Übergänge in Schule und Lehrerbildung - Liselotte Denner - E-Book

Übergänge in Schule und Lehrerbildung E-Book

Liselotte Denner

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  • Herausgeber: Kohlhammer
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Die Erforschung von Übergängen hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem großen internationalen Forschungsfeld entwickelt. In diesem Kontext erfahren die institutionellen Übergänge (z.B. zwischen Elementar- und Primarbereich) bisher eine weitaus größere Beachtung als der große komplexe Zusammenhang, der letztlich alle unterschiedlichen Übergangsphänomene kennzeichnet. Dieser Blick auf das Ganze setzt voraus, Übergänge als neue Leitidee für Bildungsteilhabe und Lehrerbildung zu postulieren. Für eine theoriebasierte und zugleich anwendungsorientierte Reflexion der Phänomene und Verschränkungen, von denen Übergangssituationen grundsätzlich geprägt sind, will dieser Band sensibilisieren. Darüber hinaus werden pädagogisch und didaktisch fundierte Anregungen zur Übergangsgestaltung vorgestellt.

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Lehren und Lernen

Herausgegeben von

Andreas Gold

Cornelia Rosebrock

Renate Valtin

Rose Vogel

Liselotte DennerEva Schumacher

Übergänge in Schule und Lehrerbildung

Theorie – Übergangsdidaktik – Praxis

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

    Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

1. Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-023061-3

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-024971-4

epub:    ISBN 978-3-17-024972-1

mobi:    ISBN 978-3-17-024973-8

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Geleitwort

 

 

Die großen internationalen Vergleichsstudien zu Schul- und Schülerleistungen vom Beginn des Jahrhunderts haben spürbare Innovationen im gesamten Bildungssystem bis hinein in die konkreten unterrichtlichen Praktiken mit sich gebracht. Auch die Forschungslandschaft rund um das Lehren und das Lernen wurde durch diese Impulse nachhaltig beeinflusst und wirkt ihrerseits weiter auf die Entwicklung von Schule und Unterricht ein.

Eine der Lehren aus diesen Studien war die Anerkennung der Notwendigkeit von Interdisziplinarität: Lehren und Lernen, wissenschaftlich betrieben, kann nur durch das Zusammenspiel pädagogischer, psychologischer, fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Theorien und Befunde befriedigend erklärt und gesteuert werden. In der pädagogischen Praxis kann keine Lerntheorie ohne Bezug auf eine konkrete Inhaltsdomäne und keine Lehrmethode ohne Curriculumsbezug und ohne Beachtung der individuellen Lernvoraussetzungen erfolgreich sein. Die je eigenen Perspektiven und Erkenntnisse der Psychologie, der Pädagogik und der beiden schulisch zentralen Fachdidaktiken Mathematik und Deutsch, vertreten in den Disziplinen der Herausgebenden, sollen in den einzelnen Bänden dieser Reihe jeweils zu einem kohärente Gesamtbild zusammengeführt werden. Neben der Interdisziplinarität liegt besonderer Wert auf einer – weit verstandenen – Empirie: Erfahrungswissenschaftlich gewonnene Erkenntnisse zum Lehren und Lernen stehen jeweils im Mittelpunkt der Darstellung. Schließlich fokussieren alle Bände der Reihe den Anwendungsbezug: Die entfalteten Themen, Diskurse und Fachgebiete sind jeweils unmittelbar bedeutend für Schule und Unterricht. Insgesamt präsentieren die Bände die wichtigsten unterrichtlich relevanten Forschungsthemen und -ergebnisse aus den unterschiedlichen Disziplinen.

Die vorliegende Reihe umfasst thematisch den Vorschul-, Grundschul- und weiterführenden Schulbereich bis etwa zur zehnten Klassenstufe. Konzipiert ist sie für (zukünftige) Lehrende, auch für PädagogInnen und PsychologInnen in weiteren Anwendungsfeldern im Bildungssystem. Mit dem »Lehren und Lernen« werden die oben angesprochenen politisch-praktischen Veränderungen im pädagogischen und fachlichen Feld und in der Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern aufgegriffen, indem die Ergebnisse der empirischen Forschung in den zentralen Bereichen des Lehrens und Lernens aus interdisziplinärer Perspektive für professionelle Anwenderinnen und Anwender verständlich und kompakt dargestellt werden.

 

Andreas Gold, Cornelia Rosebrock, Renate Valtin & Rose Vogel

Inhaltsverzeichnis

 

 

Geleitwort

1

    

Einleitung

2

    

Erklärungsansätze zur Bestimmung von Übergängen

2.1 Begriffsklärung

2.2 Theoretische Grundlagen

2.2.1 Lebenslaufforschung: Übergänge als anthropologisches Faktum

2.2.2 Strukturfunktionalismus: Wie Kinder zwischen Familie, Kindertagesstätte und Schule unterscheiden und sich in diesen Kontexten bewegen lernen

2.2.3 Bindungsforschung: Impulse für eine professionelle Übergangsarbeit

2.2.4 Stresstheorie: Übergangssituationen als Stress auslösende Ereignisse

2.2.5 Ökopsychologischer Ansatz: Übergang im Netzwerk unterschiedlicher Lebenswelten

2.2.6 Kritische Lebensereignisse: Übergänge als Veränderungen mit besonderem Ausmaß

2.2.7 Transitionsmodell: Akteure und Moderatoren im Übergangsprozess

2.2.8 Resilienzkonzept: Was Kinder in Übergangssituationen stark macht

2.3 Weiterführender Erklärungsansatz für Didaktik und Lehrerbildung

3

    

