Über die Seelenruhe - Leon Battista Alberti - E-Book

Über die Seelenruhe E-Book

Leon Battista Alberti

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Beschreibung

Wie halten wir unsere Seele in Balance, wie führen wir ein gutes Leben? Eine Anleitung zur Selbstpflege – spielerisch, tiefgründig, brillant. Seit der Antike kreist das philosophische Denken um die Frage nach dem guten Leben: Die Aufgabe einer gelungenen Existenz als Individuum und als aktiv gestaltendes Mitglied der Gesellschaft, die Suche nach praktischen Mitteln zur Vermeidung von Leid und die Erlangung des Seelengleichgewichts in einer krisenhaften Welt sind Themen von ungebrochener Aktualität. In seiner meisterlichen Schrift lotet der Renaissancegelehrte Leon Battista Alberti in der Form eines Dialogs die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen aus und denkt über das ausgeglichene Selbst nach, das nur durch konstante Pflege und Übung erreicht werden kann. Geistsprühend, anspielungsreich und elegant zeigt Alberti, welch wichtige Rolle der sinnlichen Wahrnehmung, der ästhetisch-künstlerischen Erfahrung der Lebenswelt sowie der gemeinsamen Erkenntnissuche auf dem Weg zu einem ethischen und politischen Sein zukommt. Von der Vasari-Übersetzerin Victoria Lorini zum ersten Mal ins Deutsche übertragen und von Hana Gründler kenntnisreich eingeleitet und kommentiert, wird ein hierzulande noch unentdeckter Klassiker zugänglich gemacht, dessen Strahlkraft bis in unsere Zeit reicht.

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In dem elegant komponierten Dialog Über die Seelenruhe (Della tranquillità dell’animo) ergründet der Renaissancegelehrte Leon Battista Alberti die Möglichkeiten einer gelungenen, ausgeglichenen Existenz in einer krisenhaften Welt. Spielerisch und tiefgründig zeigt Alberti, welch wichtige Rolle der ästhetisch-künstlerischen Erfahrung der Lebenswelt sowie der gemeinsamen Erkenntnissuche auf dem Weg zu einem ethischen und politischen Sein zukommt.

Eine brillante Anleitung zur Pflege des Selbst und ein Glanzpunkt in der seit der Antike andauernden Suche nach einem guten Leben – zum ersten Mal ins Deutsche übertragen und kenntnisreich kommentiert.

Luca della Robbia, Platon und Aristoteles(Die Kunst der Philosophie), Marmorrelief, um 1437–1439 Florenz, Museo dell’Opera del Duomo

Leon Battista Alberti

Über die Seelenruhe

oderVom Vermeiden des Leidens in drei Büchern

Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Hana Gründler mit Katharine Stahlbuhk und Giulia Baldelli Übersetzt von Victoria Lorini

Verlag Klaus Wagenbach Berlin

Bildnachweis: S. 2: akg-images / Rabatti & Domingie; S. 6: Kunsthistorisches Institut in Florenz – Max-Planck-Institut; Fotograf: Marvin Trachtenberg; S. 9: Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, genehmigt durch das Ministero della Cultura, jede Form der Reproduktion ist untersagt; S. 11: akg-images / Fototeca Gilardi; S. 14: Kunsthistorisches Institut in Florenz – Max-Planck-Institut; Fotografin: Hilde Lotz-Bauer.

Die Herausgeberin dankt dem Kunsthistorischen Institut in Florenz – Max-Planck-Institut für die finanzielle Unterstützung des Projekts.

E-Book-Ausgabe 2022

© 2022 Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlinwww.wagenbach.de

Covergestaltung: Julie August

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803143389

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3713 5

www.wagenbach.de

1 Innenansicht des Hauptschiffes der Kathedrale Santa Maria del Fiore, Florenz

VOMGLEICHGEWICHTDERSEELEIN WIDRIGENZEITEN

EINLEITUNG

Szenerien

Ein Tag in Florenz um 1445: Drei Männer treffen sich während des Messopfers zufällig in der wie üblich gut besuchten Kathedrale von Santa Maria del Fiore und wandeln danach unverfänglich plaudernd durch ihren harmonisch gestalteten Innenraum (Abb. 1).1 Rasch entspinnt sich jedoch zwischen dem hochbetagten, weisen Agnolo Pandolfini (1363–1447) und dem klugen, ungefähr sechzigjährigen Niccola de’ Medici (1384–1455) ein ernstes, sowohl intellektuell als auch persönlich herausforderndes Gespräch, dem außerdem der jüngere Leon Battista Alberti (1404–1472) beiwohnt. Dieses setzen sie am nächsten Tag bei einem gemeinsamen Spaziergang durch Florenz fort, um an dessen Ende wieder auf dem Vorplatz der Kathedrale anzugelangen – bereichert durch dieses ›bewegte Denken‹, eröffnet sich ihnen nicht nur ein neuer, unerwarteter Blick auf die gebaute Umwelt und die Florentiner Gesellschaft, sondern auch auf sich selbst.

Neben dem majestätischen Dom wird der Stadtraum somit zur zweiten ›Bühne‹ des dialogischen Spaziergangs, in dessen Verlauf die Bedingungen und Möglichkeiten des Vermeidens von Leiden sowie der Selbsterziehung zur Tugend aus einer Vielzahl unterschiedlicher Blickwinkel erörtert werden: So fragen sich Agnolo und Niccola unter anderem, wie der Einzelne lernen kann, mit den Härten und Unwägbarkeiten des Schicksals, aber auch der Bösartigkeit der Menschen umzugehen, wie er sein eigenes, häufig unbeherrschtes und in sich widerstreitendes Selbst mäßigen soll oder was praktische Anleitungen und wirksame Mittel sind, um in einer krisenhaften Welt das Seelengleichgewicht zu erlangen und zu erhalten. Eine zeitgenössische Stimme, nämlich diejenige von Leon Battista Albertis Bruder Carlo (um 1400 – um 1468), fasst die Inhalte des Dialogs in einem undatierten Brief an Lorenzo Vettori (um 1408 – 1491) besonders prägnant zusammen und soll hier kurz zu Wort kommen: »Das erste Buch handelt davon, wie man leben kann, ohne von der Melancholie heimgesucht zu werden. Das zweite zeigt dir Mittel und Wege auf, deine Seele von allen Empörungen und Schmähungen zu reinigen, die du möglicherweise erlitten hast. Das dritte Buch schildert mehrere nützliche Verfahren, wie man schwerste Kränkungen und Pein aus dem Geist entfernen kann, wenn du von ihnen vollkommen niedergedrückt und fast schon eingenommen sein solltest.«2

Die Figur des Battista, also Albertis Alter Ego, folgt den häufig gegensätzlichen Ausführungen der beiden Florentiner Bürger gespannt, ohne sich jedoch in der kontroversen Diskussion zu äußern, geschweige denn zu positionieren. Er ist es, der das fiktive Gespräch niederschreibt, in der Hoffnung, seiner ideellen Leserschaft – die er wohlgemerkt von vornherein nicht nur als eine zeitgenössische bestimmt, sondern vielmehr als eine zukünftige, vor allem jedoch über die Zeiten hinweg verstehende erträumt – auf diese Weise ein feingestimmtes Instrument zur Seelenpflege an die Hand zu geben.

Und in der Tat stellt sich ungeachtet der historischen Distanz während der Lektüre bereits nach wenigen Seiten ein Eindruck außerordentlicher Unmittelbarkeit ein. Dies entspringt zunächst zweifelsohne der dialogischen Darstellungsform, zu der auch Albertis rhetorischer Kunstgriff zählt, die Lesenden direkt zu adressieren und sie somit gleichsam in die Dialogszene einzubinden. Man kann sich vorstellen, dass Albertis bewusste Entscheidung, dieses Streitgespräch moralischen Inhalts im Gegensatz zu vielen seiner Traktate und anderen Schriften nicht in der Gelehrtensprache Latein, sondern im volgare, also in der toskanischen Volkssprache, zu verfassen, auch zu einer besonders intensiven Anteilnahme vonseiten der zeitgenössischen Leserschaft führen sollte: So zeichnet sich das Sprechen der beiden Protagonisten über die eigenen Betrübnisse und das menschliche Seelenleiden neben gezielt gehobenen, vereinzelt in den Text verwobenen lateinischen Zitaten3 im Allgemeinen durch eine erfrischende Direktheit und Alltäglichkeit aus, die von Alberti mit einer Vielzahl von Tonalitäten und Stilmitteln, wie etwa dem Einsatz einer stark bildhaften Sprache, pointierten Wiederholungen, dem Einflechten von Wortwitzen und typisch toskanischen Redewendungen oder Vokabeln noch verstärkt wird (Abb. 2).4

2 Manuskriptseite aus dem Profugiorum ab aerumna mit Randnotizen von Albertis Hand. Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Ashburnham 494: Dialoghi morali di Leon Battista Alberti, Blatt 44v–45r

Doch die Gründe, weshalb es uns scheint, als käme uns beim Lesen weder die Rolle einer passiv Konsumierenden noch einer nüchtern Beobachtenden zu, sind nicht nur sprachlicher Art, sondern liegen wesentlich tiefer: Denn die Frage, was es bedeutet, eine gelungene Existenz als Individuum und als aktiv gestaltendes Mitglied der Gesellschaft zu führen, kurz, die Frage nach dem guten Leben, ist in ihrer emotionalen Intensität von ungebrochener Aktualität. Hinzu kommt, dass Albertis Erörterungen einen eminent politischen Charakter haben. Sein Nachdenken über das ausgeglichene Selbst, das nur durch konstante Pflege und Übung erreicht wird, kann nicht von seiner Beschäftigung mit der Rolle der sinnlichen Wahrnehmung, der ästhetisch-künstlerischen Erfahrung der Lebenswelt und eben von der gemeinsamen Erkenntnissuche auf dem Weg zu einem ethischen und politischen Sein getrennt werden. Gerade am geschilderten spannungsreichen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wird deutlich, dass das Projekt der Selbstsorge durchaus auch ein politisches Projekt darstellt, wenn man, ähnlich wie dies antike, aber auch nicht wenige (post-)moderne Denker und Denkerinnen tun, davon ausgeht, dass die Ethik die Basis der Politik zu sein hat und nicht umgekehrt.5 Denn das ethisch fundierte, geordnete Gemeinwesen setzt sich idealerweise wiederum aus Bürgern zusammen, die ihrer Rolle im gesellschaftlich-staatlichen Gefüge bewusst und mit der dazugehörigen charakterlichen Eignung entsprechen und dies in der Öffentlichkeit zum Ausdruck bringen. Es ist somit wohl kaum übertrieben zu behaupten, dass uns der unabschließbare Prozess der ethischen Selbstgestaltung und der politischen Mitgestaltung heute vor ähnliche, wenn nicht sogar noch größere Herausforderungen stellt als zu Albertis Zeiten.

