Unglaubliche Begegnungen - Klaus D Bornemann - E-Book

Unglaubliche Begegnungen E-Book

Klaus D Bornemann

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Beschreibung

Begegnungen bestimmen unser Leben. Menschen kreuzen unseren Weg. Manche bleiben uns in Erinnerung, Andere erscheinen und verschwinden wieder, wie Irrlichter in dunkler Nacht. Und oft ist es nur eine Kleinigkeit, die diese Begegnungen unglaublich werden lässt: Ein falsches Wort, dämmriges Licht, ein müdes Auge. Dann richten sich unsere Nackenhaare auf, unsere Sinne schärfen sich, und wir behalten sie in Erinnerung, die flüchtigen Augenblicke unglaublicher Begegnungen. Dieses Buch handelt von Unglaublichen Begegnungen, Erzählungen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Zum Lachen, Weinen, Mitfühlen und Nachdenken. Und doch haben sie alle eines gemeinsam: Sie fesseln Sie an die Seiten, berühren Sie und am Ende hinterlassen sie ein kleines, nachhallendes Gefühl. Lassen Sie sich überraschen und verzaubern,entführen oder einfach nur verblüffen.

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Unglaubliche Begegnungen

Kurzgeschichten

Inhalt

Es steht geschrieben

Tanja J. König

GA2057

Klaus D. Bornemann

Das Dunkle im Auge des Windes

Hendrik Blomberg

Sterne in der Nacht

Martina Kriger

Der Ausflug

Martina Bethe-Hartwig

Der Abstieg

Paul Sanker

Epilog

Blutspur im Schnee

Brigitte Bjarnason

Entzweit und im Tod vereint

Silvia Dittmers-Gruber

Die letzte Straßenbahn

Uwe Post

An die Hoffnung gelehnt

Christina Gier

Fiora

Karl Laub

Es ist egal…

Antje Tresp

Die Regenbogenfrau

Charlotte Thürling

Quedlinburg

Christa Huber

Aber, Sie reden nicht!

Cornelia Pforr

Licht auf der Straße

Dieter Stiewi

Der verhinderte Nobelpreis

Elfi N. Theis

Good by, my love!

Elly Lindt

Die Hand aus dem Nichts

Lotty W.

Jasminblüten und Gespenster

Helmut Stauder

Der Zaungast

Isabella v. Földváry

Begegnung auf dem Parnass

Karl Plepelits

Glück gehabt

Katharina Dobrick

Komabegegnung

Manuela Mimietz

Junges Denken

Mario M. Müller

Mutprobe

Paola Reinhardt

... und es gibt sie doch

Patricia Bornemann

Der Kuss des Todes

Peter Raffalt

Biologisch ausgetickt

Reinhard Hintzenstern

Der Vermummte

RosMarin

… nach so langer Zeit

Hannelinde Hans

Der geheimnisvolle Fremde

Ryan Elbwood

Das Fenster

Shayariel

Erwin Dinkelborns Reise

Sybille Fischer

Begegnung mit einem Engel

Tina Martik

Der Fremde mit der Schirmmütze

Vera Klee

Kriminalistischer Nachmittag

Veronika Brunner

Der Rabe

Werner Leuthner

Menage à trois

Hendrik Blomberg und Melanie Müller

Seemannsgarn

Educazione Inglese Band 1

Educazione Inglese Band 2

Das geheime Ritual

The Boarding School

Le Dressage de Haute École

Es steht geschrieben

Tanja J. König

Die Sonne geht gerade auf. Man sieht die frühen Nebelschwaden noch über den Wiesen liegen, als Sionad leise das Haus verlässt. Vorsichtig zieht sie die Tür hinter sich zu und wendet sich in Richtung Fluss. Ihre Eltern wären nicht begeistert, wenn sie bemerkten, dass das Mädchen frühmorgens alleine das Haus verlässt.

Sionad ist sechzehn. Ein zierliches rothaariges Mädchen mit grünen Augen und feingezeichneten Gesichtszügen. Sie zieht den Kragen ihrer Jacke höher. Es ist frisch. Anfang März, aber sie muss raus. Seit Wochen verspürt sie diese Unruhe.

Unten am Fluss bleibt sie stehen und sieht sich um. Die ersten Vögel zwitschern, aber nichts anderes stört die Stille. Langsam setzt sie sich auf einen großen Stein und lauscht dem Plätschern des Wassers, wenn es die großen Felsen im Fluss umspült.

Sie sehnt sich nach dem Frühling, den ganzen Winter hat sie sich eingesperrt gefühlt und in letzter Zeit läuft einfach alles schief. Jason hat Schluss gemacht, wegen dieser dämlichen Deborah ... Das stört sie eigentlich nicht einmal. Sie war nur aus Gewohnheit mit ihm zusammen, aber seine Begründung hatte sie verletzt. Er hatte vor ihr gestanden und sie fast mitleidig angesehen:

„Sionad, du bist 16. Wir sind seit fast zwei Jahren ein Paar und mehr als Händchenhalten und Küssen ist nicht drin. Verdammt Sionad, ich bin 19 und ich erwarte von einer Beziehung mehr. Du bist eiskalt ... Du kommst in Klamotten, die kaum Raum für Vorstellungen lassen und du flirtest und tanzt engumschlungen mit mir. Und wenn ich dann mehr will, lässt du mich stehen wie einen dummen Jungen. Ich habe auch Bedürfnisse. Mach das in Zukunft mit jemand anderem ...“

Bevor sie etwas entgegnen konnte, war er in sein Auto gestiegen. „Mach´s gut!“, rief er ihr noch zu und fuhr vom Hof.

Sie verstand sich selber nicht. Sie nahm die Pille schon seit über einem Jahr und sie mochte Jason auch. Und eigentlich hatte sie auch vor, mit ihm zu schlafen, aber irgendetwas hielt sie im entscheidenden Moment immer wieder zurück. Es war einfach nicht die richtige Gelegenheit oder die richtige Zeit.

Jason aber war nur ein Problem. Sie war eine hervorragende Schülerin, aber seit dem Herbst hatte sie fast alle Klassenarbeiten verhauen. Obwohl sie ganz normal lernte, schrieb sie eine Fünf nach der anderen. Ihr Vater war sauer und hatte ihr Hausarrest gegeben. Seit Januar war sie nicht mehr mit ihren Freundinnen losgezogen: Ihre Noten wurden nicht besser. Wenn sie eine Arbeit schrieb, schien ihr Kopf leer zu sein. Sie wusste einfach nicht, was sie noch machen sollte.

Plötzlich schreckt sie aus ihren Gedanken auf. Sie bemerkt auf dem Hügel eine Bewegung. Verwirrt runzelt sie die Stirn. Ein schwarzer Hund? Niemand besitzt hier in der Gegend einen schwarzen Hund von dieser Größe.

Das Tier scheint sie zu beobachten. Ohne dass es ihr bewusst ist, steht Sionad auf und geht in Richtung Hügel. Sie lässt den Hund nicht aus den Augen. Als sie den Fuß des Hügels erreicht hat, wird sie plötzlich am Arm gepackt und herumgerissen.

„Sionad! Sag mal, bist du taub?“ Ihr Vater steht vor ihr und schaut sie stirnrunzelnd an.

Verwirrt blickt das Mädchen zurück: „Dad. Wo kommst du denn plötzlich her?“

Duncan mustert seine Tochter: „Ich habe dich bestimmt zehnmal gerufen. Wo wolltest du denn hin?“

Sionad zeigt zu dem Hügel: „Ich wollte schauen, ob der Hund ein Halsband hat. Ich kenne niemanden hier, der so einen Hund besitzt. Er hat sich bestimmt verlaufen.“

„Welcher Hund?“ fragt Duncan, „Ich beobachte dich seit fast einer halben Stunde, aber da war kein Hund!“

Das Mädchen schaut zu dem Hügel: „Aber gerade war er noch da ... Ein großer schwarzer Hund. Ich habe doch gesagt, dass ich ihn hier noch nie gesehen habe.“

Duncan schüttelt den Kopf. „Mädchen, ich weiß nicht, was in letzter Zeit mit dir los. Dort war kein Hund! Noch kann ich mich auf meine Augen verlassen. Komm jetzt frühstücken!“

Er legt den Arm um ihre Schulter und schiebt sie sanft in Richtung Haus.