Rahmenkonzeption mehrfach verschränkter Übergänge

3.1 Rahmenbedingungen

3.2 Übergangsvarianten

3.2.1 Normativ-institutionelle Übergänge

3.2.2 Spezifische Übergänge

3.2.3 Übergänge zwischen pädagogischen Kontexten

3.2.4 Entwicklungsübergänge

3.2.5 Bildungsübergänge

3.3 Vermittlung zwischen Biografie, Theorie- und Handlungswissen

3.3.1 Übergangsspezifische Berufsauffassungen

3.3.2 Übergangsbegleitung – eine zentrale Aufgabe für Pädagoginnen und Pädagogen

3.3.3 Übergangsgestaltung und institutionelle Vorgaben

3.3.4 Übergangsspezifische Gestaltung von Lehr-Lernsettings

4

    

Übergangskompetenzen, Übergangsbegleitung und Übergangsmanagement

4.1 Übergangskompetenz: Bedingung und Ergebnis von Lernprozessen

4.2 Dimensionen der Übergangskompetenz

4.3 Kompetenzansprüche in Übergangssituationen

4.4 Übergangsbegleitung: individuelle und gemeinschaftliche Leistungen

4.5 Wer lernt in Übergängen: Personen oder Systeme?

4.6 Übergangsmanagement: Gestaltungsbeiträge von (institutionellen) Akteuren, Systemen und Netzwerken

5

    

Erste Aspekte und Elemente einer Übergangsdidaktik

5.1 Begriffliche Klärungen und Standortbestimmungen

5.1.1 Allgemeine Didaktik und Bereichsdidaktik

5.1.2 Stufen- und kontextbezogene Didaktik

5.2 Systemische und berufsbezogene Bedingungen

5.3 Bestimmungsmerkmale

5.3.1 Ziele und Prinzipien

5.3.2 Inhaltliche Bezüge

5.3.3 Zeigen als didaktisches Grundprinzip

5.3.4 Theorien zur didaktischen Rahmung von Veränderungsprozessen

5.3.5 Kompetenzmodelle, Diagnostik und Entwicklungsangemessenheit

5.4 Übergangsbegleitung und übergangsspezifische Performanz

6

    

Übergangsspezifische Professionalisierung

6.1 Professionalisierung als Vermittlung zwischen Theorie, Praxis und Person

6.1.1 Erste Phase der Lehrerbildung: Hochschuldidaktische und schulpraktische Perspektiven

6.1.2 Zweite und dritte Phase der Lehrerbildung: Schulpraktische Perspektive

6.2 Institutionell geprägte Leitvorstellungen: Nähe und Distanz

6.2.1 Konvergenzen und Divergenzen zwischen Elementar- und Primarstufe

6.2.2 Konvergenzen und Divergenzen zwischen Primar- und Sekundarstufe

6.2.3 Transformation von Leitvorstellungen in Bildungsinstitutionen

6.3 Übergänge – eine Leitidee für Lehrerbildung und Bildungsteilhabe

6.3.1 Lehrerbildung – ein übergangsspezifisches Langzeitprojekt

6.3.2 Bildungsteilhabe durch Übergangsgestaltung

7

    

Professionelles Handeln in Übergangssituationen

7.1 Professionelles Handeln in normativ-institutionellen Übergangssituationen

7.2 Professionelles Handeln in spezifischen Übergangssituationen

7.3 Professionelles Handeln in Übergangssituationen zwischen unterschiedlichen pädagogischen Kontexten

7.4 Professionelles Handeln in Entwicklungs- und Bildungsübergängen

7.5 Professionelles Handeln im Kontext einer übergangssensiblen Lehrerbildung

8

    

Fazit und Ausblick

9

    

Literaturverzeichnis

10

    

Register

10.1 Sachwortregister

10.2 Personenregister

1         Einleitung

 

 

Recherchiert man in Google den Begriff ›Lebensübergänge‹ bzw. die Begriffskombination ›Übergänge und Leben‹, erhält man innerhalb weniger Sekunden Zugriff auf ca.1 020 000 hinterlegte Hinweise. Unter den Suchwörtern ›Übergänge und Bildung‹ sind es mit ca. 478 000 immer noch beachtlich viele Inhaltsbezüge, die das World Wide Web bereithält. Das Suchwort ›Übergangsgestaltung‹ liefert stattliche 377 000 und der Begriff ›Übergangsforschung‹ stellt immerhin noch ganze 6 820 Links zur Verfügung (Zugriff: 15.4.2013). Sicher mag es Suchbegriffe geben, die in den Suchmaschinen noch populärer vertreten sind, und mit großer Wahrscheinlichkeit ist davon auszugehen, dass der anspruchsvollere Nutzer und die anspruchsvolle Nutzerin nicht unter jedem angezeigten Link die erhofften qualitätsvollen Informationen findet. Ungeachtet dessen erstaunt aber dennoch, dass ein gesellschaftlich an sich allgegenwärtiger, banal scheinender und allen Menschen vertrauter Vorgang wie der, von einem Lebens- oder Bildungsabschnitt zum anderen zu wechseln, von solch großem allgemeinen Interesse ist. Was begründet diese starke öffentliche Präsenz des Übergangsbegriffs? Wie lässt sich der Begriff definieren? Wie lassen sich Übergänge erklären und was hat die Übergangsforschung zur Erhellung und Bestimmung des im erziehungswissenschaftlichen Bereich mittlerweile zentralen Begriffs beigetragen?

Im Hinblick auf diesen offensichtlich zugenommenen Bedeutungszuwachs scheint folgerichtig, dass die empirisch basierte, interdisziplinäre und internationale Auseinandersetzung mit der Übergangsthematik in den letzten Dekaden einen großen Aufschwung genommen und sich damit diesen Fragen angenähert hat. Seither wird Bildungsübergängen, wie z. B. dem Wechsel vom Kindergarten in die Grundschule oder dem Übertritt in die weiterführenden Schulen, eine bedeutsame und gestaltbare Schnittstellenfunktion zugewiesen. Die in den einschlägigen Erklärungssätzen zur Übergangsthematik zu findenden Merkmalbeschreibungen, wie zum Beispiel normativ, konform, vertikal, alltäglich, horizontal, allgemein, spezifisch, markant, vorgegeben, unscheinbar, erwartet, unerwartet, latent, labil, kontinuierlich, diskontinuierlich, deuten die Vielfalt und Ausdifferenziertheit der (möglichen) Phänomene und Herausforderungen an, die den Prozess des Durchschreitens von biografischen Statuspassagen kennzeichnen.

