Über den nervösen Charakter - Alfred Adler - E-Book

Über den nervösen Charakter E-Book

Alfred Adler

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Beschreibung

Dieses eBook: "Über den nervösen Charakter" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Alfred Adler (1870-1937) war ein österreichischer Arzt und Psychotherapeut. Adlers Lehre hatte eine große, eigenständige Wirkung auf die Entwicklung der Psychologie und Psychotherapie im 20. Jahrhundert. Inhalt: Theoretischer Teil 1. Kapitel: Ursprung und Entwickelung des Gefühls der Minderwertigkeit und dessen Folgen 2. Kapitel: Die psychische Kompensation und ihre Vorbereitung 3. Kapitel: Die verstärkte Fiktion als leitende Idee in der Neurose Praktischer Teil 1. Kapitel: Geiz — Misstrauen — Neid — Grausamkeit — Herabsetzende Kritik des Nervösen — Neurotische Apperzeption — Altersneurosen — Formen- und Intensitätswandel der Fiktion — Organjargon 2. Kapitel: Neurotische Grenzerweiterung durch Askese, Liebe, Reisewut, Verbrechen — Simulation und Neurose — Minderwertigkeitsgefühl des weiblichen Geschlechts — Zweck des Ideale — Zweifel als Ausdruck des psychischen Hermaphroditismus — Masturbation und Neurose — Der "Inzestkomplex" als Symbol der Herrschsucht. — Das Wesen des Wahns 3. Kapitel: Nervöse Prinzipien — Mitleid, Koketterie, Narzissimus — Psychischer Hermaphroditismus — Halluzinatorische Sicherung — Tugend, Gewissen, Pedanterie, Wahrheitsfanatismus 4. Kapitel: Entwertungstendenz — Trotz und Wildheit — Sexualbeziehungen des Nervösen als Gleichnis — Symbolische Entmannung — Gefühl der Verkürztheit — Der Lebensplan der Manngleichheit — Simulation und Neurose — Ersatz der Männlichkeit — Ungeduld, Unzufriedenheit und Verschlossenheit 5. Kapitel: Grausamkeit —Gewissen — Perversion und Neurose...

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Alfred Adler

Über den nervösen Charakter

Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie
e-artnow, 2017 Kontakt [email protected]
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Theoretischer Teil
Einleitung
I. Kapitel Ursprung und Entwickelung des Gefühls der Minderwertigkeit und dessen Folgen
II. Kapitel Die psychische Kompensation und ihre Vorbereitung
III. Kapitel Die verstärkte Fiktion als leitende Idee in der Neurose
Praktischer Teil
I. Kapitel Geiz. — Misstrauen. — Neid. — Grausamkeit. — Herabsetzende Kritik des Nervösen. — Neurotische Apperzeption. — Altersneurosen. — Formen- und Intensitätswandel der Fiktion. — Organjargon
II. Kapitel Neurotische Grenzerweiterung durch Askese, Liebe, Reisewut, Verbrechen. — Simulation und Neurose. — Minderwertigkeitsgefühl des weiblichen Geschlechts. — Zweck des Ideals. — Zweifel als Ausdruck des psychischen Hermaphroditismus. — Masturbation und Neurose. — Der „Inzestkomplex“ als Symbol der Herrschsucht. — Das Wesen des Wahns
III. Kapitel Nervöse Prinzipien. — Mitleid, Koketterie, Narzissismus. — Psychischer Hermaphroditismus. — Halluzinatorische Sicherung. — Tugend, Gewissen, Pedanterie, Wahrheitsfanatismus
IV. Kapitel Entwertungstendenz. — Trotz und Wildheit. — Sexualbeziehungen des Nervösen als Gleichnis. — Symbolische Entmannung. — Gefühl der Verkürztheit. — Der Lebensplan der Manngleichheit. — Simulation und Neurose. — Ersatz der Männlichkeit. — Ungeduld, Unzufriedenheit und Verschlossenheit
V. Kapitel Grausamkeit. — Gewissen. — Perversion und Neurose
VI. Kapitel Oben—Unten. — Berufswahl. — Mondsucht. — Gegensätzlichkeit des Denkens. — Erhöhung der Persönlichkeit durch Entwertung Anderer. — Eifersucht. — Neurotische Hilfeleistung. — Autorität.— Denken in Gegensätzen und männlicher Protest. — Zögernde Attitude und Ehe. — Die Attitude nach aufwärts als Symbol des Lebens. — Masturbationszwang. — Nervöser Wissensdrang
VII. Kapitel Pünktlichkeit. — Der Erste sein wollen. — Homosexualität und Perversion als Symbol. — Schamhaftigkeit und Exhibition. — Treue und Untreue. — Eifersucht
VIII. Kapitel Furcht vor dem Partner. — Das Ideal in der Neurose. — Schlaflosigkeit und Schlafzwang. — Neurotischer Vergleich von Mann und Frau. — Formen der Furcht vor der Frau
IX. Kapitel Selbstvorwürfe, Selbstquälerei, Bussfertigkeit und Askese. — Flagellation. — Neurosen bei Kindern. — Selbstmord und Selbstmordideen
X. Kapitel Familiensinn des Nervösen. — Trotz und Gehorsam. — Schweigsamkeit und Geschwätzigkeit. — Die Umkehrungstendenz
Schluss
Zitierte Schriften des Autors

Vorwort

Inhaltsverzeichnis

Nachdem ich in der „Studie über Minderwertigkeit von Organen“ (1907) den Versuch gemacht hatte, den Aufbau und die Tektonik der Organe im Zusammenhang mit ihrer genetischen Grundlage, mit ihrer Leistungsfähigkeit und ihrem Schicksal zu betrachten, ging ich, — gleichermassen gestützt auf vorliegende Befunde wie auf meine eigenen Erfahrungen, daran, dieselbe Methode der Betrachtung in der Pathopsychologie durchzuführen. In der vorliegenden Arbeit sind die hauptsächlichsten Ergebnisse meiner vergleichenden, individualpsychologischen Studien über die Neurosen niedergelegt.

Wie in der Organminderwertigkeitslehre ist in der vergleichenden Individualpsychologie die empirische Grundlage dazu benützt, ein fiktives Mass der Norm aufzustellen, um Grade der Abweichung daran messen und vergleichen zu können. In beiden Wissensgebieten rechnet die vergleichende Forschung mit der Herkunft des Phänomens, misst daran die Gegenwart und sucht die Linie der Zukunft aus ihnen abzuleiten. Diese Betrachtungsweise führt uns dahin, den Zwang der Entwickelung und die pathologische Ausgestaltung als das Ergebnis eines Kampfes anzusehen, der im Gebiet des Organischen um die Gleichgewichtserhaltung, um Leistungsfähigkeit und Domestikation entbrennt; die gleiche Kampfbereitschaft in der Psyche steht unter der Leitung einer fiktiven Persönlichkeitsidee, deren Wirksamkeit bis zum Aufbau des nervösen Charakters und der nervösen Symptome reicht. Wird so im Organischen „das Individuum eine einheitliche Gemeinschaft, in der alle Teile zu einem gleichartigen Zweck zusammenwirken“ (Virchow), — — bauen sich die mannigfachen Fähigkeiten und Regungen des Organismus zu einer planvoll gerichteten, einheitlichen Persönlichkeit aus, dann können wir jede einzelne Lebenserscheinung derart erfassen, als ob in ihr Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft samt einer übergeordneten, leitenden Idee in Spuren vorhanden wären.

Auf diesem Wege hat sich dem Autor dieses Buches ergeben, dass jeder kleinste Zug des Seelenlebens von einer planvollen Dynamik durchflossen ist. Die vergleichende Individualpsychologie erblickt in jedem psychischen Geschehen den Abdruck, sozusagen ein Symbol des einheitlich gerichteten Lebensplanes, der in der Psychologie der Neurosen und Psychosen nur deutlicher zutage tritt.

Die Ergebnisse einer derartigen Untersuchung am neurotischen Charakter sollen Zeugnis ablegen für Wert und Anwendbarkeit unserer Methode der vergleichenden Individualpsychologie bezüglich der Probleme des Seelenlebens.

Der Autor.

Theoretischer Teil

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Inhaltsverzeichnis
„Omnia ex opinione suspensa sunt: non ambitio tantum ad illam respicit et luxuria et avaritia. Ad opinionem dolemus. Tam miser est quisque, quam credidit!
Seneca. Epist. 78, 13.

