Umgang mit Sterbefasten - Christiane zur Nieden - E-Book

Umgang mit Sterbefasten E-Book

Christiane zur Nieden

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Beschreibung

Seit der Veröffentlichung ihres Erfolgsbuches "Sterbefasten", in dem Christiane zur Nieden den Prozess des Sterbefastens ihrer Mutter liebevoll und eindringlich schilderte, haben sich zahlreiche Menschen mit ihren eigenen Geschichten bei der Autorin gemeldet. So entstand ein reger Austausch, in dem Christiane zur Nieden und ihr Mann Hans-Christoph sowohl fachliche als auch mentale Unterstützung leisteten. Die Autoren haben diese Fallbeispiele von freiwilligem Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit am Lebensende gesammelt und kommentiert. Die Geschichten zeigen, dass auch medizinische Laien die Begleitung von Sterbefastenden durchführen können und machen dabei deutlich, wie individuell der Prozess ablaufen kann: alleine, im Kreis der Familie, in Heimen, im Hospiz. Die Erfahrungsberichte thematisieren sowohl durchgeführte Begleitungen als auch nicht ausgeführtes oder sogar abgebrochenes Sterbefasten sowie Sterbefasten bei Demenz.

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Seitenzahl: 229

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Christiane zur Nieden, geb. 1953, studierte Romanistik und Geschichte in Münster. Sie arbeitete jahrelang in einer Praxis für Allgemeinmedizin. Sie ist ehrenamtliche Sterbe- und Trauerbegleiterin, außerdem Heilpraktikerin für Psychotherapie und Beraterin für Kommunikation am Lebensende, Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht. Gemeinsam mit ihrem Mann Hans-Christoph hält sie Vorträge und bietet Beratung für Kommunikation und Probleme am Lebensende an.

Hans-Christoph zur Nieden, geb. 1951, hat Philosophie, Germanistik und Sozialwissenschaften in Bochum und Humanmedizin in Marburg studiert. Seit 1987 arbeitete er als Arzt für Allgemeinmedizin und ließ sich zum qualifizierten Palliativarzt (QPA) weiterbilden. Bis 2011 war er in eigener Praxis tätig.

Christiane zur Nieden,Hans-Christoph zur Nieden

Umgang mit Sterbefasten

Fälle aus der Praxis

Mit einem Geleitwort von Barbara Rütting

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren AutorInnen und zum Verlag finden Sie unter: www.mabuse-verlag.de.

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Umschlagabbildung: Laura zur Nieden, Wiesbaden

Lektorat: Inga Westerteicher, Bielefeld

Satz und Gestaltung: Björn Bordon, MetaLexis, Niedernhausen

ISBN: 978-3-86321-428-9

eISBN: 978-3-86321-493-7

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Buch ist Christa und Edith

und allen anderen gewidmet,

die uns ihre Geschichte anvertrauten,

und damit der Selbstbestimmung

jedes Einzelnen.

Euer Mut sei uns Vorbild!

Richte dein Streben dahin,

dass der Name des Todes

seinen Schrecken verliert.

Mach ihn dir

durch häufiges Nachdenken vertraut,

damit du,

wenn es die Umstände erfordern,

ihm sogar entgegengehen kannst!

Lucius Annaeus Seneca

Inhalt

Geleitwort

Einleitung

1Begleitung der Begleiter

1.1Übersicht über vorgestellte Begleitungen

2Erfahrungsberichte über durchgeführte Begleitungen zu Hause

2.1Begleitung von Edith durch ihre Tochter Susan: „Hut ab vor dieser Frau!“

Exkurs: Erlebtes und Erinnertes

2.2Begleitung von Johanna durch ihre Tochter: „Eine erfüllte Zeit“

2.3Begleitung von Detlev durch seine Ehefrau: „Das ist mein Weg!“

2.4Begleitung von Irmgard durch ihre Kinder: „Es ist gut so, wie es ist.“

2.5Begleitung von Paul durch seine Großfamilie: „Eine wirklich vorbildliche Familie“

2.6Begleitung von Erna durch ihre Tochter: „Es war für mich nicht leicht, aber eine natürliche und liebevolle Erfahrung.“

2.7Begleitung von Anna: „Ich bin keine Freundin vieler Worte.“

Exkurs: Kommunikation

3Erfahrungen mit Sterbefasten in Heimen

3.1Begleitung von Agnes: „Wir halten Ethik hoch.“

3.2Begleitung von Jakob: „Ab jetzt wiegen wir nicht mehr.“

3.3Begleitung von Helga: „Wenn ich sag, ich will nicht, dann will ich nicht, basta!“

