemand wagen. Aber es gebe viele Türken, die einen Großteil der koranischen Gebote für sehr rückständig hielten. All jene Gebote, die modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen widersprächen, taugten nicht für die heutige Lebenspraxis. Sie behinderten nur den Fortschritt. – Das habe Atatürk(17) genau so gesagt, kommentiere ich. – Ja, und Atatürk(18) habe recht, antwortet er plötzlich sehr lebhaft. Aber ich dürfe ihn da nicht missverstehen. Er habe nichts gegen Muslime, die ihren Glauben sehr intensiv lebten. Ein langjähriger Freund von ihm gehe jeden Freitag in die Mosche. – Ob er mit diesem Freund über Religion diskutiere? – Nein. Sie seien sich einig, dass Religion Privatsache sei und Imame sich nicht in politische Fragen einmischen sollten. Gerade weil es darüber keinen Streit gebe, könnten sie befreundet sein.

Soweit das Gespräch. Wie repräsentativ ist es?

Ich habe immer wieder mit Türken diskutiert, die eine ähnlich große Distanz zu religiösen Traditionen äußerten, dies vor allem in Istanbul, Izmir, Ankara und Antalya. In keinem anderen islamischen Land hat mir der Zufall so oft solche Begegnungen beschert. Zufall? Es ist kein Zufall. Dass in der Republik Türkei ein größerer Anteil Muslime als in jedem anderen Land der islamischen Welt derartige Anschauungen vertritt, konnte ich einer 1996 veröffentlichten Studie türkischer Sozialwissenschaftler der Bosporus-Universität Istanbul entnehmen, deren Ergebnisse heute in der religiös und weltanschaulich extrem gespaltenen Türkei kaum anders sind.

Besagter Untersuchung zufolge sind rund 30 Prozent der Türken noch nie in einer Moschee gewesen. Dies betrifft zwar in größerem Maße Frauen, denn ein Moscheebesuch ist vor allem Männersache, aber selbst dann bleibt noch ein für den islamischen Kulturraum ungewöhnlich hoher Anteil an »moscheefremden« Männern. Nur etwa 14 Prozent der türkischen Männer gehen einmal in der Woche zum Gebet in die Moschee und rund 21 Prozent nur freitags. Ungefähr 72 Prozent der Bevölkerung bekundeten, dass Gott für ihr Leben »irgendwie wichtig« sei. Aber auch dies ist für ein Land der islamischen Welt ein erstaunlich niedriger Prozentsatz. Die für die Sozialwissenschaftler wichtigste Aussage ist jedoch, dass nahezu 70 Prozent der Befragten keinen Zusammenhang zwischen Religion und den Regierungsgeschäften sehen. Rund 33 Prozent geben an, kein großes Vertrauen in die religiösen Institutionen zu haben. Und rund 24 Prozent bezeichnen sich sogar als »nicht religiös«. Allerdings, so interpretieren die Sozialwissenschaftler, dürfe diese Auskunft nicht dazu verleiten, solche Menschen für Atheisten zu halten. Zum Atheismus bekennt sich ausdrücklich nur rund ein Prozent der türkischen Bevölkerung. Die übrigen »nicht religiösen« Türken distanzieren sich lediglich von allzu starren Dogmen und muslimischen Traditionen, betonen jedoch, »irgendwie« an Gott zu glauben.[5]

Passend zu dieser sozialwissenschaftlichen Untersuchung wie auch zu den Auskünften meines Gesprächspartners entdeckte ich eine entsprechende Charakterisierung eines »säkular« denkenden Türken in einem Roman von Orhan Pamuk(1), dem türkischen Literaturnobelpreisträger von 2006. Der Autor führt in dem 2002 veröffentlichten Roman Schnee, einem seiner bedeutendsten literarischen Werke, einen jungen Türken vor, der geistig zwischen allen Fronten steht – den Nationalisten und Laizisten einerseits, den »Religiösen«, den gemäßigten sowie radikalen Islamisten andererseits. Der junge Türke stammt aus einer »nicht religiösen« Familie des Istanbuler Bildungsbürgertums. Bis auf die Religionsstunden in der Grundschule habe er keinerlei islamische Erziehung genossen, erzählt der junge Türke, aufgewachsen sei er allein mit westlicher Literatur, nicht mit dem Koran.