„Was soll ich bloß mit dir machen, Kleines?“, brummt er vor sich hin. Sionad dreht sich noch einmal zu dem Hügel um.

Sie schüttelt ganz leicht den Kopf: „Dad, dort war ein Hund. Ich verstehe nicht, warum du ihn nicht gesehen hast.“

Besorgt mustert Duncan seine Tochter von der Seite, während sie nach Hause gehen: „Sag mal Kleine, was wolltest du eigentlich hier draußen um diese Uhrzeit?“

„Ich weiß nicht“, entgegnet das Mädchen leise. „Ich konnte nicht mehr schlafen und dann wollte ich nur ein bisschen zum Fluss.“

Sie haben das Haus erreicht und Duncan schließt die Tür auf.

„Hinein mit dir. Ma hat das Frühstück bestimmt schon fertig.“ Während er seine Jacke auszieht und sie aufhängt, schaut er seiner Tochter besorgt nach. Was ist mit dem Kind bloß los? Seit einem halben Jahr ist sie wie verwandelt. Bis dahin war sie ein ganz normaler Teenager gewesen. Immer gut gelaunt und unproblematisch. Eine gute Schülerin, obwohl sie immer mit ihren Freundinnen unterwegs war. Und dann begann sie sich zu verändern. Ihre Noten wurden immer schlechter und sie wirkte ständig abwesend. Häufig zuckte sie zusammen, wenn man sie ansprach, als käme sie aus einem Traum zurück. Jetzt schreckt er selber aus seinen Gedanken auf, als er seine Frau hört: „Darling, kommt ihr beide endlich frühstücken? Das Rührei wird kalt!“

„Sionad! Ma wartet mit dem Frühstück!“, ruft er nach oben, bevor er die Küche betritt und seine Frau anlächelt: „Wir sind ja schon da.“

Duncan lasst sich auf seinen Stuhl fallen und nimmt sich Rührei: „Rhiannon, was ist bloß mit Sionad los? Sie lief draußen durch die Hügel und hat mein Rufen nicht gehört. Sie war doch früher nicht so. Woher kommen diese Tagträume?“

Rhiannon lächelt ihren Mann an: „Sie ist in der Pubertät. Da sind Tagträume völlig normal. Das ist nur eine vorübergehende Phase.“ Sie stellt ihm den Kaffee hin und er will ihr gerade die Geschichte mit dem Hund erzählen, als Sionad hereinkommt.

„Guten Morgen, Ma.“ Das Mädchen setzt sich an den Tisch.

„Morgen Schatz! Möchtest du einen Tee oder einen Kakao?“

„Lieber einen Kakao“, kommt die Antwort prompt. Rhiannon lacht: „Weshalb frage ich eigentlich noch? Die Antwort ist doch immer die Gleiche.“

Sie setzt sich mit an den Tisch und Duncan betrachtet seine Frau und seine Tochter. Das Mädchen ist seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. „Kleines, Ma und ich fahren nachher zum Einkaufen nach Tralee. Willst du mitkommen?“

Sionad schüttelt den Kopf: „Nein. Wir schreiben am Montag eine Mathearbeit und ich muss noch üben.“

Er schaut zu seiner Frau und zuckt die Schultern: „Es wird vermutlich spät. Du kannst dir ja den Eintopf von gestern aufwärmen. Sollen wir dir etwas mitbringen?“ Wieder schüttelt sie nur den Kopf und steht auf.

„Ich gehe auf mein Zimmer. Viel Spaß!“ Ohne auf eine Antwort zu warten, verlässt sie die Küche.

Duncan schaut ihr kopfschüttelnd nach und wendet sich dann seiner Frau zu: „Hey Sweety, ein ganzer Tag für uns alleine. Was machen wir damit?“ Verschmitzt lächelt sie ihn an: „Einkaufen ... was sonst?“ Sie beginnt den Tisch abzuräumen. Duncan steht auf und umarmt sie von hinten: „Ich hätte da eine Menge Ideen, Sweety. Weißt du was? Ich liebe dich!“

Sie dreht sich zu ihm um und schaut ihm tief in die Augen: „Ich liebe dich auch, Duncan!“ Er beugt sich zu ihr herunter und küsst sie lange und zärtlich. Rhiannon genießt seine Nähe und erwidert seinen Kuss hingebungsvoll.

Schließlich löst sie sich von ihm und sagt atemlos: „Darling, so kommen wir nie los. Lass mich eben den Tisch abräumen.“ Bedauernd lässt er sie los. Kurz darauf hört Sionad, wie ihre Eltern sich verabschieden.

„Bye, Kleines. Bis heute Abend!“ Die Haustür fällt zu und dann ist es still im Haus.

Seufzend beugt sie sich über ihr Mathe-Buch. Immer wieder reißt sie ärgerlich Seiten aus ihrem Heft und wirft sie in den Papierkorb. Sie bekommt den Lösungsweg einfach nicht in ihren Kopf. Schließlich erhebt sie sich, um das Fenster zu öffnen und schaut wie erstarrt hinaus. Da ist der Hund wieder! Sie hat das Gefühl, dass er sie beobachtet und jede ihrer Bewegungen verfolgt. Ohne zu überlegen läuft sie hinunter und zieht sich ihre Jacke an. Sie greift nach ihren Schlüsseln und verlässt das Haus.

Draußen sieht sie sich um. Ja, da steht er wieder auf dem Hügel. Langsam setzt sie sich in Bewegung. Sie kann nicht erklären, warum sie zu diesem Hund will, aber irgendetwas sagt ihr, dass es wichtig ist. Der Hund steht da und schaut ihr entgegen.

Als sie sich ihm bis auf etwa dreißig Meter genähert hat, bleibt Sionad plötzlich stehen. Das ist kein HUND! Diese Erkenntnis überkommt sie unvermittelt. Das ist ein Wolf! Aber ...? Ein freilaufender Wolf hier in Irland? Wenn er aus einem Gehege entkommen wäre, hätte sicherlich etwas in der Zeitung gestanden und auch Radio und Fernsehen hätten berichtet. Das Tier scheint ihre Gedanken lesen zu können. Aufmerksam beobachtet der Wolf jede ihrer Bewegungen. Das Mädchen sieht die Augen des Tieres: dunkelbraun, mit einem bernsteinfarbenen Schimmer.

Ohne weiter zu zögern, geht sie auf das Tier zu. Sie verspürt keine Angst. Es soll so sein. Dieser Wolf spielt eine wichtige Rolle. Das Tier lässt sie bis auf wenige Schritte herankommen. Dann dreht der mächtige Wolf sich um und geht majestätisch in Richtung des Haselnuss-Haines. Sionad folgt ihm, ohne zu überlegen.

Der Wolf scheint genau zu wissen, dass sie ihm folgen muss. Er könnte ohne weiteres durch das Gebüsch verschwinden, aber es scheint, als wähle er einen Weg, dem das junge Mädchen auch ohne Probleme folgen kann.

Und Sionad weiß wohin er sie führen wird. Als er hinter einem Busch verschwindet, lächelt sie. Der einzig richtige Ort: Die heilige Quelle, aus der sie zu Beltane das Wasser holen. Als sie um die letzten Sträucher biegt, sieht sie die Quelle. Und dort sitzt er!