4Erfahrungen mit Sterbefasten im Hospiz

4.1Begleitung von Christa durch ihre Familie und das Hospizteam: „Sie brauchte keinen Plan B.“

4.2Problemfeld Sterbefasten und Hospiz. Elfriede: „Sie sind nicht austherapiert.“

5Erfahrungsberichte von abgebrochenem Sterbefasten

5.1Begleitung von Martha durch ihren Ehemann: „Unverzeihliches Verhalten“

5.2Begleitung von Paula: „Ich bin anonym.“

6Sterbefasten bei Demenz

6.1Begleitung von Walter durch seinen Freund Rüdiger: „Wenn du um Trinken bettelst und ich dir nichts geben soll, ist das für mich, wie selbst Hand anzulegen.“

7Erfahrungen mit geplantem Sterbefasten

7.1Begleitung von Karl: „Ich wünschte, ich hätte einen bösartigen Krebs!“

Exkurs: Spannungsfeld zwischen Hoffnung und Eigenverantwortung

7.2Interview mit Rudolf: „Es ist genug!“

8Umgang mit alleinstehenden Sterbefastenwilligen

8.1Gespräch mit Ingrid: „Ich habe weder Verwandte noch Freunde.“

9Schlussbetrachtung

10Anhang: Wichtige pflegerische Aspekte bei Sterbenden/Sterbefastenden

11Literaturverzeichnis

Dank

Geleitwort

Was für ein tröstliches Buch! Christiane und Christoph zur Nieden, sie Sterbe- und Trauerbegleiterin, er Palliativmediziner, haben in ihrem neuen Buch „Umgang mit Sterbefasten“ 18 Fälle sterbefastender Menschen dokumentiert, die sie mit unerschöpflicher Geduld sehr liebevoll und dabei erfrischend nüchtern begleitet haben.

Wie die meisten der geschilderten Fälle empfinde auch ich die Aussicht, einmal Unterstützung und Begleitung beim Sterbefasten zu erhalten, sollte das Dasein total unerträglich geworden sein, als äußerst beruhigend. So ist wohl auch die Heiterkeit und geradezu gute Laune der Sterbefastenden zu erklären, über die von den sie Begleitenden oft berichtet wird. Das können der Ehepartner, die Kinder, eine Großfamilie, ein Freund oder eine Freundin oder ein Hospizteam sein.

Jeder Fall verläuft anders, ob es nun darum geht, nach wie vielen Tagen des Fastens der Tod eintritt – im Allgemeinen wohl innerhalb von 14 Tagen –, ob und wie stark auftretender Durst wahrgenommen wird, und manchmal, aber selten wird das Fasten auch abgebrochen.

Es wird so viel in der Öffentlichkeit diskutiert, dass jedes Sterben würdevoll sein sollte – „die Würde des Menschen ist unantastbar“. Was aber unter würdevoll zu verstehen ist, hat nicht der Staat zu entscheiden oder irgendeine Institution, sondern jeder einzelne Mensch für sich allein.

Besonders ergriffen hat mich der Fall von Edith. Weniger der Sterbeprozess an sich, sondern dass diese elf intensiven Tage, die Edith mit ihrer Tochter Susan verbringen durfte, offensichtlich die glücklichste Zeit war, auf die Mutter Edith in ihrem 88-jährigen, emotional eher kargen Leben zurückblicken konnte. Die beiden schafften es, viel Verdrängtes, aber auch Versäumtes in ihrer beider Leben aufzuarbeiten und zu bereinigen. Edith brachte es sogar fertig, ihrem Vater zu verzeihen. Der hatte sich statt eines Mädchens einen Stammhalter gewünscht und dem Leben der ungeliebten Tochter eine fatale Richtung gegeben − mit einem einzigen Satz: „Heul nicht, es interessiert niemanden, wie es dir geht!“

Diese Ablehnung durch den Vater hatte Ediths gesamtes Leben geprägt.

