Und alles wird erinnert - Julia Hartwig - E-Book

Und alles wird erinnert E-Book

Julia Hartwig

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Beschreibung

Die polnische Dichterin Julia Hartwig (* 1921) blickt in ihrem lyrischen Spätwerk zurück auf ein reiches, bewegtes Leben. Ihre Erinnerungen an persönliche Erlebnisse und poetische Momente, aber auch an Geschichtskatastrophen und politische Umbrüche fügen sich zu einer ungeschönten, aber niemals bitteren Bilanz fast eines ganzen Jahrhunderts. Julia Hartwig ist eine der wichtigsten polnischen Dichterinnen ihrer Generation, die gleichwohl lange im Schatten von Autoren wie Zbigniew Herbert, Tadeusz Rózewicz oder Wisława Szymborska stand. In Deutschland führte das dazu, dass ihre Lyrik bis heute nicht in Buchform vorliegt (lediglich einige Gedichte wurden in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht). Die Auswahl von Gedichten Julia Hartwigs aus den Jahren 2001-2011 möchte diese Lücke schließen und dem deutschsprachigen Publikum erstmals eine poetische Stimme von ganz eigenem Charakter und eigenem Klang präsentieren, die einerseits - wie die oben genannten Dichter - die historischen Erfahrungen ihrer Generation keinesfalls negiert, andererseits aber auch andere existenzielle Fragen verhandelt. Dabei achtet Julia Hartwig immer auf die poetische Form und hält Distanz zu übermäßigen Emotionen, ohne Widersprüche, Tragik und menschliche Schwächen zu beschönigen oder auszublenden. Das verleiht ihrem Werk eine einzigartige innere Spannung.

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Seitenzahl: 62

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INHALT

* * * (daß die Gegenwart ...)

Bleiben wir

Gegen mich selbst

Weder Ewigkeit noch Nichts

Wie kommt man

Das also

Ungewissheit

Widmung

Stawisko

Besuch

Lubliner Elegie

Vergessen

Gleichzeitig

Kommuniqué

Vision

Weit

Verwaist

Erinnerung an einen Verlust

Bellagio

Ich bin wieder dort

Stadtrand

Manuskript

Im Abendlicht

Allee

Ich bin der Allgegenwart der Rose müde

* * * (Es ist frostig ...)

Coda

Rückkehr

Rechnung

Ermattung

Fragen

Ich sah sie

Früher später

Victoria

Apollinaire zu Ehren

Medium

Ich erinnere mich

Jener Abend

Marsch

Dennoch lese ich weiter ihre Gedichte

Unterwegs

Schulfreundinnen

Rückschau

Unzutreffendes streichen

Spitze

Langes Wachen

Dank

Monteverdi zu Ehren

Vor Tagesanbruch

Fuge

Lied

Brille

Tastend

Abschied von einem Vogel

Zeitlos

Ich sah

Das alles

Existenzbeweis

Keats’ Grab

Daimonion

Größe

Vincent

Tiger im Haus

Warum finden wir uns ab

Nachts in Bellagio

Neon

Unerreicht

Trost

Gerechtigkeit

Bagatelle

Rostropowitsch

Woanders

Jetzt

So wird es sein

Klar unklar

An William Carlos Williams

Tintoretto zu Ehren

Das Wort

Science fiction

Anspruch

Via Condotti

Schöne Tränen

Nicht fragen

So viel

Oder

Preis

Hier und jetzt

Gabe

Nachwort

Julia Hartwig

UND ALLES WIRD ERINNERT

Gedichte 2001-2011

 

Herausgegeben und aus dem Polnischen

übertragen von Bernhard Hartmann

 

Verlag Neue Kritik

 

 

Die Auswahl des Bandes stammt aus den folgenden Gedichtbänden von Julia Hartwig: Nie ma odpowiedzi, Sic!, Warschau 2001 / Bez pożegnania, Sic!, Warschau 2004 / To wróci, Sic!, Warschau 2007 / Jasne niejasne, a5, Krakau 2009 / Gorzkie żale, a5, Krakau 2011.