Figuren

Selbstverständlich hat Alberti sowohl die beiden realgeschichtlichen Protagonisten als auch die Handlungsorte seines in drei Bücher unterteilten Dialogs Über die Seelenruhe – wie die Profugiorum ab aerumna libri III seit dem 16. Jahrhundert betitelt wurden6 – sorgfältig ausgesucht. Agnolo Pandolfini war ein hochgeschätztes Mitglied der Florentiner Gesellschaft, der aufgrund seiner Lebenserfahrung und Klugheit auch in anderen humanistischen Dialogen, wie etwa der Neufassung von Albertis De familia (Über das Hauswesen) als Gesprächspartner auftritt.7 Niccola wiederum gehörte einem Nebenzweig der aufstrebenden Florentiner Bankiersfamilie der Medici an, stand jedoch ihren gesellschaftlichen Ränken und politischen Intrigen, die in den 1440er Jahren immer weitere Kreise zogen und die Florentiner Republik in ihren Grundfesten erschütterte, mit Skepsis gegenüber.8 Dass sich Alberti in der Figur des Battista als stummer Begleiter und aufmerksamer Beobachter in den Dialog, und somit auch in die Geschichte von Florenz einschreibt, zeigt, wie eng er sich nach seinen ›römischen Jahren‹ mit seiner Vaterstadt und ihrem (politischen) Schicksal – und natürlich auch ihrem literarischen Leben und ihrer künstlerisch-architektonischen Gestaltung – verbunden fühlte. Doch die Verschmelzung der historischen Persönlichkeiten mit den von Alberti in diesem Dialog geschaffenen literarischen Figuren offenbart nicht nur die komplexen Fiktionsebenen und die Erzählsituation dieses Dialogs, sondern verrät auch etwas über Albertis (Selbst-)Inszenierungskunst: Über alle drei Anwesenden, von denen sein Alter Ego auch noch als Autor fungiert, lernt die Leserin verschiedene Facetten dieser Alberti-Figur kennen (Abb. 3). Durch das Einflechten von Fachtermini oder das Heranziehen bildgewaltiger Analogien deutet der Autor Alberti seine juristische Ausbildung, seine Tätigkeit als päpstlicher Abbreviator sowie seine Kenntnisse der Kunsttheorie und Baukunst an und lässt sich von seinen beiden humanistisch gebildeten Gesprächspartnern bewusst als schillernder Geist ›porträtieren‹; eine Charakterisierung, die auch Cristoforo Landinos wunderbare, wortspielerische Wendung des chamäleon-tischen Stils von Leon Battista auszeichnet.9 Besonders wirkmächtig scheint diese idealisierte Vorstellung in Jacob Burckhardts Kultur der Renaissance in Italien (1860) durch, in der Alberti als »wahrhaftig Allseitiger«, kurz, als Inbegriff des frühneuzeitlichen uomo universale gefeiert wird.10

3 Leon Battista Alberti, Selbstporträt, um 1435, Washington, National Gallery of Art, Samuel H. Kress Collection

Dabei behauptet der Humanist – und das ist für diesen Dialog genauso bedeutsam wie für die Selbstinszenierung in seiner Vita11 –, sein vielfältiges und tiefgründiges Wissen eben gerade nicht nur in der akademischen Lehre, sondern auch in der praktischen Lebenswelt erworben zu haben: Freies, durchaus auch spekulatives Denken und gestaltendes Handeln sind für Alberti zwei Seiten einer Medaille. In diesem Sinne zeichnet er in diesem Dialog unterschwellig ein idealisiertes (Selbst-)Bild und ein gesellschaftliches Vorbild als jemand, der trotz aller Schwierigkeiten und Kämpfe und dank vielzähliger Übungen die delikate und per se prekäre Balance zwischen einem kontemplativen, den Studien gewidmeten und einem aktiven Leben hält; ein Zustand, dessen Erreichung, wie wir sehen werden, eines der Hauptanliegen dieses der Seelenruhe und der Selbstarbeit gewidmeten Dialogs darstellt.

Insgesamt kann festgehalten werden, dass Alberti die jeweiligen charakterlichen Gegensätze seiner Dialogfiguren sowie die atmosphärischen Unterschiede der Handlungsorte auf raffinierte und zugleich leichtfüßige Art und Weise inszeniert. Dazu zählt etwa, dass er dem weisen Agnolo, der bewusst als Vaterfigur und Gesprächsleiter eingeführt wird, eine getragene, ernsthafte und offensichtlich humanistisch gefärbte Sprache in den Mund legt, die Niccolas häufig mitfühlend-kritischen, manchmal aber auch spöttisch-beißenden und anti-philosophischen Unterton noch stärker hervortreten lässt.

Das Verhältnis der beiden Gesprächspartner zueinander – aber auch dasjenige zu Battista – ist trotz eines subtil hierarchischen Gefälles durch eine freundschaftliche und aufmerksame Zugewandtheit geprägt, die in offensichtlicher Anlehnung an den ›pädagogischen Eros‹ platonischer Dialoge die Grundlage für das gemeinsame Streben nach Wissen und die eigene Charakterbildung darstellt (siehe Frontispiz). Dieses Streben – und das ist wichtig – ist nicht nur epistemischer Art, sondern Teil einer ethischen Praxis, die, dies die Hoffnung, als prozessuale und unabschließbare ›Tugendarbeit‹ zu einer effektiven Veränderung des eigenen Daseins führt. Das gemeinsame Nachdenken und Sprechen ist also weit davon entfernt, steriler intellektueller Selbstzweck zu sein. Vielmehr stellt es ein Instrument dar, das hilft, eine ausgeglichene innere Haltung zu entwickeln und sich gegen die Härten des Schicksals zu wappnen. Alberti folgt hier unter anderem Seneca und anderen Stoikern und entwirft somit das Bild eines philosophischen Miteinanders therapeutischer Natur.12 Die Philosophie ist ›Seelenmedizin‹, die nicht passiv eingenommen und konsumiert werden kann. Sie erfordert vom Individuum ›Selbstarbeit‹ und wird somit zu einer Übung im Vollzug, zu einer Lebenskunst. Dass der Einzelne dabei nur schwerlich eine abgeschlossene und perfekte Form erlangen kann, sondern sich letztlich immer wieder aufs Neue aussetzen, sich konfrontieren und mit seinen Schwächen umzugehen lernen muss, kurz sich im doppelten Sinne des Wortes zu ›bilden‹ hat, ist eine Dimension dieses Dialogs, die uns auch heute noch anregt und ihm seine Zeitlosigkeit verleiht. Diese ›Formbarkeit des Selbst‹ bedeutet natürlich nicht, dass wir es hier mit einer modernen oder gar post-modernen Subjektauffassung zu tun haben, in der der Einzelne komplett individualistisch oder gar entfremdet und losgelöst von den gesellschaftlichen Banden agiert. Das Verhältnis zu den anderen – das machen uns Agnolo und Niccola immer wieder deutlich – bleibt grundlegend, denn der Mensch ist per definitionem ein soziales und politisches Tier, das sich letztlich lediglich in einer Gemeinschaft von Bürgern, in der polis, verwirklichen kann. Dass dieses Miteinander gemäß Alberti dennoch meist von Ambivalenzen und von einem »Kampf um Anerkennung«13 geprägt ist und teilweise auch das (innere) Exil mit sich bringt, spiegelt seine eigene Lebenserfahrung wider und offenbart zugleich sein nicht sonderlich positives Menschenbild.

Begleitlandschaften und Rückzugsorte

Wie und in welcher Form ist nun aber die erwähnte Selbstarbeit zu praktizieren? Welche Funktion kommt dabei der Begleitlandschaft des Dialogs zu? Oder anders gefragt: Welche Rolle kann und soll das Ästhetische im weitesten Sinne des Wortes spielen? Bevor dies näher ausgelotet werden kann, muss eine allgemeine Beobachtung festgehalten werden: Für Alberti bedingen sich Ethik und Ästhetik stets wechselseitig. Und dies ist auch der Grund, weshalb man nicht nur die kunst- und architekturtheoretischen Traktate vor dem Hintergrund der Texte mit moralphilosophischem und bürgerhumanistischem Inhalt lesen sollte, sondern umgekehrt auch philosophische Dialoge wie etwa Über die Seelenruhe auf ihre ästhetische und poetologische Prägnanz hin untersuchen muss. Die Frage, die sich letztlich durch das ganze Werk von Alberti zieht, ist diejenige nach der guten Lebensführung. Im Anschluss an antike Vorstellungen zeigt Alberti in seinem vielseitigen Œuvre auf, dass das Erlangen der Tugend den Grundstein zu einem guten und glücklichen Leben bildet, wobei dem ästhetischen Empfinden und der Kunst eine grundlegende Rolle für die (Selbst-)Gestaltung zukommt.14 Allerdings darf ob dieses alles einenden etho-ästhetischen Horizonts die Pluralität von Albertis Wegen und Methoden nicht aus den Augen verloren werden. Tatsächlich scheint die jeweils gewählte Textgattung auch mit je unterschiedlichen ›Praxeologien der Tugenderlangung‹ einherzugehen. So weist etwa das De pictura (Über die Malerei) aufgrund seiner traktathaften Form einen stärker präskriptiven und normativen Charakter auf, nicht zuletzt, weil es eines seiner ausgewiesenen Ziele ist, den Maler als einen gebildeten und tugendhaften Menschen, als einen vir bonus, in die Gesellschaft – also in die civitas – einzubinden und somit seinen sozialen Status zu erhöhen.15

Wie bereits kurz angerissen, ist Über die Seelenruhe hingegen durch einen vollkommen anderen, dialogischen Ton charakterisiert, der die Leserin stellenweise direkt anspricht (S. 69), sie dadurch viel stärker in die Gedankengänge involviert und sie, qua exempla, also Beispielen, und Argumentation (persuasio) direkt und indirekt dazu anhält, Strategien der Selbstsorge und Tugendbildung im eigenen (Er-)Leben zu reflektieren und anzuwenden. Bezeichnenderweise spielt nun für diese ethische Selbstarbeit und Selbstgestaltung die zutiefst sinnlich und ästhetisch geprägte Begleitlandschaft, die durch ein großes Maß an Ordnung, Harmonie und Lieblichkeit besticht, eine wichtige Rolle. Die Beschreibung des wohlgeordneten, kühlen Innenraumes von Santa Maria del Fiore, aber auch das sprachliche Ausmalen der grünen und sanften toskanischen Landschaft, die einem locus amoenus gleicht, versetzt die Leserin in eine emotionale und intellektuelle Stimmung, die der Erlangung der Seelenruhe zuträglich sein soll (siehe Anm. 298 im Stellenkommentar).