Nie hatte ihr jemand zugehört. „Wohl deshalb erzählt sie jetzt so viel“, meint die Tochter, „Sie erzählt und erzählt… sagt, dass sie weiß, dass sie bald nicht mehr erzählen kann und jetzt alles raus muss. […] Seit meine Mama vom Sterbefasten und damit von der Möglichkeit, ihr Leben selbstbestimmt zu beenden, gehört hat, geht es ihr mental richtig gut, denn sie hat Aussicht auf einen Ausweg.“

Am sechsten Fastentag notiert Christiane zur Nieden: „Edith ist zusammen mit Susan im Keller, um aufzuräumen. Jetzt sitzt Edith am Computer und spielt Skat. Ihre Kraft lässt allmählich nach. Der Besuch mittags erschöpft sie zusätzlich, sodass sie Mittagsschlaf hält. Sie ist gut gelaunt und genießt die Massage durch ihre Tochter.“

Und am siebten Fastentag: „Susan genießt ebenfalls die intensive Verbindung mit ihrer Mutter, die es in dieser Zeit des engen Zusammenhalts schafft, besonders herzlich und sogar körperlich mit ihr umzugehen. Ein liebevolles, zärtliches Verhalten, dass sich Tochter Susan sicherlich schon oft früher im alltäglichen Leben gewünscht hat. Susan notiert im Protokoll: ‚Für mich ist es schlimm, dass mir die Pflege Spaß macht. Es ist so schön, sie zu verwöhnen. Wenn es nach mir ginge, könnte das noch Wochen so weitergehen. Aber ich weiß ja, das genau will sie ja nicht.‘“

Am achten Tag notiert Christiane: „Im Laufe des achten Tages wird Edith immer wackeliger auf den Beinen, beklagt langsames Denken und immer quälender werdenden Durst. Edith stellt fest, dass den Mund auszuspülen ‚tausendmal besser ist, als kleine Schlückchen zu trinken‘. […] Abends erklärt Edith, dass ‚es noch drei Tage dauern wird‘, so steht es in Susans Aufzeichnungen. Sie spüre es, da sie immer schwächer würde. Drei Tage später ist Edith tot!“

Die beiden Autoren verheimlichen nicht, dass es beim Sterbefasten auch Probleme gibt. Manchen Sterbewilligen dauert es zu lange, sie können es nicht erwarten, dass der ersehnte Tod eintritt. Der häufigste Konflikt für die Begleitenden besteht darin, wenn Sterbewillige ihnen das Versprechen abgenommen haben, auf keinen Fall etwas zu trinken anzureichen, sollte in einer späteren Phase auch noch so sehr darum gebettelt werden.

Der Durst in einer bestimmten Phase des Sterbeprozesses ist den Berichten nach mal leichter, mal schwerer zu ertragen – aber, wie alle Begleiter bestätigen, das ist nichts verglichen mit den sich über Jahre hinziehenden Qualen, die z. B. meine eigene Mutter durchleiden musste. Ich habe damals in meiner Verzweiflung, ihr nicht helfen zu können, ein Gedicht geschrieben:

Meine Mutter

In Schaumgummi verpackt von Kopf bis Fuß so wund

schmerzverkrümmte Finger nicht mehr zu öffnen

meine Mutter.

Petersilie lallt ihr Mund ohne Gebiss

die Kinder kommen und wieder ist keine Petersilie im Haus!

Haben wie sie so ausgepowert

der Krieg oder einfach das Leben?

Es wird schon lügt der Arzt

wir stärken das Herz es wird schon!

Nichts wird.

Die Kehle ihr zudrücken das müsste ich

aber ich habe nicht den Mut.

Und muss zusehen

wie sie langsam krepiert

meine Mutter.

Wir fünf Geschwister haben unsere geliebte Mutter über Jahre von einem Arzt zum anderen geschleppt, zu uns nach Hause, von einem Krankenhaus ins andere, in der Hoffnung, ihr helfen zu können − aber als sie endlich gehen konnte, still und bescheiden, wie sie war, und dann doch überraschend, war niemand von uns Kindern bei ihr, um ihre Hand zu halten.

Für mich ist jedenfalls die Vorstellung, das Sterbefasten gegebenenfalls in Anspruch nehmen zu können, ungemein tröstlich, und ich werde alles daran setzen, dass ein Gesetz geschaffen wird, damit eine Begleitung durch Ärzte und Pflegepersonal straffrei ist.

Deshalb habe ich 2016 auf der Plattform change.org eine Petition für die Forderung eines solchen Gesetzes gestartet: „Gestorben wird Zuhause − Ja zum begleiteten Sterbefasten! Dafür brauchen wir ein Gesetz!“ (https://www.change.org/p/gestorben-wird-zuhause-ja-zum-sterbefasten) Ende Februar 2019 hatten bereits über 42.000 Menschen unterzeichnet, Privatpersonen wie auch Ärzte und Pflegepersonal.

