Ungesagtem lauschen - Uwe Berger - E-Book

Ungesagtem lauschen E-Book

Uwe Berger

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Beschreibung

Diesen Erinnerungen hat der Autor in einer Vorbemerkung eine Berufung auf ein Wort von Alexander von Humboldt von „dem Selbstbeobachteten, dem Selbsterlebten“ vorangestellt. Und genau darum geht es in diesen hier zum ersten Mal veröffentlichten persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen, die zur Wende von 1989/1990 hinführen, von ihr herkommen und heutige Umstände zeigen zur Zeit der Erstveröffentlichung im Jahre 2005. Gelegentlich habe er dafür die Form des Gestern und Heute verbindenden Essays gewählt, so der Autor. Erklärtes Ziel dieser 50 Textseiten von Uwe Berger ist es, „ein Licht auf deutsche Irrwege und Wege in unserer Zeit zu werfen und anderen zu helfen, sich zurechtzufinden“. Und so reichen diese sehr persönlichen und politischen Erinnerungen vom zweiten Weltkrieg, als der Vierzehnjährige 1943 als aus Berlin evakuiertes Kind erstmals polnischen Boden betrat und dort faschistisches Lagerleben kennenlernte, über eine viel spätere Reise mit einer DDR-Kulturdelegation nach Polen sowie über Begegnungen und die Freundschaft mit dem estnischen Schriftsteller, Filmemacher und Politiker Lennart Meri bis zu einem Volksfest im Verbannungsort des großen russischen Dichters Puschkin im Jahre 1971. Aber auch manch andere Erinnerung an Menschen und Zeiten kommt zur Sprache, die die Lage in der früheren DDR erhellen. Manchmal ist da auch von der Kritik am kleinkarierten Denken in DDR-Köpfen die Rede. Das gab es aber offenbar auch anderswo. Denn mit dem damaligen Botschafter der UdSSR in der Deutschen Demokratischen Republik, Wjatscheslaw Kotschemassow, verstand er sich offensichtlich nicht: „Wir hatten uns nichts zu sagen.“ Ein besonderes Stück deutscher und DDR-Geschichte – nicht zuletzt im Widersteit zwischen Anpassung und Abwendung von der sowjetischen Führung. Spannende Details von einem, der manchmal dicht dran war an der großen Politik des kleinen Landes. Und nicht zuletzt ist „Pfade hinaus“ eine spannende kulturelle Bildungsreise, die es anzutreten lohnt.

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Seitenzahl: 66

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Impressum

Uwe Berger

Ungesagtem lauschen

Aus dem Tagebuch der Jahre 2000 bis 2012

ISBN 978-3-86394-004-1 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta unter Verwendung einer Zeichnung von Uwe Berger

© 2013/2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

20. März 2000

Weil ich zu Hause Einblick in die Verhältnisse unten hatte und auch Erfahrungen oben machte, war ich 1983 als Mitglied einer DDR-Kulturdelegation in Polen mir bewusst, dass es so nicht weitergehen konnte. Dummheit und Arroganz, Regelungswut und Zynismus waren auf unserer Seite eklatant und vorherrschend, angesichts dazu noch klassischer deutscher Maßstäbe und deutscher Verfehlungen in jüngster Vergangenheit.

Ich ertrug meine Mannschaftsleitung nur durch den Austausch mit der gescheiten und maßvollen Dolmetscherin Katarzyna Kielczewska, ihres Zeichens Journalistin bei Radio Polonia. Wir stellten eine Gemeinsamkeit des Denkens und der Ansichten fest, die sehr umfassend war und mich zu poetischer Aussage drängte.

Sie war mir lieb an meiner Seite in Warschau, Morag, Krakow, lieber als meine Leute, die im Fieber des Dünkels keuchten, die Gescheite, Gemäßigte, die meine Sätze in ihrer Sprache ließ erklingen, die klang in ihrem Mund wie Singen. Das Lied der menschlichen Gesetze half mir, das Grauen zu bestehen am Ort, wo immer Schreie wehen, war wie die Wälder von Masuren, die uns umarmten, als wir fuhren, war das Gedachte, das wir tauschten, das Ungesagte, dem wir lauschten.

