Und nie sollst du vergessen sein - Jörg Böhm - E-Book

Und nie sollst du vergessen sein E-Book

Jörg Böhm

4,8

  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

UND DU, MEINE LIEBE, WIRST DIE NÄCHSTE SEIN, DER MEIN KLEINES GEHEIMNIS ZUM VERHÄNGNIS WIRD … Emma Hansens erster Fall Für einen Kurzurlaub kehrt Hauptkommissarin Emma Hansen nach Nöggenschwiel zurück. Doch mit der Erholung ist es schnell vorbei, als zwei grausame Morde das Rosendorf im Südschwarzwald erschüttern. Während die Polizei im Dunkeln tappt, geht Emma der Frage nach, welchen Zusammenhang es zwischen den Morden und dem Verschwinden ihrer Freundin Charlotte vor 15 Jahren gibt. Zu spät erkennt sie, dass man die Vergangenheit besser ruhen lassen sollte …

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Seitenzahl: 467

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Beliebtheit




Inhalt

Titelseite

Impressum

Über den Autor

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Epilog

Danksagung

Jörg Böhm

Und nie sollst du vergessen sein

 

 

 

 

 

 

 

 

Im Verlag CW Niemeyer sind bereits folgende Bücher des Autors erschienen:

Moffenkind

Und die Schuld trägt deinen Namen

Und ich bringe dir den Tod

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

© 2016 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Carsten Riethmüller

Der Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com

eISBN 978-3-8271-8320-0

EPub Produktion durch ANSENSO Publishing

www.ansensopublishing.de

Der Journalist Jörg Böhm (*1979) war nach seinem Studium der Journalistik, Soziologie und Philosophie unter anderem Chef vom Dienst der Allgemeinen Zeitung in Windhoek/Namibia. Danach arbeitete Jörg Böhm als Kommunikationsexperte und Pressesprecher für verschiedene große deutsche Unternehmen. Seit 2014 widmet er sich nur noch seinen schriftstellerischen Tätigkeiten. Neben dem 1. Kreuzfahrtkrimi „Moffenkind“, den er exklusiv in Kooperation mit der Reederei AIDA Cruises geschrieben hat, sind mittlerweile drei Krimis um seine dänisch-stämmige Kriminalhauptkommissarin Emma Hansen erschienen. Aktuell schreibt er an seinem vierten Emma-Hansen-Krimi, der im März 2017 erscheinen wird. Als bester Nachwuchsautor wurde er für seinen ersten Krimi „Und nie sollst du vergessen sein“ mit dem Krimi-Award „Black Hat“ ausgezeichnet.

Mehr über Jörg Böhm und seine Aktivitäten erfahren Sie unter jörgböhm.com

Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Meinen Eltern Rudolf und Jutta Böhm

– in Dankbarkeit

„Dein Ja sagen zu dem, was ich bin, habe ich nötig.“

Antoine de Saint-Exupéry

Prolog

Juli 1997

Endlich war sie am Ziel angekommen. Es hatte länger gedauert, als sie gedacht hatte und ihr Herz raste wie wild. Sie war ganz benommen von der gerade bewältigten Anstrengung und sie spürte die Schweißtropfen auf ihrer Stirn. Sie war erleichtert, glücklich und doch schienen ihre Glieder kalt und starr zu sein.

Obwohl es immer noch weit mehr als 20 Grad warm war, fröstelte sie und eine Gänsehaut überzog ihren schlanken Körper. Reiß dich zusammen, es wird schon alles gut gehen, ermahnte sie sich, als sie erneut ein kalter Schauer durchfuhr.

Sie versuchte sich zu beruhigen, doch es ging nicht. Sie keuchte. Sie war nach dem schweißtreibenden Marsch hinauf zur Wegscheide immer noch völlig außer Atem und ihr Puls pochte wie wild an ihre Schläfen. Die Luft war schwer, trocken und staubig und es roch nach abgemähten Feldern und sattem Heu.

Um sie herum war es dunkel. Einsam.

Sie stand oben auf der Anhöhe und schaute zurück. Hinter ihr lag in der Talsenke in einem hellen Lichterglanz Nöggenschwiel, das Rosendorf des Schwarzwalds.

Es feierte das 28. Rosenfest.

Und sie war die neue Königin der Rosen.

Es war keine zwei Stunden her, da war sie gekrönt und feierlich in ihr neues Amt eingeführt worden. Nun wartete ein Jahr voller Empfänge, Auftritte und Präsentationen auf sie. Ob als Blumen-Botschafterin im Ausland, gefragte Expertin auf Rosen-Messen oder Repräsentantin der gesamten, zwischen Rhein und Hochschwarzwald gelegenen Urlaubsregion – sie wusste, was sie in den kommenden zwölf Monaten alles erwarten würde.

Sie schloss für einen kurzen Augenblick die Augen, während die warme Sommerluft ihren zarten, fast schon zerbrechlichen Körper streichelte. Ihre dunkelbraunen langen Haare tanzten, als der Wind auflebte und eine kräftige Brise über sie hinwegwehte. Nur mit Mühe konnte sie ihre filigrane Krone festhalten, die beinahe vom Wind weggeweht wurde. Der schwarze faltenreiche Rock ihres Trachtenkleids, dessen samtener Brustbereich mit aufwendigen Goldstickereien dekoriert war, und die mit roten Rosen bedruckte Schürze flatterten im Spiel des Windes und legten dabei ihre schlanken, leicht gebräunten Beine frei. Die grobmaschig gestrickten weißen Kniestrümpfe hatte sie bereits kurz nach der feierlichen Zeremonie ausgezogen, nachdem die rund 2.000 Stimmen ausgezählt waren und sie mit fast 90 Prozent Zustimmung zur klaren Siegerin der diesjährigen Wahl gekürt worden war.

Schon als kleines Mädchen hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als einmal Rosenkönigin zu werden.

Immer und immer wieder hatte sie sich in Mamas Kleider gehüllt, eine selbst gebastelte Krone ins Haar gesteckt und sich vor dem Spiegel gedreht, um im Anschluss daran ihren Puppen ihre selbst verfasste Rede als frisch gekrönte Rosenkönigin zum Besten zu geben.

Das war zehn Jahre her. Nun war ihr größter Wunsch endlich in Erfüllung gegangen. Aber was hatte sie davon? Sie wusste, dass sie ihren Traum nie würde ausleben können. Denn sie wollte ihn gegen einen noch viel schöneren eintauschen. Einen Traum, der nicht nur wahr werden, sondern von jetzt auf gleich ihr gesamtes Leben verändern würde.

Unter ihr flackerten in den Straßen rote, gelbe und weiße Lampions, die den Ort in ein warmes Licht tauchten. Das ganze Dorf – und mit ihm mindestens noch mal so viele Touristen, Urlauber und Rosenliebhaber – war auf den Beinen, denn niemand wollte sich das Ereignis des Jahres entgehen lassen. Das Rosenfest war der jährliche Höhepunkt des schönen und warmen Sommers in Nöggenschwiel. Das Rosendorf, das 360 Tage im Jahr einen romantisch-verträumten Dornröschen-Schlaf hielt, blühte am Wochenende des Rosenfests auf. An diesem Wochenende feierte das ganze Dorf die Rosenkönigin mit der Wahl am Samstag und dem prächtigen Rosenumzug am Sonntagnachmittag.

Die Ferienwohnungen, Apartments und Zimmer waren auf Jahre im Voraus gebucht und die Stammgäste genossen die Feierlichkeiten, die es in dieser traditionellen Art und Weise nirgendwo anders gab. Ob Hinweisschilder, Straßenlaternen oder Fensterbretter – alles war mit Rosen verziert, mit Blumenarrangements dekoriert und bunten Girlanden geschmückt. Vor allem die Gärten, Pavillons und Beete waren ein einziges Blumenmeer in den schönsten Farben.

Und das alles würde sie jetzt hinter sich lassen. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie freute sich auf das, was sie erwartete, wäre da nicht dieser furchtbare Streit gewesen. Ein Streit, der beinahe alles zunichtegemacht hätte. Aber daran wollte sie jetzt nicht denken. Nicht jetzt.

Es schauderte sie erneut.

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie das Scheinwerferlicht eines Autos zwischen den Tannen und Fichten des kleinen Wäldchens an der nahe gelegenen Bundesstraße unruhig auf und ab tanzte. Unwirklich wie kleine Sterne am Horizont flackerten die gelben Punkte, die langsam immer größer wurden, je näher der Wagen kam. Sie wich ein wenig von der Straße zurück, als das Auto sie fast erreicht hatte. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, der Fahrer hätte aufgeblendet und sie grüßen wollen. Doch der Wagen verlangsamte sich nicht, sondern ließ sie im Sommerwind zurück.