Die Untersuchung des neurotischen Charakters ist ein wesentlicher Teil der Neurosenpsychologie. Wie alle psychischen Erscheinungen ist er nur im Zusammenhang mit dem ganzen seelischen Leben zu erfassen. Eine flüchtige Kenntnis der Neurosen genügt, um das Besondere daran herauszufinden. Und alle Autoren, die dem Problem der Nervosität nachgegangen sind, haben mit besonderem Interesse gewisse Charakterzüge ins Auge gefasst. Das Urteil war ein allgemeines, dass der Neurotiker eine Reihe scharf hervortretender Charakterzüge bietet, die das Mass des Normalen überschreiten. Die grosse Empfindlichkeit, die Reizbarkeit, die reizbare Schwäche, die Suggestibilität, der Egoismus, der Hang zum Phantastischen, die Entfremdung von der Wirklichkeit, aber auch speziellere Züge, wie Herrschsucht, Bösartigkeit, opfervolle Güte, kokettes Wesen, Feigheit und Ängstlichkeit, Zerstreutheit figurieren in den meisten Krankengeschichten, und man müsste alle gründlichen Autoren namhaft machen, um ihren Beitrag zu bestätigen. Von den Neueren ist insbesondere Janet zu nennen, der die Traditionen der berühmten französischen Schule fortführt und namhafte scharfsinnige Analysen zutage gefördert hat. Insbesondere seine Betonung des „sentiment d'incompletude" des Neurotikers stimmt so sehr mit den von mir erhobenen Befunden überein, dass ich in meinen Arbeiten eine Erweiterung dieser wichtigsten Grundtatsache aus dem Seelenleben des Neurotikers erblicken darf.

Wo immer man mit der Analyse psychogener Krankheitszustände einsetzt, drängt sich nach kürzester Beobachtung ein- und dieselbe Erscheinung vor: dass das ganze Bild der Neurose ebenso wie alle ihre Symptome von einem fingierten Endzweck aus beeinflusst, ja entworfen sind. Dieser Endzweck hat also eine bildende, richtunggebende, arrangierende Kraft. Er lässt sich aus der Richtung und dem „Sinn" der krankhaften Erscheinungen verstehen, und versucht man auf diese Annahme zu verzichten, so bleibt eine verwirrende Fülle von Regungen, Trieben, Komponenten, Schwächen und Anomalien, die das Dunkel der Neurose für die einen so abstossend gemacht haben, während andere in ihm kühne Entdeckungsfahrten unternahmen.

Pierre Janet hat diesen Zusammenhang sicherlich gekannt, wie aus einzelnen seiner klassischen Schilderungen über den „Geisteszustand der Hysterischen" 18941 hervorgeht. Er hat sich aber einer eingehenden Darstellung entschlagen. Er betont ausdrücklich: „Ich habe bis jetzt nur allgemeine und einfache Züge des Charakters beschrieben, die durch ihre Verbindungen und unter dem Einflusse bestimmter äusserer Umstände Haltungen und Handlungen eigentümlicher Art in allen Formen erzeugen können. Es ist hier unstatthaft, auf diese Beschreibung näher einzugehen, da dieselbe mit einem Sittenromane grössere Ähnlichkeit aufweisen würde als mit einer klinischen Arbeit.“ Mit dieser Stellungnahme, der er bis zu seinen letzten Werken treu geblieben ist, hat dieser Autor, trotz seines klaren Verständnisses für den Zusammenhang von Neurosenpsychologie und Moralphilosophie den Weg zur Synthese nicht beschritten.

Erst Josef Breuer, ein genauer Kenner der deutschen Philosophie, hat den glitzernden Stein gefunden, der am Wege lag. Er lenkte die Aufmerksamkeit auf den „Sinn" des Symptoms und wollte Herkunft und Zweck desselben bei dem Einzigen, der darauf antworten konnte, beim Patienten erfragen. Damit hat dieser Autor eine Methode begründet, die historisch und genetisch individualpsychologische Erscheinungen aufklären will, unter Zuhilfenahme einer vorläufigen Voraussetzung, der einer Determination psychischer Erscheinungen. Wie diese Methode von Siegmund Freud erweitert und ausgebildet wurde, woran sich eine Unzahl von Problemstellungen und versuchten Lösungen knüpften, gehört der Gegenwartsgeschichte an und ist ebenso auf Anerkennung wie auf Widerspruch gestossen. Weniger einer kritischen Neigung folgend als um den eigenen Standpunkt hervorzuheben, mag es mir gestattet sein, aus den fruchtbaren und wertvollen Leistungen Freuds vor allem drei seiner fundamentalen Anschauungen als irrtümlich abzusondern, da sie den Fortschritt im Verständnis der Neurose zu versperren drohen. Der erste Einwand betrifft die Auffassung der Libido als treibender Kraft für das Geschehen in der Neurose. Gerade die Neurose zeigt deutlicher als das normale psychische Verhalten, wie durch die neurotische Zwecksetzung die Empfindung der Lust, die Auswahl derselben und ihre Stärke in die Richtung dieses Zweckes gezwungen werden, so dass der Neurotiker eigentlich nur mit seiner sozusagen gesunden psychischen Kraft der Lockung des Lusterwerbs folgen kann, während für den neurotischen Anteil „höhere“ Ziele gelten.

Als diese neurotische Zwecksetzung hat sich uns die Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls ergeben, dessen einfachste Formel im übertriebenen „männlichen Protest“ zu erkennen ist. Diese Formel: „ich will ein ganzer Mann sein!“ ist die leitende Fiktion in jeder Neurose, für die sie in höherem Grade als für die normale Psyche Wirklichkeitswerte beansprucht. Und diesem Leitgedanken ordnen sich auch Libido, Sexualtrieb und Perversionsneigung, wo immer sie hergekommen sein mögen, ein. Nietzsches „Wille zur Macht“ und „Wille zum Schein“ umfassen vieles von unserer Auffassung, die sich wieder in manchen Punkten mit Anschauungen Férés und älterer Autoren berührt, nach welchen die Empfindung der Lust in einem Machtgefühl, die der Unlust in einem Gefühle der Ohnmacht wurzelt. — Ein zweiter Einwand trifft Freuds Grundanschauung von der sexuellen Ätiologie der Neurosen, einer Anschauung, der sich vorher schon Pierre Janet bedenklich nahe befand, als er (l. c.) die Frage aufwarf: „Sollte etwa die Geschlechtsempfindung der Mittelpunkt sein, um welchen herum die anderen psychologischen Synthesen sich aufbauen?“ Die Verwendbarkeit des sexuellen Bildes täuscht den Normalen, insbesondere den Neurotiker. Sie darf den Psychologen nicht täuschen. Der sexuelle Inhalt in den neurotischen Phänomenen stammt vorwiegend aus dem ideellen Gegensatz „Männlich-Weiblich“, und ist durch Formenwandel aus dem männlichen Protest entstanden. Der sexuelle Antrieb in der Phantasie und im Leben des Neurotikers richtet sich nach der männlichen Zwecksetzung, ist eigentlich kein Trieb sondern ein Zwang. Das ganze Bild der Sexualneurose ist ein Gleichnis, in dem sich die Distanz des Patienten von seinem fiktiven männlichen Endziel, und wie er sie zu überwinden sucht, spiegelt. Sonderbar, dass Freud, ein feiner Kenner des Symbolischen im Leben, nicht imstande war, das Symbolische in der sexuellen Apperzeption aufzulösen, das Sexuelle als Jargon, als Modus dicendi zu erkennen. Aber wir können dies verstehen, wenn wir den weiteren Grundirrtum ins Auge fassen, die Annahme, als stünde der Neurotiker unter dem Zwange infantiler Wünsche, die allnächtlich (Traumtheorie) aufleben, ebenso auch bei bestimmten Anlässen im Leben. In Wirklichkeit stehen diese infantilen Wünsche selbst schon unter dem Zwange des fiktiven Endziels, tragen meist selbst den Charakter eines leitenden aber eingeordneten Gedankens und eignen sich aus denkökonomischen Gründen sehr gut zu Rechnungssymbolen. Ein krankes Mädchen, das sich im Gefühle besonderer Unsicherheit während der ganzen Kindheit an den Vater anlehnt, dabei der Mutter überlegen sein will, kann diese psychische Konstellation in das „Inzestgleichnis“ fassen, als ob es die Frau des Vaters sein wollte. Dabei ist der Endzweck schon gegeben und wirksam: ihre Unsicherheit lässt sich nur bannen, wenn sie beim Vater ist. Ihre wachsende psychomotorische Intelligenz, ihr unbewusst wirkendes Gedächtnis beantwortet alle Empfindungen der Unsicherheit mit der gleichen Aggression: mit der vorbereitenden Einstellung, zum Vater zu flüchten, als ob sie seine Frau wäre. Dort hat sie jenes als Zweck gesetzte höhere Persönlichkeitsgefühl, das sie dem männlichen Ideal der Kindheit entlehnt hat, der Überkompensation ihres Minderwertigkeitsgefühls. Sie handelt dann symbolisch, wenn sie vor einer Liebeswerbung oder vor der Ehe erschrickt, soferne sie mit neuen Herabsetzungen ihres Persönlichkeitsgefühles drohen, und ihre Bereitschaftsstellung richtet sich zweckmässig gegen ein weibliches Schicksal und lässt sie Sicherheit suchen, wo sie diese immer gefunden hat, beim Vater. Sie wendet einen Kunstgriff an, handelt nach einer unsinnigen Fiktion, kann aber damit ihren Zweck sicher erreichen. Je grösser ihr Gefühl der Unsicherheit, um so stärker klammert sich dieses Mädchen an ihre Fiktion, versucht sie fast wörlich zu nehmen, und da das menschliche Denken der symbolischen Abstraktion hold ist, gelingt es der Patientin und mit einiger Mühe auch dem Analytiker, das Streben der Neurotiker: sich zu sichern, in das symbolische Bild der Inzestregung einzufangen. Freud hat in diesem auf einen Zweck gerichteten Vorgang eine Wiederbelebung infantiler Wünsche erblicken müssen, weil er letztere als treibende Kräfte angesetzt hatte. Wir erkennen in dieser infantilen Arbeitsweise, in der ausgedehnten Anwendung von sichernden Hilfskonstruktionen, als die wir die neurotische Fiktion anzusehen haben, in dieser allseitigen, weit zurück reichenden motorischen Vorbereitung, in der starken Abstraktions- und Symbolisierungstendenz die zweckmässigen Mittel des Neurotikers, der zu seiner Sicherheit gelangen will, zur Erhöhung seines Persönlichkeitsgefühls, zum männlichen Protest.