 

Der Verlag dankt dem »Book Institut – 

the ©POLAND Translation Program«

für die Förderung der Publikation.

 

© by Julia Hartwig 2013

Alle deutschsprachigen Rechte Verlag Neue Kritik

Die Originalausgabe erschien 2013 im Verlag Neue Kritik

© für die E-Book-Ausgaben Verlag Neue Kritik 2014

Umschlag Barski & HünekeE-Book Erstellung: Madeleine Schmorré

ISBN 978-3-8015-0500-4 (epub)ISBN 978-3-8015-0501-1 (mobipocket)ISBN 978-3-8015-0502-8 (pdf)

www.neuekritik.de

ES GIBT KEINE ANTWORT

(Nie ma odpowiedzi, 2001)

 

 

 

* * *

daß die Gegenwart so sich mit Abwesenheit füllt

daß die Kälte so in einstiger Wärme taut

daß die Tage so von vergangenen Tagen zehren

daß jedes Grün immer an jenes Grün erinnert

 

 

 

BLEIBEN WIR

Bleiben wir noch wach

solange die Musik so schön spielt

Bleiben wir noch wach

solange der Morgen nicht graut

Solange wir mit der Nacht Schritt halten können

im Dunkel mit dem wir uns verbrüdern möchten

Bleiben wir noch wach

solange die Klänge die Zeit verlieren

Bleiben wir noch wach

Bleiben wir wach

 

 

 

GEGEN MICH SELBST

Alle Dichter der Welt schreiben dasselbe Gedicht

beschreiben denselben Fels in der Meeresbrandung

denselben Verlust der keinem von ihnen erspart blieb

verspüren im selben Moment die Ekstase des Daseins

legen sich in derselben Nacht ins Bett der Finsternis

 

Sie kennen den allumfassenden Zweifel der so stark ist

daß die Welt für sie zu existieren aufhört

und beim Versuch sie wiederaufzubauen

bersten sie vor ihrer Überfülle

 

In der großen Symphonie die sie aufführen

schüttelt der Dirigent nur den ersten Geigern die Hand

und obwohl alle demselben harmonischen Gesetz unterliegen

möchte jeder von ihnen einzeln geliebt werden

 

 

 

WEDER EWIGKEIT NOCH NICHTS

Die Zeit ist in uns und um uns

obwohl sie nicht wir ist

dabei ist unser Herzschlag

auch ihr Maß

Unsere Schritte messen sie

doch wie eine mythische Götterbotin

eine leichtfüßige Iris mit unbekannter Botschaft

entfernt sie sich immer weiter von uns

Andere würden vielleicht sagen

sie bleibt bei uns wie ein penibler Buchhalter

der das Schwinden unseres Kapitals notiert

das wir wohl oder übel

aufbrauchen müssen

Wohl nichts auf der Welt

wird so verschwendet

oder so sparsam verwendet

wie sie

Doch die Fürsten

die sich ihr nicht untertan fühlen

heißen sie beiseite treten

Hat nicht Baudelaire gesagt:

Was mich groß gemacht hat war auch der Müßiggang

 

 

 

WIE KOMMT MAN

Wie kommt man – muß man das denn? – in die Unterwelt

die wie ein Labyrinth ist und in der man dem Faden

folgen kann den die müde Ariadne spann

(Du bist Ariadne du stirbst verlassen am Ufer)

Wie kommt man – muß man das denn? – in die Unterwelt

der Erinnerung die schläft und darauf wartet geweckt zu werden

auf die Gnade des Einverständnisses mit allem was war

oder aber auf die demütigende Erkenntnis ohnmächtig zu sein

gegenüber der Vergangenheit Was ein Ganzes sein sollte

liegt da wie ein umgestürzter Wolkenkratzer

voll vom Nachhall der Beschwörungen und Abschiede

von Spiegeln mit den Gesichtern derer die gingen

Wo soll man Bilanz ziehen? Wem Rechenschaft ablegen?