4 Kuppel der Kathedrale Santa Maria del Fiore, Florenz

Gerade die Florentiner Kathedrale Santa Maria del Fiore, die aufgrund von Filippo Brunelleschis grandiosem Entwurf für die am 25. März 1436 eingeweihte Kuppel zu einem der bedeutendsten Bauwerke Europas avanciert war, dessen Strahlkraft weit über den Kontinent hinausreichte, besitzt als Ursprungsort des Dialogs eine ungeheure ästhetische, aber auch symbolische Kraft: In der architektonisch brillanten und atmosphärisch dichten Beschreibung dieses »Hort[es] der Freuden« (S. 33) setzt Alberti den Ton für das Gespräch, rahmt die Handlung und stützt die Argumentation (Abb. 4).16 Vor diesem Hintergrund erstaunt es wenig, dass Alberti im Verlauf des Dialogs die Säulenmetaphorik bemüht und das Verhältnis von Haltung (im ursprünglichsten semantischen Sinne des ethos) und Wahrheit anspricht: »Uns geht es wie der Säule: Während sie sich aufrecht hält und in sich ruht, stützt sie nicht nur sich selbst, sondern trägt dazu noch jedes schwere Gewicht, das auf ihr lastet. Und dieselbe Säule wird, sobald sie von dieser aufrechten Stellung abweicht, durch die auf ihr ruhende Last und die ihr innewohnende Schwere einstürzen. Indem sich also unsere Seele durch die Aufrichtigkeit des Wahren bestätigt und nicht von der Vernunft abirrt, welche ihr aufgebürdete Last sollte sie niederschmettern?« (S. 40)

Diese im Text relativ früh platzierte, wirkmächtige Analogie zwischen der soliden Säule, dem architektonischem Grundelement par excellence, und der Festigung sowie Aufrichtung der vom widrigen Schicksal und der Bösartigkeit der Menschen niedergedrückten Seele prägt sich den Lesern tief ein. Es gibt jedoch noch weitere Passagen, in denen Alberti die Relation von Seele und Architektur auslotet, indem er etwa betont, dass die Seele vor den schrecklichen Stürmen des Daseins Zuflucht suchen solle wie der Körper im warmen Inneren eines Hauses (siehe S.48). Im Hinblick auf diese, sich wie ein roter Faden durch den gesamten Dialog ziehenden Gleichnisse von Seele und Architektur ist bezeichnend, dass Alberti den Lesern das klassische Motiv der aedificatio animi, also der Erbauung und Stärkung der Seele, bewusst nicht rein abstrakt und theoretisch vermittelt. Vielmehr bedient er sich an vielen Stellen in Über die Seelenruhe eines musikalischen, bildnerischen oder eben auch architektonischen Vokabulars und erschafft synästhetisch starke Bilder. Die Leserin ›sieht‹ im Verlaufe des Gesprächs nicht nur viel, sondern ›riecht‹ und ›hört‹, kurz gesagt, nimmt mit allen Sinnen wahr. Außerdem erfährt sie auch über die Protagonisten, wie wichtig, neben der angeregten, manchmal vielleicht auch leidenschaftlich-lauten Diskussion unter Freunden, intime Lese- und Schreibprozesse sind, denen als Übungen eine lindernde Wirkung zugeschrieben wird. Der bildhaften Sprache kommt somit im Prozess der Pflege der Seele und der Gestaltung des Selbst eine grundlegende, die Rezipienten sensibilisierende Rolle zu, die die Leser letztlich auf die eigene Seelenarbeit einstimmt. Die Seele, so Alberti, muss man durch spezifische Übungen vor negativen äußeren Einflüssen beziehungsweise inneren Erschütterungen feien und sie aufmerksam, harmonisch und wohlgeordnet gestalten (siehe Anm. 268 im Stellenkommentar). Dieses für Alberti gerade im Bereich seines ästhetischen Denkens so typische Beharren auf der harmonischen Wohlgeordnetheit mag auch ein Grund sein, weshalb seine Seelen-Architektur-Analogien nicht ausschließlich durch wehrhaft-militaristische Metaphern gekennzeichnet sind, wie sie etwa vom Kyniker Antisthenes überliefert sind: »Schaffe dir in dir selbst ein Bollwerk durch die Unfehlbarkeit deiner Berechnungen«.17 Albertis im wahrsten Sinne des Wortes plastische Ausgestaltung der Kulisse des Dialogs offenbart also ihren wesentlichen Anteil an der Vermittlung und Aneignung der philosophischen Inhalte und zeigt, dass für ihn das aisthetische (Nach-)Erleben ein grundlegendes Element in der ethischen Selbstgestaltung darstellt, das nicht allein durch die logisch-diskursive, inhaltliche Ebene des Dialogs eingeholt werden kann.

Nicht zuletzt ist das, was man die Macht des Ästhetischen nennen könnte, ein wichtiger Baustein für Albertis Konstruktion und Kodierung des ›politischen Raumes‹, was bereits im Treffpunkt des Domes ins Auge fällt (siehe Anm. 2 im Stellenkommentar). So hatte Alberti bezeichnenderweise im Prolog der italienischen Fassung seines De pictura auf die gemeinschaftsfördernde und schützende Macht von Brunelleschis Kuppel angespielt, deren Schatten alle toskanischen Völker bedecken und einen könne.18 In Über die Seelenruhe findet das seine Ergänzung, indem der Weg der Dialogpartner durch den Florentiner Stadtraum kein zufälliger ist.19 Vielmehr inszeniert Alberti eine Form von peripatetischer, also denkend bewegter ›Inbesitznahme‹ der sozio-politischen, aber auch intellektuellen Topografie der Stadt. Alle Orte, an die sich Agnolo, Niccola und Battista während ihres ausführlichen Gesprächs begeben, die Straßenzüge, entlang derer sie gehen, besitzen architektonische Prägnanz, symbolische Kraft, epistemologische Relevanz und nicht zuletzt politische Brisanz: Sei es der Dom, der evozierte Aufstieg zur Kirche von San Miniato al Monte oder das Dominikanerkloster von San Marco (siehe Anm. 300 und 302 im Stellenkommentar).20

In diesem virtuellen Spaziergang durch Florenz erlebt man als Leserin geradezu, wie der Dialog über die jeweilige persönliche Situation, unterschiedliche Lebenserfahrungen und die darauf beruhende Einschätzung und Haltung der Protagonisten eine eigene lebensweltliche Dichte entwickelt. Alberti gelingt es somit brillant, die inhaltliche Vielschichtigkeit und Tiefe des Textes, die nicht nur ästhetischer und ethischer Art ist, sondern aufgrund der Verortung im und der regen Kritik am aktuellen Zeitgeschehen eine subtil subversive Kraft besitzt, formal einzufangen und die Rezipienten weniger mit als abgeschlossen präsentiertem Wissen, als vielmehr mit gestaltbaren Möglichkeitsräumen zu konfrontieren, in denen man das eigene Denken austesten kann. Dieser Versuch, in widrigen Zeiten so etwas wie utopische Räume offen zu halten, zeigt sich auch an Folgendem: Wenngleich in diesem Dialog eine scharfe Kritik an den herrschenden Machtverhältnissen vorgenommen sowie den Florentiner Politikern Unfähigkeit und Bösartigkeit mit gesellschaftsspalterischem Potenzial vorgeworfen wird, beharren Agnolo und Niccola am Ende darauf, dass man sich den negativen äußeren Umständen nicht zu beugen habe. Stattdessen solle sich der Einzelne an antiken Herrscheridealen bilden, seine Klugheit üben und seine Tugenden stärken.21 Diese klassischen Praktiken der disziplinierenden Selbstbildung werden zugleich ›dissidentische‹ Strategien, und zwar in dem Sinne, dass sie das Individuum lehren und es darin bestärken, eine eigenständige Position zu beziehen und trotz des gegenläufigen Drucks der öffentlichen Meinung und des herrschenden politischen Systems Wahrheit zu sprechen (siehe Anm. 192 und 363 im Stellenkommentar). Ethische Selbstarbeit und gesellschaftliches Handeln sind somit unauflösbar miteinander verbunden, wobei der angemessene Grad der aktiven Teilhabe am politischen Leben gerade in schicksalhaften und gewaltsamen Zeiten schwer zu bestimmen ist. Die seit der Antike verhandelte Frage nach dem richtigen Verhältnis von otium (der Muße) und negotium (den Amtsgeschäften) ist also weder leicht noch eindeutig zu beantworten. Vielmehr bedarf sie – und das zeigt Alberti in Über die Seelenruhe auf eindringliche Weise – der eingehenden, aufmerksamen und klugen Prüfung der häufig widersprüchlichen historischen und politischen Realität, die den Einzelnen vor große Herausforderungen stellt und es ihm manchmal auch abverlangt, zu Strategien der Täuschung, der dissimulatio, zu greifen. Die Notwendigkeit, seine wahren Absichten und Gefühle in einer durch Ungerechtigkeiten und Niedertracht verkommenen Gesellschaft zu verbergen und sich zu verstellen, wird von Alberti wiederholt anhand der Figur des Odysseus dargelegt, der zum nachahmenswerten Vorbild auserkoren wird: »All das trunkene Gebaren der anderen erduldete er, verschleierte vor allen seine Schmach, ließ sich reihum verspotten und quälen, blieb bei jeder Kränkung stumm und geduldig, weil sein Vorhaben dies so verlangte.« (S. 86) Die Beschaffenheit der Öffentlichkeit wird von Alberti also keineswegs idealisiert; dementsprechend steht er sowohl einem Übermaß an Rückzug und Müßiggang als eben auch einer übertriebenen (häufig wahnhaftem Ehrgeiz zuzuschreibenden) Involviertheit in das öffentliche Leben kritisch gegenüber. Leitend ist für ihn vielmehr das im Dialog ersehnte und skizzierte Ideal einer Ausgewogenheit zwischen praktisch-tätigem und theoretisch-kontemplativem Leben, in dem es die herrschenden Machtverhältnisse nicht erforderlich machen, dass sich der Einzelne von der politischen Gemeinschaft abwenden und ins Exil zurückziehen muss (siehe S. 70).