Es wird schon alles gut werden. Er kriegt sich schon wieder ein. Er liebt mich doch, dachte sie, als sie dem Wagen gedankenverloren hinterher sah. Er würde sie schon gleich abholen und mitnehmen, so hatte er es ihr versprochen.

Sie schloss die Augen. Trotz all der Ungewissheit fühlte sie sich frei und ungezwungen. Sie war glücklich und doch war es ein Glück mit einem bitteren Beigeschmack. Denn sie wusste, sie würde ihren Vater so sehr verletzen wie noch kein Mensch zuvor.

Sie stellte sich gerade sein Gesicht vor, wie er erst nach Luft ringen, dann furchtbar wütend werden und anschließend zusammenbrechen würde, wenn sie ihm ihren Entschluss mitteilen würde.

Ihr Vater. Sie war sein Ein und Alles. Das wusste sie schon lange bevor ihre Mutter von jetzt auf gleich mit einem Lehrerkollegen durchgebrannt war. Und nun würde sie durchbrennen und ihrem Vater ebenfalls das Herz brechen. Aber es ging einfach nicht anders, und er würde es sicherlich verstehen, wenn erst einmal ein wenig Zeit ins Land gegangen war. Sie beglückwünschte sich dabei selbst zu ihrem genialen und doch so einfachen Plan.

Denn sie musste fliehen – vor dem Dorf und seinen Menschen und vor ihm.

Schon wieder hatte er sie angesprochen. Nur: Dieses Mal hatte er es nicht heimlich getan wie sonst, wenn er sie vor der Kirche, an der Bushaltestelle oder nach dem Einkauf im Lädele abpasste. Er hatte sie vor allen Leuten und mitten auf der Tanzfläche der Rosendorfhalle angesprochen. Er hatte so stark geschwitzt, dass ihm der Schweiß an seinen Schläfen heruntergelaufen war. Seine Finger hatten nervös am untersten Knopf seines kurzärmeligen Karohemdes gespielt, als er sie angesprochen hatte.

„Hallo!“

Er hatte gezögert und vorsichtig nach links und rechts geschaut, ehe er fortgefahren war: „Gut siehst du aus. Fast zu schön, um wahr zu sein.“ Seine Augen hatten kurz aufgeblitzt und ein Funkeln in sich getragen, das ihr jetzt noch einen unheimlichen Schauer über den Rücken laufen ließ.

Sie war so perplex gewesen, dass sie ihn irritiert angestarrt hatte. Nicht imstande, irgendetwas darauf zu erwidern. „Danke“, war das Einzige, was ihr über die Lippen gekommen war.

Er hatte süffisant gelächelt und sie von oben bis unten gemustert. Fast so, als wolle er sie mit seinem Blick in sich aufsaugen.

Ein Teil von ihr sein.

„Schenkst du mir einen Tanz?“, hatte er gefragt, und sie erinnerte sich, wie das Funkeln in seinen Augen einem tiefen Verlangen gewichen war.

„Ich ... Ich ... will mich nur kurz frisch machen“, hatte sie mehr gestottert als geantwortet, in der Hoffnung, er würde ihr jetzt keine Szene machen. So war sie dann schnell zu den Waschräumen geeilt. Kurz vor den Toiletten war sie scharf nach rechts abgebogen und durch den Seitenausgang der Halle ins Freie geflüchtet, um das Rosenfest, die vielen Menschen und vor allem ihn endlich hinter sich zu lassen.

Sie musste noch einmal tief durchatmen. So langsam machte sie sich Sorgen, wo ihr Lebensretter blieb. Nun stand sie bereits weit über eine halbe Stunde auf der Anhöhe und wartete auf ihn. Sie konnte den süßen Duft der Freiheit schon förmlich riechen. Mit ausgebreiteten Armen drehte sie sich im Wind und spürte das Leben.

Ihr Leben.

Plötzlich überkam sie das Gefühl, dass sie nicht alleine war. Sie hielt inne und hörte in die Stille hinein, die nur vom Säuseln des Windes und dem Zirpen der Grillen unterbrochen wurde. In weiter Ferne vernahm sie das sanfte Rauschen der Bäume und die ausgelassenen und fröhlichen Stimmen der an der Rosendorfhalle feiernden Menschen.

War da jemand? Ein Schatten? Sie konnte in der Dunkelheit nichts erkennen. Es gab keine Straßenlaternen an dieser Weggabelung und das diffuse Mondlicht war zu kraftlos, als dass es den Weg beleuchten könnte. Wie ein seidiger Schleier hatten sich die Wolken vor den Mond geschoben und ihn sanft eingehüllt.

„Schatz, bist du’s?“, fragte sie mit leicht zittriger Stimme in die stille, dunkle Nacht. Doch niemand antwortete ihr.

Hatten ihre Augen sie also nur getäuscht? Oder war es gar das eine Glas Rosenschnaps zu viel gewesen, das ihre Sinne beeinträchtigte und ihre Wahrnehmung trübte?

Panik machte sich in ihr breit. Wo bleibt er nur, fragte sie sich, als sie plötzlich jemanden hinter sich atmen hörte.

Kapitel 1

15 JAHRE SPÄTER

FREITAG, 16. NOVEMBER 2012

Es war ihr erster längerer Urlaub seit ihrer Beförderung zur Kriminalkommissarin vor dreieinhalb Jahren. Endlich Ferien, Entspannung und ganz viel Ruhe, dachte Emma Hansen, als sie zum Hit „Single Ladies“ von Beyoncé fröhlich mitsingend an einem grauen Novemberfreitag über die Bundesstraße B 500 von Titisee-Neustadt kommend weiter Richtung Süden durch die Höhen des Südschwarzwaldes fuhr.

Vorbei an einzelnen Gehöften, Wiesen und Feldern, die abgemäht und kahl dalagen und von einem guten Sommer mit viel Heu für die Kühe erzählten. Kleine Waldstücke grüßten entlang der kurvigen Straße, auf der um diese Uhrzeit viel Verkehr herrschte.

Familienväter, die zu ihren Liebsten nach Hause unterwegs waren, Laster und Transporter, die noch schnell vor dem Wochenende ihre Ladung abliefern wollten, und Urlauber aus den verschiedensten Regionen Deutschlands waren genauso darunter wie Schweizer und Niederländer. Einige mit Wohnwagen, andere mit Fahrradträgern und selbst ein kleines Boot konnte sie auf einem Anhänger entdecken.

Die machen hier sogar zu dieser trostlosen Zeit Ferien, stellte Emma etwas überrascht fest, als ihr gerade ein Fahrzeug mit einem gelb leuchtenden Kennzeichen entgegenkam. Eine Zeit, die eher zu innerer Einkehr und Besinnlichkeit denn zu Spaß und Abenteuerlust einlud.

Emma faszinierte die Trostlosigkeit grauer Novembertage, auch wenn sie früher mit ihren Eltern stets in den Sommerferien für zwei Wochen nach Nöggenschwiel gefahren war und daher die besondere Schwere, die jetzt oberhalb der Baumwipfel vorherrschte, nur von Erzählungen kannte. Es war eine Schwere an einem Ort der Abgeschiedenheit, an dem sich an lauen Sommerabenden junge Paare bei einem Picknick auf den angrenzenden Wiesen verliebt in die Augen schauten oder die Dorfältesten im Rosenpavillon am Nöggenschwieler Rathaus engagiert und wortreich über die Politik der Bundesregierung diskutierten und dabei wie immer und völlig übereinstimmend feststellten, dass früher irgendwie alles besser gewesen war.

Emma erinnerte sich auch an die Grillabende des örtlichen Fußballvereins, die Vereinsmeisterschaften des Tennisclubs und vor allem an das alljährlich stattfindende Rosenfest, das sie als junges Mädchen und selbst noch als pubertierender Teenager so geliebt hatte.

An Novembertagen wie diesem jedoch zog sich die Welt in ihre tiefste Traurigkeit zurück. Eine Zeit, in der man am liebsten dieser Atmosphäre entfloh, anstatt in sie hineinzutauchen. Emma aber brauchte es, einfach mal in die bewusst gewollte Einsamkeit zu entfliehen. Ihr Job war stressig genug, bot kaum Auszeiten und Erholungsphasen, weshalb sie auch schon das für sie so wichtige Formationstanzen auf ein Minimum reduzieren musste. Daher freute sie sich jetzt auf eine Woche geplanten Nichtstuns, die mit dem 60. Geburtstag ihres ehemaligen Ferienvermieters Georg Villinger ihren krönenden Abschluss finden sollte.

Sechs Mal war sie mit ihren Eltern Knut und Marit Hansen in die Ferienwohnung der Villingers nach Nöggenschwiel gefahren. Zuletzt, als sie 17 Jahre alt gewesen war, und das lag nun schon 15 Jahre zurück.