 

 

 

DAS ALSO

Das also war nötig

damit die Zeit mit sich eins wurde

damit im tiefsten Zweifel das Sein

in der Niederlage sich offenbarte

wie ein noch immer von Wellen umspülter Stein

wie die Lücke einer amputierten Hand

die im Phantomschmerz daran erinnert

daß es sie gab

 

 

 

UNGEWISSHEIT

Wenn sie wußten was sie von der Kunst wollten

mieden sie die Trugbilder des Schönen

und wenn sie der Versuchung erlagen – bereuten sie ihre Schwäche

So verführerisch ist aber die Schönheit der Welt

so groß unsere Ungewißheit was Schein ist und was Wahrheit

daß wir immer wieder auf Gefühle und Empfindungen hereinfallen

und auf keine Freuden verzichten wollen

selbst wenn wir wissen wie billig und flüchtig sie sind

 

 

 

WIDMUNG

Courbet Ehre erweisen

der die Steinmetze malte, das Begräbnis in Ornans

und der niemandem zu gefallen versuchte

nicht einmal der Natur die er demütigen wollte

indem er sie nüchtern und ungeschönt zeigte

Nach dem Fall der Pariser Kommune 1871

verhaftete man ihn als Mittäter beim Sturz der Vendôme-Säule

Gewiß hatte er sie gestürzt

denn er besaß die Kraft Samsons der das Haus der Philister einriß

Was ihn nicht hinderte mit Vallès Bier zu trinken

und sich mit Corot und Daumier in der Brasserie Andler zu zeigen

Der Fourierist und Sozialist sagte von sich:

»Courbet hat keine Ideale und keine Religion«

Er gewährte Baudelaire Obdach

und porträtierte ihn

Das Schicksal weiß zuweilen genau wen es zusammenführt

und sei es damit uns diese Begegnung erleuchtet

Seine bescheidenen kleinen Brüder bewunderten ihn

die Barbizonisten die versuchten zu malen wie er

und gleichzeitig anders mit Demut vor der Natur

Auf der Flucht vor dem Gefängnis wo er einige Zeit verbrachte

und wo ihn Boudin und Monet besuchten

versteckte er sich in der Schweiz

Doch still zu altern paßte nicht zu seinem Leben

Er trank zuletzt dreizehn Liter Weißwein am Tag

und starb an Leberzirrhose und Wassersucht

Nach seinem Tod verkaufte man für drei Franken

alles was sich im Atelier befand

Bilder goldene Rahmen und Schachteln mit Farben

 

 

 

STAWISKO 1

Den Kopf auf den Bettrahmen gestützt

hört der alte Meister Mahlers Lieder und weint

Er weiß nicht mehr daß wir da sind

In diesem Jahr starb schon seine Lebensgefährtin

die dionysischen Feuer der Jugend sind lang erloschen

Die Freunde sind tot oder wandten sich ab

Vor ihm liegt noch die Zeit im Pariser Vorstadthotel

wo Einsamkeit und Krankheit wie Geister aus einem Malczewski-Bild2

ihn ans Bett fesseln werden

Er wird noch in die Räume zurückkehren in denen er sein Leben verbrachte

in den verwilderten Garten in dem er die Jahreszeiten begrüßte

und erregt flüsternd Urania3die Fichte die Schwester anrief

die ihm mit dem Finger ihres Stammes den Himmel zeigte

Die Erinnerung an vergangene Tage begleitete ihn bis zuletzt

Er notierte den Moment als ein junger Dichter vor ihn trat

gezeichnet vom hellen Stern der Vorsehung

und ihn mit den Worten begrüßte: Ich verehre Sie