Seelenformung

Die weiter oben angedeutete Disziplinierung des Selbst kann nun aber schwerlich von der in Über die Seelenruhe grundsätzlich diskutierten Frage der rationalen Affektkontrolle getrennt werden. Hier erweist sich Alberti ganz als aufmerksamer Leser und einfallsreicher Fortführer antiker philosophischer Vorstellungen und Diskurse, wobei er einen äußerst freien – zum Teil auch synkretistischen und widersprüchlichen – Umgang mit seinen vielzähligen Quellen pflegt.22 Wenngleich sich Alberti beispielsweise tiefgehend mit den verschiedenen Ausprägungen stoischen Denkens auseinandersetzt und diese eingehend prüft, ist keine eindeutige Positionierung seinerseits auszumachen. Ferner ist auch klar, dass Alberti sich mit diesem Dialog in eine lange philosophische Tradition des Nachdenkens über die Erlangung der Seelenruhe und des guten, glückseligen Lebens einreiht, wie sie sich erstmalig in den nur fragmentarisch überlieferten Sentenzen des Demokrit findet: In dessen Peri Euthymies (Über die Seelenruhe) insistiert der vorsokratische Philosoph auf einer harmonischen und heiteren Gemütslage, die gegenüber der Unbeständigkeit des Schicksals ihre Autonomie behält.23 Alberti selbst bedient sich in seinem Dialog einer Fülle klassischer stoischer Motive des Seelenruhe-Diskurses, indem er neben Ciceros De officiis (Vom rechten Handeln) sehr häufig auf Senecas De tranquillitate animi (Über die Seelenruhe) zurückgreift,24 und gibt in diesem Zusammenhang mittels Agnolos kurzer Erörterung der Natur der Seele zugleich auch verschiedene antike Seelenkonzeptionen wieder, die jedoch im Dialog mehrdeutig bleiben (siehe S. 47 und Anm. 128 und 129 im Stellenkommentar). Schließlich klingt bei Alberti auch die aristotelische Eudaimonie-Lehre an, der gemäß die gelungene und somit tugendhafte Lebensführung Voraussetzung für einen ausgeglichenen Seelenzustand und Glückseligkeit ist. Das Erlangen der eudaimonia ist allerdings nicht nur für das Leben des Einzelnen von Bedeutung, sondern hat im überindividuellen Sinne für die gesamte polis als oberstes, wenngleich letztlich unerreichbares Ziel zu gelten. Das glückselige Leben, so kann man es knapp formulieren, erweist sich nicht als dauerhafter Zustand, sondern als ein unabschließbarer Prozess der ethischen Selbstgestaltung, ein Aspekt, den Alberti in Über die Seelenruhe bewusst hervorhebt.

Indem Alberti also zum Beispiel, vermittelt über Diogenes Laertius’ Leben und Meinungen berühmter Philosophen, kynische Motive der asketischen Selbstzüchtigung in den Dialog aufnimmt oder eben in offensichtlichem Rückgriff auf Senecas Schriften die Notwendigkeit der Selbsterkenntnis oder die Mäßigung des Zorns in den Mittelpunkt rückt und diese wiederum mit Hinweisen auf zeitgenössische kulturelle und politische Ereignisse und Missstände verknüpft,25 erschafft er ein schillerndes, für die Leser stellenweise nicht leicht zu durchschauendes Text- und Argumentationsgewebe. Diese Ungreifbarkeit hängt auch damit zusammen, dass er neben offensichtlichen Verweisen auf die klassische und christliche Tradition paganes und hermetisches Gedankengut einflicht und dadurch verschiedene Denktraditionen und Perspektiven in seinen Argumentationen überlagert und für seine Zwecke umformt (siehe Anm. 8 im Stellenkommentar). Dies kann angesichts der Fülle neu entdeckter antiker Quellen im Florenz des frühen 15. Jahrhunderts als Versuch gewertet werden, diese für seine eigene Zeit erstmalig darzustellen und fruchtbar zu machen. Über die Seelenruhe weist somit eine sprachlich innovative, inhaltlich eigenständige und lichte Gesamtstruktur auf, in die sich die vielzähligen, zur damaligen Zeit zum Teil noch recht unbekannten Referenzen etwa auf die homerischen Epen oder die hermetische Tradition organisch einfügen.

Gerade in Bezug auf das für Schriften zur Seelenruhe klassische Thema der bewussten Beherrschung negativer, zerstörerischer Affekte führt Alberti in diesem Dialog vor, wie raffiniert – man möchte fast sagen malerisch – man verschiedene Beispiele einsetzen kann, um die Leser nicht nur theoretisch und abstrakt, sondern auch über erzählerische und inszenatorisch-performative Elemente zu instruieren. Mit den geschöpften Sprachbildern gelingt es ihm, die Leser emotional zu affizieren und ethisch zu sensibilisieren.26 Immer wieder klingen hier Grundsätze aus seinem De pictura an, in dem er den Regungen der Seele und deren künstlerisch stimmigen und moralisch wirksamen Darstellung bekanntlich besonders viel Aufmerksamkeit gewidmet hat.27 Durch die longue durée der Denkfiguren und literarischen Motive und insbesondere dank des Einsatzes verschiedener exemplarischer mythologischer und historischer Figuren, wie etwa des duldsamen Odysseus oder des konzentrierten Archimedes, entsteht eine außergewöhnliche ›Gegenwärtigkeit der Vergangenheit‹, da die Leserin mit diesen mitleidet und erkennt, dass es eine Zeitlosigkeit menschlicher Erfahrung gibt, die auch die historische Distanz und lebensweltliche Differenz überbrückt. Es ist diese Verdichtung der uns belehrenden und berührenden historia – als (objektivierbare) Geschichte und albertianischer Vorgang –, die die zeitgenössischen Leser Albertis wahrscheinlich genauso faszinierte wie uns heute.

Helle Tränen, dunkles Lachen

Vor diesem Hintergrund der ›Seelenformung‹, die zugleich eine Affektkontrolle darstellt, überrascht es wenig, dass Alberti in Über die Seelenruhe die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen spielerisch auslotet und im Laufe des gesamten Textes nicht zuletzt nach praktischen Mitteln zur Vermeidung von Leid sucht. Dabei fragt er sich wiederholt, wie mit zerstörerischen Gefühlen des Zorns, aber auch der Trauer und der alles zersetzenden Melancholie – im Sinne einer passiven objektlosen Traurigkeit – umzugehen sei. Niccola betont in einer längeren Passage im dritten Buch, wie schwierig, ja gar unmöglich es sich darstelle, sich trauriger Erinnerungen und Gedanken zu erwehren, und denkt dann über die Notwendigkeit des Weinens und die befreiende Wirkung der Tränen nach (siehe S. 100). Auf antike Vorbilder rekurrierend führt er in einem zweiten Schritt aus, dass es eine Angemessenheit des Weinens gäbe, die zugleich mit einer Mäßigung der Gefühle einhergehe. Allerdings seien letztere nicht komplett zu unterdrücken, da dies den Menschen unmenschlich werden lasse. Das Weinen – und das ist wichtig – ist nicht nur auf der subjektiven, sondern auch auf der intersubjektiven Ebene von Bedeutung. Es ist Teil der persönlichen und gesellschaftlichen Psychohygiene, die auch eine Affektdisziplinierung ist (siehe Anm. 530 und 544 im Stellenkommentar).