Diese in der Tradition des Klassikers der soziologischen Übergangsforschung von van Gennep (1999) stehende, seit Beginn des 20. Jahrhunderts thematisierte Komplexitätserweiterung hat bis heute nicht an Aktualität eingebüßt: »Am Beispiel des Übergangs zwischen Jugend und Erwachsenensein lässt sich zeigen, dass sich Übergänge verlängern, diversifizieren, widersprüchlich werden, ja zu eigenen Lebenslagen führen« (Stauber & Walter, 2004, S. 47ff.), wie die Metapher Yoyo-Übergänge treffend zum Ausdruck bringt.

Im Hinblick auf die stetige, künftig noch weitergehende Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften und Bildungssysteme entfaltet der vorliegende Band ein mehrperspektivisches Verständnis von Übergängen als erziehungswissenschaftliche Leitidee fürBildungsteilhabeundLehrerbildung (Denner, 2007b). Zum einen wird den an Bildungsinteresse undBildungsteilhabe gebundenen Übergängen und ihren immanenten Herausforderungen in den vorliegenden Überlegungen eine zentrale Bedeutung beigemessen. Zum anderen geht es mit Blick auf die bedeutsame Rolle der in der Mitverantwortung stehenden Lehrkräfte ferner darum, die Übergangsthematik explizit in den Kontext der Lehrerbildung einzubinden. Diese stärkere Berücksichtigung der Lehrerperspektive ist mit der Zielsetzung verknüpft, neue Impulse für ein tiefer gehendes Verstehen und Gestalten von Übergangsprozessen zu generieren.

Wie schon der Begriff Leitidee impliziert, liegt diesen Überlegungen ein breiter Übergangsbegriff zugrunde, der komplexe, ineinander übergehende und sich überlappende Wandlungsprozesse in der (Bildungs-)Biografie eines Menschen einschließt (Welzer, 1993, S. 37). Folgerichtig liegen Anspruch und Herausforderung darin, Transitionsprozesse unter Berücksichtigung zugleich aber auch unabhängig von (länger) zurückliegenden biografiespezifischen Vorerfahrungen als besonders anforderungsintensive Phasen innerhalb eines Lebenslaufs anzuerkennen.

Letztlich folgt dieser Ansatz dem empirischen Befund, dass sich Übergänge zum einen in verändernden Kontexten vollziehen. In Abhängigkeit von individuell und institutionell verfüg- und nutzbaren Ressourcen und Erwartungen können sie zum anderen aber auch kurz oder länger anhaltende Stresssituationen auslösen, sowie Impulse zu einer positiven Weiterentwicklung geben.

An dieser Komplexität setzt die im vorliegenden Band dargelegte Rahmenkonzeptionmehrfach verschränkterÜbergänge an (Denner, 2007b). Dieser Ansatz beschreibt die als markant bezeichneten, im Lebenslauf üblicherweise vorgegebenen Übergängezwischen den Stufen des Bildungssystems. Diese normativ-institutionellen Übergänge werden von den gesellschaftlichen und bildungspolitischen Rahmenbedingungen deutlich mit konfiguriert.

Darüber hinaus kommen vielfältige Übergänge, die sich im Professionalisierungsprozesswährend und zwischen den drei Phasen derLehrerbildung (Studienbeginn und wissenschaftliche Ausbildung mit Schulpraktika, Referendariat, Fort- und Weiterbildung) vollziehen, zur Sprache. Aufgrund ihrer großen gesellschaftlichen und pädagogischen Relevanz bedürfen diese individuellen Übergänge auch in der Lehrerbildung einer besonderen Beachtung.

Letztlich werden weitere, nicht minder komplexe Übergänge identifiziert, die bislang ausgeblendet blieben. Diese sich nicht auf den ersten Blick erschließenden Übergänge treten parallel auf. Sie können den markanten Übergängen innewohnen oder diesen vor- oder nachgelagert sein. Aufgrund dieser Komplexität bedürfen gerade auch diese verborgenen Übergänge einer gründlichen Analyse und anspruchsvollen Beachtung, Unterstützung und Bewältigung. Gemeint sind Übergänge in der körperlichen, sprachlichen, kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklung sowie in der Selbstkonzept-Entwicklung des einzelnen Kindes oder Jugendlichen.

Die Fokussierung dieser komplexen Zusammenhänge im Übergangsgeschehen erfordert, über die gängige Berücksichtigung der einschlägigen psychologischen, soziologischen und erziehungswissenschaftlichen Sichtweisen hinaus zu gehen. Auch die bisher ebenfalls kaum beachteten Verschränkungsmechanismen sollten mit in den Blick genommen und angesichts der Komplexität ihrer prozessualen Vorgänge anhand des Aufspürens und Beschreibens ihrer Einzelwirkungen erhellt werden.