Wie selbstverständlich geht sie auf ihn zu und setzt sich neben ihn, ohne ihn zu berühren. Es kommt ihr nicht in den Sinn, dass es gefährlich sein könnte. Sie sehen sich an und es ist, als ob ein Band zwischen ihnen existiert. Sionad spürt Wärme und Zuneigung und sie merkt, dass in ihrem Inneren Bilder auftauchen. Bilder aus einer längst vergangenen Zeit. Der Wolf lässt sie nicht aus den Augen. Es scheint fast, als würde er lächeln. Das Mädchen streckt ihre Hand aus und berührt sein Fell.

„Cullann“, sagt sie leise, „Du bist Cullann!“

In ihrem Kopf hallt seine Antwort: „Ja, kleine Rose. Ich habe dich gefunden.“

Sie rückt näher an ihn heran und birgt ihr Gesicht in seinem Fell. Sie stellt sich keine Fragen, warum sie hier sitzt mit einem wilden Tier, vor dem sie normalerweise weglaufen würde. Es ist vorbestimmt, Teil ihrer Geschichte ... der Geschichte, die schon seit Anbeginn der Zeit geschrieben steht im Buch der Unendlichkeit.

Fast zwei Stunden sitzt sie neben dem Wolf und nimmt Erinnerungen und Gefühle auf. Dann rückt sie ein Stück von ihm ab und schaut ihm in die schönen, glänzenden Augen.

„Aber wie soll das gehen?“ Die Frage spricht sie nicht aus. Sie ist in ihrem Kopf, genau wie die Antwort.

„Es steht geschrieben, kleine Rose. Noch nicht, aber bald. Du musst noch warten, aber der Tag kommt und dann wirst du es wissen.“

Ja, so ist es richtig. Tief in ihrem Inneren weiß sie, dass es richtig ist. Sie lehnt sich noch einmal an das mächtige Tier und genießt die Wärme, die von ihm ausgeht.

Dann steht sie auf und sieht den Wolf an: „Ich werde warten, Cullann. Ich habe schon immer gewartet. Ich wusste es nur nicht.“

Und wieder hallt die Antwort in ihren Gedanken: „Ich kam, um dich zu erinnern, kleine Rose ... und ich werde da sein. Du wirst es spüren. Bis dahin, kleine Rose ... nicht mehr lange. Schon bald!“

Ohne noch etwas zu sagen, dreht das Mädchen sich um und geht zurück. Sie verschwendet keinen Gedanken daran, wie unwirklich das Geschehene ist. In ihrem Kopf hört sie immer nur die sanfte, dunkle Stimme, die zärtlich sagt:

„Bald, kleine Rose ... Bald!“

Sionad erwähnt ihren Eltern gegenüber nicht, was geschehen ist. Den beiden fällt in den nächste Wochen nur auf, dass das Mädchen plötzlich keine Probleme mehr in der Schule hat. Nur selten beobachtet Duncan, dass seine Tochter träumend irgendwo sitzt. Und wenn, dann fällt ihm meist das glückliche Lächeln auf.

„Unsere Kleine ist verliebt“, sagt er eines Abends im Bett zu seiner Frau. Rhiannon lächelt ihn an. „Wie kommst du denn darauf?“

„Manchmal sitzt sie einfach nur da und lächelt. So hast du damals auch dagesessen.“ Er küsst sie. „Woher weißt du das?“, fragt sie erstaunt.

„Ich bin dir immer nachgeschlichen und habe dich beobachtet“, erwidert er schmunzelnd. „Ich habe mich nicht getraut, meine wunderschöne Freundin aus den Augen zu lassen.“ Sie kuschelt sich in seinen Arm.

„Du warst eifersüchtig!“

„Ja!“, gibt er ehrlich zu. „Hat Sionad dir erzählt, wer der junge Mann ihrer Wahl ist?“

„Nein“, erwidert Rhiannon nachdenklich. „Sie hat in letzter Zeit niemanden erwähnt.“ Duncan beginnt seine Frau zu streicheln.

„Sie wird es uns schon irgendwann verraten. Ich bin nur froh, dass sie wieder normal ist. Nach der Geschichte mit dem schwarzen Hund war ich wirklich besorgt.“ Überrascht stützt Rhiannon sich auf und sieht ihn an.

„Was für ein schwarzer Hund? Wann war das?“ Duncan wundert sich über den drängenden Unterton in ihrer Stimme. Dann zieht er sie in seinen Arm und erzählt, was Sionad zu ihm gesagt hat, als er sie morgens ins Haus geholt hat.

„Aber glaub mir, Sweety, dort war kein Hund.“

„Du hast Recht, Darling“, sagt sie lächelnd. „Es war kein Hund. Sionad hat ihren Wolf getroffen.“ Jetzt schaut Duncan sie erstaunt an.

„Könntest du mir das bitte mal erklären? Da war nichts. Wie kommst du jetzt auf einen Wolf?“ Sie kuschelt sich in seinen Arm und beginnt leise zu erzählen.

„Ich hätte es wissen müssen. Es betrifft jede zweite Generation und die Letzte war meine Mutter. Darling, die Frauen unserer Familie haben ein uraltes Gedächtnis, jedenfalls in jeder zweiten Generation. Das spielt im Alltag keine Rolle. Es ist angeboren, aber es schläft. Es schläft solange, bis jemand kommt und es weckt. Wenn dieses Gedächtnis geweckt wird, kennen sie ihren Seelenpartner, mit dem sie seit Anbeginn der Zeit verbunden sind. Der Beschützer unserer Familie weckt dieses Gedächtnis.“

„Der schwarze Wolf?“, wirft Duncan fragend ein. Seine Frau sieht ihn an und nickt.

„Der schwarze Wolf.“

„Sweety, das ist ein Märchen. So etwas gibt es nicht.“ Duncan lächelt. „Das glaubst du doch nicht wirklich!“ Rhiannon stupst ihn an.

„Das glaube ich nicht, das weiß ich! Unsere Tochter kennt den Namen ihres zukünftigen Mannes und seinen Kosenamen für sie. Sie wird ihn sehen und erkennen und nichts wird etwas daran ändern.“

„Wenn du meinst, Sweety“, gibt Duncan nach. Die Skepsis ist ihm deutlich anzuhören.

Am nächsten Morgen beobachtet Rhiannon ihre Tochter genau.

„Was hat er gesagt, Schatz?“ fragt sie schließlich sanft. Duncan lässt sich nichts anmerken, lauscht aber gespannt. Sionad schaut ihre Mutter an. „Wer?“ Rhiannon schmunzelt.

„Du weißt genau, wen ich meine.“ Eine zarte Röte überzieht das Gesicht des Mädchens. Kaum verständlich flüstert sie: „Bald, kleine Rose, bald.“ Rhiannon nimmt sie in den Arm.

„Und wie heißt er?“

Ihre Tochter hebt den Kopf und schaut ihr in die Augen.

„Cullann!“ Dann dreht sie sich um und läuft hinaus.

„Ich glaube es trotzdem nicht!“ Duncan schaut seine Frau an.

„Darling, das spielt keine Rolle. Es steht so geschrieben ...“ Rhiannon lacht laut heraus.

Drei Wochen später machen die Drei sich für die Beltane-Feiern fertig. Immer wieder schaut Rhiannon ihre Tochter an. Sionad wirkt unruhig. Sie hat sich schon dreimal umgezogen und scheint immer noch nicht zufrieden zu sein.

„Komm her, Schatz“, sagt sie schließlich, „ich flechte dir deine Haare.“ Sionad wird ruhiger, während ihre Mutter ihr die Frisur richtet. Schließlich reicht Rhiannon ihr den Spiegel.

„Schatz. Alles ist gut. Es wird kommen, wie es geschrieben steht. Du musst nur vertrauen.“

Duncan beobachtet das Ganze. Als sie schließlich zu den Feuern gehen, flüstert er seiner Frau zu: „Du glaubst, dass es heute passiert?“ Geheimnisvoll lächelnd nickt sie.