Alberti interessiert sich jedoch nicht nur für meist negativ besetzte Emotionen wie Trauer oder Neid. Auch das Lachen spielt eine beachtliche Rolle. Gerade durch die breit aufgefächerte und ständig variierende Emotionalität des Lachens verändert sich in Über die Seelenruhe laufend die Tonalität der Szenen und Wortwechsel und lässt auch die Figuren plastischer hervortreten. Alberti setzt das Lachen und die Ironie zur Selbstbehauptung gegen die Zumutungen des Schicksals, als therapeutisches Mittel zur Abwehr von Beleidigungen und Angriffen, aber durch das Schmunzeln über sich selbst auch als erfrischende Möglichkeit der Distanznahme von sich und seinen Nöten ein. Angelehnt an die von Seneca in De tranquillitate animi erzählte Anekdote vom Lachen des Demokrit und den Tränen des Heraklit, scheint Alberti der Leserin ans Herz legen zu wollen, dass angesichts des Übels das Lachen dem Weinen vorzuziehen sei, da die Tränen die Unglücklichen noch nie getröstet hätten.28 In Anbetracht der tragischen Komik des Lebens und vor dem Hintergrund der ausgleichenden Seelenpflege ist dem Heiteren, Lustigen und Fröhlichen somit stets das Ernsthafte, Würdevolle und Sittlich-Strenge beigemischt, wobei die Entscheidung zur Leichtigkeit bewusst zu treffen ist. Nicht zuletzt werden in Albertis Überlegungen das Lachen und die Ironie als subversive, befreiende Mittel bestimmt, die die Möglichkeit zur Kritik an der althergebrachten moralischen und gesellschaftlichen Ordnung in sich bergen, wie dieses Zitat zeigt: »Und sag mir, sehen wir nicht den ganzen Tag unsere niederen Diener, von ihrem Schicksal erdrückt, aufgerieben durch die Beschwernisse, elend von den Mühen, doch inmitten ihrer Nöte lachen und singen? Fragte man sie – warum lachst du? –, würden sie, wie ich meine, antworten: Weil es mir gefällt.« (S. 39–40) Insgesamt legt Alberti Widersprüche zwischen trügerischem Schein und Realität offen, weicht die Starrheit akademischer und klerikaler Moraltheorie auf und entlarvt die Selbsttäuschungen, situativ gegebenen Verschleierungen und Irreführungen. Trotz oder gerade wegen der Schwere des in diesem Dialog abgehandelten Themas verführt uns Alberti zum Mitlachen, sorgt aber auch dafür, dass uns das Lachen im Halse steckenbleibt.29 Sowohl im Falle des Weinens als auch im Falle des Lachens ›durchlebt‹ die Leserin also die Emotionen durch Identifikation intensiv. Der Dialog stellt somit ein Gegenbeispiel zur nüchternen Schulung des perfekten, die vielzähligen menschlichen Gefühle beobachtend wiedergebenden Künstlers des De pictura dar: Das exemplum wird hier zu einem exercitium, einer Übung, in der moralische Argumente auf einer zusätzlichen (Vollzugs-)Ebene vermittelt werden.

Männerideale – Frauenbilder

Dass Alberti das bewusste Erleben und Ausleben von Emotionen als notwendig und menschlich erachtet, kommt insbesondere über die Figur Niccolas zum Ausdruck, der immer wieder Stellung gegen das stoische Ideal der apatheia bezieht, also die vollkommene seelische Unberührtheit und Gleichgültigkeit. Mittels dem alten und weisen Agnolo legt Alberti jedoch zugleich dar, dass das wahrlich tugendhafte Individuum zu eigentlich positiven Gemütsbewegungen wie der Liebe eine genauso maßvolle Position einnehmen sollte wie zu den negativ konnotierten Seelenregungen wie Neid, Hass oder Trauer. Die Verdammung jeglicher Extreme und das Streben nach der gemäßigten, goldenen Mitte kennzeichnet den Idealhorizont von Über die Seelenruhe und wird den Menschen als moralischer Kompass empfohlen. In krassem Gegensatz dazu stehen die von Alberti erwähnten Beispiele menschlicher Niedertracht, Bösartigkeit, Unkontrolliertheit, aber auch übertriebener Ängstlichkeit und Weinerlichkeit.

Alberti schreibt nun diese ›exzessiven Regungen‹ und ›furchtbaren‹ Laster im Verlauf des Dialogs immer wieder Frauen zu: Diese gelten ihm als hinterhältig, schwatzhaft, nicht vertrauenswürdig, aufmerksamkeitsheischend, ignorant und affektgeleitet. Frauen seien wenn möglich zu meiden, da sie – so könnte man Alberti deuten – nicht nur die Freundschaften der Männer zerstören, wie er in den beiden in die Intercenales (Tischgespräche) von ca. 1443 aufgenommenen Texte ›Maritus‹ und ›Uxoria‹ schreibt, sondern die Seelenruhe der Männer tout court infrage zu stellen scheinen.30 Das Bild, das der Humanist auf diese Weise vom weiblichen Geschlecht skizziert, ist ähnlich wie in seinem satirisch-sarkastischen Momus durch und durch negativ und in seiner Misogynie für die heutige Leserschaft nur schwer auszuhalten. Die Frau stellt für Alberti in jeglicher Hinsicht das triebgesteuerte, wankelmütige und somit lasterhafte Gegenbild zum Ideal des uomo virtuoso dar, also des strebsamen, in sich ruhenden, aufrechten und tugendhaften Mannes. Wenngleich frauenfeindliche Positionen und Entgleisungen für die Frühe Neuzeit keineswegs überraschen, erstaunt, mit welcher Vehemenz und Bösartigkeit sich der ansonsten nichts Menschlichem fremde Alberti in Über die Seelenruhe über Frauen auslässt. Dazu zählt auch, dass er in offensichtlichem Rückgriff auf antike philosophische und mittelalterliche moraltheologische Schriften wiederholt auf die mangelnde Vernunftbegabung, grundsätzliche Inferiorität und somit Abhängigkeit der Frauen hinweist, die er gezielt näher am Tier als am rationalen Wesen ›Mann‹ verortet, weshalb sie im Hinblick auf Überlegungen zum tugendhaften Leben und die Seelenruhe gar nicht erst einbezogen werden sollten (siehe Anm. 217 im Stellenkommentar).31

Bezeichnenderweise folgt auf die Passage, in der Alberti, Homer zitierend, betont, dass es »unter den Sterblichen kein ruchloseres Tier [gäbe] als das Weib« (S.57), die Konstruktion eines idealisierten Männlichkeitsbildes, in der über den Begriff der »fortezza« (Stärke), das heißt der Kardinaltugend der fortitudo, eine explizite Zusammenführung von Tugend und männlicher Stärke vorgenommen wird. Vermittels eines ausgesprochen militaristisch aufgeladenen Vokabulars wird der Kampf um die Seele ganz im Sinne einer ›Psychomachie‹ als kriegerische Auseinandersetzung zwischen Tugend und Laster inszeniert. Auf diesem ›Schlachtfeld der Seele‹ kann der Mann nur dann bestehen, wenn er sich abhärtet und sowohl seinen Körper als auch seine Seele stählt und drillt. So nachvollziehbar dieses Bestreben ist, seine fragile Seele in stürmischen Zeiten zu schützen und dahingehend zu üben, dass sie sich nicht verletzt, so sehr treten an dieser Stelle die negativen Implikationen der disziplinierenden Selbstübungen ans Licht: In ihrer düstersten, da wehrhaften Form können sie auch Teil eines maßlosen Männlichkeitsideals sein, das durch Dominanzgebaren und Unterwerfung seiner selbst und der anderen charakterisiert ist. Somit offenbart sich das geradezu paradoxe Umschlagspotenzial einer Tugendlehre, die zwar auf Ausgeglichenheit und Mäßigung ausgerichtet ist, aber aufgrund von exzessiven Exerzitien und Ausschaltung respektive Bekämpfung verschiedener Charakterteile zugleich die Möglichkeit einer faktischen Radikalisierung in sich birgt.32

Melancholien

Die Vorstellung, dass das Andere, augenscheinlich Maßlose, manchmal aber einfach auch nur ›Sensibel-Fragile‹, domestiziert und diszipliniert werden sollte, um letztlich einen idealisierten Zustand harmonischer und zugleich solider Ausgewogenheit zu erlangen, spiegelt sich auch in Albertis Verständnis der Melancholie wider. Obgleich er in Über die Seelenruhe ein komplexes und subtil ausdifferenziertes Bild der verschiedenen Formen der Traurigkeit und Melancholie entwirft, steht er dieser prinzipiell kritisch gegenüber und bedient sich vielzähliger, seit der Antike weit verbreiteter klischeehafter Vorstellungen des Melancholikers.33 Tatsächlich wird die Melancholie von Alberti nicht nur als Erkrankung des Individuums diagnostiziert, sondern durchaus auch als Gefahr für die Gesellschaft bestimmt. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass auf das soeben erwähnte Bild der männlichen Wehrhaftigkeit im Text Albertis eine sarkastische Beschreibung der als »Nervenbündel« betitelten, melancholisch veranlagten Menschen folgt (S. 90). Letztere werden ganz im Sinne bürgerhumanistischer Männlichkeitsideale als für die vita activa ungeeignet verspottet und die Melancholie als krankhafte und unmännliche Veranlagung verurteilt.34 Im Gegensatz zur insbesondere im Anschluss an die Studien von Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl wirkmächtigen, wenngleich historisch fraglichen Vorstellung des frühneuzeitlichen melancholischen Genies, beschreibt Alberti in diesem Dialog die zersetzenden Seiten der melancholischen Prädisposition mit geradezu klinischer Präzision und psychologischer Raffinesse, wobei er sich souverän auf medizinische, theologische und moralphilosophische Diskussionen stützt, die in Antike und Mittelalter äußerst präsent waren und nicht nur in wissenschaftlichen Traktaten, sondern auch in beim Laienpublikum beliebten diätetischen Handbüchern eingehend erörtert wurden (siehe etwa Anm. 33, 45 und 511 im Stellenkommentar).