Knüpfen wir an diese kritischen Bemerkungen die Frage an, wie die neurotischen Erscheinungen zustande gekommen sind, warum der Patient ein Mann sein will, und fortwährend Beweise dafür zu erbringen sucht, woher er das stärkere Bedürfnis nach Persönlichkeitsgefühl hat, warum er solche Aufwendungen macht, um zur Sicherung zu gelangen, kurz die Frage nach dem letzten Grund dieser Kunstgriffe der neurotischen Psyche, so lässt sich erraten, was jede Untersuchung ergibt: am Anfang der Entwicklung zur Neurose steht drohend das Gefühl der Unsicherheit und Minderwertigkeit und verlangt mit Macht eine leitende, sichernde, beruhigende Zwecksetzung, um das Leben erträglich zu machen. Was wir das Wesen der Neurose nennen, besteht aus dem vermehrten Aufwand der verfügbaren psychischen Mittel. Unter diesen ragen besonders hervor: Hilfskonstruktionen und Fiktionen im Denken, Handeln und Wollen.

Es ist klar, dass eine derartige, in besonderer Anspannung zum Zweck der Persönlichkeitserhöhung gerichtete Psyche sich auch, abgesehen von eindeutigen nervösen Symptomen, durch eine nachweisbare Erschwerung der Einfügung in die Gesellschaft auffällig machen wird. Das Gefühl des schwachen Punktes beherrscht den Nervösen so sehr, dass er, oft ohne es zu merken, den schützenden Überbau mit Anspannung aller Kräfte bewerkstelligt. Dabei schärft sich seine Empfindlichkeit, er lernt auf Zusammenhänge achten, die Anderen noch entgehen, er übertreibt seine Vorsicht, fängt am Beginne einer Tat oder eines Erleidens alle möglichen Folgen vorauszuahnen an, er versucht weiter zu hören, weiter zu sehen, wird kleinlich, unersättlich, sparsam, sucht die Grenzen seines Einflusses und seiner Macht immer weiter über Zeit und Raum zu spannen, — und verliert dabei die Unbefangenheit und Gemütsruhe, die erst die psychische Gesundheit verbürgen. Immer mehr steigert sich sein Misstrauen gegen sich und gegen die Andern, sein Neid, sein boshaftes Wesen, aggressive und grausame Neigungen nehmen überhand, die ihm das Übergewicht gegenüber seiner Umgebung verschaffen sollen, oder er versucht durch vermehrten Gehorsam, durch Unterwerfung und Demut, die nicht selten in masochistische Züge ausarten, den Andern zu fesseln, zu erobern; beides also, erhöhte Aktivität wie vermehrte Passivität, sind Kunstgriffe, die vom fiktiven Zweck der Machterhöhung, des „Obenseinwollens“, des männlichen Protestes aus eingeleitet werden.

Damit sind wir zu jenen psychischen Erscheinungen vorgedrungen, deren Erörterung den Inhalt dieser Arbeit bilden soll, zum neurotischen Charakter. Es finden sich bei den Nervösen keine vollkommen neuen Charakterzüge, kein einziger Zug, der nicht auch beim Normalen nachzuweisen wäre. Aber der neurotische Charakter ist auffallend und weiterreichend, wenngleich er zuweilen erst durch die Analyse für den Arzt und den Patienten verständlich wird. Er ist ununterbrochen „sensibilisiert“, wie ein Vorposten vorgeschoben, und stellt die Fühlung mit der Umgebung, mit der Zukunft her. Die Kenntnis dieser, wie empfindliche Fühler sich weit erstreckenden psychischen Bereitschaften ermöglicht erst das Verständnis für den Kampf des Nervösen mit seinem Schicksal, für seinen gereizten Aggressionstrieb, für seine Unruhe und für seine Ungeduld. Denn diese Fühler tasten alle Erscheinungen der Umgebung ab und prüfen sie unaufhörlich auf ihre Vor- und Nachteile bezüglich des gesetzten Zweckes. Sie schaffen das verschärfte Messen und Vergleichen, wecken mittelst der in ihnen tätigen Aufmerksamkeit Furcht, Hoffnung, Zweifel, Erwartung aller Art und suchen die Psyche vor Überraschungen und vor einer Minderung des Persönlichkeitsgefühls zu sichern. Sie stellen die periphersten motorischen Vorbereitungen vor, immer mobil, immer fertig, einer Herabsetzung der Person vorzubeugen. In ihnen wirken die Kräfte der äusseren und inneren Erfahrung, sie sind mit den Erinnerungsspuren schreckender und tröstender Erlebnisse vollgefüllt und haben das Gedächtnis an sie in Fertigkeiten umgewandelt. Kategorische Imperative zweiten Ranges, dienen sie nicht zu ihrer eigenen Durchsetzung, sondern letzter Linie, um die Persönlichkeit zu heben. Und sie versuchen dies, indem sie es ermöglichen, in der Unruhe und Unsicherheit des Lebens Leitlinien zu finden, das Rechts und Links, das Oben und Unten, das Rechte und Unrechte zu schaffen und zu scheiden. Die verschärften Charakterzüge sind schon deutlich in der neurotischen Disposition vorzufinden, wo sie zu Sonderbarkeiten und Verschrobenheiten Anlass geben. Sie treten noch deutlicher hervor, wenn nach einer stärkeren Herabsetzung oder nach einem auftauchenden Widerspruch im männlichen Protest die Sicherungstendenz weiterschreitet und gleichzeitig Symptome als neue wirksame Kunstgriffe ins Leben ruft. Sie sind vielfach nach Mustern und Beispielen gearbeitet und haben die Aufgabe, den Kampf um das Persönlichkeitsgefühl in jeder neuen Lage einzuleiten und siegreich zu gestalten. In ihrem Wirken ist der Anlass zur Affektsteigerung gelegen und zur Erniedrigung der Reizschwelle gegenüber dem Normalen. Es ist selbstverständlich, dass auch der neurotische Charakter sich aus ursprünglich vorhandenem Material, aus psychischen Regungen und verändernden Erfahrungen der Organfunktionen aufbaut. Neurotisch werden alle diese an die Aussenwelt anknüpfenden psychischen Bereitschaften erst, wenn innere Not die Sicherungstendenz steigert und diese die Charakterzüge wirksamer ausgestaltet und mobilisiert, wenn der fiktive Zweck des Lebens dogmatischer wirkt und damit auch die den Charakterzügen entsprechenden sekundären Leitlinien verstärkt. Dann beginnt die Hypostasierung des Charakters, seine Umwandlung aus einem Mittel zu einem Zweck führt zu seiner Verselbständigung, und eine Art von Vergöttlichung verschafft ihm Unabänderlichkeit und Ewigkeitswert. Der neurotische Charakter ist so unfähig, sich der Wirklichkeit anzupassen, denn er arbeitet auf ein unerfüllbares Ideal hin; er ist ein Produkt und Mittel der vorbauenden Psyche, die seine Leitlinie verstärkt, um sich eines Minderwertigkeitsgefühls zu entledigen, ein Versuch, der infolge innerer Widersprüche oder an den Schranken der Kultur scheitern muss, oder am Rechte der Anderen. Wie die tastende Geste, wie die rückwärts gewandte Pose, wie die körperliche Haltung bei der Aggression, wie die Mimik als Ausdrucksformen und Mittel der Motilität, so dienen die Charakterzüge, insbesondere die neurotischen, als psychische Mittel und Ausdrucksformen dazu, die Rechnung des Lebens einzuleiten, Stellung zu nehmen, im Schwanken des Seins einen fixen Punkt zu gewinnen, um das sichernde Endziel, das Gefühl der Überwertigkeit, zu erreichen.

Somit haben wir auch den neurotischen Charakter als den Diener eines fiktiven Zweckes entlarvt und seine Abhängigkeit von einem Endziel festgestellt. Er ist nicht selbständig aus irgendwelchen biologischen oder konstitutionellen Urkräften emporgeschossen, sondern hat Richtung und Zug durch den kompensierenden Überbau und durch seine schematische Leitlinie erhalten. Seine Aufpeitschung geschah unter dem Drucke der Unsicherheit, seine Neigung sich zu personifizieren ist der fragwürdige Erfolg der Sicherungstendenz. Die Linie des neurotischen Charakters hat durch die Zwecksetzung die Bestimmung erhalten, in die männliche Hauptleitlinie einzumünden, und so verrät uns jeder neurotische Charakterzug durch seine Richtung, dass er vom männlichen Protest durchflossen ist, der aus ihm ein unfehlbares Mittel zu machen sucht, um jede dauernde Erniedrigung aus dem Erleben auszuschalten.