An den Feuern wird getrunken, gelacht und getanzt. Sionad bleibt bei ihren Eltern. Duncan schaut sich immer wieder nach seiner Tochter um, aber nichts passiert. Kurz vor Mitternacht sagt er zu seiner Frau: „Sweety, du hast dich wohl geirrt. Ich habe doch gesagt, dass das ein Märchen ist.“

Sie will ihm gerade antworten, als ihr etwas auffällt. Sie lächelt und legt einen Finger auf den Mund, während sie hinter ihn zeigt. Duncan dreht sich um und sieht seine Tochter keine zwei Meter vor sich. Ihr gegenüber steht ein hochgewachsener, dunkelhaariger Mann, den er noch nie gesehen hat. Duncan merkt, wie seine Frau sich neben ihn stellt und legt den Arm um sie. Dann schaut er wieder zu seiner Tochter.

Langsam geht Sionad auf den großen Mann zu. Sie sieht die dunkelbraunen Augen mit dem Bernsteinschimmer und das sanfte Lächeln, das seinen Mund umspielt und sich in seinen Augen widerspiegelt. Schließlich steht sie vor ihm. Langsam ergreift sie seine Hände.

„Jetzt, Cullann?“, hört Duncan sie fragen. Und dann hört er eine sanfte, sonore Stimme antworten: „Ja, jetzt, kleine Rose. Wie es seit Anbeginn der Zeit geschrieben steht ...“

GA2057

Klaus D. Bornemann

1

Nebel, blickdichter, Farben verschlingender Moloch.

Fiona Brandt fröstelt. Zögernd lösen sich ihre Finger von der kalten Scheibe des riesigen Panoramafensters der Wandelhalle und nachdenklich betrachtet sie die schnell verblassenden Spuren ihrer Hände, denn noch immer beschleicht sie eine eigenartige Gefühlsmelange aus tiefsitzender Angst und brennender Neugier, wenn sich der feuchte, undurchdringliche Schleier über das Land senkt. Dann werden sie lebendig, erschreckende Traumbilder und geheimnisumwitterte Fabeln der Kindheit.

Sie steht am Fenster ihres Zimmers im ersten Stock des roten Backsteinhauses der Großeltern und in der Ferne lecken feine Fetzen lichtgrauer Schwaden, eine Nuance heller als das bleierne Dunkel des Himmels, aus dem Schilfdickicht am Rand des Moores, vereinen sich zu einem wogenden Etwas, das näher kriecht und Meter um Meter die satten grünen Wiesen bedeckt. Dann richtet es sich langsam auf, verwandelt Weidezäune samt Pfosten aus knorrigem Holz und die wenigen schmächtigen Bäume in Schimären, um sie wenig später, verborgen vor den Augen der Menschen, zum Leben zu erwecken, in jenem verborgenen Reich, in dem Elfen und gute Geister mit finsteren Kobolden erbittert um die Macht ringen. Und dann ist da diese seltsame, vibrierende Stille, nur ab und an unterbrochen vom verhaltenen Klagen verirrter Nebelhörner, das wie das Stöhnen verlorener Seelen klingt.

Abrupt dreht sie sich um, trocknet verstohlen die feuchten Handflächen an ihrem dunkelblauen Wollmantel und klammert sich mit der rechten Hand an den Schulterriemen ihrer Umhängetasche. Allmählich verdrängen scheinbar ziellos durch die Halle hetzende Zeitgenossen die bedrückenden Reminiszenzen und babylonisches Stimmengewirr, über dem eine monotone Stimme fortwährend die Liste der stornierten Flüge vorträgt, wummert in ihren Ohren. Sie atmet noch einmal tief durch und macht sich auf den Weg, fest entschlossen das chaotische Gewimmel zielstrebig zu durchqueren, um sich in der Lounge, am anderen Ende der Halle, die Wartezeit mit einem Cocktail angenehm zu verkürzen.

Die Bar, mit jeder Menge Mahagoni Furnier und matt schimmernder Bronze auf Englischer Pub getrimmt, ist erwartungsgemäß bestens besucht und am Tresen drängen sich murrende Reisende. Fiona hat Glück und ist zur Stelle, als ein älteres Paar ein rundes Tischchen räumt. Sie nimmt Platz und legt ihre Tasche auf den freien Stuhl, was den Eindruck erwecken soll, sie wäre nicht allein und ihre Begleiterin wäre nur mal eben im Waschraum. Der zuständige Kellner, ein junger Kerl, dessen Fliege schief unter dem langen Kinn hängt und dem das weiße Hemd und die schwarze Hose überweit am dürren Körper schlackern, ist erstaunlich schnell zur Stelle. Die Auswahl an Cocktails ist armselig, aber wenigstens haben sie Oliven und so entscheidet sich Fiona für einen Martini, egal ob geschüttelt oder gerührt. Selbstverständlich ist es ärgerlich, dass kein Flugzeug abheben darf und sich ihre Heimreise um Stunden verzögern wird, aber im Großen und Ganzen war der Trip ein voller Erfolg.

Nahezu zeitgleich mit dem Kellner tritt ein schmächtiger Mann, man könnte geneigt sein Männchen zu sagen, an ihren Tisch und deutet ohne ein Wort zu sagen auf den von ihrer Ledertasche okkupierten Stuhl. Fiona, die Mühe hat dem schlechten Mundgeruch des dürren Kerls auszuweichen, nickt mit verkniffenem Lächeln und schnappt nach dem Schulterriemen der Tasche. Während sie nach dem Portemonnaie kramt, murmelt der Kellner, dass es ihm leid täte, gleich Abzukassieren, aber sie würde ja selbst sehen, was hier los ist. Dann erklärt er dem Neuankömmling, dass sie bedauerlicherweise nur die Sorten Grüner Tee, Schwarzer Tee und Pfefferminztee führen. Als er schließlich mit einem Zehner und der Order für einen Schwarzen Tee mit Milch und Zucker verschwindet, liftet Fionas Tischnachbar ein wenig den Hintern, stützt die Hände auf die Tischplatte und beugt sich nach vorn.

»Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Lohmann, Leonhardt Lohmann. Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich mich Ihnen so ungebührlich aufdränge. Aber ich hatte leider keine andere Wahl, die Knie wollen nicht mehr so wie sie sollen«, er macht eine kurze Pause, schnappt ein wenig nach Luft und sinkt zurück auf das dünne Schaumstoffkissen über der hölzernen Sitzfläche.

»Sie verstehen!?«

Fiona brummelt, das wäre schon in Ordnung so und er solle sich keine Gedanken machen, was sich aber anhört wie ‘lassen sie mich um Himmels Willen in Ruhe’, dann greift sie nach dem Glas und nippt. Noch ein Schluck und sie kehrt zurück zu ihrer äußerst zufriedenstellenden Bilanz der letzten Tage. Ich muss einfach gut sein, stellt sie fest, umwerfend gut. Sonst hätten die mich nicht genommen. Hatte ja genug hochkarätige Konkurrenten, aber die kamen wohl zu angestrengt rüber. Ein zufriedenes Lächeln stiehlt sich in Fionas Gesicht. Unglaublich, obwohl ich so lange aus dem Geschäft bin. Dumm für Guido und umziehen müssen wir auch.

»Verzeihen Sie, wenn ich so direkt bin. Aber Ihr Lächeln ist einfach bezaubernd ...«, drängt sich der Fremde Lohmann in den zarten Ansatz ihrer Zukunftsplanung. »Sie müssen vor kurzem eine sehr schöne Nachricht erhalten haben.«

Der Kellner schleppt das Tablett mit Tee, Milch und Zucker heran und stellt es auf den Tisch. Fiona nutzt die willkommene Unterbrechung, um Herrn Lohmann näher zu betrachten. Er wirkt schon etwas skurril, der Geschwätzige. Sein Alter ist schwer zu schätzen. Das Gesicht ist schmal, asketisch markant und sieht aus als habe der Mann schon eine Menge erlebt. Auf der geraden Nase sitzt eine hellbraune Hornbrille. Die aus dem Schnitt gewachsenen Haare scheinen ein struppiges Eigenleben zu führen. Unter dem stahlgrauen Anzug, der etwas abgetragen wirkt, aber dennoch die Maßarbeit ahnen lässt, trägt er einen anthrazitfarbenen Rollkragenpullover.