Alberti verwendet in Über die Seelenruhe zum Teil starke visuelle Metaphern, wie »die Nessel trauriger Erinnerungen«, oder aufwühlende Geschichten, wie diejenige des nicht näher bekannten Philosophen Kleobulos, der »wie erloschen durch seine schweren Melancholien« aus dem Leben schied (S. 103 und 104), um die Leserschaft vor den Abgründen der Trübsal zu warnen. Nicht zuletzt attestiert er den Melancholikern gar einen Hang zum Wilden und Tierischen, da ihnen aufgrund ihrer Triebhaftigkeit und mangelnden Selbstkontrolle eben die Befähigung zum rationalen und besonnenen Handeln abhandengekommen sei. Im Gegensatz zu den Menschen unterstellt Alberti die Tiere dabei jedoch keiner moralischen Beurteilung, so dass er sich diesen gegenüber weitaus wohlgesinnter und zugeneigter zeigt als den mit Tieren verglichenen Frauen oder Melancholikern. Ähnlich wie in seinem um 1440 verfassten Theogenius, in dem eine besonders düstere Sicht auf die Menschheit herrscht, hebt er auch in Über die Seelenruhe immer wieder hervor, dass die Tiere anders als die Menschen nicht willentlich, sondern lediglich aufgrund ihrer wilden Natur brutal und vernunftlos agieren – lasterhafte Raserei und Freude an der eigenen Böswilligkeit, so Alberti, zeichnet lediglich das menschliche Geschlecht aus.35

Vermittelt über die Sicht Agnolos wird die Melancholie von ihm also zu einer der größten Gefahren für die Erlangung eines tugendhaften und glückseligen Lebens erklärt und sowohl moraltheologisch als auch gesellschaftspolitisch abgewertet. Die Krankheit der Melancholie ist gemäß Alberti nicht zuletzt deswegen so schädlich, weil sie die Gesellschaftsfähigkeit des Individuums infrage stellt und dieses nur noch träge um sich selbst kreisen lässt. Auch im ersten Buch seines De familia verweist er auf diese negativen und extremen Seiten der Melancholie und schreibt – vor einem bürgerhumanistischen Hintergrund –, dass der Mann nicht dafür geschaffen sei, in der Trauer der Einsamkeit zu verharren, sondern sich dem Leben gegenüber aktiv zu verhalten habe.

Alberti entwickelt mit diesem Dialog nun aber gezielt eine diskursive und praktische ›Anleitung‹, um gegen diesen negativen, den menschlichen Geist verdunkelnden Seelenzustand gefeit zu sein, der das Gleichgewicht des Einzelnen so sehr in Mitleidenschaft zieht. Es geht ihm darum, die der Melancholie innewohnende Maßlosigkeit wieder in gemäßigte, harmonische und somit auch kontrollierbare Bahnen zu lenken. Sein Anspruch ist klar: Das Buch mit seinen darin aufgeführten Heilmitteln, Mahnungen und Übungen soll zu einer wirkmächtigen Arznei gegen die Melancholie werden, die nicht nur den Einzelnen genesen lässt, sondern auch die politische Gemeinschaft.

Dieser strenge und mit der traditionellen christlichen Perspektive konforme Blick Albertis auf die Melancholie darf jedoch nicht dazu verleiten, seinen zum Teil äußerst eigenständigen Umgang mit den Gefahren der Melancholie aus den Augen zu verlieren. So greift der Humanist etwa bewusst den klassischen Topos der nächtens besonders akuten Unruhen der Seele auf, durch die die melancholische Neigung verstärkt werde, schlägt dann allerdings ein eher ungewöhnliches Heilmittel dafür vor: das Nachdenken und Studieren sowie das Entwerfen komplexer Geometrien und Architekturen im Geiste. Dies ist insofern bemerkenswert, als in den meisten Abhandlungen über die Melancholie, auch tristitia oder Mönchskrankheit genannt, gerade das übermäßige und nächtliche Lernen als eigentlicher Grund des Auftretens dieses Leidens bestimmt wird (siehe Anm. 511 im Stellenkommentar). Die Überzeugung, dass die durch das maßlose Studium eintretende Übermüdung der Seele eine der Hauptursachen der krankhaften Melancholie sei, sollte auch Marsilio Ficino in seinen De vita libri tres (Drei Bücher über das Leben) noch vertreten, die ja eine sich insbesondere an Gelehrte wendende Krankheitsprävention darstellen.36 Alberti hingegen weicht von diesen Einschätzungen ab und hebt die heilsame Dimension des disziplinierten Nachdenkens hervor: Insbesondere das mathematische, logische, ›klare‹ Sinnieren kann der durch düsteres und zielloses Grübeln drohenden Melancholie entgegenwirken. Mit dieser Haltung scheint er stärker an stoische Überlegungen anzuschließen, die das (philosophische) Denken als die beste Seelenpflege bestimmen. So beteuert Seneca Folgendes: »Unsere wissenschaftlichen Studien förderten meine Heilung; ich halte es für ein Geschenk der Philosophie, dass ich wieder aufstehen konnte und gesund wurde; ihr verdanke ich mein Leben, ihr verdanke ich nichts Geringeres als mein Leben.« (Briefe an Lucilius, II, 78, 3)

Dunkle Zeiten – lichte Horizonte

Gerade am Ende von Über die Seelenruhe hebt Alberti erneut den heilenden, ja gar befreienden Charakter von konzentrierten, auf der ratio beruhenden Studien hervor, die den Menschen vor den Zumutungen des Daseins bewahren und ihm auch in einer krisenhaften Welt einen schützenden geistigen Hafen bieten können. Dass die Gestaltung, Ordnung, ja gar ›Zurechtrückung‹ seiner selbst dabei auch in den letzten Passagen des Dialogs mit Metaphern aus dem Bereich der Architektur und Technik umschrieben wird, erstaunt genauso wenig wie die Tatsache, dass Alberti einen mühsamen Weg der (Selbst-)Erkenntnis skizziert, in dem der Einzelne stufengleich vom poietischen (bildenden) und praktischen Wissen zur Erkenntnis der Ursachen und dem Sein der Dinge, also zum theoretischen Wissen gelangt, zu dem auch die von Alberti erwähnten mathematischen und geometrischen Kenntnisse zählen.37 Die schwierige, im Quattrocento so intensiv und kontrovers diskutierte Frage, ob es dem tugendhaften und glückseligen, kurz dem eudaimonischen Dasein zuträglicher sei, ein aktiv-politisches oder ein wissenschaftlich-kontemplatives Leben zu führen, wird am Ende von Über die Seelenruhe also noch einmal bewusst angerissen, aber nicht abschließend geklärt. Offensichtlich ist jedoch, dass Alberti neben den ethischen, durch Gewohnheit entstehenden auch die dianoetischen, das heißt aus Belehrung entstehenden Tugenden pflegen will und somit der wissenschaftlichen Kontemplation des Wahren, die in der bewusst gewählten Figur des Mathematikers Archimedes geradezu paradigmatisch verkörpert wird, einen herausragenden Platz einräumt.

Trotz dieser erstaunlichen Wertschätzung der intellektuellen Schau des Theoretikers hebt Alberti – ganz Künstler und Architekt – jedoch auch die Macht des Ästhetischen und die Präsenz des Politischen hervor. Dies mag auch der Grund sein, weshalb der in Santa Maria del Fiore begonnene dialogische Spaziergang außerhalb des Domgebäudes auf dessen Vorplatz zu seinem Ende kommt. Im Gegensatz zum Auftakt, der sich im auf Harmonie und Temperiertheit ausgelegten und alle Sinne gleichermaßen ansprechenden Innenraum des Domgebäudes abspielte, evoziert diese Szenerie auf dem Vorplatz, inmitten des lauten und lebendigen Stadtraumes, ein ganz anderes Bild: Die Gesprächspartner sind nicht nur vom geschäftigen Treiben und dem Menschengetümmel der Stadtbewohner umgeben, sondern befinden sich, wohl nicht zufällig, an dem Ort, wo Alberti einige Jahre zuvor der Endphase der Kuppelkonstruktion mit all ihren Kränen und Gerüsten beigewohnt hatte, die, nicht zuletzt, auf komplexen mathematischen Modellen beruhte.38 Die nun nach Beendigung des Gesprächs geübte und von innen erbaute Seele sollte den sich präsentierenden äußerlichen Widrigkeiten ohne Probleme standhalten können, womit auch klar wird, dass die Selbstsorge als ein politisches Projekt zu verstehen ist: Die ›Störungen‹ werden nicht nur im Bereich des Individuums minimiert, sondern die (Seelen-)Ruhe und Besonnenheit wird idealerweise auf die Gesellschaft als Ganzes übertragen.

Die aus Über die Seelenruhe in unsere Zeit strahlende Hoffnung besteht darin, dass das gemeinsame und angeregte Sprechen, das zurückgezogene Lesen, das klärende Schreiben, das anregende sinnliche Wahrnehmen von Kunst und gestaltetem Stadtraum und vor allem das aufmerksam-kritische, aber auch großzügig-sorgsame Betrachten seiner selbst und der anderen zu einer tatsächlichen Veränderung des Einzelnen führen. Trotz mancherlei schwierigen Konzepten und Vorstellungen, die in ihren problematischen Aspekten klar benannt und analysiert werden müssen, sensibilisiert uns der Dialog auch gegenwärtig dafür, dass die etho-ästhetische Arbeit am Selbst und seine Pflege ein unendlicher und somit nicht abzuschließender, zum Teil auch schmerzhafter und kraftraubender Prozess ist. Aus heutiger Sicht bedeutet dies nicht zuletzt, die dunklen Widrigkeiten anzunehmen und die helle Wohltemperiertheit anzustreben, ohne dabei das aus den Augen zu verlieren, was uns menschlich werden lässt, und das ist – im Gegensatz zur Säule – die Fähigkeit zu (er-)tragen, ohne unbeugsam zu sein, in zugewandter Gelassenheit und mit lichtem Blick.