22. September 2000

Von der Veranda des Schlosshotels Göhren-Lebbin in Mecklenburg blicke ich auf die von alten Bäumen eingerahmten Golfplätze, nichts weiter als gepflegte Wiesen, die sich weit in die Landschaft hinein ziehen. Hinter dem Waldsaum, der das Bild abschließt, liegt der der Müritz benachbarte Fleesensee, eine große ruhige Wasserfläche.

Gestern haben wir die kleine Stadt Malchow besucht. Eine drehbühnenartige Straßenbrücke wurde zur Seite bewegt, um wartende Schiffe durchzulassen. Der Pfarrer der Stadtkirche zeigte uns seine Wirkungsstätte, ein im Stil der Backsteingotik im 19. Jahrhundert errichtetes Gebäude.

7. November 2000

Der estnische Präsident Lennart Meri ist zu einem Staatsbesuch in die BRD gekommen. Von ihm und seiner Gattin Helle haben Anne und ich eine Einladung zum Mittag-Büfett in das Hilton-Hotel am Gendarmenmarkt erhalten.

Wir finden eine Versammlung vor, in der alte und sehr alte Menschen dominieren. Da wir in der Nähe des Mikrofons stehen, tritt Meri auf uns zu und sieht mich fragend an. Ich weise auf meine Frau und sage: "Das ist Doktor Anneliese Berger. Mein Name ist Uwe Berger."

Meri lächelt sein bekanntes Lächeln und erwidert gedehnt:

"Ja ... wenn Sie hier nicht gemeinsam stünden, dann hätte ich Sie nicht erkannt." Anne war ihm damals ziemlich in die Augen gefallen. Entschuldigend fügt Meri hinzu: "Es ist ein Vierteljahrhundert her, dass wir uns gesehen haben." Immerhin hat er nachgerechnet.

Seine Frau, eine große, schlanke Blondine, kommt dazu, und er stellt sie uns vor. Helle Meri lächelt freundlich und bescheiden. Sie scheint kein Wort Deutsch zu sprechen, so wie wir kein Wort Estnisch verstehen. Aber das tut der Begegnung keinen Abbruch.

Meri ist im Gesicht voller geworden. Morgen will er die Schule im Bezirk Tiergarten besuchen, in der er 1935 als Diplomatenkind eingeschult wurde. Ich habe festgestellt, dass unsere Schulen ganz dicht beieinanderlagen, seine in der Derfflinger-, meine in der Lützowstraße. Unsere Wege führten uns weit auseinander, bis uns Kasachstan und Paul Fleming zusammenbrachten.

Heute stehen wir hier.

Da ich weiß, dass die Begegnung kurz sein wird, sage ich den einen Satz: "Sie sind ein guter Geist in meinem Leben."

Meri sieht mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an und wendet sich zum Mikrofon, um eine kleine Rede an die Versammelten zu halten.

Im Haus der Deutschen Wirtschaft des DIHT hören wir am Nachmittag einen kurzen, aber konzentrierten Vortrag Meris. Er zieht eine eindrucksvolle Bilanz der ökonomischen Entwicklung des neuen Estlands und fordert den raschen EU-Beitritt seiner geliebten Heimat: "Wer so weit ist, ist so weit."

8. November 2000

Im Lichthof des Auswärtigen Amtes am Werderschen Markt wird am Nachmittag die Ausstellung "Estnische Malerei der Jahrtausendwende" eröffnet.. Wir sind von der Botschafterin Dr. Riina Kionka eingeladen. Lennart Meri kommt in Begleitung des Hausherrn Joseph Fischer. Leider verstehen wir die Reden an unserem Standort nur teilweise.

Meri, der ja auch Schriftsteller ist, spricht von einem früheren Aufenthalt in Ostberlin. Die Kunst, wo immer sie auch entsteht, sei etwas Bleibendes, ganz im Gegensatz zu den politischen Umständen. Moderne Kunst überdaure, wenn sie wirkliche Kunst sei und nicht nur dem Markt diene. Vielen Dank, lieber Freund! Mit feiner Ironie glossiert der Redner den Begriff "Leitkultur", indem er ihn auf die estnische Kultur bezieht.

Die Ausstellung ist hervorragend und nicht, wie ich einen der zahlreichen geladenen Gäste herablassend äußern höre, "ganz hübsch". Es wäre gerecht, die Exponate an dem zu messen, was früher in Estland war oder sein konnte. Aber auch, wenn man moderne Kunst aus Mitteleuropa heranzieht, behaupten diese Bilder ihren Platz, zumal, wenn man bedenkt, wie viel konsequent Leeres hier produziert wird.