»Tut mir leid wegen der Unterbrechung. Na, egal. Wo waren wir stehen geblieben?« Er zieht den Teebeutel aus dem heißen Wasser und presst ihn mit dem Teelöffel gegen die Wand des Glases, dann färbt er mit zwei Portionen Milch den Tee heller und schüttet den Inhalt eines Zuckertütchens hinterher. Was heißt hier schon wir, denkt Fiona, schlürft ihren Martini und lächelt immer noch ein wenig verkrampft.

»Wie gesagt, Ihr Lächeln war es.«, er hebt das Glas und seine vollen Lippen umschließen den Rand, nippt und verzieht den Mund. »Sie müssen wissen, ich bin Drehbuchautor und in gewisser Weise inspirieren mich Gesichter, denn zu jedem Gesicht, zu jeder Mimik, jedem Lächeln und jeder Kummerfalte gibt es eine Geschichte.« Er setzt das Glas mit dem offensichtlich noch etwas zu heißen Getränk zurück auf die weiße Untertasse. »Manchmal habe ich das Gefühl, ich stehle Menschen Persönlichkeiten. Aber dann denke ich nach und komme immer aufs neue zu der Erkenntnis, dass ich genau genommen einem schon vorhandenen, an ein bestimmtes Gesicht gebundenen Charakter, eine zusätzliche Identität verleihe. Ein zweites Schicksal sozusagen.« Jetzt scheint der Tee auf eine verträgliche Temperatur abgekühlt zu sein, denn Lohmann schluckt ohne die Miene zu verziehen. »Und bei Ihnen ist es auch so. Sie inspirieren mich.«

Fionas Eitelkeit ist getroffen, ihr Interesse geweckt.

»Dann lassen Sie mich doch teilhaben, erzählen Sie mir etwas von meinem zweiten Leben oder soll ich lieber sagen Parallelcharakter«, plappern die rot geschminkten Lippen, während sie Ausschau hält nach dem Kellner, für den nächsten Martini.

»Nun, um ehrlich zu sein ...«, sagt Leonhardt Lohmann, »mit Ihrer Geschichte bin ich noch nicht soweit. Doch zunächst, Sie sind eine verheirate Frau. Das war nicht schwer zu erraten, ich sah Ihren Ring. Und ich vermute, da ist ein Kind im Spiel. Wenn nicht sogar zwei.«

Unterdessen war Fionas Suche erfolgreich. Ihr Blick kreuzte den des Kellners und der interpretierte ihre dezenten Zeichen goldrichtig, denn der dürre Kerl nähert sich mit dem gewünschten Drink.

2

»Das ist bestimmt nicht gut gelaufen. Sonst hätte sie mich angerufen.« Guido Brandt schließt die Klappe des Geschirrspülers. »Und auf dem Handy ..., immer nur die verdammte Mailbox.«

Das Wasser schießt in die Maschine, er schnappt sich den blauen Kaffeebecher und geht durch den Flur ins Wohnzimmer. Unschlüssig steht er in der Mitte des Raums, blickt hinüber zu dem großen Flachbildschirm zwischen den Schranktürmen mit Mattglas-Türen und schüttelt unwillkürlich den Kopf. Nein, nach ablenkender Unterhaltung steht ihm wirklich nicht der Sinn, dann schon lieber der Blick in den Garten. Wer weiß, wie lange er ihn noch genießen kann. Er fühlt sich schlapp, ausgelaugt, die Knochen schwer, als wären sie aus Blei. Er seufzt, lässt sich in den Sessel fallen, legt die Beine über die Lehne und starrt hinaus auf das frische Grün des Gartens. Am liebsten würde er gar nichts denken und eigentlich noch viel lieber würde er eine Zigarette rauchen.

»Alles Quatsch ...«, grummelt er, denn bis er sich angezogen hätte, den Wagen aus der Garage geholt und zum nächstgelegen Laden, einem Tankstellen-Shop in drei Kilometer Entfernung gefahren wäre, hätte ihn das schlechte Gewissen übermannt, zudem wäre der kostbare Sprit verschwendet. »Drei, vier Monate halten wir noch durch und dann ...«

Brandt weiß, dass es ausgesprochener Unsinn ist, in Selbstmitleid zu zerfließen, aber es ist nun mal Scheiße, wenn man das Gefühl hat, die einzige Leistung, die man bringen kann, ist, die Finger von den verdammten Glimmstängeln zu lassen.

»Opfer, ich bin ein Opfer der Bankenkrise.«, murrt er. Verdammter Mist, denkt er, ich mache mich selbst zum Idioten. Lass Fiona den Job in der Kanzlei bekommen, dann können wir durchaus die Kurve kriegen. War auch ziemlich naiv anzunehmen, wir würden es nach dem alten Muster schaffen. Er schwingt die Füße auf matt schimmerndes Parkett. Irgendwann ist garantiert die Talsohle erreicht, die Zyklen wechseln ja immer schneller, aber lass es drei Jahre dauern, dann bin ich 45 und dann ist es einfach aus. Brandt schiebt seinen Becher in die verchromte Kaffeemaschine und wählt ‘Milchkaffee’. Ich müsste mich einfach neu orientieren. Die Maschine faucht. Anwälte gibt’s auch wie Sand am Meer. Weiß der Teufel, ob Fiona es schafft. Er greift nach seinem Becher, schlurft zurück zu seinem Kummersessel und wählt die gleiche Position. Draußen schlängeln sich Sonnenstrahlen durch Lücken in der Wolkendecke. »Wird vielleicht doch noch ein schöner Tag.« Der heiße Milchkaffee brennt sich durch die Speiseröhre und wärmt den Magen. Vielleicht ist sie noch in einer abschließenden Besprechung. Klar, dass sie da nicht ans Handy gehen kann. Hat das Teil bestimmt auf Vibrationsalarm gestellt und es dann vergessen. Passiert ist ihr nichts, da bin ich vollkommen sicher. Die Warterei macht mich einfach nervös. Hoffentlich ist der Flieger pünktlich, hab keinen Bock, da ewig am Fughafen rumzuhängen. Besser ich ruf Julia noch mal an. Sicher ist sicher.

Julia ist das Stichwort, der Auslöser einer fatalen Assoziationskette, denn mit ihr kommen die Nachbarn ins Spiel. Nicht nur, dass man Tuscheln wird, wenn sie, wie abzusehen, auf die Dienste der Babysitterin verzichten müssen. »Sie werden alle mitbekommen, was bei uns läuft ..., und sich das Maul zerreißen. Wie stehen wir dann da.« Hilft alles nichts, denkt er, wir müssen den Status halten. Die Eltern werden aus allen Wolken fallen, ihr zu allen Hoffnungen Anlass gebender Sohn gescheitert, wie irgend so ein Malocher, nicht auszudenken. Und in seinem Inneren tobt das Lamento seiner Mutter. Es ist eine Schande. Was hast du da wieder falsch gemacht. Womit haben wir das verdient. Haben wir nicht immer alles getan, damit es dir gut geht und so dankst du es uns? Er macht ein gequältes Gesicht, die Stirn ist Falten gefurcht. Die Kinder dürfen auf keinen Fall darunter leiden. »Und was macht dein Vater. Ach weißt du, der ist arbeitslos.« sagt er, in übertrieben kindlicher Tonlage. Dann grübelt er weiter vor sich hin und schlürft den mittlerweile lauwarmen Kaffee. Und quasi so nebenbei, in einem Gedankenschlenker sozusagen, stellt er fest, dass jemand, der in einer Gegend lebt, in der es vor Arbeitslosen nur so wimmelt, es irgendwie leichter hat, weil er sich eben nicht verstellen muss. Er stutzt, richtet sich auf, setzt die Ellenbogen auf die Oberschenkel und stützt seinen schweren Kopf. »Klar, wir müssen eine Geschichte erfinden. Eine Legende.« Wer kennt uns hier schon, überlegt er, aber es muss plausibel sein. Die wissen eigentlich nur, dass ich bei ‘ner Bank bin. Klar, ich bin Volkswirtschaftler oder Betriebswirtschaftler und jetzt ... Tja, jetzt arbeite ich an meiner Dissertation und meine Frau wollte nicht mehr nur Mutter sein. Will auch was für ihre Karriere tun. Sein Grinsen reicht von einem Ohr zum anderen und er fühlt sich wie ein Knabe, der soeben die neueste Spielkonsole geschenkt bekommen hat. Die Vorstellung gefällt ihm, denn wenn alles gut geht, bedeutet das nicht nur, dass sein ganz persönlicher sozialer Abstieg optimal getarnt wäre, er hätte sogar einen Image-Gewinn, als angehender Akademiker.