Hana Gründler

ÜBERDIESEELENRUHE

oder

Vom Vermeiden des Leidens in drei Büchern

ERSTESBUCH

Messèr Niccola di Veri de’ Medici,1 ein mit allen guten Sitten und Tugenden überreich geschmückter Mann, und ich wandelten durch unseren bedeutendsten Tempel,2 und wie üblich räsonnierten wir über heitere Dinge und über solche, die der Gelehrsamkeit und der Ergründung würdiger und erlesener Themen angehörten.3 Agnolo di Filippo Pandolfini4 gesellte sich hinzu, ein ernster, betagter und rechtschaffener Mann, den man aufgrund seines Alters und seiner besonnenen Klugheit stets um Rat ansuchte und der zu den ersten Bürgern unserer Stadt zählte.5 Er begrüßte uns und sagte: – Dich, Battista,6 lobe ich mir, und mir gefällt, wie eifrig du diesen Tempel aufsuchst,7 was mir neben anderem deine tiefe Religiosität beweist.8 Und nicht grundlos heißt es im Sprichwort jener guten Alten, dass man dem heiligen Kult die größte Aufwendung durch den Besuch Gott geweihter Orte darbietet.9 Gewiss birgt dieser Tempel Anmut und Majestätisches; und schon oft habe ich darüber nachgedacht, wie es mich erfreut, in diesem Gebäude anmutige Schlichtheit mit einer robusten, massiven Festigkeit vereint zu sehen, wodurch einerseits jedes einzelne seiner Bauglieder zum Effekt lieblicher Schönheit postiert scheint, anderseits offenkundig alles hier für die Dauer geschaffen und fest gefügt ist.10 Nimm hinzu, dass hier durchgehend milde Wärme, sozusagen der Frühling haust: draußen Wind, Frost und Raureif; hier, im windgeschützten Inneren, laue, ruhige Luft; draußen sommerliche und herbstliche Schwüle, hier drinnen vollkommen temperierte Kühle.11 Und wenn wir, wie sie sagen, Freude empfinden, sobald sich unseren Sinnen dasjenige hinzufügt, wonach diese von Natur aus trachten, wer wird da noch zögern, diesen Tempel einen Hort der Freuden zu nennen? Wohin du auch schaust, siehst du hier jeden Teil zu Heiterkeit und Frohsinn dargeboten; immer ist hier feinster Wohlgeruch und, was ich mehr als alles andere schätze, du vernimmst hier in jenen Gesangsstimmen beim [Mess]Opfer und in dem, was die Menschen des Altertums Mysterien nennen,12 eine wunderbar wohlklingende Lieblichkeit.13 Dazu muss man sagen, dass all die übrigen Formen und Weisen von stetig sich wiederholenden Gesängen lästig sind und nur dieses religiöse Singen nie aufhört, dich zu ergötzen. Welche Begabung besaß jener Musiker Timotheos,14 Erfinder solch großartiger Kunst! Ich weiß nicht, wie es anderen ergeht. Für mich selbst kann ich versichern, dass diese Gesänge und Kirchenhymnen in mir vermögen, wofür sie ersonnen worden sind, wie es heißt: Über alle Maßen besänftigen sie in mir jede wie auch immer geartete seelische Erregung15 und versetzen mich in eine schwerlich zu beschreibende und, wie soll ich es nennen, sanfte Verlangsamung der Seele,16 die voller Ehrfurcht ist zu Gott. Und welches ach so mutige Herz findet man, das sich nicht selbst besänftigen würde, wenn es dem schönen und so anrührend und geschmeidig klingenden Auf und Ab jener vollen und reinen Stimmen lauscht? Ich versichere euch, dass ich in den Mysterien und bei Begräbniszeremonien nie die Tränen zurückhalten kann, wenn ich höre, wie mit jenen griechischen Versikeln in unseren menschlichen Nöten Gott um Hilfe angerufen wird.17 Und bisweilen staune ich und denke, mit welcher Kraft sie uns zu erweichen vermögen.18 Gerne will ich also glauben, dass man über Alexander den Makedonen19 sagt, Musiker hätten ihn singend zum Ergreifen der Waffen anfeuern wie zum Nachtmahl zurückrufen können.20 Aber tat ich recht? Womöglich unterbrach ich eure Gespräche, Niccola, und ließ mich über unpassende Dinge aus.

So lauteten bis hierher Agnolos Worte. Da antwortete Niccola ihm und sagte: Unsere Überlegungen waren keineswegs dergestalt, dass die euren nicht passten. Und wenn ich das Gemüt von Battista hier recht zu deuten weiß, kann ihm nichts gelegener und willkommener sein, als euch über gelehrte und ehrwürdige Dinge nachdenken und diskutieren zu hören. Und ich versichere euch: Er hegt große Ehrerbietung vor euch und liebt euch ganz so, wie eure Tugend und Autorität es verdienen. Zudem will ich euch wiedergeben, was ich oft von ihm gehört habe, nämlich dass allein zwei Männer ihm Zierde unserer Heimat, Väter des Senats und wahre Statthalter der Republik zu sein scheinen: Der eine ist sein Verwandter Giannozzo degli Alberti,21 der, wie er ihn im dritten Buch in seinem De familia22 beschreibt, ein guter Mensch und zutiefst humaner alter Mann ist; der andere seid ihr, den er Giannozzo in jedem Lob gleichzusetzen beliebt. Ihr seid im Senat die Ältesten, an Autorität die Ersten, an Integrität einzig.23 Hätte Giannozzo mehr Kenntnis in den Schriften besessen, würde ich sagen: Wo anders ließen sich zwei Männer finden, die so vollendet in allen Vorzügen oder einander so ähnlich sind in jedem Verdienst? Daraus möchte ich schließen, dass Battista, der euch stets Vater nennt und stets begierig und voller Freude ist, euch zu sehen und zu hören, diese eure Erwägungen wie auch mir in höchstem Maße willkommen und angenehm sein werden.24

Doch worüber wollen wir sprechen? Halten wir uns nicht auf mit der Beschreibung und Form dieses Tempels. Fragen wir nicht, wie schwer das Gewicht [der Laterne] auf dem lastet, der es zu tragen vermag, oder in welchem Maße das, was zu Anmut und Bewunderung gereichen würde, nicht zum Nachteil eingesetzt sei.25 Darüber wird andernorts zu diskutieren sein. Kommen wir zu dem, was ich gerne von euch hören möchte. Seid ihr, Agnolo, der Meinung, dass besagte Tonwechsel und der Zusammenklang von Stimmen die Seelen erheben und ihnen verschiedene Formen der Aufgeregtheit und Anrührung auferlegen können? Zu groß wäre doch die Macht von Battista hier, könnte er die Seelen mit seinen Musikinstrumenten dahin entführen, wohin es ihm beliebte.26 Und zuallererst wundere ich mich über unseren Philosophenfürsten Platon,27 der behauptete, neue Gesangsformen ließen sich dem Volke niemals ohne baldige öffentliche Unruhe unterbreiten.28 Dass diese oder jene Harmonie der Auslöser sein soll, eine ganze Republik umzustürzen, könnte ich niemals glauben, wollte selbst Platon mich davon überzeugen, und auch ihr würdet mir wohl kaum Beifall spenden, sollte ich ihm darin Glauben schenken.29 Sie mögen vielleicht sagen, dass es ein Anzeichen und Merkmal für etwas ist, das sie in der Folgezeit beobachten konnten; aber auch damit mag ich mich nicht begnügen. Andere sind die wahren Gründe, andere die wahren Indizien, die den nahenden Ruin der Republiken anzeigen, darunter die Unbescheidenheit, der Hochmut, die Unverfrorenheit der Stadtbewohner, Straflosigkeit für das Sündigen, das Dulden von Übergriffen auf Untergebene, die Konspirationen und kleinen ketzerischen Zusammenkünfte jener, die mehr Macht wollen, als ihnen zusteht, der verbissene Wille, sich guten Ratschlägen zu widersetzen, und ähnliche Dinge mehr, die euch bestens bekannt sind.30 Sie sind es, die Einsicht geben in künftige Zeiten, ob diese nun blühend oder widrig sein werden. Und ein anderer sagte zu Ehren seiner Kunst, dass die Seele des Menschen aus Harmonie und musikalischen Konsonanzen gebildet sei.31 Mich überzeugen sie damit nicht, noch sehe ich ein, wie die Seele auch nur irgendwie mit dem Getöse und Gelärme vielfacher Stimmen und Töne in Übereinstimmung sein soll.32 Nach meinem Urteil ist die Seele diesen ihren Regungen entweder unterworfen oder von ihnen genötigt oder ihnen hingegeben durch etwas, dessen Wesen ich nicht zu begreifen vermag, weshalb nicht nur die Musiker, sondern auch die Philosophen mit ihren vortrefflichen und überreichlichen Begründungen sie von den sie stets bedrängenden Sorgen weder weglenken können noch imstande sind, unseren Gedanken die Bitterkeit zu nehmen, in die unsere Seele sich, ich weiß nicht wie, zu verkrümmen scheint.33 Den ganzen Tag über verbringen wir im Angesicht trauriger Erinnerungen, unerfreulicher Aussichten, schwerer Kränkungen, die sich so sehr an unsere Seele klammern, dass wir uns unvermeidlich und, man darf es so sagen, all unserer Willensstärke zum Trotz quälen und fürchten und bekümmern müssen.34 Denn niemand ist so verrückt, als dass er nicht lieber froh als traurig wäre, nicht lieber voller Hoffnung als in Angst lebte. Und diese Philosophen glauben mit ihren Worten auslöschen zu können, was aufgrund seines Wesens solche Wirkung auf uns hat. Woher es rührt, weiß ich nicht. Und doch fühle ich, dass es in uns Sterblichen fest und fast unsterblich ist. Was es sei, das sich so heftig und hartnäckig darbietet, so gestehe ich euch, Agnolo, weiß ich nicht. Aber dass es ist, fühle und spüre ich, und es schmerzt mich.35 Ihr als besonnener Mensch werdet festlegen, wie darüber zu urteilen sei. Ich pflichte einstweilen demjenigen bei, der es für unmöglich hielt, ein solches Übel von uns fernzuhalten, es sei denn durch die Zeit, soll heißen, indem man jene Macht des Himmels und der Natur durch Erdulden erschöpft.36 Einen anderen Weg sehe ich nicht, die Verbitterung und Verhärtung der Seele zu vermeiden, die von den Ungerechtigkeiten des Schicksals und den widrigen Geschehnissen herrühren,37 welche uns aus unzähligen Richtungen treffen und beharrlich heimsuchen sowie unsere Sinne und unseren Geist in einer Weise beherrschen, dass nichts es uns erlaubt, sie zurückzuweisen oder zu vertreiben.