Danke liebe Christiane und lieber Christoph für Euren Mut, dass Ihr das Thema mit all seinem Für und Wider aufgegriffen habt.

Barbara Rütting

Schauspielerin, Autorin, Politikerin und Friedensaktivistin

Einleitung

Susan: „Hilfe, hat jemand Erfahrung mit dem Thema ‚Sterbefasten‘? Meine Mama ist fest entschlossen, ab Montag mit dem Essen und Trinken aufzuhören. Weiß jemand etwas über dieses Thema oder hat sogar schon einmal jemanden dabei begleitet?“

Christiane zur Nieden: „Liebe Susan, ich habe das Buch ‚Sterbefasten‘ geschrieben, da meine Mutter mit 88 Jahren auch diesen Schritt gegangen ist, nichts mehr zu essen und zu trinken. Die 13 Tage, die unsere Familie sie im Sterben begleitet hat, waren ganz berührend und wertvoll für uns alle. Kennst Du das Buch? Ich schreibe dort viele Dinge, die Dir eventuell die Pflege erleichtern würden.

Ruf doch einfach mal an, vielleicht kann ich Dir ja schon etwas die Angst nehmen, es nicht schaffen zu können.

Liebe Grüße

Christiane zur Nieden“

Susan: „Ich weine aus Dankbarkeit über Deine Antwort auf meine Anfrage! Natürlich habe ich Dein Buch gelesen. Und meine Mama hat es richtig durchgearbeitet, mit Post-its und Markern. Dank Deines Buches kennen wir erst diesen Weg. Vorher hat meine Mama viele Möglichkeiten überlegt, die alle nicht sicher oder schmerzhaft oder verboten sind. Sie ist zuversichtlich, dass dies ihr Weg ist und dass sie es schafft. Die Ängste habe alle nur ich. Ich stehe voll hinter ihr, vermisse aber ärztliche Unterstützung und habe Angst, dass Zustände auftreten, denen ich nicht gewachsen bin. Wir wohnen in Mecklenburg, leider sehr weit weg von Euch. Ich rufe gern an! Sag Du bitte, wann es Dir passt.“

Dieser Dialog fand am Samstag, den 20. Januar 2018 statt und war die Kontaktaufnahme mit Susan in einem „Sterbebegleitungs-Forum“ in den sozialen Medien. Daraus entwickelte sich ein intensiver täglicher Austausch, der bis heute zu einer herzlichen Freundschaft geworden ist. Zwei Wochen lang waren mein Mann und ich telefonisch und per SMS eng an der Seite von Tochter Susan, die liebevoll ihre Mutter Edith, die fest zum Sterben entschlossen war, begleitete. Gerne erinnern wir uns auch noch an ein Telefonat, dass wir am vierten Tag des Sterbefastens mit Edith persönlich führen konnten, in dem sie sich bei uns herzlich für die Begleitung ihrer Tochter bedankt. Ebenso erlaubte sie uns, die Aufzeichnungen ihrer Tochter wie auch die kleinen Videosequenzen für unsere Arbeit nutzen zu dürfen, damit mehr Menschen über diese Möglichkeit des Sterbefastens aufgeklärt würden.

Wir werden in diesem Buch darüber hinaus Fälle vorstellen, in denen Familienangehörige und andere Zugehörige Sterbefastende begleitet haben. Das Spektrum reicht von der Begleitung durch einzelne Angehörige, z. B. der Ehefrau, bis hin zur Begleitung durch eine Großfamilie.

Bei all diesen Begleitungen haben sich die Angehörigen per Mail oder per Telefon an uns gewandt, meist mit der Bitte um praktische Hinweise. Diese Begleitungen fanden fast alle zu Hause statt. Jedoch gehen wir auch auf unsere Erfahrungen mit Begleitungen in Pflegeheimen und Hospizen ein. Einen kleinen Teil unserer Berichte verwenden wir auf Fälle, in denen Sterbefasten nicht ausgeführt bzw. abgebrochen wurde oder erst für die Zukunft angedacht ist.