Damals war die kleine Welt noch in Ordnung, dachte sie, während sie am Radioregler ihres Minis rumspielte, um einen besseren Empfang zu bekommen. Ihre Eltern hatten sich, wie so viele andere Eltern ihrer Freunde und Klassenkameraden auch, scheiden lassen, obwohl sie und ihr Bruder Erik alles dafür getan hatten, dass die heile Welt, die ihnen stets vorgegaukelt wurde, nicht aus den Fugen geriet.

Doch alles Bitten und Betteln, Jammern und Lamentieren hatte nichts geholfen, die Ehe war auseinandergegangen, weil ihr Vater lieber mit einer Jüngeren die Welt bereisen wollte als mit ihrer Mutter. So jedenfalls hatte es Emmas Oma Leni ihr vor einigen Jahren erzählt.

Sie fuhr langsamer und schaltete vorsichtshalber schon einmal einen Gang herunter, um die Abzweigung von der B 500 in Richtung Weilheim nicht zu verpassen. An der nur wenige Meter entfernten Tankstelle herrschte Hochbetrieb, denn erst heute Morgen hatte der Ölpreis wieder um einige Dollar nachgegeben und die hiesigen Preise waren gleich um drei Cent gefallen.

So hatte sie nach dem Verlust ihres Vaters um die Liebe ihrer Mutter gekämpft, bis sie eines Tages resigniert feststellen musste, dass es keinen Platz für sie im Herzen ihrer Mutter gab, denn für Marit Hansen zählte immer nur Emmas Bruder Erik.

Erik. Ihr drei Jahre älterer Bruder, der sich als zweifacher Familienvater mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt und das Leben so nahm, wie es kam: Am Morgen geht die Sonne auf, am Abend geht sie unter und dazwischen schauen wir, was der Tag so alles für einen bereithält. Dass ihre Eltern und vor allem ihre Mutter mit Eriks Lebenskunst nichts anfangen konnten, war das eine. Dass sie Emmas Eigenschaften lieber in ihrem Sohn vereint gesehen hätten, das stand auf einem ganz anderen Blatt. Und es war eben die Tochter, die genau das auf so unterschiedliche Arten zu verstehen bekam.

„Aber wer hört denn Muttern zu, wenn sie sich in ihrem Liebeskummer mal wieder so richtig suhlen will, und wer fährt zu ihr hin, wenn sie wieder droht, sich umzubringen, weil sie nicht mehr weiterweiß? Doch das zählt ja alles nicht. Warum auch“, sagte Emma laut zu sich.

Doch das Schlimmste ist, dass ich mir immer wieder anhören darf, was aus mir hätte werden können, wenn ich mich nur etwas mehr angestrengt hätte. Ärztin. Rechtsanwältin. Ja vielleicht sogar Professorin, dachte sie und äffte ihre Mutter nach, die keine Möglichkeit ausließ, Emmas aus ihrer Sicht falsche Berufswahl unter die Nase zu reiben.

Mein Weg war eben ein anderer. Ich wollte immer zur Polizei, zur Kripo, dachte Emma und musste bei dem Gedanken daran automatisch an ihren geliebten Opa denken, der einst Kommissar bei der Kopenhagener Mordkommission gewesen war. Sie lächelte, während sie für einen kurzen Moment in den Rückspiegel sah. Große, wache, blaue Augen strahlten sie an, die von einer fein geschnittenen Nase und einer breiten Denkerstirn eingerahmt wurden. Ihre Lippen waren voll, wenn auch heute etwas blass, wie sie sich eingestehen musste. Dafür glänzte auch an diesem tristen Novembertag ihr Haar in einem hellen und typisch nordischen Blond. Doch das auffälligste Merkmal ihres Gesichtes war ihr kleines, zart modelliertes Grübchen am Kinn, das ihr nicht nur einen frech-verträumten Gesichtsausdruck verlieh, sondern das sie auch so an ihren Großvater erinnerte, hatte doch ein ebensolches seinen charismatisch-markanten Charakterkopf geziert.

Mit einem tiefen Seufzer konzentrierte sie sich wieder auf den immer dichter werdenden Verkehr in der langsam einsetzenden Dämmerung. Sie wartete noch den Transporter einer Umzugsfirma ab, ehe sie ihren Wagen nach links lenkte, um auf die Kreisstraße in den dunklen Hain aus Fichten und Tannen abzubiegen.

Schon damals als Teenager faszinierte Emma diese Ansammlung majestätischer Bäume, die wie ein großes schmiedeeisernes Tor ein fremdes Land beschützten und erst dann Meter für Meter zur Seite wichen, wenn der Eindringling ihnen genehm war.

Vorsichtig steuerte sie ihren Wagen durch das kleine Wäldchen und meinte plötzlich von der Welt, aus der sie vor einer halben Minute noch gekommen war, völlig abgeschnitten zu sein.

Wie ein großes gefräßiges Maul hatten die Fichten und Tannen sie und ihren Wagen verschluckt, um sie erst nach knapp drei Minuten wieder aus dem schwarzen Nichts auszuspucken. Vor ihr lagen nun die ersten Äcker, die bereits zur Gemarkung Weilheim gehörten. Wie verschrumpelt und zusammengezogen ruhte die aufgewühlte Erde auf den Feldern. Ein schwacher, weißlicher Reif kündigte schon jetzt einen frostigen und eisigen Winter an.

Frostig und eisig waren auch die beiden Worte, mit denen sie die Beziehung zu ihrer Mutter am liebsten beschrieb. Selbst ein Einser-Schnitt an der Landespolizeischule konnte ihre Mutter nicht davon überzeugen, dass Emma für sich das Richtige entschieden hatte.

„Eine Frau gehört einfach nicht zur Polizei, erst recht nicht zur Mordkommission“, erinnerte sie sich an die Worte ihrer Mutter. Und gerade deshalb wollte sie es ihr zeigen und gleichzeitig das Andenken ihres Großvaters in Ehren halten. Er wäre wenigstens stolz auf mich, dachte Emma und erinnerte sich an die vergangenen vier Jahre zurück, in denen sie sich ins Studium und die praktische Ausbildung gestürzt, jeden angebotenen Lehrgang belegt und verschiedene Zusatzqualifikationen – von psychologischer Beratung bis hin zu einem Seminar zur Profilerstellung von Vergewaltigern – absolviert hatte, um dann kurz vor ihrem 29. Geburtstag endlich da zu sein, wo sie immer hin wollte. Noch heute dachte sie mit einem breiten Grinsen daran, wie Ausbildungsleiter Manfred Engel beim festlichen Empfang ihr als jahrgangsjüngster und gleichzeitig bester Frau in einer von Männern dominierten Ausbildungsklasse die Urkunde zur Kriminalkommissarin überreicht hatte. So langsam näherte sie sich der Abzweigung nach Nöggenschwiel. Fern am Horizont, Richtung Schweiz, bauten sich die ersten dunklen Wolken auf, die unmissverständlich Regen ankündigten, während Emma die Kreisstraße entlang in den abgelegenen Ort fuhr.

Vorbei am Fußballplatz und der putzig anmutenden Tennisanlage führte sie der Weg zum Ortsmittelpunkt, dem kleinen Gemischtwarenladen, den jeder hier nur das „Lädele“ nannte. Dort parkte sie ihren Wagen auf dem Kirchvorplatz, als die Uhr der St.-Stephans-Kirche gerade ein Mal schlug, und betrat den Laden. Wie sie auf ihrem Handy lesen konnte, war es kurz nach halb sechs und die früh einsetzende Nacht hatte fast das gesamte Licht des Tages geschluckt.

Da Emma nicht genau wusste, worauf sie Hunger hatte, wollte sie erst einmal die kurzen Gänge durchstreifen in der Hoffnung, hier eine Inspiration zu finden. So ging sie vorbei an der Gemüse- und Obstauslage in Richtung Kühltheke ans hintere Ende des kleinen Geschäfts. Auch wenn das argentinische Rückensteak mehr als appetitlich aussah, so hatte Emma nach der langen Fahrt keine Lust, sich jetzt noch an den Herd zu stellen und zu kochen.

Also doch lieber Dosenravioli, überlegte sie, um im nächsten Augenblick diesen Gedanken gleich wieder zu verwerfen, da sie sich nach unzähligen Fernsehberichten über die Qualität solcher Lebensmittel geschworen hatte, nur im äußersten Notfall auf Fertigprodukte und Tütensuppen zurückzugreifen. Und das hier war eindeutig kein Notfall.

So entschied sie sich für den abgepackten, aber im Hochschwarzwald hergestellten Kochschinken, Tomaten, Büffel-Mozzarella, einen fettarmen Joghurt, einen Liter Milch und eine Tüte Gummibärchen und ging damit an die Kasse.

„Sie waren jetzt wirklich meine Rettung, sonst hätte ich noch nach Waldshut fahren müssen“, sagte Emma zu der Frau hinter der Theke, die sie mit großen Augen betrachtete.