Im praktischen Teil soll an einer Reihe von Fällen gezeigt werden, wie das neurotische Schema besondere psychopathologische Konstellationen hervorruft, und zwar durch das Erfassen der Erlebnisse mittelst des neurotischen Charakters.

1 Übersetzt von Dr. Max Kahane.

I. Kapitel Ursprung und Entwickelung des Gefühls der Minderwertigkeit und dessen Folgen

Inhaltsverzeichnis

Die Feststellungen der „Organminderwertigkeitslehre“ (S. Studie l. c.) beschäftigten sich mit den Ursachen, mit dem Verhalten, mit dem Äusseren und der geänderten Arbeitsweise der minderwertigen Organe und führten mich zu den Anschauungen über Kompensation durch das Zentralnervensystem, an die sich Erörterungen über die Psychogenese anschlossen. Es hatte sich eine merkwürdige Beziehung zwischen Organminderwertigkeit und psychischer Überkompensation ergeben, so dass ich eine fundamentale Anschauung gewann: die Empfindungen der Organminderwertigkeit werden für das Individuum zu einem dauernden Antrieb in der Entwickelung seiner Psyche. Für die physiologische Betrachtung ergibt sich daraus eine Verstärkung der Nervenbahnen nach der Quantität und Qualität, wobei eine gleichzeitige ursprüngliche Minderwertigkeit dieser Bahnen ihre tektonischen und funktionellen Eigenheiten im Gesamtbilde zum Ausdruck bringen kann. Die psychische Seite dieser Kompensation und Überkompensation kann nur durch psychologische Betrachtungen und Analyse erschlossen werden.

Nach den ausführlichen Schilderungen der Organminderwertigkeit — als Ätiologie der Neurose — in meinen früheren Arbeiten, insbesondere in der „Studie“, im „Aggressionstrieb“, im „psychischen Hermaphroditismus“, in der „neurotischen Disposition“ und in der „psychischen Behandlung der Trigeminusneuralgie“1 kann ich mich bei der gegenwärtigen Schilderung auf jene Punkte beschränken, die eine weitere Aufschliessung der Beziehungen zwischen Organminderwertigkeit und psychischer Kompensation bedeuten und für die Frage des neurotischen Charakters von Belang sind. Zusammenfassend hebe ich hervor, dass die von mir beschriebene Organminderwertigkeit, „das Unfertige an dieser Art von Organen, ihre oft nachweisbaren Entwickelungsstillstände, den Mangel an Ausbildung in histologischer oder funktioneller Richtung, das funktionelle Versagen in der postfötalen Zeit, andererseits die Steigerung ihrer Wachstumstendenz bei Kompensations- und Korrelationszwang, die häufige Erzielung funktioneller Mehrleistung sowie den fötalen Charakter von Organen und Organsystemen“ in sich fasst. Es lässt sich in jedem Falle — aus der Kinderbeobachtung und aus der Anamnese Erwachsener — leicht erweisen, dass der Besitz deutlich minderwertiger Organe auf die Psyche reflektiert und geeignet ist, die eigene Einschätzung geringer ausfallen zu lassen, die psychologische Unsicherheit des Kindes zu steigern; aber gerade von dieser geringeren Wertung aus entspinnt sich der Kampf um die Selbstbehauptung, der ungleich heftigere Formen annimmt als wir erwarten. Wenn das kompensierte minderwertige Organ quantitativ und qualitativ an Aktionsbreite gewinnt und aus sich selbst sowie aus dem ganzen Organismus Schutzmittel gewinnt, so holt das disponierte Kind in seinem Minderwertigkeitsgefühl aus seinem psychischen Können die oft auffälligen Mittel zu seiner Wertsteigerung, unter denen man an hervorragender Stelle die neurotischen und psychotischen zu vermerken hat.

Ideen über angeborene Minderwertigkeit, über Disposition und konstitutionelle Schwäche finden sich schon in den Anfängen der wissenschaftlichen Medizin. Wenn wir an dieser Stelle von vielen namhaften Leistungen absehen, so geschieht es — trotzdem sie oft grundlegende Gesichtspunkte enthalten — nur aus dem Grunde, weil sie den Zusammenhang mit organischen und mit psychischen Erkrankungen wohl behaupten, keineswegs aber erklären. Hierher gehören alle Anschauungen über Pathologie, die sich auf eine allgemeine Auffassung einer Degeneration stützen. Stillers Lehre vom asthenischen Habitus geht viel weiter und versucht bereits ätiologische Beziehungen festzuhalten. Antons Kompensationslehre beschränkt sich allzusehr auf Korrelationssysteme innerhalb des Zentralnervensystems; doch haben er und sein geistreicher Schüler Otto Gross beachtenswerte Versuche unternommen, psychische Zustandsbilder anf dieser Basis dem Verständnis näher zu bringen. — Bouchards Bradytrophie, die von Ponfick, Escherich Czerny, Moro und Strümpell beschriebene und als Krankheitsbereitschaft gedeutete exsudative Diathese, Combys infantiler Arthritismus, Kreibichs angioneurotische Diathese, Heubners Lymphatismus, Paltaufs Status thymicolymphaticus, Escherichs Spasmophilie und Hess-Eppingers Vagotonie sind erfolgreiche Versuche der letzten Dezennien, Zustandsbilder mit angeborenen Minderwertigkeiten im Zusammenhang zu schildern. Allen ist der Hinweis auf Heredität und infantilistische Charaktere gemeinsam. Aber obgleich die schwankenden Grenzen bei den beschriebenen Dispositionen von den Vertretern dieser Lehren selbst hervorgehoben werden, ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass hervorstechende Typen erfasst sind, die sich einer grossen Gruppe, der der Minusvarianten, im Laufe der Zeit einordnen werden. Von ungeheurer Wichtigkeit für die Erkenntnis angeborener Minderwertigkeit und Krankheitsbereitschaft waren die Forschungen über die Drüsen mit innerer Sekretion, bei denen sich morphologische oder funktionelle Abweichungen ergaben, so betreffs der Schilddrüse, der Nebenschilddrüsen, der Keimdrüsen, des chromaffinen Systems, der Hypophyse. Von dem Standpunkt dieser Organminderwertigkeiten aus betrachtet, ergaben sich die Überblicke auf das Gesamtbild leichter, und die Beziehungen zu Kompensation und Korrelation im Haushalt des ganzen Körpers traten deutlicher zutage.

Unter den übrigen Autoren, die kein primum movens, sondern ein Zusammen- und Aufeinanderwirken mehrfacher Organminderwertigkeiten zur Grundlage ihrer Anschauung genommen haben, ist vor allem Martius zu nennen. Ebenso erscheint in meiner Darlegung „über Minderwertigkeit von Organen (1907)“ die Koordination der gleichzeitigen Minderwertigkeiten in den Vordergrund gerückt. Die Tatsache ist nicht gering zu veranschlagen, „dass die gleichzeitig minderwertigen Organe wie in einem geheimen Bunde zu einander stehen.“ Auch Bartel hat seine Anschauungen über den Status thymico-lymphaticus, die eine erhebliche Bereicherung der Wissenschaft darstellen, bereits soweit ausgedehnt, dass ihre Grenzen die der Systeme anderer Autoren längst überkreuzen. Und Kyrle ist auf selbständigen Bahnen unter Anführung völlig neuer pathologischer Befunde zu dem gleichen Ergebnis gelangt wie ich, als ich auf Grund meiner Beobachtungen erklärte, dass die Koordination von Minderwertigkeiten des Sexualapparates und anderer Organe — oft nur wenig ausgeprägt, aber so häufig vorzufinden ist, „dass ich behaupten muss, es gibt keine Organminderwertigkeit ohne begleitende Minderwertigkeit des Sexualapparates.“

Späterer Erörterungen wegen muss ich noch die Anschauung Freuds erwähnen, der die Bedeutung einer „sexuellen Konstitution“ für die Neurose und Psychose hervorhebt und darunter eine nach Qualität und Quantität verschiedene Anordnung von sexuellen Partialtrieben versteht. Diese Auffassung entspricht bloss einem Postulat seiner sonstigen Anschauungen. Die Ausbildung perverser Triebe und ihre „missglückte Verdrängung“ ins Unbewusste soll das Bild der Neurose ergeben, und stellt selbst ein primum movens für die neurotische Psyche dar. Es wird sich aus unseren Ausführungen ergeben, dass die Perversion, sofern und soweit sie in der Neurose und Psychose zur Ausbildung gelangt, nicht von einer angeborenen Triebkraft, sondern durch einen fiktiven Endzweck konstituiert wird, wobei sich die Verdrängung als Nebenprodukt unter dem Druck des Persönlichkeitsgefühls ergibt. Was aber biologisch an einem ursprünglich abnormen sexuellen Verhalten in Betracht kommt, die grössere oder geringere Sensibilität, Erhöhung oder Verminderung der Reflexaktion, die funktionelle Wertigkeit sowie der kompensatorische psychische Überbau, führt direkt, wie ich in der „Studie“ gezeigt habe, auf angeborene Minderwertigkeit des Sexualorgans zurück.