Seit dem Erscheinen unseres Buches „Sterbefasten“ (2016) haben uns viele Menschen kontaktiert. Es kommen Dankesbriefe für die offene und einfühlsame Beschreibung des Für und Wider dieses selbstbestimmten Sterbens unserer Mutter. Als Kritikpunkt an unserem Buch wird die „zu ideale Konstellation: Schwiegersohn Palliativmediziner und Tochter Sterbebegleiterin“ angebracht. So kamen wir durch die häufigen Anrufe von Angehörigen Sterbefastender, Sterbefastenwilliger oder Sterbefastender selbst auf die Idee, auch diese Fälle der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, damit erkennbar wird, dass es nicht notwendig ist, einen medizinisch versierten Begleiter an der Seite zu haben, um diesen Sterbeprozess gut durchführen oder begleiten zu können.

Der Sterbeprozess des Sterbefastens ähnelt im Verlauf dem physiologischen Sterben. Es ist ein natürlicher Vorgang, bei dem eine biologische Kettenreaktion des Körpers mit ganz charakteristischen Zeichen und Stationen abläuft. Sterbefastende verweigern Essen und Trinken und dadurch trocknet der Körper allmählich aus. Durch das Fasten stellt sich nach und nach der Hungerstoffwechsel ein und es entsteht langsam eine Sauerstoffunterversorgung des Gehirns. Dadurch werden endogene Opiate gebildet, die Schmerzen lindern, beruhigend und stimmungsaufhellend wirken. Dieser Prozess lässt sich in drei Phasen gliedern:

1. Phase: völliges Bewusstsein

2. Phase: Schwächung und Eintrübung

3. Phase: Nierenversagen durch Dehydrierung

Letztendlich führt die Dehydrierung zum Tode.

Der folgende Kasten enthält eine Übersicht wichtiger Daten zum Sterbefasten meiner Mutter Jacqueline. Diese Übersicht findet sich am Anfang fast aller vorgestellten Begleitungen als Orientierungshilfe zu den Sterbefastenden.

Bei den vielen telefonischen Anfragen wird häufig um weitere Informationen, Vorträge und Seminare gebeten. Wir erhalten zudem Erfahrungsberichte von selbst erlebten Begleitungen bei Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit am Lebensende. So hat sich im Laufe der letzten zweieinhalb Jahre bei uns eine Art „Kummerkastenanlaufstelle“ für Begleiter von Sterbefastenden und Sterbefastende etabliert. Wir werden in vielen Fällen um Rat und praktische Tipps gebeten, häufig im Bereich der Mundpflege und der palliativen Symptomkontrolle. Das Feedback, das wir auf unsere oft nur einmaligen Telefongespräche bekommen, ist durchweg positiv und zeigt uns bis heute, dass es unbedingt notwendig ist, eine offizielle „Ansprechstelle für Probleme oder Fragen beim Sterbefasten“ einzurichten, damit die Angehörigen ihre schwere Aufgabe gut ausführen können.

Uns ist es ein großes Anliegen, den Menschen, die sich zu einer Begleitung Sterbefastenwilliger bereit erklären, Hilfe, Beratung zum Für und Wider oder Zuspruch zukommen zu lassen. So hilft manchen Begleitern schon ein einzelnes Telefonat und die Gewissheit, im Notfall eine Anlaufstelle zu haben, wo sie ihren Kummer oder ihre Sorgen ansprechen konnten, ohne moralischem Druck ausgesetzt zu sein. Allein dieses Wissen vermittelt die notwendige Sicherheit, um die gesamte Begleitung des Sterbeprozesses dann doch alleine zu meistern.

Die Behauptung aus Kreisen der Palliativversorgung (vgl. Feichtner/Weixler/Birklbauer 2018, Seite 109), dass eine Begleitung nur mit aufwendiger pflegerischer und ärztlicher Betreuung möglich sei, hat sich bei unseren hier vorliegenden Fällen nicht bestätigt. Vielmehr ist uns deutlich geworden, dass eine allein auf familiären Kräften beruhende Begleitung gut gelingen kann, wenn im Hintergrund eine Austauschmöglichkeit besteht. Die hausärztliche Rolle beim Sterbefasten scheint zwar hilfreich zu sein2, erfolgte aber bei unseren Fällen eher aus dem Hintergrund heraus. So war z. B. in einem Fall ein Arzt ständiger Ansprechpartner in seiner Praxis, ohne jemals einen Hausbesuch gemacht zu haben.