„Ja, wir haben seit Kurzem freitags immer bis um 19 Uhr geöffnet. Aber ... irgendwoher kenne ich Sie?“, fragte die Frau und starrte Emma noch intensiver an.

„Emma? Emma Hansen, richtig? Das gibt’s doch nicht! Was machst du denn hier?”, begrüßte Maria Reisinger Emma so stürmisch, dass sie dabei fast den vor der Theke aufgestellten Warenkorb mit den Sonderangeboten umgerissen hätte. Eine Kundin, die gerade ein geschnittenes Bauernbrot bestellen wollte, schaute der Lädele-Verkäuferin etwas irritiert hinterher, als diese Emma in den Arm nahm und fest an sich drückte. „Wie geht es dir? Gut siehst du aus.“

„Danke. Das ist nett. Sie aber auch, Frau Reisinger. Ich wusste gar nicht, dass Sie jetzt hier im Lädele arbeiten“, bemerkte Emma leicht erstaunt. Als enge Vertraute der Familie ihrer Ferienfreundin Charlotte hatte Emma sie des Öfteren bei den Nägeles angetroffen. Von diesen Treffen wusste sie auch, dass Maria Reisinger damals noch als Pharmareferentin tätig gewesen war.

Emma schaute Maria Reisinger mit anerkennender Bewunderung an. Maria Reisinger war Ende fünfzig und ihre Haare waren nicht nur auffallend elegant toupiert, sondern schienen auch in einem hellbraunen, fast bernsteinfarbenen Ton gefärbt zu sein. Sie trug eine dunkelblaue Bluse und eine teure Markenjeans, dazu Perlenohrringe samt Kette und ihre Nägel waren frisch lackiert.

„Schon seit fast neun Jahren arbeite ich jetzt hier ehrenamtlich“, antwortete Maria Reisinger, „und es macht mir immer noch sehr viel Spaß, auch wenn es manchmal etwas anstrengend ist. Aber lass’ uns von etwas anderem sprechen. Wie viele Jahre habe ich dich jetzt nicht gesehen? Zehn? Zwanzig?“ „Fünfzehn, um genau zu sein. 1997 waren wir das letzte Mal in den Ferien hier.“

Ich weiß, ich hätte schon viel früher wiederkommen sollen, aber irgendwie kam immer etwas dazwischen, dachte Emma. Aber sie wusste, dass sie sich das nur einredete. Warum war sie denn eigentlich nie nach Nöggenschwiel zurückgekehrt? Waren es etwa die schönen Erinnerungen an eine glückliche und geborgene Kindheit, an eine längst vergangene Zeit? Und waren es eben genau diese Erinnerungen, die sie am liebsten ganz weit von sich wegschieben wollte, weil sie wusste, dass diese Zeit, dieses Glück nie mehr zurückkommen würde?

„Schön, dass du hier bist, auch wenn du sicherlich vieles nicht mehr wiedererkennen wirst“, sagte Maria Reisinger und verschwand hinter ihrer Theke, um das von der Kundin bestellte Bauernbrot in die Brotschneidemaschine zu legen.

„Ja, und ich freue mich, viele Bekannte von damals endlich wiederzusehen und das nicht erst an Herrn Villingers Geburtstagsparty“, sagte Emma stellte ihre Lebensmittel auf die Theke.

„Wie schön, da werden wir uns dann ja auch sehen“, erwiderte Maria Reisinger und versuchte dabei, das laute Schneiden mit ihrer schrillen Stimme zu übertönen. „Dass heißt also, du bleibst länger in unserem schönen Rosendorf?“

„Ja. Ich reise erst nächste Woche Sonntag zurück.“ Emma genehmigte sich einen letzten Blick durch den Laden, ob sie noch etwas entdeckte, was sie unbedingt brauchen oder worauf sie noch Hunger haben könnte.

„Vorher möchte ich unbedingt noch Charlotte besuchen. Ich habe sie ja zuletzt wenige Stunden vor unserer Abfahrt gesehen. Ist sie damals nicht sogar Rosenkönigin geworden? Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie aufgeregt sie war. Ob sie überhaupt noch hier wohnt?“, fragte Emma mehr sich selbst als Maria Reisinger.

Als sie sich umdrehte, sah sie das versteinerte Gesicht der Lädele-Verkäuferin.

„Frau Reisinger, alles in Ordnung mit Ihnen? Sie sehen auf einmal so blass aus ...“

Stille. Es war, als ob von jetzt auf gleich das Leben aus der temperamentvollen Frau gewichen war.

„Frau Reisinger?“

„Nein, nein, es geht schon. Aber als du den Namen Charlotte ...“ Maria Reisinger stoppte mitten im Satz. Ihre Gesichtszüge verkrampften sich und sie kämpfte mit den Tränen. „Ich habe sie so geliebt. Sie war wie meine Tochter. Warum habe ich bloß nicht besser auf sie aufgepasst?“

Sie stand hilflos hinter der Theke und schaute gedankenverloren aus dem Fenster. Emma kramte in ihrer Jackentasche nach einem Taschentuch, doch außer einer eingerissenen Kinokarte konnte sie nichts finden.

„Wie meinen Sie das, Sie hätten besser auf sie aufpassen sollen? Auf Charlotte? Warum? Was ist denn passiert?“, fragte Emma noch immer irritiert.

„Ich dachte ...“, wieder stockte Maria Reisinger, die zwischenzeitlich in ihrer Jeans ein Stofftaschentuch gefunden hatte, und schnäuzte kräftig in das mit ihren Initialen bestickte Tuch.

„Ich war immer der Meinung, ihr seid Freundinnen gewesen und du wüsstest Bescheid“, sagte sie, nachdem sie sich etwas beruhigt hatte.

„Nein, also, nicht wirklich. Also es war nur eine Ferienfreundschaft. Wir haben in den Jahren, in denen ich hier war, einiges unternommen, viel Spaß miteinander gehabt und uns auch das ein oder andere Geheimnis anvertraut. Aber da ging es eher immer um Jungs, Lehrer oder die Eltern. Sie wissen schon. Dazwischen hatten wir keinen Kontakt.“ Dafür waren unsere Leben auch zu verschieden, ergänzte Emma in Gedanken.

„Das erklärt natürlich einiges.“ Maria Reisinger schluckte.

„Aber was ist denn jetzt mit Charlotte passiert?“ Mittlerweile war Emmas Geduld nahezu erschöpft und sie fing schon an, mit ihren Fingern an der Einkaufstüte herumzuspielen.

„Hat sich denn Lottis Vater nie bei dir gemeldet?“

Lotti? Ich wusste gar nicht, dass das ihr Spitzname war, dachte Emma und fragte sich, wer Charlotte mit diesem fürchterlichen Kosenamen bedacht hatte.

„Nein, wieso sollte er? Ich glaube, die Nägeles hatten noch nicht einmal unsere private Telefonnummer.“

Maria Reisinger seufzte: „Weil Charlotte seit dem Abend ihrer Krönung zur Rosenkönigin verschwunden ist.“

Kapitel 2

Eingerahmt von hohen Tannen schlängelte sich der steinerne Weg durch das dunkle Paradies.

Sein Paradies.

Ein Goldregen, der sein Gold längst verloren hatte, grüßte mit seinen langen, dünnen, fingergleichen Ästen. Vorbei an einer jungen Blautanne gelangte er zu seinem größten Schatz. Jeden Tag kam er hierher. Es war ein Ritual, ein fester Brauch. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er das erste Mal hier gewesen war. Nur, dass es schon sehr lange her sein musste. Es war der einzige Ort, der ihm Kraft gab, an dem er sich sicher fühlte.

Das Gewächshaus war weder von der Straße noch vom angrenzenden Nachbargrundstück aus zu sehen. Zu geschützt stand es hinter einer blickdichten Mauer aus Tannen und Rhododendronbüschen.

Mit seiner Taschenlampe leuchtete er sich den Weg in sein verwunschenes Reich, als er die hohen Bäume und die immergrünen Pflanzen passierte. Als er endlich am Gewächshaus angekommen war, ließ er den Lichtstrahl vorsichtig über den mit Rosensträuchern zugewachsenen Glaspavillon gleiten.

Es tut so gut, endlich wieder hier zu sein, dachte er und holte tief Luft.

Der erste Frost hatte den Rosen zugesetzt. Seine Lieblinge aber waren im Inneren des Gewächshauses vor der Kälte geschützt.

Vorsichtig versuchte er, die Klinke der Eingangstür herunterzudrücken. Er rutschte aber immer wieder ab und musste die andere Hand zur Hilfe nehmen, so sehr zitterte er.

Du musst ruhig bleiben, redete er sich beschwichtigend ein, als er es endlich geschafft hatte.