»Was mach ich mir überhaupt ‘nen Kopf wegen der Leute hier.« Er seufzt, denn im Grunde genommen weiß er genau, dass sie hier nicht mehr lange leben werden.

Sollte Fiona scheitern, können sie die Hypothek nicht mehr bedienen und das Haus wird versteigert und sollte es klappen, dann müssen sie auch verkaufen, denn dann ist ein Ortswechsel angesagt. Wie dem auch sei, stellt er schließlich fest, das mit der Dissertation ist ‘ne geile Sache, besonders für die Kinder.

»Was macht denn dein Papa.« bemüht er aufs Neue sein gewollt kindliches Falsett. »Ach, weißt du, der schreibt an seiner Doktorarbeit.« Er steht auf, murmelt »Apropos Kinder.«, hebt den linken Arm und blickt auf seine goldene Armbanduhr.

3

Der zweite Martini wirkt regelrecht stimulierend, macht sie leutseliger und neugierig, welches Schicksal dieser skurrile Drehbuchautor ihr wohl zugedacht haben mag. »Nun machen Sie schon«, drängt sie und lehnt sich über den Tisch, in einer Art und Weise, die sie unter normalen Umständen bei anderen Frauen nur naserümpfend zur Kenntnis genommen hätte.

»Nun drängen Sie mich nicht.« Leonhardt Lohmann runzelt die Stirn und seine Augenbrauen formen buschige Bögen über dem Rand seiner Hornbrille. »Alles braucht seine Weile.«

Er schiebt mit einer raschen Bewegung das leere Teeglas zur Seite, um sogleich mit Zeigerfinger und Daumen sein frisches Heißgetränk vor den Bauch zu ziehen. »Also, was wollen wir erzählen? Sagen wir die Geschichte einer Frau, Mitte Dreißig, zwei Kinder, ein Mann.« Hinter den dicken Gläsern der Brille blitzen seine Augen und das Lächeln scheint irgendwie spöttisch. »Schauen Sie nicht so erstaunt drein. Sie hätten mich auch zu einer Menage à Trois inspirieren können. Betrachten Sie es als eine Art Kompliment bezüglich ihrer moralischen Integrität.«

»Aber auch der Langeweile.«, grummelt Fiona, ungehört.

»Nun brauchen wir einen Rahmen, um unsere Geschichte zu erzählen.« Der Mann scheint nachdenklich.

»Was bietet sich an? Eine lange Zugfahrt mit den üblichen Rückblenden? Nein. Zu banal.« Wieder macht er eine Pause. »Oder das übliche Klassentreffen? Zu abgedroschen. Finden Sie nicht auch?«

»Ich denke, Sie haben Recht, Sie sind der Profi«, sagt Fiona und beschließt, als nächstes ein Glas Wasser zu bestellen.

»Ich denke, wir wählen eine Beerdigung. Sagen wir, eine gute Freundin, das Mauerblümchen der Clique, ist gestorben. An einer tödlichen Krankheit, die auch Jüngere dahinraffen kann. Unfall wäre auch möglich, aber eine tödliche Krankheit finde ich wesentlich tragischer. Aber vielleicht täusche ich mich da auch. Nun trifft man sich wieder, nach Jahrzehnten, das erste Mal.« Der Erzähler greift nach seinem Tee und nippt, dann fährt er fort. »Das Ganze spielt natürlich in dem Provinzkaff, dem Sie entflohen sind. Nicht ganz winzig, so etwas unterhalb der Größe einer Kreisstadt.«

»Und dann erzählen Sie die Geschichte der fünf Frauen. Vielleicht ist ja sogar eine von ihnen vom Vater vergewaltigt worden«, wirft Fiona ein. »Nicht schlecht, junge Frau. Sie haben Phantasie. Das bietet Stoff für jede Menge Dramatik, aber das passt so absolut nicht zu Ihrer Geschichte. Wie ich schon sagte, jeder Mensch inspiriert mich zu einer nur ihm eigenen Fabel.« Das nachsichtige Lächeln überstrahlt die Falten im Gesicht des Leonhardt Lohmann. »Aber wie kommen Sie gerade auf fünf Frauen? Nun, ich hatte auch an fünf Freundinnen gedacht.«

»Weiß nicht«, antwortet Fiona und zuckt mit den Schultern. »Kam so ganz spontan.«

»Ist ja auch egal. Zurück zur Geschichte. Da ist also dieser kleine Friedhof, viel Grün, viele dunkel schimmernde Grabsteine mit goldenen Inschriften, im Hintergrund eine alte Backsteinkirche, auf deren Turm sich ein verwitterter Wetterhahn unruhig im böigen Wind dreht.«

Das Bild scheint Fiona vertraut, doch fern, seltsam emotionslos.

»Der überraschend frühe Tod, so nah, verwirrt die Freundinnen. Dass Großeltern sterben oder nahe Verwandte, rückt in ihrem Alter in greifbare Nähe. Aber so jung, so qualvoll. Sie beschließen noch ein paar Tage zu bleiben.«

»Aber wo bleibe ich? Bis jetzt sind da lediglich fünf Frauen ohne Namen, Gesicht oder Kontur.« Sie starrt den Fremden an, rutscht unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.

»In Ordnung. Ich merke schon, Sie können es kaum erwarten. Also halten wir es kurz. Der übliche Leichenschmaus, die Eltern der Verstorbenen achten die Etikette und die Großmutter lassen wir auch noch am Leben. Dann folgt der Abend. Die Fünf sitzen gemütlich zusammen und trinken Wein. Allmählich weicht die Beklemmung und man plaudert Alltägliches, würzt das Ganze mit mehr oder weniger amüsanten privaten Anekdoten.« Lohmann macht es spannend. Erst leert er in aller Ruhe sein Glas Tee, dann dreht er sich um und hält ostentativ nach dem Kellner Ausschau. Fiona Brandt schaut auf ihre Armbanduhr, seufzt, befürchtet, dass sich die Warterei noch endlos ziehen kann und entschließt sich, wenn es Lohmann gelingt, den Kellner auf sich aufmerksam zu machen, doch noch einen Martini zu bestellen.

Plötzlich, wie aus dem Nichts, steht der Kellner am Tisch und nimmt ihre Bestellungen entgegen. »Bevor wir uns damit beschäftigen, wie der Abend weiter für Sie verläuft, will ich Sie ein wenig genauer zeichnen. Also, wie gesagt, Sie haben zwei Kinder und sind verheiratet und wenn der übliche Stress nicht wäre, könnte man ihre Ehe als glücklich bezeichnen. Sie sind eine ernsthafte Person, nehmen das Leben nicht auf die leichte Schulter, außerdem möchten Sie noch was in Ihrem Beruf erreichen.«

»Wie alt sind die Kinder?«, fragt Fiona. Eine Verlegenheitsfrage, nur um etwas zu sagen. Sie ist verunsichert, denn die Beschreibung passt exakt auf sie. Entweder ich bin ein Allerweltstyp, sagt sie zu sich selbst, denn es gibt bestimmt auch ‘ne Menge andere Frauen, auf die diese Beschreibung bis aufs Haar treffen würde und Lohmann hat mit dem Schuss ins Blaue rein zufällig getroffen oder er ist ein Hellseher.