Aufgefallen ist mir das 2000 entstandene Bild "The mind is a selfprotecting mechanism" von Jaan Elken, eine in blaugrauen und mattroten Tönen gehaltene abstrakte Hommage an den autonomen Geist, also eine differenzierte Aussage zu Geschichte, Identität und Souveränität Estlands, kein Nichts in Nichts, keine absolute Beliebigkeit.

Dramatische Darstellung ist auch die Abstraktion "Nüchterne Berechnung und strenge Disziplin" von Rein Kelpman, ein ebenfalls 2000 geschaffenes Bild. Der kalte blau gegliederte Hintergrund mit dem weiß blitzenden Element im Vordergrund impliziert im Rationalen das Irrationale, in der Berechnung das Bewegte, in der Disziplin die Leidenschaft.

Oder der Doppelakt "Ein Jahrhundert geht zu Ende" von Olev Subbi aus dem Jahr 1999. Zwei sitzende Frauen, in diskreter Haltung nackt, aber nicht ausgezogen, die eine mit dem Rücken zum Betrachter, die andere sich an ihm vorbei frontal ins Leben wendend, den breitkrempigen Hut ins markante Gesicht gezogen. Resignation und Wagnis, Abkehr und Zuversicht - kalkig graublaue Farben fügen Gestalten und Mauerwerk vor dem Rot, Grün, Gelb und Blau der Küstenlandschaft zusammen. Das realistische Bild hat einen abstrakten, symbolhaften Sinn und genügt durch seine Farbgebung abstrakten Regeln.

Das alle Werke der Ausstellung Verbindende ist diese realistische Abstraktheit oder abstrakte Sinnhaftigkeit. Vergleichbares finde ich nur in der klassischen Moderne, bei Edvard Munch etwa oder den Brücke-Malern. Ich meine, das besondere Merkmal der estnischen Schule schafft ein nicht zu übersehendes Vor-Bild.

16. März 2001

Anne hat es geschafft. Seit Juli vorigen Jahres ist sie befreit von der Last ihrer gut und weiterhin gut gehenden Praxis. Ein jüngerer Arzt ist an ihre Stelle getreten.

Für Anne und mich ist das ein Neuanfang. Hatte ich bisher nur einen Wochenendgast zu Hause, lebe ich nun mit einer aufmerksamen und selbstsicheren Gefährtin zusammen. Wir begründen unsere Liebe auf anderer Basis ganz von vorn.

Arzt mit Leib und Seele, gibt sie ihre Medizin natürlich nicht auf. Sie hat sich ein kleines Zimmer neu gestaltet, dessen Wände mit Büchern und Akten tapeziert sind und in dessen Mitte ein, wie ich es nenne, logistisches Zentrum mit Computer, Kopierer und anderen Geräten thront.

Für mich bedeutet ihre Anwesenheit - ein schönes Wort übrigens - die Möglichkeit, mich wieder mehr auch dem Nachsinnen, Aufschreiben und Managen zu widmen.

Zurzeit habe ich mich unter anderem auf eine geistige Reise in das alte Mexiko begeben. Das ist eine nahe und doch ferne und fremde Kultur. Die uralten olmekischen Masken, Kolossalstatuen und Statuetten, die klassische Stadt Teotihuacán mit der Sonnenpyramide, der Mondpyramide, dem Tempel des Quetzalcoatl und die Menschenopfer.

Lieber als der Opferschädel aus Tenochtitlán mit den Kunstaugen und den in Mund- und Nasenöffnung gerammten Steinmessern sind mir freilich die erotischen Keramiken der Moche-Kultur in Peru.

12. Mai 2001

Gemeinsam mit meiner Doktorin nehme ich teil an einem Symposium Reise- und Impfmedizin, das im Auswärtigen Amt am Werderschen Markt stattfindet. Getagt wird im "Weltsaal", der im alten Teil des Gebäudekomplexes liegt.

Dieser alte Teil aber ist nichts anderes als das Hauptgebäude der ehemaligen Deutschen Reichsbank, das nach dem zweiten Weltkrieg zum Sitz des Zentralkomitees der SED gemacht wurde.