Angespannt, fast ängstlich betrat er das Gewächshaus. Für einen kurzen Moment hielt er inne. Die hohe Luftfeuchtigkeit umhüllte ihn, während er den stickigen Duft von Dünger, Torf und Erde einatmete.

Mit zittrigen Fingern kramte er ein kleines Windlicht aus seiner Jackentasche. Vorsichtig stellte er es vor seine Lieblingsrose, die noch eine einzige Blüte aufwies. Mitte November, bei guter Pflege und genügend Licht, kam sie noch einmal hervor, bevor sie, wie alle anderen Rosenarten auch, den langen Winterschlaf antrat.

Er nahm die Streichholzschachtel, die er in der Schublade eines kleinen Tisches verstaut hatte und die schon etwas mitgenommen und an einigen Stellen bereits aufgeweicht war, und versuchte, ein Streichholz zu entzünden. Doch seine Finger schafften es nicht, das Streichholz schnell genug über die Reibefläche zu ziehen.

Er fluchte, als er merkte, dass das Zündholz auseinandergebrochen und für einen erneuten Versuch unbrauchbar geworden war. So aufgeregt war ich doch schon lange nicht mehr, grübelte er und atmete noch einmal tief durch in der Hoffnung, damit seinen galoppierenden Puls etwas beruhigen zu können. Doch erst beim vierten Versuch schaffte er es, ein Streichholz zu entzünden und die kleine Kerze im Windlicht zum Brennen zu bringen.

„Pass gut auf dich auf, mein Engel. Schlaf gut. Morgen bin ich wieder da“, sagte er und glitt so unbemerkt aus dem Gewächshaus, wie er wenige Minuten zuvor gekommen war.

Beim Davonhuschen summte er leise das Kinderlied, das ihn an seine Jugend erinnerte, als er sie zum ersten Mal in Nöggenschwiel gesehen hatte: „Sie gleicht wohl einem Rosenstock, drum liegt sie mir am Herzen. Sie trägt auch einen roten Rock, kann züchtig freundlich scherzen. Sie blühet wie ein Röselein, die Wänglein wie das Mündelein. Liebst du mich, so wie ich dich, mein Röslein auf der Heiden.“

Kapitel 3

Samstag, 17. November 2012

„Herbert, soll ich dir noch etwas anderes mitbringen als Eier, Brötchen und die Bildzeitung?“, fragte Luise Kampmann ihren Mann, der im kleinen Badezimmer der Ferienwohnung seiner Morgentoilette nachging und gespannt den 7-Uhr-Nachrichten im Radio lauschte.

Ein Grummeln signalisierte ihr, dass er keine weiteren Wünsche mehr hatte und so zog sie sich ihre festen Schuhe an und streifte sich ihren grauen Winteranorak, an dessen Armen jeweils drei blaue Streifen abgesetzt waren, über ihr leuchtend gelbes Twinset aus Kaschmir.

Bin ich froh, die dicke Jacke eingepackt zu haben, musste sie sich selbst loben, als sie den Schlüssel aus dem Türschloss des Apartments zog und ihr an der Haustür eine eisige Kälte entgegenschlug. Schon seit 23 Jahren fuhren die beiden Dortmunder nach Nöggenschwiel, doch in diesem Jahr zum ersten Mal im November.

Späte Ferien in den meisten Bundesländern hatten dazu geführt, dass Roswitha Villinger, ihre Vermieterin, für den Oktober keine Plätze mehr frei hatte. Und auch wenn die Kampmanns schon ein Jahr im Voraus gebucht hatten, so hatte Roswitha Villinger die beiden inständig gebeten, ob sie dieses Jahr nicht ausnahmsweise einmal im November kommen könnten.

„Sie sind doch beide Rentner, und, na ja, Sie wissen ja, wie die Leute mit Kindern so sind. Gerne viel Platz, ein zusätzliches Kinderzimmer, Badewanne und ein großer Fernseher sollten es schon sein und das hat bis jetzt eben nur das Apartment, das Sie immer buchen“, hatte die sanftmütige, wenn auch energische Vermieterin erklärt und den Kampmanns einen Rabatt von fünf Prozent in Aussicht gestellt. Ein Angebot, das sich Herbert Kampmann als ausgewiesener Sparfuchs nicht hatte nehmen lassen.

So waren die beiden Ruhrpottler, wie Roswitha Villinger das Ehepaar liebevoll nannte, eben erst im November angereist. In Gedanken versunken, was sie heute wohl unternehmen könnten, machte sich Luise Kampmann auf zum Lädele, das samstagmorgens bereits um 7 Uhr geöffnet hatte. Vor mehr als 30 Jahren war der ehemalige große Sitzungssaal im Rathaus zu einem kleinen Lebensmittelmarkt umgebaut worden, der sich nicht nur bei den Einheimischen, sondern auch bei den vielen Touristen großer Beliebtheit erfreute.

Vom Witznauweg, in dem sich Roswitha Villingers Haus mit den zwei Ferienwohnungen im Erdgeschoss befand, gelangte sie, vorbei an einem großen Gehöft, das einem Verwandten der Villingers gehörte, in den Rosenweg, von dem sie nach knapp einhundert Metern nach rechts in einen kleinen Pfad abbog. Dieser geteerte Weg war eine Abkürzung, die ihr Roswitha Villinger einmal verraten hatte, und auf der man auf schnellstem Wege zum Lädele gelangte. Er führte als Einfahrtsweg zum Kindergarten, der in einem gewöhnlichen Zweifamilienhaus nur durch ein buntes Eingangsschild aus Holz und den zwei bemalten Fenstern als solcher zu erkennen war, und zum Seitenbereich der Kirche.

Als sie nach oben blickte, baute sich St. Stephan mit seinen weißen Außenmauern und dem Turm im Barockstil mit der großen Uhr majestätisch vor ihr auf. Ehrfürchtig öffnete sie das weiße Türchen des kleinen Friedhofs, der an der nach Süden gewandten Seite des Kirchenschiffs angelegt worden war und hauptsächlich den verstorbenen Geistlichen der Kirchengemeinde oder den heimgegangenen Brüdern des nahe gelegenen Klosters Maria Bronnen vorbehalten war, und betrat den aus ihrer Sicht heiligen Gottesacker. Der Kies knirschte unter ihren Füßen, als sie den schmalen und nur kurzen Weg zwischen den Gräbern entlang lief, die alle mehr als ordentlich gepflegt waren, wie sie erfreut und nichts anderes erwartend feststellte.

Sie wollte gerade durch das andere Gatter gehen, das den Friedhof vom Kirchplatz trennte, als sie plötzlich eine lallende Männerstimme hörte. Sie erschrak so sehr, dass sie aufschrie und dabei fast das Gleichgewicht verloren hätte. Sie drehte sich um und sah, wie ein Mann mit abgewetzten Hosen und nur einem Schuh an den Füßen, auf den Treppenstufen des Kircheneingangs saß und mal laut und klar, dann wieder leise und in sich nuschelnd, irgendwelche Worte vor sich hin sang. Erst beim genaueren Hinhören erkannte sie, dass es sich bei den Liedzeilen um den Auszug eines Gedichtes handelte, nur dass die Verse keinen Zusammenhang ergaben.

„Sah ich einst ein Röslein stehn, war so jung und war so schön. Die Haare schwarz, die Lippen rot, nun ist sie wie Schneewittchen tot.“

Eine kräftige Böe blies eine so heftige Alkoholfahne von dem Mann zu ihr herüber, dass sie sich angeekelt abkehrte und zum Lädele eilte, als ob nichts gewesen wäre und sie diese Szene nie erlebt hätte. Auch wenn ihr rasender Herzschlag und die blasse Gesichtsfarbe etwas anderes sagten.

„Machen Sie sich nichts aus dem. Der sitzt jeden Morgen dort und nervt uns mit seinen komischen Anwandlungen“, sagte ein Mann, dem sie im Eingangsbereich fast in die Arme gelaufen wäre.

„Oh, entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht gesehen ...“, versuchte Luise Kampmann, immer noch völlig aufgewühlt, sich zu rechtfertigen. Doch der Mann konnte ihre Worte nicht mehr hören, denn er war längst zu seinem Wagen zurückgekehrt und startete gerade den Motor seines Fahrzeugs, um mit quietschenden Reifen den Kirchplatz zu verlassen.

Vor lauter Aufregung hatte sie nun ganz vergessen, ob Herbert noch etwas wollte oder ob er mit seiner Bildzeitung, den Eiern und den Brötchen vollkommen zufrieden war.