»In der Schule habe ich alle Gebete gründlich auswendig gelernt, damit der Religionslehrer mich mochte. Er hat uns die erste Koransure beigebracht, indem er uns ohrfeigte, uns am Haar zog und den Kopf auf das Religionsbuch stieß, das offen auf der hölzernen Schulbank lag. Ich habe alles gelernt, was einem in der Schule über den Islam beigebracht wird, aber ich habe vermutlich alles vergessen. Das Einzige, was ich heute über den Islam weiß, weiß ich, glaube ich, aus dem Film ›Mohammed(1), der Gesandte Gottes‹ mit Anthony Quinn in der Hauptrolle.«[6]

Dass diese Schilderung einen autobiographischen Hintergrund hat, erfährt man bei der Lektüre von Orhan Pamuks(2) Buch Istanbul, Erinnerungen an eine Stadt. Dort schreibt der Autor über seine Jugend, er habe, abgesehen von einem kurzzeitigen Unterricht in der Schule, keine religiöse Erziehung genossen. Für ihn sei der Islam lediglich eine »Religion für Dienstmädchen« gewesen, die einen Gott brauchten, an den sie sich in ihrer abergläubischen Hilflosigkeit wenden konnten. Niemand hatte sich in seiner Familie je an das Fastengebot des Ramadan gehalten, allerdings hatten sie, die westlich aufgeklärten Mitglieder des türkischen Großbürgertums, sich gerne am Zuckerfest, dem Fest des Fastenbrechens, beteiligt – wegen der fröhlichen Stimmung.[7]

Solche Angaben, ob von Orhan Pamuk(3), von türkischen Sozialwissenschaftlern oder meinem Gesprächspartner, stehen im Widerspruch zu den immer größeren Wahlerfolgen politischer Parteien mit »islamischem« Hintergrund. Es ist ein Widerspruch, der den Eindruck verstärkt, die Türkei sei weltanschaulich ein zutiefst gespaltenes Land. Aber die Ursachen für die daraus entstehenden Konflikte können wir nur verstehen, wenn wir uns näher mit zwei Jahrhunderten türkischer Geschichte beschäftigen: dem Zerfall des Osmanischen Reiches und der Revolution säkularer Nationalisten unter der Führung Atatürks(19).

»AUF NACH EUROPA!«

Die verordnete Revolution und ihre Widersprüche

Atatürk(20) und die »Türkische Moderne«

Weshalb Atatürk(21) zum Nationalhelden wurde

Mustafa Kemal Pascha(22) . . . Überall in der Türkei finden wir sein Standbild auf öffentlichen Plätzen, vor Regierungsgebäuden und Schulen, sein Porträt in Behörden, Banken, Restaurants, Teestuben und Basaren, sogar in Privatwohnungen. Kein Politiker wird in der Türkei so oft zitiert wie er, keiner ist so nachhaltig zur Leitfigur für »modernes« politisches Handeln geworden. Bei uns im Westen ist Mustafa Kemal Pascha allerdings vorrangig mit seinem ehrenden Beinamen bekannt geworden, den er seit 1934 offiziell führte: Atatürk(23), »Vater der Türken«.