»Na, ich denke so drei und fünf Jahre.«, schwappt es in ihre Gedanken und noch bevor sie sich von der Überraschung erholen kann, stehen die Getränke auf dem Tisch und sie kramt gedankenverloren in ihrer Tasche nach Kleingeld.

»Später am Abend liegen sie im Bett und denken an ihren Mann. Fragen sich, wie es wohl zu Hause läuft, ob Ihr Mann die Kinder rechtzeitig von der Vorschule abgeholt hat und was er aus der Kühltruhe nimmt, um es in der Mikrowelle warm zu machen. Und in meiner Welt spukt Ihnen schon ein wenig das attraktive Kindermädchen im Kopf herum. Aber mein Geschöpf bekämpft den unseligen Impuls der Eifersucht, wiederholt, wie ein magisches Mantra, ‘Nein, das tut er nicht, das ist nicht seine Art’.«

Fiona überfällt ein innerer Taumel und sie fragt sich, ob es am dritten Martini liegt oder an Lohmanns Erzählung.

Das Mantra macht sie müde und die Gedanken werden schneller, überschlagen sich, sind nicht mehr formulierbar. Dann dauert es nicht mehr lange und die Bilder kommen.

Fiona drückt einen weiteren roten Lippenabdruck auf den Rand ihres Glases und schluckt nervös.

»Sie wissen doch, wir drehen einen Film, und jetzt visualisieren wir diese flüchtige Welt zwischen Dämmer und Schlaf. Es ist ein regnerischer Tag. Schwenk über den Ort, dann der asphaltierte Schulhof. Wir zoomen uns an fünf Mädchen heran, die im Halbkreis vor einer roten Backsteinwand stehen.«

»Alle Passagiere für Flug GA 2057 bitte zum Gate 16.« ruft eine raue männliche Stimme aus unsichtbaren Lautsprechern.

Fiona Brandt zuckt zusammen. »Flug GA 2057. Das bin ich.«

»Alle Passagiere für Flug GA 2057 bitte zum Gate 16.«

»Tut mir Leid. Ich muss los. Hätte gerne Ihre Geschichte bis zu Ende gehört. War auf alle Fälle interessant Ihnen zuzuhören.«

Seltsamer Kauz, denkt sie, als sie sich im Zickzackkurs zwischen durch die Halle hastenden Menschen zum Rollband drängelt. Hätte wirklich gerne gewusst, wie es weiter geht. Aber was soll’s.

4

»Papa ..., wann kommt Mama nach Hause?«

Die Frage seiner Tochter Lisa unterbricht eine Kette finsterer Grübeleien, denn selbst wenn Fiona den Job in der Anwaltskanzlei bekommen würde, müssten sie wohl eine ganze Weile mit weniger Geld auskommen und sein protziger Geländewagen mit dem ebenfalls protzigen Verbrauch wird dann wohl der Vergangenheit angehören.

»Baby, Baby, kannst du dir denn gar nichts merken? Heute Abend kommt die Mama zurück.«, lästert Lisas Bruder Max.

»Ärgere deine Schwester nicht.«, mischt sich Guido Brandt ein, der genau weiß, wie schnell aus einer Neckerei ein lautstarker Streit werden kann. »Ich hole die Mama nachher vom Flughafen ab. Was habt ihr denn heute gemacht?«, fragt er, nicht wirklich interessiert.

»Ich hab Englisch gelernt, la la la, ich hab Englisch gelernt.», albert Lisa und kichert. »How are you, Mr. Papa?«

»Thank you. I am well, Miss Lisa.«, antwortet Brandt und lacht.

»Alles Kinderkram. Wir waren heute im Internet. Das war toll.«, trumpft Max auf.

»Komm, komm. Du bist auch zwei Jahre älter und außerdem könntest du Lisa ja auch zeigen, wie das geht.« Brandt bremst und stoppt vor der roten Ampel, die Sonne kriecht hinter einer Wolke hervor, er kneift die Augen zusammen und fingert die Sonnenbrille aus der Ablage in der Beifahrertür.

»Is nichts für kleine Mädchen ...«, nörgelt Max und zieht beleidigt eine Schnute.

»Papa ...«, Lisa verleiht ihrer Stimme dieses Herz ergreifende Timbre, eine für gefühlige Eltern tödliche Mischung aus Sehnsucht, Leid und Klage. »... krieg ich ein Pony?«

Der Wagen ruckt an, die Automatik schaltet hoch.

»Wieso gerade ein Pony? Vor einer Woche wolltest du noch ein Kaninchen«, wundert sich der Vater.

»Was willst du denn mit ‘nem Pony?«, meckert Max. »Das ist nichts für Babys.«

»Aber die Jasmin hat auch eins.« Lisas Stimme rutscht ins Weinerliche. »Hat sie von ihrem Opa geschenkt gekriegt.«

»Max, ich hab dir doch gesagt, du sollst deine Schwester nicht ärgern. Und was das Pony betrifft, das müssen wir schon mit der Mama besprechen.«

Er setzt den Blinker und biegt an der nächsten Ampel rechts ab. Der Wagen rollt durch eines dieser typischen Gewerbe-Konsumgebiete und der gestresste Vater hofft, dass Lisa und Max die überdimensionale, grellbunte Werbetafel des Bulettenbraters übersehen. Seine Bedenken sind unberechtigt, das war offensichtlich das letzte Geplänkel der lieben Kleinen, denn sie sitzen schläfrig in ihren Kindersitzen, sichtlich bemüht die Augen offen zu halten. Geht schon los, sinnt er, klar, die Sache mit dem Pony ist etwas überzogen, aber was ist, wenn Max ‘ne neue Spielkonsole braucht oder so was? Man kann ja auch nicht immer nein sagen. Als er den Wagen in die schmucke Einfamilienhaussiedlung lenkt, sitzen die Kinder schlafend in den Sitzen. Er fährt durch menschenleere Straßen. Links und rechts stehen Häuser auf gepflegten Rasenflächen, die durch Hecken, Zäune und schmale Mauern voneinander getrennt sind und in ihrer Gestaltung die architektonische Einfalt der Eigenheime spiegeln. Er fragt sich, was sich hinter den Gardinen verhangener Fenster abspielen mag, vermutet, dass da bestimmt auch nicht alles Gold ist, was glänzt. Ein leises, dennoch eindringliches Summen reißt ihn aus seinen nachbarschaftlichen Betrachtungen, er greift in die Jackentasche und zieht sein schmales, goldenes Handy heraus. Rauschen, Knacken, Worte, bruchstückhaft, »Bist du es, Fiona? Ich kann dich kaum verstehen ... Wo bist du?« Unwillkürlich hebt er seine Stimme. Wieder Rauschen, Knacken, Worte, bruchstückhaft. Aus den halbwegs verständlichen Satzfragmenten puzzelt er, dass sie auf dem Weg ins Flugzeug ist und dass es später werden kann, wegen Nebel. Er sagt noch, dass er sie abholen wird, dann ist die Verbindung unterbrochen. Von seiner rauen Stimme aus dem kurzen Schlummer geweckt, reiben die Kinder auf der Rückbank ihre müden Augen. Er parkt den Geländewagen vor der Garage neben dem Haus. »Kinder, aufwachen, wir sind zu Hause. Mama hat gerade angerufen. Ich soll euch grüßen.«

Lisa und Max, noch nicht wieder richtig in dieser Welt, zerren an ihren Sicherheitsgurten und können sich schließlich befreien. Brandt öffnet die Wagentüren und die beiden springen aus dem Wagen, dann rennen sie lachend auf die Haustür zu. Nachdenklich sammelt er die bunten Rucksäcke vom Rücksitz und ein wenig wehmütig ist ihm schon, wenn er daran denkt, dass sie hier bald nicht mehr leben werden. Denn schließlich ist das ihr erstes Haus, in ihm haben die Kinder die ersten zaghaften Gehversuche unternommen und Fiona und er wollten eigentlich erst wegziehen, wenn es sich wirklich lohnt und sie ein größeres Domizil erwerben können.