Kapitel 4

Die Sonne hatte es an diesem Morgen noch nicht geschafft, die Welt mit ihren warmen Strahlen zu erobern. Zu dicht war der Nebelschleier, der einer undurchdringbaren Mauer glich. Über den Wäldern lag ein schwerer, zäher Dunst, der die Feuchtigkeit langsam über die Baumwipfel trug. Sah man in die Täler hinunter, dann konnte man den Eindruck gewinnen, die Welt habe sich hierher zurückgezogen, um für sich alleine zu sein – in der Hoffnung, dass die Sonne sie endlich wieder mit ihren lebensspendenden Strahlen liebkosen würde. Und doch wusste Mutter Erde, dass sie darauf lange würde warten müssen, war der November doch der erste und auch – vom goldenen Oktober mit seinen letzten sonnenüberfluteten Tagen aus gesehen – der extremste Vorbote einer Jahreszeit, die dem Leben mehr als unwirklich, gar feindlich gegenüberstand.

Auch Franz Marder wusste, warum der November als ein Monat der Besinnung und des Gedenkens galt – der Totenmonat hatte für ihn eine ganz besondere Bedeutung.

Zwei Jahre war es nun her, dass seine über alles geliebte Frau Martha von ihm gegangen war. Lymphdrüsenkrebs im Endstadium, so die furchtbare Diagnose, an der er mehr zerbrochen war als seine Frau.

Selbst in ihren schwersten Stunden spendete sie ihm Kraft, baute ihn mit ihrem liebenden Blick und ihrem so anmutigen Lächeln auf.

Auch nach den kräftezehrenden Chemotherapien und Bestrahlungen im Freiburger Universitätsklinikum gab sie nicht auf und molk noch pünktlich morgens um 5 Uhr die Kühe, wenn es ihre Kräfte zuließen.

„Die Tiere können ja nichts für meine Krankheit“, hörte er sie noch sagen. Und ohne weitere Widerworte zu geben, dass das doch alles viel zu anstrengend für sie sei, ließ er sie gewähren und bewunderte seine starke Frau für ihre Kraft.

Eine Kraft, die er selbst nie aufgebracht hätte.

Dabei war der Stall ihr Lieblingsplatz auf dem gesamten Hof.

Und hier hatte er, als er nachsehen wollte, ob er seine Gummistiefel im Stall hatte stehen lassen, zum ersten Mal ihre Tränen gesehen. Angelehnt an die dienstälteste Kuh im Stall, Soraya, weinte sie bitterlich. Dabei strich sie dem sanftmütigen Wiederkäuer ständig über das weiche Fell, was Soraya mit einem munteren Schmatzen honorierte.

Zehn Tage später war Martha tot. Verloren der Kampf gegen eine so teuflische Krankheit.

Franz, von Kindesbeinen an gläubig – getauft, kommuniziert und gefirmt in St. Stephan in Nöggenschwiel, hatte sich seitdem von Gott abgewandt. Im Stich gelassen habe er ihn, so seine Begründung, und ihm das Liebste genommen, was er je besessen hatte.

Um seiner Wut über den lieben Gott, über die Ärzte, die seiner Frau nicht helfen konnten, und über die Mitmenschen, die mit Beileidsbekundungen an seinem Leid Anteil nehmen wollten, Ausdruck zu verleihen, schottete er sich von allem ab. Er kündigte seine Mitgliedschaft im Heimat- und Geschichtsverein und trat als stellvertretender Vorsitzender von allen Ämtern zurück. Er besuchte keine einzige Probe des Kirchenchors mehr und ließ seinen Bauernhof mehr und mehr im Stich.

Selbst, als er seinen großen Bauernhof mit seinen Landmaschinen, darunter den großen Traktor und den neuen Mähdrescher, sowie seine geliebten Tiere verkaufen musste, stand er nur regungslos da und ließ es über sich ergehen. Er konnte noch nicht einmal eine Träne vergießen, so weit entfernt schien alles für ihn zu sein.

Martha hätte sich nie so gehen lassen. Sie hätte um den Erhalt des Bauernhofes gekämpft. Sie hätte euer gemeinsames Lebenswerk erhalten und im Gedenken an dich gepflegt, so sprach immer häufiger sein Gewissen zu ihm. Aber selbst sein Gewissen schaffte es nicht, ihn zu einem Umdenken zu bewegen. Ganz im Gegenteil: Franz Marder versuchte fortan immer öfter, diese insistierende innere Stimme mit Alkohol zum Verstummen zu bringen.

Doch er musste feststellen, dass die Stimme umso lauter zu ihm sprach, je mehr er trank. Denn Martha hatte nichts mehr gehasst, als wenn ihr Franz zu tief ins Glas schaute.

Nur einmal im Jahr, wenn der Rosenumzug durch Nöggenschwiel gezogen und sein Wagen mal wieder als schönster Rosenwagen prämiert worden war, da hatte sie ein Auge zugedrückt und so getan, als ob sie seinen kleinen Schwips nach einigen Rosenschnäpsen nicht bemerkt hätte.

So verbrachte er jeden Tag auf dem Kirchplatz, versuchte mit den Leuten zu reden, die im Lädele einkaufen gingen, sonnte sich auf der Bank vor dem Gotteshaus oder döste auf den Kirchenstufen. Wirklich ernst nahm ihn im Dorf schon lange niemand mehr. Daran hatte er sich längst gewöhnt.

Doch was er vor wenigen Tagen beobachtet hatte, ließ ihm seitdem keine Ruhe mehr: Die Nacht hatte den Ort bereits in ihr dunkles Gewand gehüllt, als er plötzlich dieses kleine helle Licht gesehen hatte, das in die Dunkelheit leuchtete. Es hatte ihn von jetzt auf gleich verzaubert und in seinen Bann gezogen.

Aber weder der Bürgermeister Josef Huber noch Reinhold Nägele, der erste Vorsitzende des Heimat- und Geschichtsvereins und sein guter Freund aus Kindertagen, wollten ihm zuhören, als er sie darauf vor einigen Tagen angesprochen hatte. Sie taten seine Worte als Geschwätz, als dummes Zeug ab. Er solle doch gefälligst weniger trinken, um wieder klarere Gedanken zu fassen, so ihre einhellige Meinung, die sie ihm unmissverständlich und mit eindeutigen Worten klarmachten.

Die Gespräche hatten ihn aufgewühlt. Mehr, als er sich jemals hätte eingestehen wollen. Wenn man überhaupt von Gesprächen sprechen konnte. Immer wieder beschäftigten ihn die harten Worte seiner Freunde und ließen ihn nicht mehr los. Immer noch tief verletzt und mit einer Flasche selbst gebrannten Rosenschnapses unter seinen Arm geklemmt, war er auch an diesem Morgen von seiner Wohnung zum Dorfplatz getrottet. Wenigstens der Schnaps hört mir noch zu und nimmt mich ernst, dachte er, als er die große Eiche vor der Kirche erreicht hatte. Er setzte sich auf die Treppenstufen der Kirche, seinen Lieblingsplatz im Dorf, in der Hand die goldene Brosche seiner Martha, und grummelte erst leise, dann immer lauter werdend vor sich hin. Als wäre es eine Eingebung, wurde aus diesem wirren Gebrummel ein Gedicht. Und dieses Gedicht wollte ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen.

Er hatte es auch auf den Lippen, als dann diese ältere Frau um die Ecke der Kirche bog und aufschrie, als sie ihn sah. Dabei wusste er selbst nicht, wie ihm geschah. Auf jeden Fall tat es ihm schrecklich leid, diese Frau, die ihn an seine Martha erinnerte, so erschreckt zu haben.

Ich muss mich bei ihr entschuldigen, wenn ich sie das nächste Mal sehe, nahm er sich fest vor, als er sich nach der Begegnung auf den Heimweg gemacht hatte. Und auch wenn der Reim allgegenwärtig war, so überlegte er bei einer Tasse Kaffee fieberhaft, mit welchen Worten er die Frau um Verzeihung bitten könnte.

„Doch vorher muss ich unbedingt noch mal an den Ort zurück, an dem ich dieses kleine Licht aufleuchten sah“, murmelte Franz Marder und verließ sein kleines Zimmer unterm Dachboden in Richtung Dorfmitte.

Mit dem einen Ziel vor Augen.

Kapitel 5

Auch wenn es schon hell war, wirkliche Aufbruchstimmung wollte bei Emma nicht aufkommen, als sie um kurz vor 7.30 Uhr zum ersten Mal auf die Uhr sah.

Abgeschlagen, erschöpft, ja immer noch richtig müde fühlte sie sich. Und so freute sie sich auf ihre heiße Schokolade, als sie, in ihren Bademantel eingehüllt, in der Küche ihrer Ferienwohnung stand und resigniert feststellen musste, dass sie gestern Abend kein Kakaopulver im Lädele eingekauft hatte. Dabei war sie sich sicher gewesen, die große Familienpackung neben ihre anderen Einkäufe auf die Theke gestellt zu haben.