Über die Art der Krankheitsbereitschaft bei Organminderwertigkeit herrscht Einigkeit. Der von mir eingenommene Standpunkt („Studie“ l. c.) hebt mehr wie der anderer Autoren die Sicherung eines Ausgleiches durch Kompensation hervor. „Mit der Loslösung vom mütterlichen Organismus beginnt für diese minderwertigen Organe und Organsysteme der Kampf mit der Aussenwelt, der notwendigerweise entbrennen muss und mit grösserer Heftigkeit einsetzt als bei normal entwickeltem Apparat. Diesen Kampf begleiten die höheren Krankheits- und Sterbeziffern. Doch verleiht der fötale Charakter zugleich die erhöhte Möglichkeit der Kompensation und Überkompensation, steigert die Anpassungsfähigkeit an gewöhnliche und ungewöhnliche Widerstände und sichert die Bildung von neuen und höheren Formen, von neuen und höheren Leistungen. So stellen die minderwertigen Organe das unerschöpfliche Versuchsmaterial dar, durch dessen fortwährende Bearbeitung, Verwerfung, Verbesserung der Organismus mit geänderten Lebensbedingungen in Einklang zu kommen sucht. Ihre (gelegentliche) Überwertigkeit ist tief begründet in dem Zwange eines ständigen Trainings, in der den minderwertigen Organen oftmals anhaftenden Variabilität und grösseren Wachstumtendenz und in der durch die innere Aufmerksamkeit und Konzentration erhöhten Ausbildung des zugehörigen nervösen und psychischen Komplexes.“

Die Schäden der konstitutionellen Minderwertigkeit äussern sich in den mannigfachsten Erkrankungen und Krankheitsbereitschaften. Bald treten körperliche oder geistige Schwächezustände hervor, bald Übererregbarkeit der nervösen Bahnen, bald Plumpheit, Ungeschicklichkeit oder Frühreife. Ein Heer von Kinderfehlern kooperiert mit der Krankheitsbereitschaft und schliesst sich, wie ich gezeigt habe, eng an die organische oder funktionelle Minderwertigkeit an. Strabismus, Brechungsanomalien des Sehorgans oder Lichtscheu mit ihren Folgen, Hörstummheit, Stottern und andere Sprachfehler, Schwerhörigkeit, die organischen und psychischen Nachteile der adenoiden Vegetationen, die entwickelte Aprosexie, die häufigen Erkrankungen der Sinnesorgane, der Luft- und Nahrungswege, hervorstechende Hässlichkeit und Misbildungen, periphere Degenerationszeichen und Naevi, die tieferliegende Organminderwertigkeiten verraten können, (Adler, Schmidt). Hydrocephalus, Rhachitis, Haltungsanomalien als Skoliose, runder Rücken, Genua vara oder valga, Pes varus oder valgus, länger dauernde Inkontinenz von Stuhl und Urin, Misbildung der Genitalien, Folgen der Kleinheit der Arterien (Virchow) und die zahlreichen weiteren Folgen der Minderwertigkeit von Drüsen mit innerer Sekretion, wie sie von v. Wagner-Jauregg, Frankl v. Hochwart, Chvostek, Bartel, Escherich, Pineles und anderen beschrieben wurden, lassen in ihrer ungeheuren Fülle, in der Variation ihrer Zusammenhänge den grossen Kreis der Krankheitserscheinungen erkennen, wie er sich durch das Verständnis der Organminderwertigkeit dem Arzte erschlossen hat. Insbesondere waren es Kinderärzte und Pathologen, die zuerst auf diese Zusammenhänge geachtet haben. Aber auch für die Neurologie und Psychiatrie ist die Betrachtung der „Degeneration“ von immer grösserer Wichtigkeit geworden; von Morels Lehre der Degenerationszeichen zieht sich die Fortschrittslinie bis zur Anschauung von den nervösen Erkrankungen auf der Grundlage der minderwertigen Konstitution.

Heben wir bloss die statistische Arbeit Thiemich-Birks und die Mitteilungen Potpeschniggs (zitiert nach Gött) hervor über die Schicksale von Kindern, die als Ein- oder Zweijährige wegen tetanoider Krampfzustände behandelt worden waren. Von diesen Kindern war nur ein spärlicher Bruchteil ganz gesund geworden. Meist ergaben sich später deutliche Zeichen körperlicher und geistiger Minderwertigkeit, psychopathische und neuropathische Züge. Als solche führen diese Autoren an: Infantilismus, Schielen, Schwerhörigkeit, Sprachfehler, Schwachsinn, Schlafstörungen, Pavor nocturnus, Somnambulismus, Enuresis, Reflexsteigerungen, Tics, Wutkrämpfe, Wegbleiben, Schreckhaftigkeit, Jähzorn, pathologische Lügenhaftigkeit, triebhaftes Weglaufen. Auch Gött und andere Autoren gelangten zu dem Schlusse, dass bei spasmophilen Kindern eine Disposition zu schweren neuro- und psychopathischen Zuständen besteht. — Czerny und andere heben hervor, dass der gleiche Zusammenhang bei magendarmkranken Kindern nachzuweisen ist. — Bartel konnte unter den Selbstmördern ein auffallendes Vorwiegen des Status thymico-lymphaticus, speziell Hypoplasie der Sexualorgane beobachten. Bezüglich der jugendlichen Selbstmörder habe ich, Netolitzky u. a. den Befund körperlicher Minderwertigkeit hervorgehoben. Frankl v. Hochwart hat Aufregungszustände, Reizbarkeit, halluzinatorische Verworrenheit bei Tetanie beschrieben. Französische Autoren (zitiert nach Pfaundler) schreiben dem pastösen torpiden Habitus der Kinder Unlust, Trägheit, Schläfrigkeit, Zerstreutheit, Stumpfsinn, Phlegma zu, dem erethischen Unruhe, Lebhaftigkeit, Reizbarkeit, Frühreife, Stimmungsschwankungen, Affektivität, Unverträglichkeit, sonderbares Wesen und einseitige Begabung (Dégénérées superieurs) — Pfaundler hebt das Beunruhigende, Lästige und Qualvolle hervor, von dem die konstitutionell minderwertigen Kinder infolge von Hautausschlägen, Koliken, Schlafstörungen und funktionellen Anomalien heimgesucht werden. — Czerny, der auf den Zusammenhang von Darmstörungen der Kinder mit Neurosen aufmerksam gemacht hat, betont ganz besonders die Bedeutung der Psychotherapie bei Kindern, die im Verlauf konstitutioneller Erkrankungen nervös geworden sind. Hamburger hat erst kürzlich den Charakter des Ehrgeizes bei nervösen Kindern hervorgehoben, Stransky den Zusammenhang von Myopathie und psychischen Erscheinungen.

Diese kurzen Hinweise geben uns einen Überblick über die Versuche der gegenwärtigen Forschungsrichtung, den Zusammenhang psychischer Anomalien im Kindesalter mit der konstitutionellen Minderwertigkeit zu betonen und festzuhalten. Die erste umfassende Grundanschauung über diesen Zusammenhang habe ich in der „Studie“ veröffentlicht, wo ich darauf hinwies, wie ein besonderes Interesse und eine stete Aufmerksamkeit das minderwertige Organ zu behüten suche. Ich konnte in dieser und anderen Arbeiten darauf verweisen, wie die Minderwertigkeit eines Organs dauernd die Psyche beeinflusst, im Handeln und Denken, im Träumen, in der Berufswahl, in künstlerischen Neigungen und Fähigkeiten.2 Der Bestand eines minderwertigen Organs erfordert ein derartiges Training der zugehörigen Nervenbahnen und des psychischen Überbaues, dass letzterer kompensatorisch befruchtet wird, falls die Kompensationsmöglichkeit gegeben ist. Dann aber müssen wir gewisse, dem Organ zugehörige Verknüpfungen mit der Aussenwelt auch im psychischen Überbau verstärkt vorfinden. Dem ursprünglich minderwertigen Sehorgan entspricht eine verstärkte visuelle Psyche, ein minderwertiger Ernährungsapparat wird die grössere psychische Leistungsfähigkeit in allen Ernährungsbeziehungen zur Seite haben, Gourmandise, Erwerbseifer, und — auf dem Wege über das Geldäquivalent, — Sparsamkeit und Geiz werden verstärkt hervortreten. Die Leistungsfähigkeit des kompensierenden Zentralnervensystems wird sich durch qualifizierte Reflexe (Adler) und bedingte Reflexe (Bickel) äussern, durch empfindliche Reaktionen und verstärkte Empfindungen. Der kompensierende psychische Überbau wird die psychischen Phänomene des Vorausahnens und Vorausdenkens und ihre wirkenden Faktoren wie Gedächtnis, Intuition, Introspektion, Einfühlung, Aufmerksamkeit, Überempfindlichkeit, kurz alle sichernden psychischen Kräfte in verstärktem Masse entfalten. Zu diesen Sicherungen gehören auch die Fixierung und Verstärkung der Charakterzüge, die im Chaos des Lebens brauchbare Leitlinien bilden und so die Unsicherheit verringern.