AGNOLO Ich sehe wohl, wie du bemüht bist, dich Battista hier gefällig zu erweisen; und es ist mir eine Freude, ihm Genüge zu leisten, weil er Gefallen daran hat, mir zuzuhören, und es sich hierbei gewiss um Überlegungen handelt, die eine Fortführung verdienen. Ich werde es dir, Niccola, in dieser Form der Erörterung gleichtun, der man wohl ansieht, dass du nicht deine wahre Meinung und dein Urteil äußerst, sondern mich dazu verleiten möchtest, die meine darzulegen. Wir werden also diskutieren und dabei berichten und sammeln, was jemand sagen könnte, der wie wir argumentierend die Sprüche der anderen zu widerlegen sucht, statt die eigenen bestätigt zu sehen.38 Und mir kommt jenes Streitgespräch von Xenophon39 in den Sinn, in welchem der Meder Araspas40 zu Kyros41 sagt, dass die Menschen zwei Seelen in sich trügen, von denen die eine den gerechten, redlichen und ehrenhaften Dingen in wahrer Liebe zugetan sei, während im Gegenteil die andere nach Nichtstun giere statt nach Betriebsamkeit, sich mehr dem Genuss als dem Studium achtbarer und erlesener Dinge hingebe und eher von Lust und Triebhaftigkeit als von Vernunft und Beständigkeit bewegt werde.42 Und dass er jene linke und gemeine Seele also bei dieser seiner Geliebten zurücklassen würde, während er die rechte, männliche mitzunehmen gedächte, mit der er die Pflicht gegenüber Kyros und an den Waffen erfüllen und, wo geboten, tugendhaft handeln würde.43 Und ich gestehe, dass ich selbst nicht von jener allumfassenden Tugend bin, als dass ich jene linke Seele ganz von mir auszuschließen vermag und mich nicht bisweilen in jenen Teil verirre, in dem, wie sie sagen, die Leidenschaften, Begierden, derlei Schmerzen, Hoffnungen und ähnliche Erregungen angesiedelt sind. Ihr seht mich hier in meinem bald neunzigsten Lebensjahr.44 Viele, Niccola, viele Drangsale habe ich in meinem Leben gesehen und viele erlitten und durch das Erdulden von all dem Schlechten schier Schwielen auf der Seele bekommen. Und wenn mir gelegentlich solche Schicksalsfälle unterkommen, kann ich doch nicht anders, als immer weiter darüber nachzudenken, und sehe mich dann von einem Schmerz und einer Traurigkeit erfasst, von der ich selbst nicht weiß, woher sie kommen mag und weshalb.45 Mich überwältigt die Empörung über zu viele empfangene Ungerechtigkeiten, mich ärgert die Dreistigkeit dieses und jenes Ehrgeizlings, mich belastet die Unverfrorenheit, die mangelnde Beherrschung und der rasende Impetus dessen, der losgebunden die Guten stößt, und da sage ich zu mir: Agnolo, was geht dich das an? Du bist hochbetagt an Jahren, es fehlt dir an nichts, was man sich vom Schicksal ersehnen und einfordern kann. Du hast eine klare und deinen Mitbürgern angenehme Seele. Leb’ doch, wie sie sagen, nur mehr um deiner selbst willen und nimm Gegebenes als gegeben hin. So kasteie ich mich selbst mit vielen dergleichen Ermahnungen, aber nichts hilft, wie ich’s mir wünschte, so sehr überwältigt es mich, die Dinge nicht in den geordneten Bahnen zu sehen, die ich ersehne und in die ich sie zu lenken trachte. Aber ich kann mich einfach nicht selbst besiegen.46 Und warum nicht? Weshalb sollte ich nicht können, was andere konnten, die zu Lebzeiten Männer waren, wie ich es jetzt bin? Wie viele haben in bitterharten Situationen Standhaftigkeit und wahre Mannhaftigkeit des Gemüts gezeigt?47 Und wer wird es uns verbieten wollen, als sei es nicht gestattet, sich den Widrigkeiten und Beschwernissen entgegenzustellen und sich jedweder Erregung durch besonnene Vernunft und Beratung zu entledigen?48 Wenn wir nur wollten, daran zweifle ich nicht, würden wir uns kraft der Tugend fest entschlossen zeigen und uns fest entschlossen auf gebotene Weise denen widersetzen, die uns schaden wollen, um dann festzustellen, dass wir nicht weniger sind als Menschen und auch nicht weniger können, als Menschen können; noch wird das, was uns die Zeiten auferlegen, jemals über die uns von der Natur zuerkannten Kräfte hinausgehen, will heißen das Aufeinanderfolgen und die Mannigfaltigkeit der von der Natur gelenkten Dinge.49 Sie schreiben, Sokrates50 sei von seiner zutiefst widerborstigen und aufdringlichen Ehefrau ständig schlecht behandelt und von seinen schrecklich schamlosen Kindern auf vielerlei Art im eigenen Hause beleidigt worden, desgleichen außerhalb seines Heims, wo ihn alle möglichen aufgeblasenen Schafsköpfe und ein paar jener Komödiendichter in einem fort bedrängten und ihm mit mancherlei Schmähungen zusetzten. Und obwohl er von so vielen Seiten angegriffen wurde, lebte er allen Schicksalsregungen und jeglicher Zerrüttung seiner Angelegenheiten zum Trotz mit ausgeglichenem Gemüt und nie veränderter Miene.51

Dies konnte Sokrates nicht von Himmels wegen, sondern aus sich selbst heraus; nämlich weil er wollte und es wollend konnte. Sokrates ist nicht der Einzige, der eine solche Haltung auf lobenswerte Weise vorführt: Man erzählt sich von vielen anderen, die ein ähnlich aufrechtes Gemüt besaßen. Zu ihnen zählte der Kyniker Diogenes,52 ein Mann, der in seiner extremen Armut abstoßend war und dafür erniedrigt und bisweilen geprügelt wurde. Und doch war er in der Lage und willens, seine Beschwerlichkeiten und die Schmähungen durch andere zu ertragen. Nichts sage ich über Pyrrhon,53 Heraklit,54 Timon55 und dergleichen Männer, die sich den [seelischen] Erregungen von sich aus und so standhaft, wie sie selbst bestimmten, aufrecht entgegenstellten und fest entschlossen waren gegenüber den Anstürmen ihres Schicksals.56 Perikles,57 der in Griechenland und unter seinen Mitbürgern als ausgezeichneter und erster Mann galt, ließ sich ein ganzes Abendessen lang bis in die tiefe Nacht hinein durch einen dreisten Verleumder schmähen.58 Noch verdienter machte er sich, als er in seiner Standhaftigkeit duldete, dass jener ihm sogar bis nach Hause folgte und dabei immer weiter Vorwürfe machte. Mehr noch, ohne die Miene zu verziehen und in gänzlich ungerührten Worten befahl er seinen Dienern, diesem beleidigenden und unhöflichen Mann Licht und Geleit zu geben, wohin er auch zu gehen wünschte. Perikles wollte sich also nicht dadurch selbst beschmutzen, dass er den Fehler des anderen abstrafte, und damit die an ihn herangetragene Erregung verweigern. Und da er sie nicht akzeptierte, machte er sie ganz leicht und löschte sie in dem Moment aus, in dem er, sie ertragend und sich selbst besiegend, beschloss, ein Mann zu sein und sich seiner Tugend würdig zu erweisen. Und wie erschien dir jener Metellus Numidicus,59 den seine römischen Mitbürger allein deshalb verjagten, weil allzu große Tugend in ihm leuchtete? Als dieser in Asien weilte, erreichte ihn mitten in einem Theaterstück, dem er beiwohnte, die Nachricht, dass die Heimat ihn begnadigte und mit großzügig bemessenen Pfründen zurückberief.60 Und ungeachtet seiner großen Freude bewahrte er Standhaftigkeit und ließ in seinen Gesten nicht die geringste Veränderung erkennen.61

Befinden wir also, dass Menschen, sei es in Blütezeiten, sei es in Widrigkeiten, aus sich heraus zu Dingen imstande sind, die viele zu können leugnen. Und ich wundere mich über ihr Urteil, das sie glauben lässt, unsere Begierden und Gelüste seien in diesen vergänglichen und flüchtigen Dingen nicht zu mäßigen, wo sie doch sehen, dass, wer sich nicht selbst aufgibt, auch den schwierigsten und misslichsten Dingen mehr entgegensetzen kann, als selbst die Natur ihm abverlangt. Wie viele haben mit unbesiegbarem und allerstärkstem Gemüt grenzenlose Qualen und unerträgliche Schmerzen erduldet! Und wer weiß nicht, dass, kaum dass die Gelüste gebändigt und die Begierden gezügelt sind, nichts in uns bleibt, aus dem irgendeine Form der Erregung sich zu erheben vermag? Können die Menschen also Dinge ertragen, die ihrem Wesen nach unendlich bitter und misslich sind, und die leichten und mühelos erreichbaren nicht? Mucius Scaevola62 fasste mit der Hand mitten ins Feuer,63 und Pompejus64 legte den Finger hinein.65 Und noch viele andere, die der Geschichtsschreiber Valerius66 gesammelt hat, sehen wir standfest und auf der Hut, nicht nur gegenüber den leichten Regungen der Seele, sondern auch gegenüber starken Schmerzen.

Doch weshalb berichten wir von diesen außerordentlichen Männern? Und sag mir, sehen wir nicht den ganzen Tag unsere niederen Diener, von ihrem Schicksal erdrückt, aufgerieben durch die Beschwernisse, elend von den Mühen, doch inmitten ihrer Nöte lachen und singen? Fragte man sie – warum lachst du? –, würden sie, wie ich meine, antworten: Weil es mir gefällt. – Und warum singst du? – Weil ich es so will und singen möchte und sorglos sein und mich freuen will. Lastet ihr Schicksal auf ihnen? Lastete es auf ihnen, würden sie sich nicht mit solcher Leichtigkeit dem Lachen und Singen hingeben. Und wenn es keine Last ist, woher kommt dies, wenn nicht davon, dass sie vernünftigerweise akzeptieren, was sie aus Notwendigkeit erleiden müssen? Sie machen deshalb durch ihr Wollen ihr Übel weniger schlimm oder sich selbst stärker, es zu ertragen; oder vielleicht weil sie von vornherein durch solches Wollen allein mit dem Willen jede Bedrängnis von sich stoßen.67