Wir wollen auch kurz mit einem Beispiel auf die Problematik des Sterbefastenwunsches bei demenziell erkrankten Menschen eingehen. Im Anfangsstadium der Erkrankung ist es unter Umständen noch zu bewerkstelligen, seinem Leben durch Sterbefasten ein Ende zu setzen, bevor der Erkrankte immer wieder vergisst, dass er nicht essen und nicht trinken will. Im fortgeschrittenen Stadium ist es jedoch unmöglich, einen bewussten freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit durchzuführen und durchzuhalten. Jedoch gilt es gerade bei dieser Krankheit, eine besonders gute Vorsorge (Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht) auf den Weg zu bringen, damit im fortgeschrittenen Prozess der Erkrankung die eigenen Wünsche und Vorstellungen auch in die Tat umgesetzt werden und einer Übertherapie am Lebensende nicht Tür und Tor geöffnet wird. Hier gilt es, sich schon frühzeitig zu informieren, um sich eine persönliche Meinung bilden zu können. Nur so lässt sich Vorsorge betreiben, soweit diese überhaupt möglich ist.

Es gibt jedoch auch Fälle, in denen wir bedauerlicherweise mit unseren Ratschlägen nicht weiterhelfen können. Das sind die psychisch Kranken. Bei manchen Telefonaten stellt sich uns die Frage, ob beim Anrufer eine seelische Erkrankung vorliegt und dessen Freiverantwortlichkeit hinterfragt werden muss. In anderen Fällen machen uns die Anrufer ganz offen darauf aufmerksam, dass sie psychisch erkrankt sind. Es sind in der Regel verzweifelte Menschen, die meist schon eine jahrzehntelange Odyssee durch verschiedene psychiatrische Kliniken mit Zwangsaufenthalten hinter sich haben. Meist sind wir ganz betroffen von der mit großer Offenheit und abgrundtiefer Verzweiflung geschilderten Krankengeschichte. Es handelt sich bei diesen Anrufern um Menschen mit Sterbewunsch aus einer völligen Verzweiflung heraus, einer Lebens-, Therapie- und Psychiatrieüberdrüssigkeit mit dem einzigen Wunsch nach Beendigung des für sie nicht mehr ertragbaren Lebens. Auch wenn wir nur schwer Rat geben konnten, war es uns besonders wichtig, gerade diesen Menschen wenigstens ein offenes Ohr und Zeit zu schenken. Psychisch erkrankte Menschen mit Sterbewunsch haben in unserer Gesellschaft keinerlei Lobby, sodass ihnen meist nur aushalten oder ein heimlicher Suizid als „Lösung“ bleiben.

1 Die Bewertungsskala stützt sich auf eine amerikanische Studie in Oregon, bei der Pflegekräfte befragt wurden, wie sie rückblickend den Sterbeverlauf von sterbefastenden Patienten auf einer Skala von 0 als schrecklichst vorstellbarer Tod bis 9 als friedlichst vorstellbarer Tod beurteilen (vgl. Ganzini et al. 2003, Seite 359−365).

2 In einer niederländischen Studie waren Hausärzte nur in 62 % der Sterbefastenfälle involviert (vgl. Bolt et al. 2015, Seite 421−428).

1Begleitung der Begleiter

Am 6. November 2015 verabschiedete der Bundestag das Gesetz § 217 StGB, das die „geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“ unter Strafe stellt. Der Gesetzestext lautet exakt:

„(1) Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Als Teilnehmer bleibt straffrei, wer selbst nicht geschäftsmäßig handelt und entweder Angehöriger des in Absatz 1 genannten anderen ist oder diesem nahesteht.“3

Auch wenn die Regelungen im § 217 kurz und knapp formuliert sind, bereiten sie uns und sicherlich auch anderen Nichtjuristen und Juristen in ihrer Tragweite große Probleme. So meint z. B. der Medizinrechtler Oliver Tolmein, dass das Zulassen von Sterbefasten keine Beihilfe zum Suizid sei:

„Unabhängig davon, ob man Sterbefasten als Suizid versteht oder als Handlung sui generis [eine eigene Handlungsweise, Anm. d. Autoren], bringt das Zulassen des Sterbefastens oder auch die irgendwann erforderlich werdende Basisversorgung niemanden in die Bredouille.