Der nervöse Mensch kommt aus dieser Sphäre der Unsicherheit und stand in der Kindheit unter dem Drucke seiner konstitutionellen Minderwertigkeit. In den meisten Fällen gelingt dieser Nachweis leicht. In anderen Fällen benimmt sich der Patient so, als ob er minderwertig wäre. Immer aber baut sich sein Wollen und Denken über der Grundlage eines Gefühls der Minderwertigkeit auf. Dieses Gefühl ist stets als relativ zu verstehen, ist aus den Beziehungen zu seiner Umgebung erwachsen oder zu seinen Zielen. Stets ist ein Messen, ein Vergleichen mit anderen vorausgegangen, erst mit dem Vater, dem Stärksten in der Familie, zuweilen mit der Mutter, mit den Geschwistern, später mit jeder Person, die dem Patienten entgegentritt.

Bei näherer Einsicht erkennt man, dass jedes Kind, inbesondere aber das von Natur aus bedrängtere, eine scharfe Selbsteinschätzung vorgenommen hat. Das konstitutionell minderwertige Kind, dem wir als gleichgestellt und zur Neurose gleichermassen disponiert, das hässliche, das zu streng erzogene, das verhätschelte Kind an die Seite stellen können, sucht eifriger als ein gesundes Kind den vielen Übeln seiner Tage zu entkommen. Und bald sehnt es sich, auf eine ferne Zukunft hinaus das ihm vorschwebende Schicksal zu bannen. Dazu braucht es ein Hilfsmittel, um im Schwanken der Tage, in der Unorientiertheit seines Seins ein festes Bild vor Augen zu haben. Es greift zu einer Hilfskonstruktion. In seiner Selbsteinschätzung zieht es die Summe aller Übel, stellt sich selbst als unfähig, minderwertig, herabgesetzt, unsicher in Rechnung. Und um eine Leitlinie zu finden, nimmt es als zweiten fixen Punkt Vater oder Mutter, die sie nun mit allen Kräften dieser Welt ausstattet. Und indem es für sein Denken und Handeln diese Leitlinie normiert, sich aus seiner Unsicherheit zu dem Range des allmächtigen Vaters zu erheben, diesen zu übertreffen sucht, hat es sich bereits vom realen Boden mit einem grossen Schritt entfernt und hängt in den Maschen der Fiktion. —

Solche Beobachtungen lassen sich auch bei normalen Kindern in abgeschwächter Form erheben. Auch sie wollen gross sein, stark sein, herrschen, „wie der Vater“, und werden durch diesen Endzweck geleitet. Ihr Gebaren, ihre körperliche und geistige Haltung sind alle Augenblicke auf diesen Endzweck gerichtet, so dass man bereits eine imitiererde Mimik, eine identische psychische Geste wahrnehmen kann. Das Beispiel wird der Wegweiser zum „männlichen“ Ziele, solange nicht die „Männlichkeit“ in Frage gestellt ist. Wird bei Mädchen das männliche Ziel denkunfähig, dann tritt ein Formenwandel der männlichen Leitlinie ein, es wird z. B. nur Macht, Wissen, Herrschaft angestrebt.

Auf eine spezielle psychische Leistung des Kindes muss noch hingewiesen werden, die sich vorher und während der Aufstellung der männlichen Leitlinie geltend macht. Man kann diese Erscheinung kaum besser erfassen, als mit der Annahme, dass die notwendigen Verweigerungen der Organtriebbefriedigungen das Kind schon von der ersten Stunde seines extrauterinen Lebens an in eine feindliche, kämpferische Stellung zur Umgebung drängen. Daraus resultieren Anspannungen und Steigerungen organisch gegebener Fähigkeiten, — c’est la guerre! — wie ich sie in der Arbeit über den „Aggressionstrieb“3 beschrieben habe. In den zeitweiligen Entbehrungen und Unlustempfindungen, wie sie die ersten Kinderjahre mit sich bringen, ist der Anstoss zu suchen, der eine Anzahl allgemeiner Charakterzüge entwickelt. Vor allem lernt das Kind in seiner Schwäche und Hilfslosigeit, in seiner Angst und in seinen mannigfachen Unfähigkeiten ein Mittel schätzen, das ihm die Hilfe und Unterstützung seiner Angehörigen, ihr Interesse sichert. In seinem negativistischen Verhalten, in seinem Trotz und in seiner Unerziehbarkeit findet es oft eine Befriedigung seines Machtbewusstseins, und ist dadurch des quälenden Gefühls seiner Minderwertigkeit ledig geworden. Beide Hauptlinien des kindlichen Verhaltens, Trotz und Gehorsam,4 garantieren dem Kinde eine Erhöhung seines Persönlichkeitsgefühls, helfen ihm, den Weg zum männlichen Endziel oder, wie wir vorwegnehmend sagen wollen, zu einem Äquivalent desselben tastend einzuschlagen. Bei konstitutionell minderwertigen Kindern wird das erwachende Persönlichkeitsgefühl stets herabgedrückt, ihre Selbsteinschätzung fällt geringer aus, weil ihre Befriedigungsmöglichkeit weitaus dürftiger ist. Man denke an die zahllosen Einschränkungen, Kuren, Schmerzen bei magendarmkranken Kindern, an die Verweichlichung und Verwöhnung der blassen, schwächlichen, an Minderwertigkeit des Atmungsapparates leidenden Kinder, an das Jucken und die Qualen bei Prurigo und anderen Exanthemen, an die vielen erniedrigenden Kindesfehler, an die Ansteckungsfurcht der Eltern solcher Kinder, die oft dahin führt, wohin auch die häufigen Störungen in der Erziehung, im Schulfortgang, und die Störrigkeit solcher Kinder öfters führt: zur Isolierung und zur Missliebigkeit bei Kameraden und innerhalb der Familie. In ähnlicher Weise schädigen das Selbstgefühl die rhachitische Plumpheit, angeborene Fettleibigkeit und geringere Grade von geistiger Zurückgebliebenheit. Meist hilft sich das Kind durch die Annahme einer Zurücksetzung, die es von den Eltern erfährt, wie sie besonders häufig bei späteren oder dem jüngsten der Kinder anzutreffen ist, zuweilen auch bei dem ersten.

Diese feindliche Aggression, gereizt und verstärkt bei konstitutionell minderwertigen Kindern, fliesst mit seinem Streben, so gross und stark zu werden wie der Stärkste, innig zusammen und kräftigt und hebt jene Regungen hervor, die dem kindlichen Ehrgeiz zugrunde liegen. Alle späteren Gedankengänge und Handlungen des Neurotikers zeigen sich im gleichen Aufbau, wie seine kindlichen Begehrungsvorstellungen. Die „Wiederkehr des Gleichen“ (Nietzsche) ist nirgends so gut wie beim Nervösen zu verstehen. Sein Minderwertigkeitsgefühl den Personen und Dingen gegenüber, seine Unsicherheit in der Welt drängen ihn zur Verstärkung der Leitlinien. An diese klammert er sich zeitlebens, um Sicherheit zu gewinnen, um sich in der Welt mittelst seines Glaubens und Aberglaubens zu orientieren, um seinem Gefühl der Minderwertigkeit zu entkommen, um sein Persönlichkeitsgefühl zu retten, um einen Vorwand zu haben, einer befürchteten Erniedrigung auszuweichen. Nie ist ihm dies alles so gelungen, wie in der Kindheit. Seine leitende Fiktion, so zu handeln, als ob er Allen überlegen sein müsste, kann deshalb auch die Form annehmen, sich so zu benehmen, als ob er ein Kind wäre. Die kindlichen Befriedigungen aber werden so vorbildlich, und verstärken daher die Leitlinie.

Es wäre gefehlt, anzunehmen, dass nur der Neurotiker solche Leitlinien aufweist. Der Gesunde müsste ebenfalls auf die Orientierung in der Welt verzichten, wenn er nicht nach Fiktionen das Weltbild und sein Erleben einordnete. In Stunden der Unsicherheit treten diese Fiktionen deutlicher hervor, werden zu Imperativen des Glaubens, des Ideals, des freien Willens, sie wirken aber auch sonst im Geheimen, im Unbewussten, wie alle psychischen Mechanismen, deren Wortbild sie nur vorstellen. Logisch genommen sind sie als Abstraktionen zu betrachten, als Simplifikationen, welchen die Aufgabe zufällt, Schwierigkeiten des Lebens nach Analogie der einfachsten Begebenheiten zu lösen. Die Urform der einfachsten Begebenheiten, das Maschenwerk des apperzipierenden Gedächtnisses, haben wir in den kindlichen Versuchen, mit seinen Schwierigkeiten fertig zu werden, gefunden. Im Traum liegt diese Apperzeptionsweise klarer zutage; wir werden uns noch damit beschäftigen.