Damit rückt neben den schulischen und außerschulischen Bildungsinstitutionen und Sozialisationskontexten sowie den schon bekannten Dispositionen und Handlungsstrategien der Akteure und agierenden Personengruppen die didaktische Ebene ins Blickfeld. Denn dort, wo für Kinder und Jugendliche Bildungs- und/oder Entwicklungsübergänge aufeinander treffen, wie etwa beim mathematischen oder schriftsprachlichen Lernen am Schulanfang, zwischen dem Erstsprachhandeln in der Familie und dem Gebrauch der deutschen (Zweit-)Sprache in der Schule, oder im Spannungsfeld zwischen schulischer Bildung und Nachhilfeeinrichtung, ist Lernen angesagt. Mit der mittlerweile als konsensfähig geltenden Erkenntnis, dass Lernprozesse in der Interaktion des Individuums mit dem (umweltlichen) Kontext konstruiert werden, gewinnt die vermittelnde und unterstützende Rolle professioneller Lernbegleitung an Bedeutung. Diese Begleitung ist schon deshalb geboten, weil die Entstehung von Wissen und Kultur ohne den Dialog und das In-Beziehung-Setzen der betroffenen und beteiligten Akteure nicht denkbar ist.

In diesem Sinne führt der vorliegende Band mit theoretischem und methodischem Anspruch wie folgt in das spezifische Konstrukt mehrfach verschränkterÜbergänge ein: Neben einer kompakten und zugleich fundierten Darlegung der grundständigen Übergangstheorien folgt das Buch einer praktischen Ausrichtung mit Fallbeispielen, Praxisstudien und vertiefenden, zur Selbstreflexion anregenden Fragen und Aufträgen. Diese Vorgehensweise ist mit der Zielsetzung verknüpft, den pädagogisch interessierten Leserinnen und Lesern den Nutzen des Zusammenhangs zwischen Theorie- und Handlungswissen transparent zu machen. Mit Blick auf die mit dem Lehrwerk im erziehungswissenschaftlichen Bereich arbeitenden (Lehramts-)Studierenden liegt die Hauptintention überdies und insbesondere jedoch darin, diesen die hohe Relevanz und die zentralen Aspekte einer übergangssensiblenProfessionalisierung zugänglich zu machen.

Einem gänzlich innovativen Weg folgt die Zielsetzung, der Theorie eine didaktische Dimension zur Seite zu stellen und damit Bausteine für eine Übergangsdidaktik zu beschreiben und zur Diskussion zu stellen. Die Ausführungen des vorliegenden Bandes verstehen sich insofern als theoriebasierte und anwendungsorientierte Impulse für eine Übergangsdidaktik.

2         Erklärungsansätze zur Bestimmung von Übergängen

 

 

Die Klärung der mit dem vorliegenden Buch verknüpften Zielsetzungen und Fragestellungen setzt voraus, die einschlägigen soziologischen, psychologischen und erziehungswissenschaftlichen Theoriebezüge bzw.Übergangstheorienin ihren Grundzügen aufzunehmen. Beispielhaft ergänzt werden diese durch die Ergebnisse der empirischenÜbergangsforschungund durch eine erweiterte Konzeption für Didaktik und Lehrerbildung. Fallbeispiele und hieran anschließende Aufträge regen zum (gemeinsamen) kritisch-reflexiven Mit- und Weiterdenken an und fordern Leserinnen und Leser dazu auf, eigene Beiträge zur weiteren Theorieentwicklung zu leisten.

2.1       Begriffsklärung

Dem Übergangsbegriff haftet eine hoheKomplexität an. Die diesbezüglich entstandene Unübersichtlichkeit spiegelt sich letztlich auch im Begriffsverständnis der unterschiedlichen Bezugswissenschaften wider. In Abhängigkeit der jeweils fachspezifischen Erkenntnisinteressen und Forschungslage rückt entweder die psychologische, die soziologische bzw. sozialisationstheoretische oder die erziehungswissenschaftliche Sicht stärker in den Fokus.

Welzer (1993) ist um ein umfassendes Begriffsverständnis bemüht, indem er Übergänge als ineinander übergehende, sich überblendende und insofern schwer durchschaubare und bestimmbare Wandlungsprozesse beschreibt, die sich an der Schnittstelle zwischen dem Handlungs- und Bewältigungsvermögen eines Individuums und den jeweils bestehenden gesellschaftlich-institutionellen Anforderungen vollziehen. Weiter wird davon ausgegangen, dass sich in diesen Phasen verschiedenartige Belastungen anhäufen, die Anpassungsleistungen und Veränderungen auf der individuellen, interaktionalen und kontextuellen Ebene erfordern (Griebel & Niesel, 2004, S. 35).

Neben dieser mehrkontextuellen Perspektive fließen sozialökologische Einflüsse (Bronfenbrenner, 1980) und die von Lazarus (1995) entwickelte Stresstheorie in das Begriffsverständnis ein, von welchen das von Griebel und Niesel (2004) entwickelte Transitionsmodell geprägt ist. Dieses Theoriemodell bezeichnet Übergänge als Transitionen, die sich auf Lebensereignisse beziehen, die eine Bewältigung von Veränderungen in mehreren definierten Lebensweltkontexten erfordert. Diesbezüglich ist der Einzelne in der Auseinandersetzung mit seinem sozialen System auf individueller, interaktionaler und kontextueller Ebene dazu aufgefordert, bedeutsame biografische Erfahrungen zu sammeln, die ihren Niederschlag in der Identitätsbildung finden (Griebel & Niesel, 2004, S. 36). In Anbetracht der unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen ist eine Disziplin- bzw. Theoriegrenzen überschreitende Definition gesucht, die eine eingängige allgemeineBegriffsbestimmung zu leisten vermag. Impulse hierzu liefert Abbildung 2.1.

Abb. 2.1: Strukturmerkmale von Übergängen

Betrachtet man die einzelnen Elemente in Abbildung 2.1, lassen sich folgende Festlegungen ableiten:

•  Der die vier Rechtecke umschließende Rahmen zeigt an, dass Übergangsprozesse in sich geschlossen sind, d. h. dass sie in zeitlicher Hinsicht einen Anfang und ein Ende haben, und dass sie – sozioökologisch betrachtet – in spezifische Kontexte eingebunden sind.