Es wird hier nämlich nicht Beihilfe zum Suizid geleistet […]. Es ist keineswegs geboten, einen Menschen, der sich zu Tode hungern will, gegen seinen Willen zu ernähren. Solange der oder die Betroffene aus freiem Willen handelt.“ (Tolmein 2016, Seite 16)

Die Probleme und Unsicherheiten in Bezug auf eine mögliche Strafverfolgung aufgrund des neuen Paragrafen beziehen sich vor allem auf die Arbeit von Haus- und Palliativärzten, die „geschäftsmäßig“ (auf Wiederholung angelegt) arbeiten, und die mehrfach (daher auch „geschäftsmäßig“) Begleitenden von Sterbefastenden, z. B. Hospizbegleiter.

Wenn sich jedoch ein Sterbewilliger freiwillig, selbstbestimmt und selbstverantwortlich zum Sterbefasten entscheidet, dann kann er von seinem Angehörigen straffrei begleitet werden.

Hilfreich finden wir in diesem Zusammenhang eine Erläuterung aus den Bekanntmachungen des Deutschen Ärzteblatts, die aufzeigt, was als nicht freiverantwortlich gilt:

„Ein Suizid ist nach der Rechtsprechung nicht freiverantwortlich, wenn dem Suizidenten die Einsichts- und Urteilsfähigkeit fehlt, um die Tragweite und Bedeutung seines Entschlusses zu erkennen oder die Fähigkeit abzuwägen und sich nach seiner Einsicht zu richten (z. B. aufgrund von Alter, Krankheit, psychischer Störung oder Alkohol- bzw. Drogeneinfluss). Er ist ebenfalls nicht freiverantwortlich, wenn der Entschluss zur Selbsttötung auf Zwang, Drohung oder Täuschung beruht, es an einer tiefen Reflexion über den eigenen Todeswunsch fehlt oder der Entschluss nicht von innerer Festigkeit und Zielstrebigkeit getragen ist.“ (Bundesärztekammer 2017, Seite C 286)

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Angehörige als meist absolute Laien in dieser Begleitung sterbenswilliger Menschen ausdrücklich straffrei gestellt werden, während professionelle Begleiter wegen der „Geschäftsmäßigkeit“ ihres Handelns beim Sterbefasten mit Strafe bedroht sind. Bei uns erweckt das den Verdacht, dass auf diese Weise vom Gesetzgeber intendiert wird, durch die Hintertür suizidale Handlungsweisen am Lebensende zu erschweren bzw. zu verhindern. So bleiben trotz oder gerade wegen des neuen Gesetzes viele Unsicherheiten, die vermutlich nicht nur Sterbewillige, sondern auch Ärzte, Betreuer und Berater abschrecken werden – sicherlich auch sollen!

Daraus folgt, dass Susan ihre Mutter auf jeden Fall begleiten durfte, ohne rechtliche, strafbare Konsequenzen fürchten zu müssen. Ist nun die Begleitung einer straffreien Begleitung ebenfalls erlaubt? Für uns steht außer Frage, dass dieses mit Ja beantwortet werden muss, und wir stützen uns dabei auch auf Aussagen aus der Hospizbewegung.

So formuliert Roland Hanke, leitender Palliativmediziner des Palliativ-Care-Teams Fürth, dass „eine Beratung zum FVNF (Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit) nicht nur erlaubt, sondern geradezu gefordert“ (Hanke 2016, Seite 21) sei.

Diesem Gebot sind wir bei unseren Begleitungen gefolgt und möchten diese Erfahrungen im Umgang mit Sterbefasten bzw. dem „freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit“ allen Interessierten mitteilen.

1.1Übersicht über vorgestellte Begleitungen

Mit dieser Übersicht möchten wir allen Lesern Gelegenheit geben, sich bereits vor dem Einstieg in die Lektüre zu orientieren. Vielleicht besteht bei dem einen oder anderen der dringende Wunsch, zuerst einen Fall zu lesen, der dem eigenen ähnelt.