Der Nervöse trägt das Gefühl der Unsicherheit ständig mit sich. Daher ist sein „analogisches Denken“ stärker und deutlicher ausgeprägt. Sein Misoneismus (Lombroso), seine Furcht vor dem Neuen, vor Entscheidungen und Prüfungen, — die zumeist vorhanden ist, — stammen aus dem Mangel einer Analogie. Er hat sich so sehr an Leitlinien gekettet, nimmt diese wörtlich und sucht nur sie zu realisieren, dass er, ohne es zu wissen, darauf verzichtet hat, unbefangen, ohne Vorurteil an die Lösung realer Fragen zu gehen. Auch die notwendigen Einschränkungen durch die Wirklichkeit, wo sich hart im Raume die Dinge stossen, drängen ihn gemäss seiner Einstellung nicht zur Beseitigung der Fiktion, sondern nur zu ihrer Verwandlung. Noch konsequenter versucht der psychotische Patient die Realisierung seiner Fiktion durchzusetzen. Der Neurotiker zappelt im Realen an seiner selbstgeschaffenen Leitlinie und gelangt dadurch zu einer Spaltung seiner Persönlichkeit, dass er der realen und der imaginären Forderung gerecht werden will.

Form und Inhalt der neurotischen Leitlinie stammen aus den Eindrücken des Kindes, das sich zurückgesetzt fühlt. Diese Eindrücke, die sich aus einem ursprünglichen Gefühl der Minderwertigkeit mit Notwendigkeit herausheben, rufen eine Aggressionsstellung ins Leben, deren Zweck die Überwindung der Unsicherheit ist. In dieser Aggressionsstellung finden alle Versuche des Kindes ihren Platz, die eine Erhöhung seines Persönlichkeitsgefühls versprechen, geglückte Versuche, die zur Wiederholung drängen, missglückte, die als Memento dienen, auf den Endzweck vorbereitende Tendenzen, die sich aus einem aufdringlichen organischen Leiden ergeben haben und in eine Summe psychischer Bereitschaften ausmünden, und solche, die bei anderen erschaut sind. Alle Erscheinungen der Neurose stammen aus diesen vorbereitenden Mitteln, die dem männlichen Endzweck zustreben. Sie sind geistige Bereitschaften, immer fertig, um den Kampf um das Persönlichkeitsgefühl einzuleiten; sie gehorchen dem Kommando der leitenden Fiktion, die sich mittelst dieser aus der Kindheit bereit liegenden Reaktionsweisen durchzusetzen sucht. In der entwickelten Neurose peitscht die Fiktion alle diese Bereitschaften auf, die sich nun selbst wie Endzwecke geberden. Die Angst, die vorher sichern sollte, vor dem Alleinsein, vor Herabsetzung, vor dem Gefühl der Kleinheit, wird hypostasiert, der Zwang, ursprünglich im Sinne der Fiktion ein Versuch sich männlich zu geberden, verselbständigt sich, in der Ohnmacht, in den Lähmungen, in den hysterischen Schmerzen und funktionellen Störungen stellt sich symbolisch die pseudomasochistische Art des Patienten dar, zur Geltung zu kommen oder einer gefürchteten Entscheidung auszuweichen. Die grosse Bedeutung der Unsicherheit des Neurotikers, wie ich sie erkannt und beschrieben habe, zwingt zu einer derartigen Verstärkung der Bereitschaft und ihrer Folgen, dass ursprünglich geringe Erscheinungen fraktioneller Art die wunderbarsten Ausgestaltungen erfahren, sobald die innere Not es erheischt.

Der Blick des Neurotikers richtet sich — wegen des Gefühls der Unsicherheit — viel weiter in die Zukunft. Alles gegenwärtige Leben scheint ihm nur Vorbereitung. Auch dieser Umstand trägt viel dazu bei, seine Phantasietätigkeit anzuspornen und ihn der realen Welt zu entfremden. Ähnlich wie bei religiösen Menschen ist sein Reich nicht von dieser Welt, und wie diese kommt er von der Gottheit, die er sich geschaffen, Erhöhung seines Persönlichkeitsgefühls, nicht los. Eine Anzahl allgemeiner Charakterzüge entspringen mit Notwendigkeit diesem der Wirklichkeit abgewandten Wesen. So in erster Linie die grosse Verehrung der Mittel, die seiner Fiktion dienen sollen. Er wird in der Regel ein sorgfältig abgezirkeltes Benehmen, Genauigkeit, Pedanterie an den Tag legen, einerseits um die „grossen Schwierigkeiten des Lebens“ nicht zu vermehren, andererseits und hauptsächlich aber, um sich von anderen in der Arbeit, in der Kleidung, in der Moral abzuheben und so ein Gefühl der Überlegenheit zu gewinnen. Zumeist dient dieser verstärkte Charakterzug auch dazu, ihn mit dem „Feind“ in Fühlung zu bringen, jene Situationen heranreifen zu lassen, die ihn mit seiner Umgebung in Konflikt bringen, damit er „berechtigte“ Vorwürfe erheben könne. Gleichzeitig dienen diese ewigen Vorwürfe dazu, sein Gefühl, seine Aufmerksamkeit wach zu halten, sich zu beweisen, dass man ihn zurücksetze, nicht mit ihm rechne. Man findet diesen Zug schon in der Kindheit mancher Nervösen, wo er dazu verhilft, irgend jemanden in den Dienst zu stellen, etwa die Mutter, die dann allabendlich längere Zeit die Kleider in streng vorgeschriebener Weise behandeln muss. Ähnlich dringt oft die Angst und die Schüchternheit auffällig durch, und ich muss allen anderen Erklärungsversuchen gegenüber dabei verharren, dass das psychische Phänomen der Angst aus einer halluzinatorischen Erregung einer Bereitschaft entsteht, die in der Kindheit aus kleinen Anfängen somatisch erwachsen ist, sobald eine körperliche Schädigung drohte, später aber, und insbesondere in der Neurose durch den Endzweck bedingt ist, sich einer Herabsetzung des Persönlichkeitsgefühls zu entziehen und andere Personen dienstbar zu machen. — Es ist leicht zu verstehen, dass alle Begehrungsvorstellungen einen ungeheuren Grad erreichen können, ebenso wie das Erreichte selten Befriedigung gewährt. Man kann ruhig annehmen, dass jeder Neurotiker „Alles haben will“. Dieses Begehren deckt sich mit seiner leitenden Fiktion, der Stärkste sein zu wollen. Wenn er vor Gewinn versprechenden Unternehmungen zurückschreckt, wie meist auch vor Verbrechen und unmoralischen Handlungen, so deshalb, weil er für sein Persönlichkeitsgefühl fürchtet. Aus demselben Grunde scheut er oft vor der Lüge zurück, kann aber, um sicher zu gehen, und sich vor Abwegen zu hüten, in sich das Bedenken nähren, dass er grosser Laster und Verbrechen fähig wäre. — Dass diese starre Verfolgung der Fiktion eine soziale Schädigung bedeutet, liegt auf der Hand.

Der Egoismus nervöser Menschen, ihr Neid, ihr Geiz, oft ihnen unbewusst, ihre Tendenz, Menschen und Dinge zu entwerten, stammen aus ihrem Gefühl der Unsicherheit, und sind bestimmt, sie zu sichern, zu lenken, anzuspornen. — Da sie in Phantasien eingesponnen sind und in der Zukunft leben, ist auch ihre Zerstreutheit nicht verwunderlich. — Der Stimmungswechsel ist abhängig vom Spiel ihrer Phantasie, die bald peinliche Erinnerungen berührt, bald sich aufschwingt zur Erwartung des Triumphes, analog dem Schwanken und Zweifeln des Neurotikers. In gleicher Weise erscheinen spezielle Charakterzüge, die alle der menschlichen Psyche nicht fremd sind, durch den hypnotisierenden Endzweck gerichtet und tendenziös verstärkt. — Sexuelle Frühreife und Verliebtheit sind Ausdrucksformen für die gesteigerte Tendenz, erobern zu wollen, Masturbation, Impotenz und perverse Regungen liegen auf der Richtungslinie der Furcht vor dem Partner, der Furcht vor Entscheidung, wobei der Sadismus einen Versuch darstellt, den „wilden Mann“ zu spielen, um ein Minderwertigkeitsgefühl zu übertäuben.

Wir haben bisher als leitende Kraft und Endzweck der aus konstitutioneller Minderwertigkeit erwachsenen Neurose die Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls betrachtet, die sich immer mit besonderer Macht durchzusetzen sucht. Dabei ist uns nicht entgangen, dass dies bloss die Ausdrucksform eines Strebens und Begehrens ist, deren Anfänge tief in der menschlichen Natur begründet sind. Die Ausdrucksform selbst und die Vertiefung dieses Leitgedankens, den man auch als Wille zur Macht (Nietzsche) bezeichnen könnte, belehrt uns, dass sich eine besondere Kraft kompensatorisch im Spiel befindet, die der inneren Unsicherheit ein Ende machen will. Durch die starre Formulierung, die meist an die Oberfläche des Bewusstseins dringt, sucht der Neurotiker den festen Punkt zu gewinnen, um die Welt aus den Angeln zu heben. Es macht keinen grossen Unterschied aus, ob viel oder wenig von dieser treibenden Kraft dem Neurotiker bewusst ist. Den Mechanismus kennt er nie, und ebensowenig vermag er es allein, sein analogisches Verhalten und Apperzipieren aufzuklären und zu zerbrechen. Dies gelingt nur einem analytischen Verfahren, welches uns durch die Mittel der Abstraktion, Reduktion und Simplifikation die kindliche Analogie erraten und verstehen lässt. Dabei stellt sich nun regelmässig heraus, dass der Neurotiker stets nach der Analogie eines Gegensatzes apperzipiert, ja dass er zumeist nur gegensätzliche Beziehungen kennt und gelten lässt. Diese primitive Orientierung in der Welt, den antithetischen Aufstellungen Aristoteles', sowie den pythagoräischen Gegensatztafeln entsprechend, stammt gleichfalls aus dem Gefühle der Unsicherheit und stellt einen simplen Kunstgriff der Logik vor. Was ich als polare, hermaphroditische Gegensätze, Lombroso als bipolare, Bleuler als Ambivalenz beschrieben haben, führt auf diese nach dem Prinzip des Gegensatzes arbeitende Apperzeptionsweise zurück. Man darf darin nicht, wie es meist geschieht, eine Wesenheit der Dinge erblicken, sondern muss die primitive Arbeitsmethode erkennen, die ein Ding, eine Kraft, ein Erlebnis an deren arrangiertem Gegensatz misst.