Atatürk(24) regierte von 1923, dem Gründungsjahr der Republik, bis zu seinem Tod 1938. Diese 15 Jahre bildeten die entscheidende Zäsur, mit der, wie es Atatürk(25) selbst formulierte, die »Türkische Moderne« begann. Atatürk(26) setzte jene sozial-religiöse Ordnung außer Kraft, die mehr als 600 Jahre lang das Osmanische Reich geprägt hatte und noch heute in vielen Staaten der islamischen Welt mehr oder weniger fest verankert ist: der Islam als Staatsreligion, die Scharia als die bestimmende Norm im politischen und sozialen Leben. Atatürk(27) installierte stattdessen eine Gesellschaftsform strikt nach westeuropäischem Vorbild: radikale Trennung von Staat und Religion, völlige Entmachtung religiöser Institutionen. Derartige Reformen hatte es bis dahin in keinem islamischen Land gegeben. Weil Atatürks(28) Reformpolitik jedoch eine Vielzahl religiöser, kultureller und politischer Spannungen auslöste, ist der Begründer der modernen Türkei auch zu einer sehr umstrittenen Persönlichkeit geworden.

Trotzdem hat sich nichts grundsätzlich am Status der Ikone Atatürk(29) geändert. Ob sich nun die Politiker im Sinne des Staatsgründers als strikt säkular und laizistisch definieren oder ob sie Korrekturen im Sinne einer »islamischen Rückbesinnung« wünschen – kaum einer zweifelt daran, dass es ohne Mustafa Kemal Pascha nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches keine unabhängige Republik Türkei gegeben hätte, sondern nur einen schwachen Staat in kolonialer Abhängigkeit fremder Mächte. Als warnende Beispiele dienten hier besonders Großbritannien und Frankreich, die nach dem Ersten Weltkrieg die Regionen des Nahen Ostens nach eigenen Interessen aufteilten.

Uns wird im Folgenden zu beschäftigen haben, wie die »westlich« orientierten Reformen Atatürks(30) im Einzelnen gestaltet sind. Am Anfang aber steht die Frage, wie in einem islamisch geprägten Land ein derart radikaler Revolutionär einen nahezu unantastbaren Kultstatus erlangen konnte. In Atatürks(31) Biographie und in den politischen Rahmenbedingungen seiner Zeit finden wir die Antwort.

Mustafa Kemal(32) wurde 1881 in Saloniki geboren. Die nordgriechische Stadt, damals sowohl von Griechen als auch von Türken bewohnt, gehörte unter dem türkischen Namen Selanik zum Osmanischen Reich. Kirchen und Moscheen in unmittelbarer Nachbarschaft bestimmten zu jener Zeit das Stadtbild. Aber im Geburtsjahr Atatürks(33) stand in Südosteuropa nur noch ein schmaler Streifen Land unter der Herrschaft der Sultane – mit Saloniki als der wichtigsten Stadt. Der junge Mustafa wuchs in dem Bewusstsein heran, dass auch diese Region bald durch Eroberungszüge der Nachbarstaaten dem Osmanischen Reich verloren gehen könnte.

Mustafa(34) war der Sohn eines Zollbeamten und einer Bauerntochter. Der Vater zeigte sich an westlich ausgerichteter Bildung interessiert, wohingegen die Mutter im traditionellen Islam tief verwurzelt war. Sie wollte den Sohn in eine Koranschule schicken, wo er den Koran auf Arabisch hätte auswendig lernen müssen, doch der Vater setzte sich durch und ließ Mustafa(35) in einer Schule unterrichten, in der nach westlichem Vorbild gelehrt wurde. Diese Kombination eines westlich denkenden Vaters und einer religiösen Mutter war charakteristisch für viele Beamtenfamilien in der Endphase des Osmanischen Reiches.

1893 wechselte der zwölfjährige Mustafa(36) auf die Militärschule von Saloniki. Dort verlieh ihm einer der Lehrer einen Beinamen, um die vielen Schüler mit dem Namen Mustafa zu unterscheiden. Dies war in der islamischen Welt damals durchaus üblich (in der Regel besorgten dies die Eltern). Der Lehrer, der den begabten Schüler sehr schätzte, gab ihm den arabischen Beinamen »Kemal«, was »Vollendung« bedeutet. Von nun an wurde Mustafa zusätzlich mit Kemal angeredet.