Maria Reisingers Worte hatten ihre Gedanken seit mehr als zwölf Stunden nur um Charlotte und ihr mysteriöses Verschwinden kreisen lassen. Vor allem hatte das Gespräch mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben. Wie schon den gesamten gestrigen Abend über, so dachte sie auch heute Morgen immer und immer wieder über diesen einen Satz nach. Doch ganz gleich, wie sie ihn auch drehte und wendete, sie fand für sich keine plausible Erklärung, warum Charlotte seit dem Abend des Rosenballs vor fünfzehn Jahren verschwunden sein konnte.

Bisher war Emma immer davon ausgegangen, dass Charlotte eine glückliche Kindheit verbracht hatte.

Emma seufzte und dachte an Reinhold Nägele, der seine Tochter über alles geliebt und nichts unversucht gelassen hatte, ihr jeden nur erdenklichen Wunsch zu erfüllen.

„Aber vielleicht war es ja genau diese überschwängliche Liebe, vor der Charlotte geflohen ist“, überlegte Emma und ließ ihren Blick aus dem Wohnzimmerfenster schweifen. Der Himmel war in ein Einheitsgrau gefärbt. Auf den Äckern auf der anderen Straßenseite pickten einige Krähen unermüdlich nach den letzten Samen und Insekten, die der erste Frost noch verschont hatte.

Aber mit wem konnte sie abgehauen sein und vor allem, wohin? Und gab es nicht vielleicht noch viel triftigere Gründe, warum sie alles, was sie scheinbar so liebte, plötzlich hinter sich ließ? Vielleicht hätte ich mich in den ganzen Jahren doch einmal bei ihr melden sollen. Dann hätte ich möglicherweise auch mitbekommen, wenn ihr etwas auf dem Herzen gelegen, sie Sorgen, Nöte, ja vielleicht sogar Ängste gehabt hatte, dachte Emma und versuchte, das aufkommende schlechte Gewissen mit einem kräftigen Schluck kalter Milch herunterzuspülen. Und doch war das bei Weitem nicht das Gleiche wie eine heiße Tasse Kakao.

Doch sie hatte sich immer nur auf ihre Ausbildung und Karriere konzentriert. War es anfangs die Schule, die all ihre Zeit in Anspruch genommen hatte, so folgten nach dem Abitur das Studium und ihre Ausbildung zur Kriminalkommissarin, der sie ihre ganze Aufmerksamkeit schenkte. Schenken musste. Eine Zeit, in der kein Platz für lose Kontakte übrig war. Und wenn, dann habe ich sie vernachlässigt, dachte sie und tadelte sich im nächsten Augenblick für diesen Gedanken – auch wenn er hundertprozentig der Wahrheit entsprach.

Aber jetzt bin ich hier und kann das alles wieder aufholen.

„Hoffentlich“, verbesserte sie sich. Denn, was wäre, wenn Charlotte nicht einfach bloß verschwunden ist? Wenn sie gar einem Verbrechen zum Opfer gefallen war? Gedankenverloren lehnte sie sich an die Spüle, während sie mit beiden Händen den großen, nur mit Milch gefüllten Becher umfasste und ihren Blick durch die Wohnung schweifen ließ.

Aber was soll ihr schon geschehen sein, dachte sie und ermahnte sich, dass sie hier sei, um sich zu erholen. Denn nun hatte sie endlich Urlaub. Ruhe, Ruhe und nichts als Ruhe. Vor allem freute sie sich auf ausgedehnte Spaziergänge, lange DVD-Abende und gemütliche Lesestunden. Und eine verschwundene Charlotte ist in diesem Verwöhnprogramm nicht wirklich vorgesehen, dachte sie und wühlte dabei in ihrer Reisetasche nach einem dicken Pulli, einer Jeans und bequemen Schuhen, die sie, Gott sei Dank, gestern beim Packen noch schnell zu ihren Sachen gestopft hatte.

Nachdem sie sich geduscht, angezogen und die Haare unter einer dicken Wollmütze eingepackt hatte, machte sie sich auf zum Lädele, als ihr Roswitha Villinger im Flur über den Weg lief.

„Hallo Emma, herzlich willkommen zurück. Wie geht es dir?“, fragte Roswitha Villinger und lächelte dabei über das ganze Gesicht. „Ich war gestern noch bei der Chorprobe, als du hier angekommen bist und mein Mann dir die Schlüssel für das Apartment gegeben hat. Es ist schön, dich nach so vielen Jahren wiederzusehen.“

Roswitha Villinger hatte dunkelblondes Haar, das ihr knapp über die Ohren reichte und etwas kraus war. Sie war leicht rundlich, ohne dabei unförmig oder gar dick zu wirken. Über einem leuchtend orangefarbenen Top trug sie eine geöffnete, langärmelige Bluse, in deren Muster sich die Farbe des Oberteils wiederfand, dazu eine dunkelblaue Jeans und offene Hausschuhe. Unter dem linken Arm hatte sie einen Wäschekorb geklemmt, der mit schmutzigen Socken, Hemden, Handtüchern und Bettwäsche gefüllt war.

„Das freut mich – und vielen Dank, dass das mit der Wohnung noch geklappt hat“, sagte Emma und erinnerte sich an die Zeit zurück, als sie das erste Mal in Nöggenschwiel war und die gemütlich wirkende Frau vom ersten Moment an in ihr Herz geschlossen hatte. Damals hatte Roswitha Villinger der Familie immer mal wieder Kuchen und Teilchen vor die Tür gestellt und sie gleich am ersten Abend eingeladen, ihren selbst gemachten Rosenlikör zu probieren.

„Aber irgendetwas scheint dich zu bedrücken? Brauchst du noch ein paar Handtücher oder soll dir Georg die Heizung höher drehen?“

„Nein, es ist wie immer alles sehr schön bei Ihnen.“

„Und was ist dann der Grund?“

„Ich habe jetzt erst erfahren, dass Charlotte verschwunden ist, und das geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Ich frage mich die ganze Zeit, wo sie nur sein kann?“

„Ja, das ist eine wirklich tragische Geschichte.“

„Ich meine, ich war fünfzehn Jahre nicht hier und dann komme ich wieder und Charlotte ist wie vom Erdboden verschwunden. Ich war gestern Abend noch kurz im Lädele, um ein paar Sachen zu besorgen. Und da erzählte mir Maria Reisinger von Charlottes Verschwinden in der Nacht des Rosenballs. Also genau an dem Tag, als ich sie zuletzt gesehen habe.“

„Ja, das hat uns irgendwie alle sehr mitgenommen. Und uns besonders ...“, erwiderte Roswitha Villinger, die mittlerweile den kleinen Waschraum betreten hatte und nun mit wenigen Handgriffen die Waschmaschine befüllte.

„Was ist denn eigentlich genau passiert, damals, in der Nacht ihres Verschwindens? Maria Reisinger hat es leider nur bei einer Andeutung belassen, dass etwas ganz Schlimmes geschehen sein muss“, sagte Emma, die sah, wie Roswitha Villinger einen Becher Waschpulver nahm, um es anschließend in die Kammer für die Hauptwäsche zu schütten. Dann goss sie eine Kappe Weichspüler in das mittlere Fach der Waschmaschinenschublade, drehte am Hahn über dem Emaille-Waschbecken das Wasser auf, drückte den Startknopf und wandte sich anschließend wieder ihrer Gesprächspartnerin zu.

„Da gibt es auch nicht viel zu erzählen. Sie soll mit ihrem damaligen Freund René durchgebrannt sein. So wurde es hier im Ort damals getuschelt.“

„Und stimmt es?“

„Das weiß keiner so genau. Nein, zumindest glaube ich das nicht. René ist damals natürlich als einer der Ersten befragt worden und auch er hat Charlotte angeblich seit dem Rosenball nie mehr gesehen.“

„Vielleicht wollte sie nur für eine gewisse Zeit von zu Hause weg?“, fragte Emma. Sie erinnerte sich daran, wie sie als Teenager diesen Schritt ein ums andere Mal in Erwägung gezogen hatte. Nur zu gern hätte sie ihre Eltern für all die Ungerechtigkeiten bestraft, die sie als Jugendliche empfunden hatte. Doch letztendlich in die Tat umgesetzt hatte sie diesen Plan nie. Zu drastisch waren ihr damals die Konsequenzen erschienen. Und ein Zurück hätte es sicher nicht gegeben. Ihre Eltern hätten ihr diesen Schritt nie verziehen.

Niemals.

„Mag sein, denn aufgetaucht ist sie seitdem hier oben nicht mehr. Aber ob die Polizei noch nach ihr sucht oder den Fall schon längst zu den Akten gelegt hat, keine Ahnung ...“ Roswitha Villinger zuckte mit den Achseln.