•  Die Rechtecke bringen zum Ausdruck, dass das Übergangsgeschehen soziale und persönliche Erwartungen sowie institutionelle und persönliche Potenziale beinhaltet, die in unterschiedlichem Umfang miteinander in Beziehung stehen.

•  Die Zeitachse mit dem über den Rahmen hinausweisenden Pfeil, zeigt an, dass es sich bei Übergängen nicht um einen einmaligen Vorgang handelt, sondern dass das menschliche Leben durch unbestimmt viele Übergänge gekennzeichnet ist. Überdies teilt die Zeitachse das Übergangsfeld in zwei Hälften (eine zurückliegende und eine prinzipiell unvorhersehbare zukünftige Lebenswelt) und weist diesem damit eine Schnittstellenfunktion zu.

•  In diesem Zusammenhang veranschaulichen die beiden in den Rahmen hineinreichenden, d. h. mit dem Übergangsprozess verbundenen Rundpfeile, dass Übergänge – in Abhängigkeit von der Passung bzw. Nichtpassung der jeweils vorherrschenden Erwartungen und Ressourcen – einen Entwicklungssprung oder einen Rückschritt einleiten können.

•  Der unübersehbar dicke Punkt in der Mitte bringt die zentrale Bedeutung zum Ausdruck, die Übergängen und ihrer Bewältigung im Hinblick auf die Lebensgestaltung von Menschen zukommt.

Aus den obigen Erläuterungen lässt sich zusammenfassend der folgende allgemeine Definitionsversuch ableiten:

    Der Begriff Übergänge(syn. Transitionen) bezeichnet die biografiespezifisch unterschiedlich häufig auftretenden und verschiedenartig geprägten Veränderungsprozesse im menschlichen Lebensverlauf. In Abhängigkeit von der Passung bzw. Nichtpassung der sozialen und individuellen Erwartungen, Potenziale und Ressourcen bestimmt die Bewältigungsqualität das künftig folgende Übergangserleben und Bewältigungsverhalten maßgeblich mit. Grundsätzlich können diese Prozesse erfolgreiche oder aber auch misserfolgsorientierte Entwicklungen nach sich ziehen.

Fallbeispiele1

1.    Markus, Einzelkind, 6 Jahre alt, wurde vor wenigen Wochen eingeschult. Bis vor kurzem hatte er den Kindergarten und zuvor eine Kindertagesstätte besucht. Seine Eltern sind beide berufstätig, aber kümmern sich stets verantwortungsvoll darum, dass Markus zuverlässig betreut wird. Nach Feierabend und am Wochenende unternimmt die kleine Familie viel miteinander. Die Tiere im Zoo interessieren Markus besonders. Neben den Erzieherinnen in Markus’ Kindergarten und Hort sind Nachbarn und gute Freunde als Bezugspersonen in seine Betreuung eingebunden. Da Markus’ Vater und Mutter auch künftig berufstätig bleiben und sich die bisherigen Bezugspersonen auch weiterhin einbringen, hat sich an Markus’ Betreuungssituation – abgesehen von den neuen schulischen Anforderungen – kaum etwas geändert. Markus geht gern zur Schule, hat Freude am Lernen und fühlt sich mit seinen Lehrerinnen und in der Klassengemeinschaft wohl.

 

2.    Schulanfänger Jonas, 6 Jahre alt, lebt seit vier Jahren mit seiner nicht berufstätigen Mutter und seiner kleinen Schwester in einem schönen Einfamilienhaus mit Garten. Da sich die Eltern kürzlich getrennt haben und an Scheidung gedacht wird, ist fraglich, ob die bisherige Wohnsituation beibehalten werden kann. Drei Wohnungen hat Jonas mit seiner Mutter und Schwester schon angeschaut, aber bisher hat keine gepasst. Jonas sieht seinen Vater derzeit an jedem zweiten Wochenende, eine endgültige Regelung der geteilten Betreuungszeiten haben die Eltern noch nicht vereinbart. Offen ist auch noch, ab wann Jonas’ Mutter wieder ihren Beruf ausüben wird. Zwar verdient der Vater recht gut, aber das Geld wird wohl nicht reichen, um zwei Haushalte auf Dauer zu finanzieren. In der Schule ist Jonas oft traurig, und eigentlich würde er viel lieber spielen als Lesen und Schreiben zu lernen oder sich mit den Zahlen zu beschäftigen. Am schönsten findet er, wenn die Lehrerin eine Geschichte vorliest.

 

3.    Nina, 7 Jahre, besucht schon vier Jahre den Kindergarten. Meistens ist sie nur am Morgen da, die Nachmittage verbringt sie zu Hause mit ihrer nicht berufstätigen Mutter und ihren zwei größeren und zwei kleineren Geschwistern. Ihr Vater ist die Woche über im Schichtdienst in einem Labor tätig und ruht sich am Wochenende am liebsten aus. Seit der Kinderarzt bei Nina vor drei Jahren Entwicklungsverzögerungen im motorischen Bereich sowie eine Hyperaktivität diagnostiziert hat, stehen am Nachmittag häufig Termine bei der Ergotherapeutin an. Die psycho- und spieltherapeutische Betreuung ist vor einem Jahr ausgelaufen, nachdem die Krankenkasse die Kosten hierfür nicht mehr übernehmen wollte. Zu Hause hat Nina am Rande mitbekommen, dass ihre Eltern sich sorgenvoll über ihren anstehenden Wechsel zur Schule austauschen und auch darüber, welche Schule die passende ist. Auch Ninas Kindergartenfreundinnen und -freunde unterhalten sich im Kindergarten häufig über ihren bevorstehenden Schuleintritt und freuen sich darauf. Ihre künftige Lehrerin hat sie schon einige Male im Kindergarten besucht, und in der nächsten Woche steht ein Besuch bei ihr in der Schule an. Nina hingegen fühlt sich nicht ganz wohl in ihrer Haut und gibt sich verhalten. Sie spürt, dass ihre Situation noch ungeklärt ist.