Später, als derselbe Mustafa(37), Begründer der modernen Türkei, es zum Gesetz machte, dass jeder Staatsbürger zum Vornamen einen Familiennamen haben müsse, wurde Kemal sein offizieller Nachname. Dieser Nachname hat Eingang auch in die politische Geschichte der Türkei gefunden, denn die Gefolgsleute des Generals und Staatsgründers Mustafa Kemal nannten sich später »Kemalisten« und sprachen von der »kemalistischen Revolution«.

Mustafa Kemal(38) rückte 1899 in die Infanterieklasse der Kriegsschule in Istanbul ein, wo er seine Französischkenntnisse perfektionierte, denn Französisch war Pflichtfach für jeden Offiziersanwärter. Durch das Erlernen dieser Sprache stand ihm auch die Lektüre französischer Autoren offen. Aus Sicht der Sultane waren Fremdsprachen allerdings nur insoweit erwünscht, als die militärische Führungsschicht naturwissenschaftliche Literatur im Original lesen konnte – nicht aber philosophische und politische Schriften, die von einer Revolution gesellschaftlicher Verhältnisse handelten. Unerwünschte Bücher politischen Inhalts brachten osmanische Studenten allerdings aus Westeuropa mit. Der junge Offizier Mustafa Kemal(39) las in seiner dienstfreien Zeit vor allem Werke über die Philosophie der Aufklärung, mehr noch über die positivistische Philosophie des 19. Jahrhunderts. Seine Vorliebe galt dem französischen Philosophen Auguste Comte(1), der jede Form von Metaphysik radikal ablehnte und eine Befreiung des menschlichen Geistes von »religiösem Ballast« und »Aberglauben« forderte.[1] Mustafa Kemal(40) holte sich hier das geistige Rüstzeug, um später den »Aberglauben« islamischer Religiosität zu bekämpfen.

In Istanbul ließ sich der junge Offizier Mustafa Kemal(41) allerdings auch auf andere Weise von den Lebensgewohnheiten einer verwestlichten Ober- und Mittelschicht anstecken: Er trank viel Schnaps und setzte sich damit ostentativ über das Alkoholverbot des Koran hinweg. Für ihn wurde der Genuss von türkischem Anisschnaps gar zu einem verhängnisvollen lebenslangen Laster. Regelmäßige Trinkgelage mit Offizieren und hohen Staatsbeamten ruinierten schließlich seine Gesundheit, weshalb er 1938 bereits im Alter von nur 57 Jahren an Leberzirrhose starb. Dieser Makel im Leben des Revolutionärs ist in der Türkei bis heute ein Tabu, gilt aber frommen Muslimen als Zeichen des »Unglaubens«, wenngleich auch sie über dieses Laster des »Vaters der Türken« nicht öffentlich sprechen.

Zurück ins Jahr 1899. Der Offizier Mustafa Kemal(42) kam zunehmend in Kontakt mit der Bewegung der sogenannten Jungtürken, einer nationalistischen Bewegung, die sich gegen erstarrte orientalische Traditionen wandte und radikale Reformen nach westlichem Vorbild, ja eine radikale Verwestlichung forderte. Zu den Kernaussagen dieser Bewegung gehörten Sätze, wie sie später Atatürk(43) als Präsident der Republik nahezu wörtlich wiederholte. Exemplarisch ist hier ein Gedanke aus einer jungtürkischen Broschüre von 1913:

»Es gibt keine zweite Zivilisation; Zivilisation bedeutet europäische Zivilisation, und sie muss eingeführt werden – mit ihren Rosen und ihren Dornen!«[2]