Name

Jahr

Alter

Dauer/Tage

Ort

Begleiter

Arzt

Pflege

Krankheit

Edith

2018

89

11

zu Hause

Tochter

ja

ja

multimorbid

Johanna

2018

92

12

zu Hause

Tochter

ja

nein

multimorbid

Detlev

2017

84

37

zu Hause

Ehefrau

ja

nein

Apoplex

Irmgard

2017

85

8

zu Hause

Familie

ja

ja

multimorbid

Paul

2017

82

11

zu Hause

Familie

ja

ja

multimorbid

Erna

2018

95

13

zu Hause

Tochter

ja

nein

multimorbid

Anna

2010

82

8

zu Hause

keiner

ja

nein

multimorbid

Agnes

2018

89

18

Heim

Familie

ja

ja

PaVk

Jakob

2018

89

30

Heim

Pflegeteam

ja

ja

COPD

Helga

2018

89

10

Heim

Pflegeteam

ja

ja

Tumor

Christa

2018

54

9

Hospiz

Familie

ja

ja

MSA

Elfriede

2017

85

Suizid durch Tabletten

zu Hause

keiner

nein

nein

Magen Ca

Martha

2014

70

Abbruch 6. Tag

zu Hause

Ehemann

nein

ja

Depression

Paula

2016

80

Abbruch

zu Hause

keiner

nein

nein

multimorbid

Walter

2018

82

Abbruch

Heim

Freunde

ja

ja

Demenz

Karl

2017

55

Abbruch

zu Hause

Familie

ja

nein

Zwangsstörung

Rudolf

2018

83

geplant

zu Hause

Familie

ja

?

Prostata Ca

Ingrid

2018

78

geplant

zu Hause

Keiner

?

?

Mamma Ca

3https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__217.html (Stand: 18.01.19)

2Erfahrungsberichte über durchgeführte Begleitungen zu Hause

2.1Begleitung von Edith durch ihre Tochter Susan: „Hut ab vor dieser Frau!“

Edith wird 1929 in Düren unter keinen guten Vorzeichen geboren, denn ihr Vater ist maßlos enttäuscht, dass seine Frau ihm nur ein Mädchen und keinen Stammhalter geboren hat. Diese Enttäuschung lässt er sein Kind bis zu seinem Tode durch fortwährendes Ignorieren oder „Kleinmachen“ spüren: „Heul nicht, es interessiert niemanden, wie es dir geht!“ Im Alter von fünf Jahren verstärkt sich dieser Leidensdruck bei Edith, als ihr Bruder Alfred geboren wird. Die liebevolle Zuwendung des Vaters zum innig ersehnten Stammhalter lässt Edith noch schmerzlicher die Entbehrungen ihrerseits spüren. Diese Ablehnung durch den Vater prägt das gesamte Leben von Edith. Sie kann nach außen keine Gefühle zulassen und zeigen, wirkt dadurch hart und kühl und erzählt nur lächelnd von ihren körperlichen Beschwerden. Sie ist es von klein auf gewöhnt, selbst zu entscheiden und für sich zu sorgen, da es sonst niemand tut. Sie legt viel Wert auf Eigenständigkeit, Selbstverantwortung und Unabhängigkeit. Das wiederum erfordert, dass sich Edith über alle Dinge gut informiert, viel liest und auch im Internet alle Fragen „ergoogelt“, um eigenständig Entscheidungen fällen zu können.

Edith ist für Ärzte nicht immer die angenehmste Patientin, da sie sich vor jedem Arztbesuch über jede Erkrankung im Internet oder in Büchern informiert, um sich eine eigene Meinung bilden zu können. Und sie hat viele und schwere Erkrankungen!

Edith lernt Schneiderin und entwirft nebenbei viele Anziehmodelle für Papieranziehpuppen. Sie ist fingerfertig und bastelt für ihr Leben gern. Später erlernt sie noch den Beruf der Köchin und arbeitet (damals in der DDR) als Soldatin in der Armeeküche. Edith heiratet und bekommt zwei Kinder. 1966, Tochter Susan ist erst ein Jahr alt, ihre Schwester vier, platzt bei Edith ein Aneurysma im Kopf und macht eine Operation nötig. Die Kinder werden in der Krankenhaus- und Rehazeit von der Oma betreut. Edith ist nach diesem operativen Eingriff nicht mehr voll arbeitsfähig. Dazu kommt, dass sie im Laufe der Jahre immer stärker unter Restless Legs (rastlose, schmerzhafte Beine) leidet, was nur durch die Einnahme eines Parkinsonmittels erträglich wird. 2006 muss sie sich einer Darmoperation aufgrund von Darmkrebs unterziehen, kurz darauf erleidet sie einen Herzinfarkt. Ein Trümmerbruch des Ellenbogens wird durch neun Operationen innerhalb eines Vierteljahres stabilisiert, führt aber zu Morbus Sudeck (komplexes regionales Schmerzsyndrom), einer neurologisch-orthopädisch-traumatologischen Erkrankungen mit heftigen Schmerzen und Bewegungseinschränkungen.