Aufträge – reflexiv und diskursiv

1.    Wodurch sind die unterschiedlichen Lebenslagen, in denen sich Markus, Jonas und Nina befinden, gekennzeichnet?

2.    Mit welchen schulischen Erwartungen werden Markus, Jonas und Nina konfrontiert?

3.    In welchem Passungsverhältnis stehen die individuellen Erwartungen bzw. Potenziale der drei Kinder und die Erwartungen, die von der Institution Grundschule ausgehen?

4.    Vergegenwärtigen Sie sich und veranschaulichen Sie die Wirkkraft der individuellen Ausgangslagen von Markus, Jonas und Nina sowie des jeweiligen subjekt-institutionsbezogenen Passungsverhältnisses (falls Sie in einer Gruppe arbeiten ggf. anhand eines Rollenspiels).

2.2       Theoretische Grundlagen

Dieses Kapitel beschreibt überblicksartig das breite Spektrum der einschlägigen Grundlagen- undÜbergangstheorien. Diese Gesamtschau hat zum Ziel, die einschlägigen Theoriebezüge in leicht verständlicher Form darzulegen und damit die Grundlagen zu vermitteln, die zum Aufbau eines umfassenden Verständnisses sowie zu einem fundierten Austausch über übergangsrelevante Fragestellungen erforderlich sind.

2.2.1     Lebenslaufforschung: Übergänge als anthropologisches Faktum

Zu den großen Begründern der Übergangsforschung zählt der belgische Soziologe und Durkheim-Schüler Arnold van Gennep (1873–1957). Seine soziologischen Studien weisen zum ersten Mal auf den anthropologischen Befund hin, dass es das Leben selbst ist, »das die Übergänge von einer Gruppe zur anderen und von einer sozialen Situation zur anderen notwendig macht« (van Gennep, 1999, S. 15). Sein diesbezügliches wissenschaftliches Interesse galt vor allem den Strukturen, die etablierten Übergangsriten(les rites de passage) zugrunde liegen. Sein bis in die Gegenwart wissenschaftlich anerkannter Verdienst ist die Erkenntnis, dass die das menschliche Leben seit alters her strukturierenden Rituale keine isolierten, in sich geschlossene Begebenheiten oder Höhepunkte darstellen, die auf ihre jeweils spezifische Art begangen, betrauert oder gefeiert werden. Vielmehr existieren in unterschiedlichen Gesellschaften verschiedenartige, in einem größeren Zusammenhang stehende Typen von Übergangsriten, die sich durch das ganze soziale Leben hindurch ziehen. In diesem Zusammenhang kann davon ausgegangen werden, dass Übergangsriten (im Sinne des verbindenden Korridors) in früheren, nicht-industrialisierten Gesellschaften (aufgrund der hier noch klaren Differenzierung zwischen Alters- oder Geschlechtergruppen, Familien oder Stammesgruppen) deutlich voneinander abgegrenzt waren. Dieses hat nach van Gennep zur Folge, dass sich der Wechsel von einer in die andere Phase oder Gruppe in diesen Gesellschaften noch übersichtlich und kontrollierbar gestalten konnte. Ein Fakt, der zur Stabilisierung und somit zum Erhalt der gesellschaftlichen Ordnung beitrug. In neueren und stärker ausdifferenzierten modernen Gesellschaften hingegen, die u. a. durch eine zunehmende ökonomische Spezialisierung und Arbeitsteilung geprägt sind, verschwimmen diese Grenzen zunehmend und verlieren ebenso an Bedeutung wie die verbindenden Riten selbst.

Anhand der Analyse der inneren Mechanismen sowie der Bedeutung, Funktion und Logik dieser Riten konnte van Gennep drei Phasen identifizieren, nach denen sich Übergangsriten vollziehen. Diese schon 1909 grundgelegte van Gennep’sche Dreiphasenstruktur wurde später von anderen Soziologen wieder aufgegriffen und weiterentwickelt. Hiernach vollziehen sich Übergänge zunächst in einer ersten Trennungsphase (rites de separation) im Sinne einer Abnabelung vom Alten. Danach folgt eine Schwellenphase (rites de marge), die zwischen Altem und Neuen tariert, gefolgt von einer Angliederungs- bzw. Anpassungsphase (rites d’agrégation). Erst wenn dieser dreistufige Vermittlungsprozess abgeschlossen ist, ist eine kontemplative Plattform erreicht, die durch Transparenz, Struktur und Klarheit gekennzeichnet ist. Auf dieser kann sich eine die Gesellschaft notwendiger Weise erhaltende Passung zwischen Individuum und gesellschaftlicher Struktur wieder einstellen. Hieraus folgt die Notwendigkeit, Übergänge von zwei unterschiedlichen Perspektiven aus zu denken, und zwar von der »Struktur der Gesellschaft und ihrer Institutionen und von der Subjektivität und vom Handeln der Individuen her« (Stauber & Walther, 2004, S. 47).

In Verbindung mit dem heutigen rasanten gesellschaftlichen Wandel führt diese für die gesamte weitere sozialwissenschaftliche Forschung wegweisende Einsicht etwa ab den 1970er Jahren zur Etablierung und Verstetigung der Lebenslaufbzw. Biografieforschung. Als wesentliche Folge der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen konstatierte diese im Hinblick auf die fortschreitende Pluralität und Individualität unserer Gesellschaft eine allgemein zunehmende Vermehrung von Übergängen. In diesem Gesamtzusammenhang kommt der schulischen Lebenswelt und den daran gebundenen institutionell geprägten Bildungsübergängen und ihren Folgen für die individuelle Lebensgestaltung und -entwicklung von Kindern und Jugendlichen eine zentrale Rolle zu (Tippelt, 2004, S. 7). Diesbezügliche Fragestellungen werden im Kontext der Kindheits- und Jugendforschung bearbeitet.