»Wie das Leben halt so spielt.«, murmelt er, knallt die Wagentüren zu und folgt seinen Sprösslingen. »Wenn ihr euch auf ein Programm einigen könnt, dürft ihr Fernsehen.«

»Sponge Bob, Sponge Bob!«, schallt es wie aus einem Mund und die Kinder stürmen in die Diele.

5

Scheiß Verbindung, hoffentlich hat Guido mich verstanden, denkt Fiona und schiebt ihr Mobiltelefon zurück in die Umhängetasche. Sie starrt durch das Glas der Verbindungsröhre zwischen den beiden Terminals des Flughafens. Von hinten rempelt sie ein ziemlich übergewichtiger Mann, dem das Rollband offensichtlich nicht schnell genug ist. »Tschuldigung.«, raunzt er, nachdem er Fiona mit der Gewalt seiner Körperfülle gegen die Bande gedrängt hat. Die würdigt ihn keiner Antwort und wundert sich, warum plötzlich gestartet werden darf, obwohl, zumindest aus ihrer Sicht, der Nebel genauso undurchdringlich ist wie zuvor. »Was soll’s, die werden schon wissen, was sie tun.«

Das war ja ein komischer Kauz, wechselt sie das Thema. Ob der wirklich Drehbuchautor ist, könnte sich auch nur wichtig gemacht haben. Vielleicht ist er nur ein armer Kerl, der sonst niemanden zum Reden hat. Immerhin, seine Beschreibung hat voll getroffen. Das war kein neuer Charakter, das war ich und das mit dem Alter der Kinder ..., und den fünf Freundinnen ...., wirklich seltsam. Ohne Beanstandung durchläuft sie die letzten drei Security Checks und sitzt wenig später auf ihrem Fensterplatz. Sie starrt hinaus auf das grau verhangene Rollfeld und in einer plötzlich aufreißenden Lücke im dichten Nebel erspäht sie das rot lackierte Leitwerk einer anderen Maschine. Die Kabine ist gut besetzt, doch als der Flieger in die Startposition rollt, bleibt der Platz neben ihr leer. Dann dröhnen die Turbinen und Fiona wird in den Sitz gedrückt. Erst knackt es im linken Ohr, dann folgt das rechte. Draußen wird es heller, der Nebel lichter, schließlich fliegen sie der gleißenden Sonne entgegen und Fiona erscheint es wie eine kitschige Metapher der eigenen Zukunft. Die erste Zeit wird schwierig werden, sie müssen ein neues Haus suchen und das alte muss verkauft werden und sie wird erst einmal allein in einer fremden Stadt in einem Appartement hausen müssen. Fiona seufzt, sie schaut aus dem ovalen Bullauge, hinunter auf den weiß-grau gefleckten Teppich, der, so weit das Auge reicht, die Landschaft verbirgt. Guido muss einfach allein mit den Kindern klar kommen. Jedenfalls die meiste Zeit. Auch wenn es ihn nerven wird, der Trubel wird ihm gut tun, überlegt sie, fällt er wenigstens nicht in dieses grässliche Loch des untätig Herumhockens und sich überflüssig Fühlens.

»Welch ein Zufall. So schnell sieht man sich wieder.«

Überrascht hebt Fiona den Kopf und blickt in Lohmanns blitzende Augen, die durch die dicken Brillengläser unnatürlich groß erscheinen und sie fragt sich, warum ihr das nicht schon vorhin aufgefallen ist.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

Fiona weiß nicht recht, was sie sagen soll. Auf der einen Seite war der komische Typ recht unterhaltsam, andererseits wären ein paar Stunden gedankenverlorener Einsamkeit auch nicht übel, doch bevor sie antworten kann, besetzt Lohmann den leeren Sitz. Die Stewardess stoppt den Versorgungswagen und fragt nach ihren Wünschen.

Fiona bestellt einen Tomatensaft und Lohmann einen Tee. Diesmal einen Grünen.

»Nun, wie Sie unschwer erraten können, ist es nicht wirklich Zufall, dass ich hier neben Ihnen sitze.« Lohmann macht eine Pause und atmet hörbar. »Ich hätte noch stundenlang warten müssen. So habe ich mich also kurzfristig entschieden, einen kleinen Umweg zu nehmen und umgebucht.« Wieder eine Unterbrechung, als würde er irgendeinen wie auch immer gearteten Kommentar erwarten.

»Nun, um ehrlich zu sein. Sie so schnell wiederzusehen, damit habe ich wirklich nicht gerechnet«, antwortet Fiona diplomatisch. Vielleicht hätte ich doch lieber irgendwas Alkoholisches nehmen sollen, denkt sie und über ihr Gesicht huscht ein aufgesetztes Lächeln, was Leonhardt Lohmann als freundliche Aufforderung zu missdeuten scheint, denn er plappert munter weiter.

»Das bietet mir die willkommene Gelegenheit, meine Geschichte weiter zu spinnen. Sie glauben gar nicht, wie selten ich die Chance bekomme, meine Phantastereien dem Auslöser der Inspiration zu präsentieren.« Er lässt ein meckerndes Lachen hören, das Fiona aufdringlich, beinahe schmerzend in den Ohren dröhnt.

»So weit war der Plot, ich glaube, so nennt man das in Ihrer Branche, doch noch nicht fortgeschritten ...«, wirft Fiona ein.

»Ich glaube, ich fahre einfach da fort, wo wir unterbrochen wurden.« Wieder schaut er Fiona an, erwartungsheischend, wie sie meint. »Da haben wir also diese Kamerafahrt, Schulhof, die fünf Freundinnen. Und über was reden die Mädels?«

Wortlos zuckt Fiona mit den Schultern und schlürft weiter ihren Tomatensaft.

»Geben Sie sich Mühe! So alt sind Sie doch noch nicht, dass Sie sich nicht mehr erinnern, was man als Frühpubertierende so miteinander zu besprechen hat.« Lohmann zieht die Augenbrauen in die Höhe und wieder formen sich diese eigentümlichen, buschigen Bögen, unbemerkt von Fiona, die starr die Rückseite des Sitzes vor sich anstarrt.

»Ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen. Man spricht über Sabines Geburtstagsparty, die nächste Woche stattfinden soll. Dann werden die neuesten Klatschgeschichten kolportiert und Sie überlegen, wer auf gar keinen Fall eingeladen werden darf.«

Fiona betrachtet Lohmanns Profil und lächelt und dieses Lächeln ist ehrlich, Ausdruck anscheinend erheiternder Erinnerungen.

»Sabine dreht den Kopf. Die Kamera folgt ihrem Blick und zoomt einen Jungen heran, der mutterseelenallein unter der gewaltigen Kastanie steht, die, bei glühender Sonne, nahezu dem ganzen Schulhof kühlenden Schatten spendet. Der Knabe hält den Kopf gesenkt und kickt mit dem rechten Fuß einen Stein über den Asphalt. Kameraschwenk. Die Mädchen stecken die Köpfe zusammen, tuscheln, lachen, schauen immer mal wieder hinüber zu dem Jungen am Baum.«

Kommt mir bekannt vor, denkt Fiona, aber das ist nichts Spezielles, das spielt sich auf allen Schulhöfen so ab. Und überall gibt es einen Außenseiter, den so ziemlich keiner leiden kann. Alles ganz normal.