Mustafa Kemal(44) engagierte sich eine Zeit lang in der Bewegung der Jungtürken, die von der Polizei misstrauisch beobachtet wurde. Einige Wochen verbrachte er sogar im Gefängnis, weil ihn der Geheimdienst revolutionärer Umtriebe verdächtigte. Dann versetzte ihn die militärische Führung als Hauptmann im Generalstab der 5. Armee nach Damaskus, der Hauptstadt der osmanischen Provinz Syrien. Diese Versetzung sollte als Warnung für einen jugendlichen Eiferer gelten, dem man das Bedürfnis nach Revolution noch als Jugendsünde auslegte. In Damaskus aber nahm Mustafa Kemal zu den dortigen Jungtürken Kontakt auf und war an der Gründung der Jungtürkischen Partei beteiligt. Er gehörte damit zu den vielen unzufriedenen Offizieren, die gegen das reaktionäre Regime des Sultans Abdul Hamid II.(1) aufbegehrten. Drei Jahre später putschten die Offiziere der Jungtürken in Istanbul gegen den Sultan und zwangen ihn 1909 zur Abdankung. Dessen Nachfolger Mehmet V.(1) konnte sein Amt nur noch als konstitutioneller Monarch ausüben, die eigentliche Macht lag nun bei den Jungtürken. Der Offizier Mustafa Kemal(45), nun im Rang eines Oberst, gehörte aber nicht zum innersten Zirkel der Macht, weil er sich von Anfang an politisch nicht mit dem übersteigerten Nationalismus der Jungtürken anfreunden konnte.

In den Rang eines Generals rückte Mustafa Kemal(46) 1916 während des Ersten Weltkriegs auf und trug damit den Titel Pascha, der jedem Offizier ab dem Rang eines Generals zustand. Mustafa Kemal Pascha kämpfte im östlichen Anatolien gegen die vorrückenden Russen und in Palästina sowie an den Dardanellen gegen britische Truppen. Aber das strategische Geschick als Kommandeur einer Armee nützte nichts in einem Staat, der an der Korruption und Unfähigkeit seiner Regierung krankte. Der »kranke Mann am Bosporus«, wie die Europäer seit Mitte des 19. Jahrhunderts das dahinsiechende, von inneren Krisen gelähmte Osmanische Reich bezeichneten, lag nun endgültig im Sterben. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg gegen die alliierten Truppen Großbritanniens, Frankreichs, Italiens, Russlands und Griechenlands besiegelte den völligen Zusammenbruch des Osmanischen Reiches – vertrieb aber auch die Jungtürken von der Macht, deren inkompetente Führung erheblich zur Niederlage beigetragen hatte.

General Mustafa Kemal(47) Pascha war bis dahin immer noch eine historische Randfigur. Seine große Stunde sollte erst kommen, als die Situation für die besiegten Osmanen völlig aussichtslos geworden war. Das geschah zwei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs.

Am 10. August 1920 wurde in dem Pariser Vorort Sèvres zwischen den alliierten Siegermächten und Sultan Mehmet VI.(1), der seit 1917 regierte, ein Friedensvertrag unterzeichnet. Dessen Bedingungen waren viel härter als das Friedensdiktat von Versailles für das besiegte Deutsche Reich. Hätten sich die Türken in ihrer Mehrheit den Bedingungen des Abkommens gebeugt, dann wäre von dem einst mächtigen Osmanischen Reich nicht einmal das türkische Kernland in Anatolien übrig geblieben. Zur führenden Persönlichkeit, die sich dem Friedensvertrag von Sèvres widersetzte, stieg General Mustafa Kemal(48) Pascha auf.