Je weiter die Analyse fortschreitet, desto deutlicher wird eines der Gegensatzpaare, deren Urform wir als Minderwertigkeitsgefühl und Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls festgestellt haben. Es entspricht nur den primitiven Versuchen des Kindes, sich in der Welt zu orientieren und sich so zu sichern, wenn greifbarere Gegensatzpaare erfasst werden. Unter diesen habe ich folgende zwei regelmässig gefunden: 1. oben - unten; 2. männlich - weiblich. — Man findet dann immer Gruppierungen von Erinnerungen, Regungen und Handlungen, die im Sinne des Patienten, nicht immer im Sinne der Allgemeinheit nach dem Typus geordnet sind: minderwertig ≂ unten ≂ weiblich; mächtig ≂ oben ≂ männlich. Diese Gruppierung ist wichtig, denn sie ermöglicht, weil sie beliebig gefälscht und protegiert werden kann, die Verzerrung des Weltbildes, wodurch es dem Neurotiker immer möglich ist, durch Arrangement, durch Unterstreichung und Willkürlichkeiten, seinen Standpunkt als den eines zurückgesetzten Menschen festzuhalten. Es liegt in der Natur der Dinge, dass ihm dabei seine konstitutionelle Minderwertigkeit zu Hilfe kommt, und ebenso die stetig zunehmende Aggression seiner Umgebung, die durch nervöses Betragen des Patienten fortwährend aufgestachelt wird.

Zuweilen fehlt dem Neurotiker das volle Bewusstsein seiner vermeintlichen oder wirklichen Niederlage. Man findet dann immer, dass sein Stolz, sein Persönlichkeitsgefühl deren Anerkennung verweigert. Er handelt nichtsdestoweniger so, als ob er die neue Zurücksetzung zur Kenntnis genommen hätte, und das Rätsel eines nervösen Anfalles löst sich oft erst nach der Einsicht in diese Tatsache. Für die Heilung ist mit der Heraushebung solcher „verdrängter“ Empfindungen aus dem Unbewussten nicht viel getan, oder nur dann, wenn dabei der Zusammenhang mit dem kindlichen Mechanismus der Anfallsbereitschaft dem Patienten zugänglich wird. Zuweilen erfolgt sogar eine scheinbare Verschlimmerung, die dahin zu verstehen ist, dass der Patient seine Bereitschaften gegen den Arzt richtet, weil dieser sein Persönlichkeitsgefühl verletzt hat.

Eine wichtige Frage ist noch zu beantworten. Worauf bezieht der Neurotiker sein Minderwertigkeitsgefühl? Da der Patient nur bei Organminderwertigkeiten, die sich aufdringlich in die Krankheitsbereitschaft stellen, eine Beziehungsmöglichkeit herstellen kann, ist er stets auf dem Wege der Vermutung, Er wird die Ursache seiner Minderwertigkeit nicht etwa in Störungen der Drüsensekretion suchen, sondern wird in allgemeiner Weise seine Schwächlichkeit, seinen kleinen Wuchs, Verbildungen, Kleinheit oder Anomalien der Genitalien, Mangel an vollkommener Männlichkeit, sein weibliches Geschlecht, weibliche Züge körperlicher oder psychischer Art, seine Eltern, die Heredität, zuweilen auch nur Lieblosigkeit, schlechte Erziehung, Mangel in der Kindheit etc., beschuldigen. Und seine Neurose, das heisst in unserem Sinne: Die Verschärfung seiner Bereitschaften auf analogischer, kindlicher Grundlage, seine symbolisch gewordenen Gedanken, Empfindungs- und Erfolgsbereitschaften als Ausdrucksmittel werden in Aktion treten, sobald der Patient von einer Situation eine Herabsetzung befürchtet oder erfährt. Er, der sozusagen mit Minderwertigkeitsgefühlen vorgeimpft wurde, zeigt sich anaphylaktisch gegen jede Verringerung seines Persönlichkeitsgefühls und findet im Zaudern, im Schwanken, im Zweifel und in der Skepsis, ebenso im Ausbruch einer Neurose oder Psychose noch Zuflucht und Sicherung gegen die grösste Unlust, die ihn treffen könnte, gegen die Heraufbeschwörung einer deutlich empfundenen Minderwertigkeit. Dermassen sind auch die typischen Veranlassungen zum Ausbruch der Neurosen und Psychosen leicht zu erraten und nachzuweisen :

I. Suchen des Geschlechtsunterschiedes, schwankende Auffassung der eigenen Geschlechtsrolle, ursächlich für die Erregung des Minderwertigkeitsgefühls. Empfindung und Gruppierung weiblich gewerteter Züge, schwankende, zweifelnde, hermaphroditische Apperzeption und hermaphroditische Bereitschaft. Bereitschaft und psychische Geste der weiblichen Rolle bringen stets grössere Passivität, ängstliche Erwartung etc. mit sich, rufen aber den männlichen Protest, stärkere Emotionalität (Heymanns) hervor.

II. Beginn der Menstruation. III. Termin der Menstruation. IV. Zeit des Geschlechtsverkehrs, der Masturbation. V. Heiratsfähigkeit. VI. Schwangerschaft. VII. Puerperium. VIII. Klimakterium, Abnahme der Potenz. IX. Prüfungen, Berufswahl. X. Todesgefahr.

Alle diese Termine rufen Steigerungen oder Änderungen in den vorbereitenden Einstellungen zum Leben hervor. Das gemeinsame Band, das sie verbindet, ist die Erwartung neuer Tatsachen, die für den Neurotiker immer neuen Kampf, neue Gefahr des Unterliegens bedeuten. Er schreitet sofort zu intensiven Sicherungen, deren äusserste Grenze durch den Selbstmord gesetzt ist. Ausbrüche von Psychosen und Neurosen stellen Verstärkungen seiner neurotischen Bereitschaft vor, in der regelmässig auch sichernde, vorgeschobene Charakterzüge zu finden sind wie: Steigerung der Überempfindlichkeit, grössere Vorsicht, Jähzorn, Pedanterie, Trotz, Sparsamkeit, Unzufriedenheit, Ungeduld u. a. m. — Da diese Züge leicht nachzuweisen sind, eignen sie sich auch ganz besonders zur Feststellung des Bestandes einer psychogenen Erkrankung.

Wir sind im Vorhergehenden zu dem Schluss gekommen, dass das Gefühl der Unsicherheit es ist, das den Neurotiker zum stärkeren Anschluss an Fiktionen, Leitlinien, Ideale, Prinzipien zwingt. Auch dem Gesunden schweben diese Leitlinien vor. Aber sie sind ihm ein Modus dicendi, ein Kunstgriff, um das Oben vom Unten, das Links vom Rechts, das Recht vom Unrecht zu unterscheiden, und es mangelt ihm nicht die Unbefangenheit, im Falle des Entschlusses sich von diesen abstrakten Fiktionen zu befreien und die Rechnung mit dem Realen zu machen. Ebensowenig zerfallen ihm die Erscheinungen der Welt in starre Gegensätze; er ist vielmehr jederzeit bestrebt, sein Denken und Handeln von der irrealen Leitlinie loszulösen und mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Dass er überhaupt Fiktionen als Mittel zum Zweck benützt, liegt in der Brauchbarkeit der Fiktion, um die Rechnung des Lebens überhaupt ansetzen zu können. Der Neurotiker aber, wie das der Welt noch entrückte Kind, wie der primitive Verstand früherer Völker, klammert sich an den Strohhalm der Fiktion, hypostasiert sie, verleiht ihr willkürlich Realitätswert, sucht sie in der Welt zu realisieren. Dazu ist sie untauglich, noch untauglicher, wenn sie wie in der Psychose zum Dogma erhoben, anthropomorphisiert wird. Das Symbol als Modus dicendi beherrscht unsere Sprache und unser Denken. Der Neurotiker nimmt es wörtlich, und in der Psychose wird die Verwirklichung versucht. In meinen Arbeiten zur Neurosenlehre ist dieser Standpunkt stets betont und festgehalten. Ein günstiger Zufall machte mich mit Vaihingers genialer „Philosophie des Als Ob“ (Berlin 1911) bekannt, ein Werk, in dem ich die mir aus der Neurose vertrauten Gedankengänge als für das wissenschaftliche Denken allgemein gültig hingestellt fand.