Im Kern lassen sich die aus der Biografieforschung gewonnenen Daten zu der Erkenntnis bündeln, dass die fortschreitende Pluralisierung und Individualisierung unserer Gesellschaft insgesamt einen entstandardisierenden Einfluss auf die Lebensverläufe von Menschen haben, insbesondere auch von Kindern und Jugendlichen. Das bedeutet, dass Biografien heute nicht mehr einem vorhersehbaren, plan- und gestaltbaren Ablauf (im Sinne der früheren Normalbiografien) folgen, was mit Unsicherheiten und Risiken behaftet ist. Nach dem Münchener Soziologen Ulrich Beck lässt sich das Leben in der Postmoderne unter Abbau des Wohlfahrtstaates als Experiment mit offenem Ausgang beschreiben, das neben positiven Entwicklungen u. U. auch die Gefahr möglicher Bruch- und Zusammenbruchbiografien in sich birgt (Beck, 1986). Es kann angenommen werden, dass Bildungsübergänge und Bildungsabschlüsse hierbei eine ebenso zentrale Schlüsselrolle einnehmen wie Bildungsabbrüche oder die Erfahrung des Scheiterns. Denn diese tragen maßgeblich dazu bei, welche Lebensperspektive ein junger Mensch einnimmt und auf welche Weise die aus seinem Lebensumfeld erhaltenen Impulse und Strukturen Einfluss darauf nehmen, diese Perspektive zu festigen oder flexibel und ergebnisoffen zu halten. Von entscheidender Bedeutung ist, von welchem Grundverständnis der jeweilige Umgang mit Heterogenität in der Schule geprägt ist (Heinzel & Prengel, 2002, Trautmann & Wischer, 2011, Valtin, 2009, Wenning, 2007).

Fallbeispiele

1.    Franz Maier kam im Jahr 1930 zur Welt, besuchte die Grundschule und das Gymnasium und studierte danach – wie schon sein Großvater und Vater – Allgemeinmedizin. Nach Abschluss seines Studiums im Jahr 1958 stieg er in die väterliche Arztpraxis im Münchener Umland ein, übernahm diese später ganz und zog nach München um. In Zusammenarbeit mit einem Kollegen baute er seine Praxis in bester Lage zu einer gut florierenden Gemeinschaftspraxis aus, während seine Frau Gerda sich um die zwei gemeinsamen Kinder und das gemütliche Heim kümmerte. Mit Erreichen der Altersgrenze übergab er seinen Praxisanteil an einen jungen Arztkollegen zu einem stattlichen Geldwert. Herr Dr. Maier hat auch im Ruhestand ein großzügiges und gesichertes Einkommen und ist insofern in der Lage, sein Leben als Pensionär gemeinsam mit seiner Frau so zu gestalten, wie er es sich früher immer vorgestellt hatte.

 

2.    Jürgen, der einzige Sohn der Familie Franz und Gerda Maier, wurde 1968 geboren. Da er sich nach seinem Abitur eher den Sozialwissenschaften zugeneigt fühlte, entschloss er sich zu einem Soziologiestudium. Nach Abschluss des Studiums gestaltete sich die Stellensuche schwierig. Notgedrungen musste Jürgen seinen Lebensunterhalt anders als gedacht finanzieren. Zuerst nahm er eine Tätigkeit als Taxifahrer an, später gewährte ihm das Arbeitsamt die Teilnahme an einer Umschulungsmaßnahme zum Bankkaufmann. Diese Ausbildung schloss Jürgen ab und fand eine gute Arbeitsstelle, doch schon nach drei Jahren spürte er, dass er diese Tätigkeit nicht längerfristig ausüben kann. Als 45-Jähriger hat Jürgen eine 450-Euro-Beschäftigung in einem Kinderheim inne und kellnert nebenher. Da das Einkommen seiner Lebensgefährtin (39 Jahre alt) ebenfalls geringfügig ist, haben sich die beiden bisher nicht an die gewünschte Familiengründung mit Kindern gewagt. Unabhängig von den bestehenden finanziellen Unsicherheiten und der fehlenden Familienperspektive sind beide sozial gut eingebunden und leben recht zufrieden.

 

3.    Herrmann Klinger ist im Jahr 1956 geboren. Seine alleinerziehende Mutter lebte von Sozialhilfe, nachdem sie sich von ihrem alkoholabhängigen Mann und Herrmanns Vater getrennt hatte. Da die Mutter in der Betreuung ihrer sechs Kinder überfordert war, zog Herrmann auf Veranlassung des Jugendamtes mit neun Jahren zur Pflegefamilie Becker. Dort lebte er insgesamt sieben Jahre. Nach drei Jahren wurde Frau Becker unerwartet doch noch schwanger und brachte Sohn Wolfgang zur Welt. Herrmann genoss die Zeit mit seinem kleinen Halbbrüderchen, zumal der neue Familienzuwachs keine negativen Veränderungen in der Beziehung zwischen ihm und seinen Pflegeeltern mit sich brachte. Nach seinem Realschulabschluss mit sechzehn Jahren verließ Herrmann seine Pflegefamilie, zog mit Freunden in eine Wohngemeinschaft, absolvierte eine Ausbildung zum Chemielaboranten. Nach einigen Jahren Berufstätigkeit begann er berufsbegleitend mit dem Abendgymnasium und holte sein Abitur nach. Staatliche Studienförderungsprogramme und seine Zielstrebigkeit ermöglichten ihm zu studieren und sein Lehramtsstudium und Referendariat mit großem Erfolg abzuschließen. Im Anschluss daran reiste Herrmann gemeinsam mit seiner Freundin für ein Jahr um die Welt. Danach begann er an seinem Wunschgymnasium die Fächer Englisch und Sport zu lehren. Dieser Tätigkeit geht er bis heute mit Freude nach. Herrmann lebt gemeinsam mit seiner Frau, die ebenfalls im Lehramt tätig ist. Ihre zwei erwachsenen Kinder haben mittlerweile das Elternhaus verlassen, sodass wieder viel Zeit zum Reisen bleibt.