Wie sah der Friedensvertrag im Einzelnen aus? Zwar war zu erwarten gewesen, dass die arabischen Gebiete Syrien, Jordanien und der Irak den Osmanen nach jahrhundertelanger Herrschaft verloren gingen, aber einen Schock bedeutete es für die Besiegten, dass sogar das türkische Kernland zerstückelt werden sollte. Die europäische Provinz Ostthrakien, die sich bis vor die Tore Istanbuls erstreckte, musste an Griechenland abgetreten werden, ebenso die Stadt Izmir mit einem beträchtlichen Teil der kleinasiatischen Küstenprovinzen. Im Osten Anatoliens, der Region von Erzurum, sollte ein unabhängiger Staat Armenien entstehen. Ebenso sollte den Kurden im äußersten Südosten, östlich des Tigris, ein autonomes Gebiet mit dem Namen Kurdistan zugestanden werden. Nicht genug damit. Die Südküste westlich und östlich von Antalya und deren Hinterland bis Konya wurden zum italienischen Einflussgebiet erklärt, die Taurusregion zur französischen Zone. Somit blieb nur ein kleines, militärisch schwaches Gebiet in Anatolien, in dem die Türken ohne koloniale Bevormundung würden leben können.

Aber es sollte noch schlimmer kommen. Noch bevor der demütigende Vertrag von Sèvres unterzeichnet war, hatte Griechenland die Chance genutzt, seinen Traum von einem »Großgriechischen Reich« rigoros umzusetzen. Das hieß in der Diktion radikaler griechischer Nationalisten: Es müsse die historische Kränkung rückgängig gemacht werden, die die Herrschaft der Osmanen über das seit 2000 Jahren »griechische« Gebiet in Kleinasien gebracht habe. Am 15. Mai 1919 landeten griechische Truppen in Izmir und stießen bis zur zentralanatolischen Stadt Afyon vor, um noch vor der Unterzeichnung des Friedensvertrags vollendete Tatsachen zu schaffen. Die Griechen Kleinasiens, die bis dahin unter osmanischer Herrschaft gelebt hatten, jubelten den Truppen zu und begrüßten die Aufnahme in ein »Großgriechisches Reich«.

Sultan Mehmet VI.(2) akzeptierte auch dies. Aber damals hatte sich General Mustafa Kemal Pascha bereits der Befehlsgewalt des Sultans entzogen und auf eigene Verantwortung die in Anatolien verbliebenen sechs Armeekorps für die Verteidigung gegen die vordringenden Griechen mobilisiert. Damit ernannte er sich selbst in einem revolutionären Akt zum Oberbefehlshaber der türkischen Armee. Er rief zum Ungehorsam gegen die »Lakaien-Regierung« des Sultans auf.

Nun wuchs Mustafa Kemal(49) Pascha in die historische Rolle hinein, die ihn zum »Vater der Türken«, dem Begründer der Republik Türkei, werden ließ. Ihm gelang das zunächst Unglaubliche, in einem äußerst blutigen, drei Jahre dauernden Krieg die griechischen Truppen aus Kleinasien zu vertreiben und ebenso den Widerstand der Armenier und Kurden zu brechen. Durch diese überragenden militärischen Siege konnte er neue Tatsachen schaffen und einen Friedensvertrag erzwingen, der die Beschlüsse von Sèvres annullierte. Am 24. Juli 1923 unterzeichneten die Türken in Lausanne einen Friedensvertrag, in welchem dem Staat mit dem Namen Türkiye die volle Souveränität zugestanden wurde. Dieser Staat, der mehrheitlich von Türken bewohnt war – und von türkischen Nationalisten als unteilbares türkisches Kerngebiet bezeichnet wurde –, reichte von der Provinz Ostthrakien im Westen bis an die Grenzen des Iran und Syriens im Osten. Den Armeniern und Kurden hatte man in dem Vertrag von 1923 nicht mehr zugestanden, jeweils einen eigenen Staat auf anatolischem Boden zu errichten.

Dieser neue Staat Türkei wurde 1923 zur Republik. Schon im November 1922 hatte das in Ankara tagende Parlament den Sultan Mehmet VI.(3) abgesetzt. Aber nach Unterzeichnung des Friedensvertrages von Lausanne rief das Parlament die Republik aus und wählte am 29. Oktober General Mustafa Kemal Pascha(50) zum Staatspräsidenten. Neue Hauptstadt wurde Ankara, nicht Istanbul, denn in Ankara befand sich schon seit 1919, dem Beginn der Rebellion gegen den Sultan, das Hauptquartier der türkischen Armee.