„Also hat sie jemand als vermisst gemeldet?“

„Ja, ihr Vater. Schon sehr schnell, keine sechs Stunden nach dem Rosenball. Aber wie gesagt, seitdem hat sie hier keiner mehr gesehen. Und, wer weiß, am Ende ist sie ja wirklich durchgebrannt und genießt jetzt ihr Leben in vollen Zügen. Schließlich hatte sie das Dorf ganz schön satt.“

„Tja, anscheinend habe ich Charlotte nicht wirklich gut gekannt. Sie hat mir immer den Eindruck vermittelt, glücklich zu sein.“

Ob ihr Charlotte wirklich immer nur etwas vorgemacht hatte? Und doch wollte das Bild, das sich von Charlotte in ihrer Erinnerung festgesetzt hatte, so gar nicht zu dem passen, das Roswitha Villinger von ihr zeichnete.

„Tja, Charlotte war eben immer etwas Besonderes.“ Roswitha Villinger bückte sich, nahm den Wäschekorb hoch, klemmte ihn unter ihren Arm und ging an Emma vorbei in den Flur.

„Sie meinen ...?“

„Wie gesagt, keine Ahnung, aber seit diesem Tag ist hier in Nöggenschwiel nichts mehr so wie es einmal war. Nur, ich hätte die Suche nach meiner Tochter niemals aufgegeben. Niemals. Denn wer weiß, am Ende ist ihr wirklich etwas passiert. Aber vielleicht bekommst du ja nach so langer Zeit noch etwas über Charlottes mysteriöses Verschwinden heraus.“

Emma schaute ihrer Vermieterin gedankenvertieft nach. Vielleicht war Charlotte ja wirklich etwas zugestoßen?

Kapitel 6

Er wusste, dass er aktiv werden musste. Seitdem der alte Bauer im Vollrausch nun auch in aller Öffentlichkeit immer wieder sein selbst gereimtes Gedicht vortrug, hatte dieser offensichtlich Verdacht geschöpft.

Ob der Alte ihn mal gesehen hatte? Doch welche möglichen Szenarien er sich auch immer ausmalte, er hatte keine Erklärung, wie der Bauer hinter sein Geheimnis gekommen sein konnte.

Noch schenkt dem versoffenen Sack niemand im Dorf Beachtung, aber das kann sich schnell ändern, schließlich sagt der Lateiner nicht umsonst „in vino veritas“, dachte er, und in ihm stieg der Tatendrang auf, der schon immer sein treuester Begleiter gewesen war. Es wird also höchste Zeit, etwas zu tun, überlegte er, während er so am Fenster stand und in den verhangenen Himmel schaute.

Es regnete so heftig, dass man kaum die großen Laubbäume auf dem Friedhof und den dahinterliegenden Kirchturm von St. Stephan auf der anderen Straßenseite sehen konnte.

Ihm machte dieses Wetter jedoch nichts aus. Er liebte den Regen sogar. Diese beständige Feuchtigkeit, der man nicht entfliehen konnte. Er nahm seinen olivgrünen Anorak vom Haken und zog sich seine schweren Schuhe an.

Der Regen prasselte ans Fenster der Vorderfront des Hauses. Auf dem kiesbedeckten Hof hatten sich bereits Pfützen gebildet, die von Minute zu Minute größer wurden.

Ich muss dem ganzen Spuk ein Ende setzen, ehe noch etwas passiert, schwor er sich ein und wollte gerade, die Autoschlüssel schon in der Hand, zu seiner Garage gehen, als er jemanden im etwas abseits gelegenen Garten herumschleichen sah.

Kapitel 7

Als Luise Kampmann vom Einkaufen zurückkam, hatte es bereits angefangen zu regnen.

Von Minute zu Minute wurde der Regen stärker, und Luise dachte, als sie in ihr noch leicht warmes und mit selbst gemachter Pfirsichmarmelade bestrichenes Brötchen biss, dass sie doch besser auf ihre Tochter hätten hören und – statt nach Nöggenschwiel zu fahren – auf die Kanaren hätten fliegen sollen.

Doch das Rosendorf im Schwarzwald war den beiden Dortmundern über die mehr als zwei Jahrzehnte ans Herz gewachsen. Das gute badische Essen, die herzlichen Menschen, die immer zu einem Gespräch am Gartenzaun oder im Restaurant bereit waren, und vor allem die Rose, die Königin der Blumen, hatten es der 67-Jährigen angetan.

Sie liebte Blumen, besonders die Gartenarbeit zu Hause in ihrem Vorgarten, und daher konnte sie sich nie sattsehen an den Schönheiten, die ihr die Natur jedes Jahr aufs Neue schenkte.

Wenn nur dieses scheußliche Wetter nicht wäre.

„Meinst du, wir hätten doch nach Teneriffa fliegen sollen?“, fragte sie ihren Mann, der gerade den Sportteil der Bildzeitung las.

„Hm, du weißt doch, dass ich Flugangst habe. Und hier ist es doch sehr schön“, entgegnete Herbert Kampmann kurz und nahm einen Schluck Kaffee, ehe er sich wieder seiner Morgenlektüre widmete.

„Hier ist es schön? Dass ich nicht lache. Du schaust den ganzen Tag doch nur Sport, von morgens bis abends. Das hättest du auch in Dortmund tun können“,musste Luise ihrem Frust einmal Luft machen. „Immer wieder vertröstest du mich auf morgen, wenn ich mal mit dir etwas unternehmen will, dabei weißt du, wie gerne ich spazieren gehe.“

„Hm“, erwiderte ihr Mann.

„Und ich kann nun mal nichts für dieses Sauwetter“, protestierte sie, um sich gleichzeitig für ihren scharfen Ton zu entschuldigen: „Bitte, lass uns mal ein wenig rausgehen, und wenn es nur bis zum Witznaustausee ist“, hörte Herbert bereits den leicht verzweifelten Unterton in den Worten seiner Frau.

Für Luise war nichts schlimmer, als zur Untätigkeit verdammt zu sein. Und er wusste, auch wenn es wie aus Eimern goss, er musste auch einmal etwas für sie tun.

„Luise, lass uns noch in Ruhe zu Ende frühstücken und dann ziehen wir uns wetterfest an und laufen den Weg hinunter zum Stausee“, sagte Herbert und sah über den Rand seiner Zeitung hinweg, wie er damit ein freudiges Strahlen auf das Gesicht seiner Frau zauberte. Auch wenn wir dort noch weniger erleben werden als hier in unserer Ferienwohnung, fügte er gedanklich hinzu.

Einen Gedanken, den er keine Stunde später mehr als bereuen sollte.

Kapitel 8

Der Regen prasselte auf seine Mütze, als er durchs Dorf schlappte wie ein müder Krieger. Wie ein Soldat, der von seiner letzten Schlacht nach Hause kommt – ohne Rüstung, ohne Kameraden, ohne Sieg.

Franz Marder bewunderte die gut geführten Pensionen und Ferienwohnungen, die rechts und links des Rosenwegs mit ihrer gemütlich-urigen Schwarzwaldromantik Touristen von nah und fern nach Nöggenschwiel einluden.

Genauso viel Bewunderung empfand er, wenn er an die vier Bauernhöfe im Ort mit ihren idealistischen Besitzern dachte, die die Krisenzeiten der Landwirtschaft mit niedrigen Milchpreisen, hohen steuerlichen Abgaben und dem kaum erwähnenswerten Umsatz bisher noch halbwegs glimpflich überstanden hatten.

Auch jetzt fühlte er sich immer noch wie einer von ihnen, wenngleich er schon lange keinen Hof, keine Kühe und keine Maschinen mehr besaß.

Wehmütig schaute er zum Bauernhof seines Bruders hinüber, der im Rosendorf nicht nur der Landwirt mit den größten Ländereien war, was die Hektarzahl betraf, sondern auch der mit den meisten Kühen und den teuersten Maschinen. Sein Betrieb florierte und er brauchte sich keine Sorgen zu machen. Nicht wie Franz, der wegen seiner gutgläubigen Naivität, seiner irrationalen Vorstellungen und wegen des Verlusts eines ihm so vertrauten Menschen alles verloren hatte.

Er biss sich auf die Lippen. Sein Kiefer bebte vor Wut und Verzweiflung. Minutenlang betrachtete er das große Anwesen und er stellte sich vor, er wäre es, der jetzt aus der Scheune kommen, den Traktor besteigen und aufs Feld hinausfahren würde. Es war sein Lieblingsfilm, der sich in seinen Gedanken immer und immer wieder abspielte.

Ein Film, in dem seine Frau ihm, wie jeden Morgen, bevor er mit seinem Trecker hinausfuhr, eine Kanne Kamillentee in die Scheune brachte. In dem er noch mit der Sense die Außengrenzen seiner Felder abmähte und das getrocknete Gras zu großen Heuballen zusammenband. In dem er einfach er selbst, Franz Marder, sein durfte.