Aufträge – reflexiv und diskursiv

1.    Reflektieren Sie die Lebensverläufe von Franz und Jürgen Maier sowie die Biografie von Herrmann im Zusammenhang mit den im Theoriekapitel explizierten Biografiebegriffen (Normal-, Bruch- und Zusammenbruchbiografie).

2.    Wie stellen Sie sich die Varianten einer Zusammenbruchsbiografie vor? Beschreiben Sie ein oder mehrere Fallbeispiele.

3.    Überlegen Sie (gemeinsam), welche Bedeutung in diesem Zusammenhang erfolgreiche Bildungsabschlüsse sowie der Abbruch eines Bildungsgangs haben können.

2.2.2     Strukturfunktionalismus: Wie Kinder zwischen Familie, Kindertagesstätte und Schule unterscheiden und sich in diesen Kontexten bewegen lernen

Wie van Gennep interessierte sich auch der amerikanische Soziologe Talcott Parsons(1902–1979) für den Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Strukturen und den in diesen lebenden Menschen. Aus der Entwicklung seiner wissenschaftlichen Argumentation und Theoriebildung ist erkennbar, dass er primär die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung und weniger die Interessen der sich darin bewegenden Individuen im Fokus hat (Parsons, 1985). Diesbezüglich beschäftigt ihn zentral die Frage, welche Beiträge die verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen für die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Gesamtsystems leisten und wo deren Funktionalitäten oder Dysfunktionalitäten für die Aufrechterhaltung übergeordneter Strukturen liegen.

Zusammenfassend betrachtet geht es Parsons vor allem um die Funktionsweisen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Subsysteme, die der Anpassung der einzelnen Menschen dienen und insofern dafür Sorge tragen, dass diese reibungslos funktionieren. Da Parsons den Menschen per se als gänzlich sozialisierbares Wesen beschreibt (was ihm den Vorwurf einbrachte, ein übersozialisiertes Menschenbild zu haben), weist er den frühen Kindheitsjahren – und damit auch der Grundschule – eine überragende doppelte Bedeutung zu: Einerseits übernimmt die Grundschule die wichtige Aufgabe, bei Kindern die Bereitschaft und Fähigkeit anzubahnen, den Anforderungen vieler ihrer späteren Erwachsenenrollen zu genügen. Zum anderen übernimmt die Grundschule aber auch eine Allokationsfunktion, d. h. sie weist den Schülerinnen und Schülern am Ende der Grundschulzeit unterschiedliche Bildungslaufbahnen zu und nimmt insofern die erste leistungsbezogene Grobsortierung für die Belange der Berufswelt vor.

In diesem Zusammenhang hat Parsons sogenannte Pattern Variables (variable Verhaltensstrukturen) postuliert, die Auskunft über die normative Grundstruktur der Sozialbeziehungen in der Familie und in der Schule geben (Knörzer, Grass & Schumacher, 2007, S. 180). Danach pendelt das Grundschulkind in einem normativen Spannungsfeld zwischen den in der Familie und den in der Grundschule geltenden Wertorientierungen und zu erwerbenden Kompetenzen. Dieser Auspendelprozess ist durch insgesamt fünf Gegensatzpole gekennzeichnet. Der in den folgenden Gegensatzpaaren jeweils erstgenannte Pol betrifft die partikularistischen, d. h. die nur in derFamilie geltenden Orientierungen. Der zweite Pol bezeichnet die universalistischen, d. h. die übergeordneten Orientierungen im öffentlichen Raum, die hier hinsichtlich derGrundschule gelten:

1.    Affektivität im Familienumfeld versus Affektive Neutralität in der Grundschule

2.    Diffusität versus Spezifität

3.    Partikularismus versus Universalismus

4.    Zuschreibung/Qualität versus Leistung

5.    Selbstorientierung versus Kollektivorientierung

Die Diskrepanz zwischen den Erwartungsprofilen in Familie und Schule für Kinder im Grundschulalter ist noch relativ überschaubar (in gewisser Weise dient die Grundschule diesbezüglich als Vermittlungsstufe, auf der die Kinder behutsam aus der Familie in den öffentlichen Raum überwechseln). In den höheren Klassen der weiterführenden Schulen hingegen verschieben sich die normativen Werte bzw. Anforderungen zunehmend in den öffentlich-institutionellen Bereich. In diesem Kontext gibt das strukturfunktionalistische Erklärungsmodell von Parsons darüber Auskunft, wie Kinder lernen, zwischen Verhaltensanforderungen im privaten und öffentlichen Leben zu unterscheiden, bzw. auf welche Weise Kinder sich allmählich in die Öffentlichkeit hinein entwickeln (Knörzer, Grass & Schumacher, 2007, S. 177 ff.).

Fallbeispiele

1.    Schulanfängerin Lisa wächst in einem Elternhaus auf, in dem Konflikte offen ausgetragen werden. Ihren Eltern ist es sehr wichtig, dass sie lernt, sich selbst und ihre Bedürfnisse sensibel wahrzunehmen. Daher bestärken sie Lisa, ihre Gefühle offen zu zeigen. Als sich Lisa in einer Streitsituation in der Schule lauthals wütend zeigt und von ihrer Klassenlehrerin in ihre Grenzen gewiesen wird, versteht sie die Welt nicht mehr. Beleidigt und verunsichert berichtet sie zu Hause von dem Vorfall in der Schule.