Die Siege gegen die scheinbar übermächtige Armee der Griechen wie auch gegen die Armenier und Kurden in Ostanatolien hatten Mustafa Kemal Pascha(51) nationale Autorität verschafft. Ohne diese militärischen Erfolge und eine starke Armee als Stütze seiner Macht wäre es ihm nicht möglich gewesen, seine radikalen Reformen durchzusetzen. Denn nun wagte sich Atatürk(52) an die Umgestaltung des Staatswesens heran, die bis dahin ohne Beispiel im islamischen Kulturraum war. Er orientierte die neu gegründete Republik in gesellschaftlicher Hinsicht strikt am Vorbild Europas. Er tat dies, weil er zutiefst überzeugt war, dass die islamischen Traditionen des Osmanischen Reiches für den Niedergang verantwortlich und deshalb restlos zu beseitigen seien.

Staatspräsident Mustafa Kemal Atatürk(53) trat ein schweres Erbe an. Bei der Gründung der Republik lebten nahezu 80 Prozent der Türken in Dörfern, und rund 90 Prozent waren Analphabeten. Die Mehrheit der damals rund 13,6 Millionen Einwohner hatte von Ideen wie Nationalismus und Modernisierung keinerlei Vorstellung, wichtig waren allein regionale, stammesmäßige und religiöse Zugehörigkeiten.[3] Atatürk(54) konnte bei seinen Reformen zunächst nur auf die Unterstützung durch eine äußerst schmale städtische Bildungsschicht zählen sowie auf die der westlich gebildeten Offiziere. Diese spezifische Basis einer vorwiegend militärischen Elite gab der »Revolution von oben« ihren Charakter.

Gegen den »rückständigen Islam« – für die »moderne Zivilisation«

»Der Politiker, der zur Regierung die Hilfe der Religion braucht, ist nichts als ein Schwachkopf.«[4]

Dieser Satz stammt von Atatürk(55). Er und mit ihm viele seiner Anhänger, die sogenannten Kemalisten, haben sich zur Genüge äußerst geringschätzig über den Islam geäußert und diese Religion als rückständig bezeichnet.

Von Atatürk(56) stammt auch folgende Erklärung:

»Seit mehr als 500 Jahren haben die Regeln und Theorien eines alten Araber-Scheichs [damit meinte er Mohammed(2)] und die abstrusesten Auslegungen von Generationen von schmutzigen und unwissenden Pfaffen in der Türkei sämtliche Zivil- und Strafgesetze festgelegt. Sie haben die Form der Verfassung, der geringsten Handlungen und Gesten eines Bürgers festgesetzt, seine Nahrung, die Stunden für Wachen und Schlafen, den Schnitt der Kleider, den Lehrstoff in der Schule, Sitten und Gewohnheiten und selbst die intimsten Gedanken. Der Islam [. . .] ist ein verwesender Kadaver, der unser Leben vergiftet.«[5]

Traditionsbewusste Muslime kanzelte Atatürk(57) mit folgenden Worten ab:

»Es gibt verschiedene Länder, aber nur eine Zivilisation. Voraussetzung für den Fortschritt der Nation ist, an dieser einen Zivilisation teilzuhaben.«[6]

Atatürk(58) ließ keinen Zweifel daran, dass er mit dieser »einen Zivilisation« die westliche meinte:

»Auf der Welt sind für alles, für das Materielle und Ideelle, für das Leben und den Erfolg die Wissenschaft und Technik die wahrsten geistigen und moralischen Führer. Einen solchen Führer außerhalb der Wissenschaft und Technik zu suchen ist gleichbedeutend mit Gedankenlosigkeit, Unwissenheit und Irrtum.«[7]

In diesem Sinne wies Atatürk(59) auch die uns so vertraute Vorstellung zurück, dass man einen tiefen Gegensatz zwischen Orient und Okzident zu sehen habe: