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Unser geraubtes Leben E-Book

Ulla Fröhling

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Beschreibung

Missbrauch, Elektroschocks, Zwangsarbeit und Psychofolter - Alltag in der deutschen Auswanderersekte "Colonia Dignidad" in Chile. Sektenführer Paul Schäfer hatte unter dem Deckmantel bayrischer Idylle ein perfides Schreckensregime errichtet. Liebe war darin ein Fremdwort. Dennoch gab es sie. Heimlich.

Gudrun und Wolfgang Müller, deren Liebesgeschichte dieses Buch erzählt, haben fast fünfzig Jahre Gehirnwäsche und Folter überlebt. Dann erfuhren sie die bittere Wahrheit über Paul Schäfer und zogen die einzige Konsequenz, die ihnen richtig schien: Sie verließen ihr mit Stacheldraht abgeriegeltes Gefängnis in Chile, das sie fast ihr ganzes Leben als Heimat betrachtet hatten ...

Mehr Informationen über die grausame Auswanderersekte erhalten Sie auch hier: www.unser-geraubtes-leben.de sowie unter https://www.renate-rennebach-stiftung.de/projekte.html.

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Über die Autorin

Ulla Fröhling ist freie Journalistin und Autorin. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind Traumaforschung und gesellschaftliche Tabus wie Inzest und Langzeitfolgen sexueller Gewalt. Die langjährige Brigitte-Redakteurin lebt in Hamburg und ist stellvertretende Vorsitzende und Mitbegründerin der Renate-Rennebach-Stiftung für Opfer ritueller Gewalt. Mit Gudrun und Wolfgang Müller führte sie viele intensive Gespräche, um von ihrem Weg in die Freiheit und ihrer Liebe zu erzählen.

www.unser-geraubtes-leben.de

ULLA FRÖHLING

UnsergeraubtesLeben

Die wahre Geschichtevon Liebe und Hoffnung inder Colonia Dignidad

Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte wurden einzelne Namen und Details verändert.

INHALT

Vorwort

Prolog

Teil 1: Die Saat der Gewalt – Deutschland 1945–1961

Kapitel 1: Ein’ feste Burg

Kapitel 2: Wunderheiler – Wanderprediger

Kapitel 3: Akquise

Kapitel 4: Auf der Flucht

Kapitel 5: Verführung

Kapitel 6: Hingabe

Kapitel 7: Den Bock zum Schäfer gemacht

Kapitel 8: Entführung

Teil 2: Gespaltene Welten – Chile 1961–1997

Kapitel 9: Das Gelobte Land

Kapitel 10: Die Erde untertan

Kapitel 11: Das Paradies

Kapitel 12: Die Flucht aus dem Paradies

Kapitel 13: Wilhelm Wagner

Kapitel 14: Sie ist da!

Kapitel 15: Die Vertreibung aus dem Paradies

Kapitel 16: Der Weg der Härte

Kapitel 17: Zerstörte Hoffnung

Kapitel 18: Liebe in den Zeiten der Folter

Kapitel 19: Das geheimste Verbrechen

Kapitel 20: Bei den sieben Zwergen

Kapitel 21: Wohltaten

Kapitel 22: Sehnsucht

Teil 3: Auf der Suche nach der gestohlenen Zeit

Kapitel 23: Der Strick

Kapitel 24: Heimkehr in ein fremdes Land

Nachwort

Dank

Anhang

VORWORT

Spurensuche

Die Vergangenheit ist nicht tot,sie ist noch nicht einmal vergangen.William Faulkner, Requiem für eine Nonne, 1951

Gudrun und Wolfgang Müller, deren Liebesgeschichte in diesem Buch erzählt wird, haben fast fünfzig Jahre Gehirnwäsche und Folter überlebt. Trotz allem standen sie bis 2005 treu zu ihrem Führer, ihrem Gott, Paul Schäfer, der sie belogen und betrogen, verschleppt, misshandelt und missbraucht hatte.

Dann erfuhren sie die Wahrheit und zogen die einzige Konsequenz, die ihnen richtig erschien: Sie verließen ihr mit Stacheldraht und Stolperfallen abgeriegeltes Gefängnis in Chile, das sie fast ihr ganzes Leben lang als Heimat betrachtet hatten.

Am 24. April 2010 starb der deutsche Sektenführer Paul Schäfer im Gefängniskrankenhaus von Santiago de Chile. Vier Jahre zuvor war der Chef der deutschen Auswanderersiedlung im Süden Chiles, der Colonia Dignidad1, zu zwanzig Jahren Haft verurteilt worden – wegen Missbrauchs chilenischer Kinder in 27 Fällen.

Doch diese 27 Fälle sind nur die Spitze des Eisbergs. »Der durchschnittliche pädophile2 Triebtäter missbraucht 50 bis 150 Kinder, bevor er verhaftet wird (und danach noch viele andere)«, schreibt die Kriminalpsychologin Anna Salter.3 Viele überführte und verurteilte Sexualstraftäter verbringen ein paar Jahre im Gefängnis und machen dann weiter. Bei einem langen Leben – Schäfer wurde 88 und war nur die letzten fünf Jahre in Haft – kann man von der hundertfachen Dunkelziffer an Taten ausgehen.

Die meisten Opfer sexueller Gewalt werden nicht zu Tätern. Doch einige schon. Studien bestätigen, dass sexuelle Gewalt in der Kindheit ein ganzes Leben prägen kann. Und seit Kurzem weiß man, dass sie sogar Spuren im Erbgut hinterlässt.4

Mehr als sechzig Jahre lang konnte Schäfer ungestraft Menschen körperlich, sexuell und seelisch quälen und von sich abhängig machen. Niemand gebot ihm Einhalt. Die 1961 aus Deutschland nach Chile entführten Kinder hatten keine Wahl – ihre Eltern schon. Am Anfang jedenfalls. Die meisten Erwachsenen waren ihm freiwillig gefolgt – es waren gläubige und gottesfürchtige Menschen, die gute Werke tun und ein urchristliches Leben führen wollten. Ihre Folterkammern errichteten sie selbst: Am Fuße der chilenischen Anden besiedelten rund vierhundert Deutsche ein riesiges Gebiet, machten es urbar, bauten Häuser, Straßen, Brücken, errichteten Fabriken, landwirtschaftliche Betriebe, Krankenhäuser, Restaurants. Ein sauber gewienertes deutsches Mustergut. Geschaffen in Zwangsarbeit. Genannt »Colonia Dignidad« – »Kolonie der Würde«, in zynischer Tätersprache. Dem chilenischen Militärdiktator General Augusto Pinochet und seinem Geheimdienst DINA5 in den 1970er und 1980er Jahren zur Verfügung gestellt zum Foltern, Morden und zum Verscharren der Leichen.

Paul Schäfers Flucht (1997), seine Verhaftung (2005), Verurteilung (2006) und sein Tod (2010) bedeuten nicht das Ende seiner Herrschaft. Viele Anhänger, denen er Freiheit, Gesundheit, Menschenrechte und Würde raubte – manchen unwiederbringlich auch den Verstand –, sind ihm weiterhin treu ergeben. Die Türen ihres Gefängnisses stehen jetzt offen, aber aus dem inneren Gefängnis lösen sie sich nur schwer. Manche kehren nach Deutschland zurück und leben hier. Vielleicht wohnen sie nebenan? Viele geraten sofort in den Sog der nächsten Sekte, zum Beispiel der Freien Volksmission in Krefeld unter Ewald Frank. Einige versuchen selbstbestimmt zu leben – nach fünfzig Jahren, in denen sie keine eigenen Gedanken, kein privates Gefühl zeigen durften. Welches Erbe werden sie alle weitergeben an ihre Kinder und deren Kinder wiederum an die Enkel?

Immer wieder verfangen Menschen sich im Netz sektenartiger Wahnsysteme, geben ihre Freiheit auf und folgen charismatischen Führern in den Abgrund, manchmal sogar in den Tod. Wie können sie so abhängig gemacht werden? Und warum verharren sie dort? Mit welchen Strategien arbeiten die Täter? Welche Sehnsüchte in uns stillen sie? Welche Leere füllen sie, und welche Wunden nutzen sie aus? Mit anderen Worten: Wie funktioniert Gehirnwäsche?

Diese Fragen beschäftigen mich seit Langem. Mein erster Freund aus Kindertagen – wir wohnten in derselben Straße und gingen die ersten vier Jahre gemeinsam zur Schule – wuchs in einer christlichen Sekte auf, die ihm viele seiner kindlichen Freiheiten raubte. Ich bemerkte nichts. Erst Jahrzehnte später erzählte er mir davon.

In den 1980er Jahren lernte ich Ernst-Wolfgang Kneese6 kennen, dessen Flucht aus der Colonia Dignidad 1966 Schlagzeilen machte. »Wie funktioniert Gedankenkontrolle?«, fragte ich ihn. Er antwortete: »Bei jeder kleinen Entscheidung – trinke ich Kaffee oder Tee – treffe nicht ich die Wahl, sondern in meinem Kopf steht Paul Schäfer auf und entscheidet. Und ich kriege ihn da nicht weg.«

Ich traf Scientologen. Meine Nachbarn wurden Anhänger von Bhagwan, dem 1980er-Jahre-Guru mit einem Faible für goldene Luxuskarossen und die Farbe Orange. Plötzlich war die Wäsche auf der Leine nebenan durchgefärbt: Orange für Vater, Mutter und zwei Kinder. Sannyasin, so hießen die Anhänger, wurde auch die stellvertretende Chefredakteurin des Magazins Brigitte, bei dem ich damals arbeitete. Ein Freund ging zu Maharishi Mahesh Yogi wie Beatle George Harrison, erzählte vom Fliegen durch transzendentale Meditation und hob ab in unerreichbare Fernen. Eine Freundin berichtete von jahrelangem Missbrauch durch den katholischen Dorfpfarrer. Gottgefällig zu leben brachte er ihr bei. Zu lügen und ihm sexuell zu Diensten zu sein auch. Ihre Familie war arm; wenig musste auf viele verteilt werden. Die sexuellen Übergriffe schockierten und ekelten sie, brachten aber auch Privilegien: in seinem Wagen mitfahren, kleine Geschenke – für sie ganz allein, nicht für die Geschwister. Ein perverses Bindungsmuster, aus dem sich viele Opfer nie befreien können. Manche fühlen sich selbst schuldig, verlieren den klaren Blick dafür, dass sie benutzt, ausgebeutet werden. Oder sie haben diesen klaren Blick nie gewonnen: Kinder lieben ihre gewalttätigen Eltern, weil sie keine Wahl haben. Sektenopfer verteidigen den Ausbeuter zur Not mit ihrem Leben. So wie manche Entführte sich mit ihren Entführern solidarisieren: Stockholm-Syndrom7 nennt man dieses Phänomen seit der fünftägigen Geiselnahme in einer Stockholmer Bank im Jahr 1973. Die Muster ähneln sich: Immer geht es um Macht und Unterwerfung.

Vieles bleibt öffentlich unsichtbar. Die Medien berichten nur über spektakuläre Fälle, Massen(selbst)morde wie die der People’s Temple in Jonestown/Guayana, der Davidianer in Waco/USA, der Sonnentempler oder der Sekte »Heaven’s Gate«, deren Mitglieder einen tödlichen Cocktail trinken mussten, in Erwartung, von einem UFO im Schweif des Kometen Hale-Bopp abgeholt und in höhere Sphären gebracht zu werden – mit Nike-Schuhen an den Füßen.8

Auch wenn man von den unauffälligeren Sekten nichts hört – solche geschlossenen verrückten Systeme existieren weiterhin – ohne Kontrolle oder Korrektiv von außen. Ohne erkennbare Vorwarnung können sie implodieren oder explodieren.

Vor zwanzig Jahren begannen meine Recherchen zu »ritueller Gewalt« und multiplen Persönlichkeiten9, ein heiß umstrittenes Thema. Folter und rituelle Morde in Deutschland? Gibt es nicht, hieß es oft. Wo sind denn die Opfer? Dieses Buch gibt einige Antworten. Wer vor fünfzig Jahren in den Bannkreis von Paul Schäfer geriet wie Gudrun aus Österreich und Wolfgang aus Deutschland, die Hauptpersonen dieses Buches, und ihm nach Chile folgte, wie die Kinder dem Rattenfänger von Hameln in den Abgrund gefolgt sind, der versteht, wovon rituell misshandelte Menschen berichten; ob sie in okkultistischen, faschistischen Gruppen gequält wurden, ob sie Voodoo-Ritualen oder extremem Fundamentalismus unterworfen wurden – sei er christlich oder islamistisch. Alle schildern ähnliche Folterqualen. Der Unterschied: Die Existenz der Colonia Dignidad ist unbestritten; ihre Morde, ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ihre anderen kriminellen Taten sind bewiesen und von chilenischen Gerichten verurteilt. Belegt sind auch gemeinsame Folterkurse für deutsche Siedler der Colonia Dignidad und für DINA-Angehörige nach Anleitungen aus der Nazizeit.10

Aber auch wenn das Unrecht in Chile gerichtlich anerkannt ist, die überlebenden Opfer in der Kolonie sind immer noch nicht entschädigt. In Deutschland stellten sich die Gerichte lange taub. Das Auswärtige Amt erschwert die Akteneinsicht in dieses dunkle Kapitel seiner Geschichte immer noch erheblich. Die meisten Überlebenden werden alleingelassen und leben an der Armutsgrenze. Wie Gudrun und Wolfgang Müller, die voller Entsetzen über den Abgrund an Gewalt, Missbrauch und Lügen, der endlich auch für sie deutlich sichtbar wurde, die Colonia Dignidad verließen. »Auf diesem Boden, an dem das Blut unschuldiger Menschen klebt, können wir nicht bleiben.«

»Wir schütteln den Staub von unseren Füßen«11, schrieben sie in ihrem Abschiedsbrief an die Zurückbleibenden und kehrten dem perversen Reich eines Päderasten den Rücken, einer Enklave, in der die Zeit seit den Fünfzigerjahren stillstand, mitten in einem Land, dessen Sprache sie nicht lernen durften. Wie in einer Zeitreise finden sie sich plötzlich im 21. Jahrhundert wieder und begreifen allmählich, was man ihnen geraubt hat.

Als sie mir davon berichteten, wollte ich ihre Geschichte erzählen. Denn es ist eine Geschichte über Resilienz – über die Fähigkeit, Unerträgliches zu erleben, sich aber dennoch einen unzerstörten Kern zu bewahren. Wie konnte es ihnen gelingen, sich die Hoffnung auf ein besseres Leben zu bewahren?

Ulla Fröhling

PROLOG

Villa Baviera, Parral, ChileIm März 2000, zwischen 2 und 4 Uhr morgens

Wie ein angeleinter Hund in der Nacht hockt er im Dunkel des schmalen Raumes, das eine Ende des Stricks am eisernen Feldbett festgeknotet, das andere um den Hals. Jetzt nur noch die Schlinge zuziehen, sich fallen lassen. Nur noch.

Sein Name ist Wolfgang. Doch sie nennen ihn den Pfuscher. Oder Herbert. Manchmal weiß er seinen eigenen Namen nicht mehr. Spitznamen sind lustig, sagen sie; wer keinen hat, bei dem stimmt’s nicht.

Wolfgang lauscht, doch alles bleibt still. Das rasselnde Schnarchen aus dem Nachbarzimmer im Neukra, wie sie das neue Krankenhaus nennen, ist das Einzige, was er hört.

Günter12, der Kranke, der dort liegt, wird ihn nicht stören. Selbst wenn der jetzt erwachte, er könnte ihn nicht von seinem Vorhaben abhalten, so wie der Schlaganfall ihn zurückgelassen hat. Allein kann der nicht einmal das Bett verlassen. Wolfgang muss ihn versorgen, ihn füttern, waschen, muss ihn in den Rollstuhl heben. Doch zuerst muss er in die Metzgerei, muss schlachten, zerlegen, schleppen. Dann wieder zurück zu Günter, der nicht aufwachen will. Denn Schlaf ist für viele die einzige Zeit ohne Qual. Ihre Tage sind voller Leid und Demütigungen. Wie für Helmuth Schaffrik, den anderen Gelähmten. Mit dem niemand sprechen darf, über den sich alle lustig machen. »Mit dir stimmt’s nicht«, sagen sie zu ihm, »wirst schon wissen, was du getan hast, dass du im Rollstuhl sitzen musst.« Und drehen sich weg, gehen weiter, wenn er stecken bleibt mit seinem Rollstuhl im Sand und Geröll der Wege. Gestern hat Wolfgang gewartet, bis alle weg waren, dann hat er Helmut durch den Sand geschoben.

Nur wenige Stunden Schlaf gibt es. Manchmal bleibt er traumlos. Das ist am schönsten. Denn die Gewalt folgt einem auch in die Träume.

Doch heute ist alles anders. Heute bleibt Wolfgang in seinem Zimmer. Mit dem Strick um den Hals. Den hat er sich schon vor Wochen besorgt. Heimlich. Aus der Werkstatt. Da hinzugehen ist unverdächtig; dort, bei seinem Lehrherrn und Meister, arbeitet er oft. »Alles gehört allen«, sagen sie. Doch nehmen darf man sich nichts. Denn ihnen, die hier arbeiten, manchmal sechzehn Stunden am Tag, jeden Tag, bis die Tage ineinandergeflossen sind ohne Unterschied, ihnen gehört gar nichts. Sich etwas zu nehmen wird schwer bestraft. Wenn es herauskommt. Und es kommt fast immer heraus. Auch wenn der, den sie am meisten fürchten und am meisten lieben – ihr Führer, ihr Gott Paul Schäfer – längst fort ist, seit Jahren schon. Es kommt heraus, weil alles gebeichtet werden muss. Gerade das Heimliche. Doch auch wer beichtet, wird bestraft. Wegen der Schuld. Sie schlagen auf einen ein, alle, die gerade in der Nähe sind, die zur Stelle sind. Mit Fäusten, Stöcken, Kabelenden. Oder treten zu, bis man zusammenbricht. Dann tragen sie einen ins Neukra, das neue Krankenhaus, und nehmen den Elektroschocker, bis nur die eigene Schuld in der Erinnerung bleibt, alles andere ist weg. Gelöscht.

Ihn, Wolfgang, der so stark ist, dass er gefährlich werden könnte, hatten sie ruhiggestellt mit Medikamenten, seine Gefühle abgeschaltet, bis ihm der Speichel aus dem Mund lief und er nur noch lallen konnte.

Wer aber nicht beichtet, der wird verraten. Denn Verrat ist Pflicht. Wer nicht verrät, wird bestraft. Denn meist beobachtet jemand auch den, der etwas sieht. Auch dieser muss seine Beobachtung melden. Denn auch ihn könnte jemand gesehen haben.

Dennoch muss das Heimliche geschehen. Sonst würde man den Verstand verlieren. Das, was noch übrig ist. Aber was für einen Sinn hat das Heimliche, wenn man allein bleibt damit? Über vierzig Jahre hat Wolfgang gewartet, und jetzt, da sich alles ändern soll, hat er niemanden. Was soll ich noch auf der Welt, wenn ich allein sein muss?, denkt er, knotet den Strick fester und zieht die Schlinge zu.

»Sie kommt, sie kommt, sie kommt.«

Was war das? Hat jemand gesprochen, oder war das eine Stimme in seinem Kopf? Günter nebenan schnarcht weiter, der hat nichts gehört.

Vielleicht sollte man doch noch warten, schießt es Wolfgang durch den Kopf. Was für einen Unterschied macht schon ein weiterer Tag, hier, wo ein Tag ist wie der andere?

Aber das war nicht ihre Stimme. Die kennt er genau. Es kann gar nicht ihre Stimme gewesen sein, denkt er; sie würde nie mehr mit ihm sprechen. Nie mehr. Damals, vor zwölf Jahren, haben sie ihm den Brief gezeigt, in ihrer Handschrift. Dass sie ihn nie wiedersehen will, stand da, dass sie nie wieder etwas mit ihm zu tun haben will und wird. Am nächsten Tag kam er dann weg. Ans Meer. In die Verbannung.

Egal, wohin sie ihn auch verbannen würden und wie lange, immer bleibt doch das Bild in seinem Kopf, wie sie aussah, vor fast einem halben Jahrhundert, als er sie zum allerersten Mal erblickte.

Es war bei seiner ersten Versammlung, einer Evangelisationsfreizeit in den Ferien. Rechts stand das große Zelt. Dahinter floss die Oker. Er trat aus dem Versammlungszelt, davor sang der »Wagner-Chor«. Wagner, so hieß ihre Familie. Wunderschön haben sie gesungen. Der Fluss warf die späten Sonnenstrahlen zurück, das Gras duftete. Und da war sie, vorne rechts an der Seite, die Kleine mit der hohen Stirn und dem dunkelblonden Kranz auf dem Kopf. Sie gefiel ihm, wie sie dort stand, im weit schwingenden Sommerkleid. Ganz in sich versunken. Und im Gesang. Das ist sie, dachte er. Meine Frau. Er denkt es auch jetzt.

*

Dies ist eine Geschichte von Liebe und Sehnsucht.

Die Geschichte einer Liebe, die systematisch und gewaltsam zerstört werden sollte. Mit Folter, Elektroschocks, Isolation, Gehirnwäsche. Und die doch immer wieder aufflackerte, fünfzig Jahre lang.

Und eine Geschichte von Angst und Verrat. Von Gewalt und Vernichtung. Von Schuld. Von Menschen und von Regierungen, die wegsehen, weil sie feige sind oder weil sie von der Gewalt profitieren.

Sie begann, als Wolfgang neun Jahre alt war.

TEIL 1

Die Saat der GewaltDeutschland 1945–1961

»Die Würde des Menschen wurde mit Füßen getreten.

Man nannte es Demut, wenn man es ertrug, zu Unrecht einer Schuld bezichtigt zu werden. Man nannte es Hochmut, wenn man sein Recht forderte, und [als] geisteskrank wurde der bezeichnet, der Schäfer einer Schuld überführte oder offen über Missstände klagte.«

Willi Georg, Schulkamerad Paul Schäfers, 196613

KAPITEL 1

Ein’ feste Burg

195614Gesellschaft: Die ersten 50 Gastarbeiter aus Italien treffen ein; Bravo erscheint; die Fresswelle beginnt. Im Kino: … denn sie wissen nicht, was sie tun (James Dean); Sissy (Romy Schneider). Schlager: Heimweh (Freddy Quinn). Politik: Ungarn-Aufstand; der BND wird gegründet; Minister für Atomfragen. Franz-Josef Strauß wird Verteidigungsminister.Satz des Jahres: Wenn die Tendenz der Verwahrlosung und Verrohung anhält, hat man mit einer Gefahr für die Gesellschaft zu rechnen, die schlimmer ist als die Atombombe.(FAZ über die Halbstarken)

Groß Schwülper, Sonntag, 5. August 1956, mittagsWOLFGANG MÜLLER

Mit aufgeschlagenen Knien, zufrieden und stolz sitzt Wolfgang Müller neben seinem Vater im VW Käfer. Der Neunjährige ist Torwart beim TSV Lutter, so wie sein Vater und dessen Vater vor ihm, eine Familientradition. Wolfgang hat Talent, ist flink und groß; mit sechs Jahren schon war er in der Schülermannschaft, jetzt bei den Knaben. Heute war ein Spiel in Braunschweig, keinen Ball hat er durchgelassen.

Wolfgang fährt gern mit seinem Vater Auto, wenn sie Fußball gespielt haben. Das ist ihre Verbindung. Als Deutschland Weltmeister wurde, vor zwei Jahren in Bern, da saßen sie miteinander vor dem Radio. Zu sagen wissen sie sich nicht viel. Gemeinsame Zeit, das zu üben, gibt es nicht oft. Beide Eltern arbeiten, der Vater auf der Zeche, die Mutter in der Puddingfabrik, sechs Tage die Woche, oft zehn Stunden am Tag. In Lutter am Barenberge, einer Bergbaustadt am Rande des Harzes, wächst Wolfgang auf, ein Einzelkind, um das sich die Eltern wenig kümmern können. So bleibt er für sich, immer etwas ungelenk und schüchtern gegenüber Fremden, und wenn er spricht, holpert er durch die Sätze.

Mit fünf Mark Taschengeld bringt Wolfgang sich durch. Sein Geld muss er sich gut einteilen, auch Schulhefte und Kleidung davon bezahlen. Er wird früh selbstständig. Morgens auf dem Schulweg kauft er sich Brötchen mit Gehacktem und Zwiebeln, oder Schillerlocken, das sind Waffeltüten mit Schlagsahne. Lecker. Oder er schmiert sich selbst eine Klappstulle, wickelt sie in altes Zeitungspapier und betrachtet die Bilder aus einer anderen Welt. Neulich war eine Fürstenhochzeit dabei, Monaco stand darüber; wo das ist, weiß er nicht, aber sehr schön hat die Braut ausgesehen.

»Wir fahren noch zu Mama nach Groß Schwülper«, sagt der Vater. Wolfgang sagt nichts, aber etwas enttäuscht ist er schon, denn oft gibt es Streit zwischen den Eltern. Vielleicht musste er deshalb auch im Bett zwischen ihnen schlafen, bis er acht Jahre alt war, denkt er, damit es keinen Streit gab. Die Mutter macht gerade Urlaub mit einer Nachbarin, Arbeiterin in der Puddingfabrik wie sie, die hat sie mitgenommen zu einer Zeltfreizeit in Groß Schwülper. Da ist was los! Ein Paul Schäfer soll dort die Bibel auslegen und Erwachsene taufen. Ein faszinierender Mann, sagen sie, ein Gottesmann, einer, der etwas bewegen will. Einer, durch den Gott spricht. Das klingt gut, auch für Wolfgangs Mutter, die eher auf der Suche nach Unterhaltung ist, nach Ablenkung vom Alltag, als nach religiöser Einkehr.

Wolfgangs Eltern haben im letzten Kriegsjahr geheiratet, ihr Unglück dadurch eher verdoppelt als halbiert. Zügig, im Jahr darauf, kam Wolfgang zur Welt. Kindererziehung entfällt aus Mangel an Zeit und Neigung. Wolfgang wächst bei den Großeltern auf und in den Familien der Nachbarskinder; Cousins und Cousinen sind auch dabei. Fußballspielen, Kinderstreiche und Kirschenklauen sind die Lichtblicke in seiner Erinnerung.

Auf der Suche

Groß Schwülper, eine kleine ländliche Gemeinde zwischen Harz und Heide im Zonenrandgebiet, nahe der Ostzone, ist in Aufruhr an diesem Wochenende im Sommer 1956. Auf den Wiesen am Ufer der Oker, die hier nur wenige Meter breit ist, zwischen Pferdeweiden, Rüben- und Kartoffeläckern macht sich eine Zeltstadt breit. Kleine Schlafzelte für drei bis fünf Personen, ein großes Zelt für gemeinsame Mahlzeiten, ein Versammlungszelt für Gebete, Predigten, Evangelisation. Und das Wasser im Staugraben der Schunter, einem kleinen Nebenfluss der Oker, um die Bekehrten darin zu taufen.

Menschen auf der Suche sind hier zusammengekommen. Suche nach Gott, nach Gemeinschaft, nach Halt. Es sind Christen, meist Freikirchler, Baptisten, Pfingstler und andere, denen die evangelische Kirche zu wenig Kraft, Erleuchtung, Leidenschaft, zu wenig Erschütterung und Führung bietet. Das Bedürfnis, sich bedingungslos hinzugeben – diesmal einem Führer, der es gut mit ihnen meint –, das verbindet sie. Viele Kinder sind dabei. Vielleicht kann man noch ein bisschen Fußball spielen, denkt Wolfgang und schaut sich um, als sein Vater den VW Käfer am Feldrain geparkt hat und sie beide am Kühler lehnen, vor sich viele unbekannte Menschen, und die Mutter ist nirgends zu sehen.

Fünfzig, vielleicht achtzig Menschen bevölkern heute die Okerwiesen, Mädchen in bunten Sommerkleidern oder in Rock und weißer Bluse, die meisten tragen lange Zöpfe, Frauen in weiten Röcken und flachen Schuhen, mit Dutt, Knoten oder Haarkranz, erwartungsvoll. Viele haben eine Strickjacke übergezogen, denn dieser August 1956 ist viel zu kalt für einen Sommermonat. Stumm stehen die Frauen beieinander, schauen zu, wie die halbwüchsigen Jungen spielen. Viele ältere Männer in kariertem Hemd mit Strickweste, dünn sind sie und müde vom Krieg, der vor zehn Jahren zu Ende ging, der ihnen aber immer noch in den Knochen steckt. Und in der Seele.

Millionen Flüchtlinge aus Osteuropa mussten untergebracht werden, eher geduldet als mit offenen Armen aufgenommen, so erleben sie ihr Schicksal. Herumgestoßen, verachtet. Freikirchler aus Ostpreußen, aus Schlesien sind nach der Flucht hier in Groß Schwülper gelandet, gestrandet und müssen sich für ihre Gottesdienste die kleine Kapelle mit einer anderen Minderheit teilen, katholischen Flüchtlingen aus dem früheren Galizien, eine Region, die sich heute vom südlichen Polen bis in die Ukraine erstreckt.

Wolfgangs Familie musste nicht flüchten, sie lebte immer in Lutter. Aber auch durch die Straßen seiner Kindheit ziehen die Kriegsversehrten, Einbeinige mit Krücken, das leere Hosenbein mit Sicherheitsnadeln hochgesteckt. Die Kinder laufen zusammen, wenn wieder ein Leierkastenmann in ihrer Straße auftaucht, einer hat einen angeketteten Affen dabei, der sammelt mit einem Hut die Pfennige und Groschen auf, die die Kinder ihm hinwerfen. Doch Wolfgang hat kein Geld zum Wegwerfen.

Für die Jugendlichen und die Erwachsenen erwacht nachts im Traum der Schrecken des Krieges wieder zum Leben, mit Brandbomben, Vergewaltigungen, Gefangenschaft. Auch die Qual der anderen: das Leid der Zwangsarbeiter, die Folter, die Demütigungen und Massenmorde in den Konzentrationslagern.

Überall in Deutschland sind die Folgen von Diktatur und Krieg noch zu spüren. Nicht mehr so deutlich wie 1945 – die Ruinen sind aus dem Wege geräumt, die Wirtschaft blüht auf, die Menschen wollen leben, kaufen, haben. Der Aufbau nimmt alle Kräfte in Anspruch. Hervorragend geeignet zum Verdrängen. An eine Aufarbeitung der Nazizeit ist noch lange nicht zu denken.

Während Wolfgang und sein Vater nicht recht wissen, wie sie sich unter diesen fremden Menschen bewegen sollen, macht sich einer schon auf den Weg zu ihnen: Paul Schäfer. Den rotblonden Jungen in der kurzen Fußballhose hat Schäfer sofort erspäht, als dieser aus dem VW Käfer klettert und mit seinem Vater den Versammlungsplatz in Groß Schwülper betritt. Er geht auf Wolfgang zu.

»Rote Haare, Sommersprossen sind des Teufels Volksgenossen«, sagt Schäfer munter, ein Spruch aus jüngst vergangener Zeit, fährt Wolfgang mit der Hand durch die Haare, fragt: »Wer bist du denn? Ich bin der Onkel Paul« und drückt den Jungen an sich. Ein Test. Dies ist Wolfgangs erste Begegnung mit Paul Schäfer. So aufmerksam wahrgenommen zu werden ist ungewohnt für den kleinen Jungen. Im Sommer 1956 ist Wolfgang noch ein Kind. Ein vernachlässigtes Kind, hungrig nach Zuneigung. Manche hänseln ihn, dann wird er so rot wie seine Haare. Paul Schäfer erkennt diese Kinder. Er weiß um ihre Bedürftigkeit und um ihre Wehrlosigkeit. Er nimmt ihre Spur auf.

Doch jetzt geht es ins Zelt zum Essen. Dabei verfliegt das eigenartige Gefühl schnell, das Wolfgang nicht benennen kann. Im Zelt stehen schon die Frauen, verteilen Brot und Suppe. Und da ist auch die Mutter.

Ein’ feste Burg ist unser Gott, ein’ gute Wehr und Waffen.

Er hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt hat betroffen.

Wolfgang hört den vielstimmigen Chor, er geht vor das Zelt, seinen Teller noch in der Hand. Paul Schäfer hat er schon wieder vergessen. Die Sonne steht hoch über dem Horizont, ihre Strahlen lassen die kabbeligen Wellen des kleinen Flusses aufblitzen. An der Flussbiegung springen einige Dorfkinder ins Wasser. Neugierig gucken sie zu den Menschen der Zeltmission herüber, über die man im Dorf so einiges munkelt. Ganz Mutige schleichen sich hinter den Büschen heran. Irgendwo wiehert ein Pferd. Wolfgang sieht die überhängenden Weiden, er riecht das gemähte Gras, hört den Gesang. Er geht näher zum Chor hin. Fünf Mädchen und Frauen stehen an der rechten Seite. Sie sehen sich ähnlich. »Der Wagner-Chor«, sagen die Leute, verstummen und lauschen. Da entdeckt Wolfgang die Kleine. So denkt er: die Kleine; ihren Namen kennt er noch nicht. Die Kleine, dabei ist er neun und sie vierzehn Jahre alt. Aber er ist groß für sein Alter und sie klein. So eine Kleine, Feine, sie ist so zart. Er mag sie sofort.

Viel ist da zusammengekommen an diesem Tag, der Fußballsieg und die Fahrt mit dem Vater, der Duft des Sommers, ein wenig Freiheit, so viele fremde, neue Gefühle. All dieses Entzücken bündelt Wolfgang für alle Zeit im Anblick des kleinen Mädchens mit der klaren schönen Stimme und dem dicken Zopf auf dem Kopf. In dem weißen Sommerkleid mit den schwarzen Tupfen und mit dem weit schwingenden Rock. Dass Paul Schäfer ihm mit Blicken folgt, bemerkt Wolfgang nicht, während er verträumt die Kleine betrachtet und weiter dem alten Kirchenlied von Martin Luther lauscht:

Der altböse Feind, mit Ernst er’s jetzt meint;

groß Macht und viel List sein grausam Rüstung ist,

auf Erd ist nicht seinsgleichen.

Als der Vater nach zwei Stunden heimfahren will, ist Schäfer wieder zur Stelle.

»Lass doch den Jungen hier«, schlägt er ihm vor.

Aber Wolfgangs Vater will nicht. Was ihn davon abhält, könnte er nicht sagen, er denkt auch nicht darüber nach. Es ist bloß so ein Gefühl. Und über Gefühle spricht man nicht. Schon gar nicht als Mann. Wolfgangs Erziehung durch den Vater ist streng, aber ohne körperliche Gewalt.

»Es ging alles mit Blicken, dann saßen wir stramm wie die Zinnsoldaten«, erinnert er sich später.

Die einzige Ohrfeige von seinem Vater wird er zwei Jahre später bekommen, bei der »Schlacht von Göteborg«, als Schweden im Halbfinale der Fußballweltmeisterschaft gegen Deutschland gewinnt. Wolfgang und sein Vater sitzen bei dem Nachbarn auf der Couch, Müllers selbst haben noch keinen Fernseher. Gespannt verfolgen sie das Spiel. Als Fritz Walter verletzt vom Platz getragen wird und Deutschland 3:0 verliert, kullern Wolfgang die Tränen übers Gesicht. Und sein Vater haut ihm eine runter. Ein Junge weint nicht. Schon gar nicht vor Fremden. So eine Lektion muss nicht wiederholt werden.

»Lass doch den Jungen hier«, sagt Paul Schäfer.

»Nein«, sagt der Vater.

Zehn Jahre zuvor, mit 26 Jahren, war der Jugendpfleger Paul Schäfer wegen Verdachts des sexuellen Missbrauchs an minderjährigen Jungen von der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern entlassen worden. Es folgte eine kurze Zeit als Betreuer behinderter Jugendlicher in Bethel. Gesichert sind weitere Entlassungen in Gartow bei Lüchow-Dannenberg, in Heidenheim, Mönchengladbach, damals noch München Gladbach; vermutlich gab es noch mehr. Anzeige wurde nicht erstattet. Nicht ein einziges Mal. Schäfer beschäftigte sich gern mit angeblich schwer erziehbaren Jugendlichen. Wer glaubt denn denen schon? Und er bevorzugte kirchliche Arbeitgeber.

Fünfzig Jahre später arbeitet die amerikanische forensische Psychologin Anna Salter die Hintergründe der unheiligen Bindung zwischen Sexualstraftätern und Kirche heraus. »Ich habe gefilmte Interviews mit diesen Tätern; sie sagen, ich mag die Kirchenleute am liebsten, weil sie nach dem Besten in den Menschen suchen, weil sie glauben, dass in jedem Gutes ist. Und die Täter rutschen direkt unter diesem optimistischen Radar hindurch.«15

Inzwischen deckt auch die weltweite Heimkinderbewegung das ungeheure Ausmaß an körperlicher, sexueller und seelischer Misshandlung von Kindern in kirchlichen, staatlichen und privaten Heimen auf. Schließlich auch das in deutschen Heimen. Organisierte und kommerzialisierte Gewalt gegen Kinder.16

Damals aber, Anfang der Fünfzigerjahre, fand man kaum Worte, um über den sexuellen Missbrauch von Jungen zu sprechen. Undenkbar für viele, dass es so etwas überhaupt gab. Welch ein Schutz für diese Täter – wie eine Tarnkappe muss das gewesen sein.

Dennoch: Zwar wird Paul Schäfer in den evangelischen Einrichtungen nicht angezeigt, wohl aber wird er entlassen. Nun wandert er von Bundesland zu Bundesland. Von Bayern nach Nordrhein-Westfalen, nach Niedersachsen, nach Baden-Württemberg und wieder nach Nordrhein-Westfalen. Schäfer ist auf der Suche nach einem sicheren Ort – sicher für ihn –, an dem er auf Dauer bleiben kann und von wo niemand ihn vertreibt.

Man kann davon ausgehen, dass der 35-jährige Paul Schäfer schon eine Spur der Verwüstung hinterlassen hat, als sein Blick auf den neunjährigen Wolfgang fällt. Wen aber sieht Wolfgang? Schäfer ist ein kleiner Mann, 1,68 Meter, mit zurückweichendem Stirnhaar und einem auffälligen Glasauge. Manche fühlen sich durch diesen Blick eingeschüchtert oder verwirrt, denn man weiß nie genau, wohin er guckt. Auf andere wirkt es hypnotisch. Die Hemdsärmel hochgekrempelt, die Ellbogen abgewinkelt, mit dominanten Gesten erscheint er auf den wenigen Fotos, die aus jener Zeit von ihm existieren. Gern auch mit einer Mundharmonika. Charismatisch soll er gewesen sein.

Doch nicht alle lassen sich blenden.

Einer von denen, die Paul Schäfer von Anfang an misstrauen, ist Harry Friedrich, der der evangelisch-freikirchlichen Gemeinde in Groß Schwülper angehört, einer reinen Flüchtlingsgemeinde. Und wie man mit denen umging, vergessen die meisten nie. »Polnische Edelsäue« nannte sein Dorfschullehrer die Freikirchler, die aus dem Osten geflüchtet waren. Sicher ist Harry nicht der Einzige, dem das verächtliche Wort des Lehrers nach Jahrzehnten noch in den Ohren steckt.

Harry Friedrich ist 24, als er Schäfer das erste Mal sieht. Sein Cousin war dem Jugendpfleger schon 1953 im Jugendheim in Gifhorn begegnet.

»Den kenne ich«, flüstert er Harry zu, als zwei Vertraute Schäfers 1954 vor die Gemeinde in Groß Schwülper treten und den Gemeindeprediger Helmut Witt großspurig zur Seite schieben mit den Worten: »Jetzt hält Paul mal die Stunden.«

Wie ein Schlangenbeschwörer kommt Schäfer ihm, Harry Friedrich, vor, und sein Blick mit dem irritierenden Glasauge erinnert ihn an Albrecht Dürers Kupferstich Ritter, Tod und Teufel. Mit Schäfer als Teufel.

Harry Friedrichs Großeltern haben die freikirchliche Gemeinde in Groß Schwülper mitbegründet. Daher entwickelt der Enkel eine besondere Beziehung zu der kleinen Gruppe und beobachtet sehr genau die Strategie, mit der Schäfer neue Anhänger um sich schart. Die erste Zeltfreizeit in dieser Gemeinde legt Schäfer in den Urlaub des Predigers Witt, sicher nicht zufällig. Das überraschte Ehepaar Witt macht bei der Rückkehr aus dem Urlaub gute Miene zum bösen Spiel, besucht Schäfers Abendveranstaltungen und erlebt die ungeheure Faszination, der viele nicht widerstehen können. Eines Tages kommen Schäfer-Anhänger unverfroren zu Margarete Witt, setzen sie unter Druck und verlangen von ihr ein Bekenntnis zu Schäfer und gegen ihren Mann. Was sie allerdings ablehnt.

Als bei einer Gemeindestunde aber plötzlich 23 Leute aufstehen und hinausgehen, um die Gemeinde zu verlassen und Schäfer zu folgen, ist Harry endgültig alarmiert.

Der kann reden, was er will, denkt er bei sich, aber nicht mit mir.

Als frecher Halbstarker verlegt Harry sich auf Sabotage, vertauscht Zündkerzen, verstopft den Auspuff von Schäfers Wagen, damit der mit seinen Leuten nicht mehr zur Kapelle kommt. Mit Autos kennt Harry sich aus, hat er doch einen der begehrten Arbeitsplätze bei VW im benachbarten Wolfsburg ergattert. Und während der Zeltfreizeit im August 1956, an der auch Wolfgang und dessen Vater kurze Zeit teilgenommen haben, braust Harry Friedrich schließlich mit Freunden in einem alten Adler Trumpf 1936 – nicht mehr zugelassen, aber legendär – mitten durch die Okerwiesen und stört die Versammlung.

Doch da sitzt der kleine Wolfgang, der das – wie jeder kleine Junge – sicher gern miterlebt hätte, schon wieder neben seinem Vater im Auto und ist auf dem Weg nach Hause. Wenige Stunden nur haben sie auf der Zeltfreizeit verbracht. Ohne es zu ahnen, hat der Vater seinem Sohn noch ein Jahr Kindheit geschenkt. Nur noch eines.

Zur selben Zeit, dreihundert Kilometer weiter südwestlich, macht der deutsche Bundeskanzler Urlaub. In seinem Ferienort Bühlerhöhe gibt Konrad Adenauer den volksnahen Kanzler. Aus gutem Grund: Im nächsten Jahr ist Bundestagswahl. Auf seinen Spaziergängen begleiten »ganze Züge Schaulustiger« den achtzigjährigen Kanzler – wie der Spiegel berichtet und auch im Bild zeigt. Heute bewirtet Adenauer die 120 Sänger des Werkschors der Dynamit Nobel AG aus Troisdorf bei Köln. Zusammen mit ihnen schmettert der Kanzler »Muß i denn zum Städtele hinaus«. Der Werkschor aus Paul Schäfers Heimatort – Schäfer hatte auch bei Dynamit Nobel gearbeitet – revanchiert sich dafür auf Adenauers Wunsch hin mit dem Schubert-Lied »Im Abendrot«:

O wie schön ist deine Welt,

Vater, wenn sie golden strahlet!

Wenn dein Glanz herniederfällt

Und den Staub mit Schimmer malet,

Wenn das Rot, das in der Wolke blinkt,

In mein stilles Fenster sinkt!

In Wolfgangs Ohren klingen noch die Lieder des Wagner-Chors nach, und die Kleine mit dem blonden Kranz geistert durch seine Gedanken, während er und sein Vater Heinz nebeneinander schweigend die Rückfahrt nach Lutter hinter sich bringen, jeder allein in seinen Gedanken.

Groß Schwülper, Sonntag, 5. August 1956, mittagsGUDRUN WAGNER

Mit unsrer Macht ist nichts getan,

wir sind gar bald verloren;

es streit’ für uns der rechte Mann,

den Gott hat selbst erkoren.

Ganz hingegeben ist Gudrun Wagner an den Gesang. Den kleinen rothaarigen Jungen, der sie wie verzaubert anschaut, einen Nachmittag lang, und der sie nicht vergessen wird, sein Leben lang, den hat das vierzehnjährige Mädchen noch nicht einmal bemerkt. Hier laufen so viele kleine Jungen herum.

Ihr Blick sucht Alfred, nur für ihn hat sie Augen. Alfred Matthusen ist fünf Jahre älter als sie, ein richtiger Mann. Im Jahr zuvor war Alfred nach Graz gekommen, in Gudruns Heimatstadt, im Tross von Paul Schäfer, der durch die Lande zieht wie ein Wanderprediger, auf der Suche nach Seelen, auf der Jagd nach Körpern. Alfred ist es, der Gudrun für die Schäfer-Gemeinde einfängt und dem sie nun zusammen mit ihrer Familie aus ihrer Heimatstadt Graz nach Groß Schwülper gefolgt ist. Vorerst nur für zwei Ferienwochen.

Alfred Matthusen ist einer der »Ältesten«, einer der »Brüder«. So nennt Paul Schäfer seinen engeren Kreis, die sechs jungen Männer, mit denen er von Gartow im Wendland aus durch die Lande zieht. Gerhard Mücke, Rudolf Cöllen, Heinz Kuhn, Horst und Herbert Münch. Mit Schäfer sind sie sieben.

Gudrun ist in einer sehr musikalischen Familie aufgewachsen. Gern und oft wird gesungen. Sie spielen viele Instrumente, treten zusammen auf. Wagner-Chor, diesen Namen haben sie schnell weg, denn sie sind die tragende Kraft auf den Versammlungen, singen alle Stimmen: Sopran, Tenor, Alt, Bariton, Bass – alles dabei. Auch Gudruns Tante Resi und Onkel Wöhri gehören dazu; mit dem Onkel zusammen singt Gudrun die dritte Stimme. Hannchen*17, die älteste Schwester, singt die zweite Stimme, Hilde und die Mama die erste, und Papa gibt den Bass.

Aber heute ist Gudrun verwirrt, sie fühlt sich schuldig und hat Angst. Erschöpft und übermüdet ist sie außerdem; in den letzten Tagen musste sie dreimal den weiten Weg von Graz nach Groß Schwülper zurücklegen. Aber das alles verschwindet, wenn sie singen kann. Im Gesang kann Gudrun alles vergessen.

Mit unsrer Macht ist nichts getan,

wir sind gar bald verloren;

es streit’ für uns der rechte Mann,

den Gott hat selbst erkoren.

Der rechte Mann, denkt Gudrun, das muss dann wohl Paul Schäfer sein, jedenfalls sagt er das. Wohl ist ihr nicht bei dem Gedanken. Als sie ihn ein Jahr zuvor zum ersten Mal sah, erschrak sie, und eigenartige gemischte Gefühle stellen sich immer wieder ein, wenn er auftaucht. Einerseits bewundert sie ihn, andererseits ist er ihr unheimlich. Auch an diesem Wochenende. Zwar verdankt sie ihm, dass sie überhaupt hier sein darf, in Alfreds Nähe. Aber sie wird ihm auch etwas beichten müssen, und davor fürchtet sie sich. Auch ihre Mutter wirkt bedrückt, und Gudruns kleiner Bruder Basti*, der eigentlich gar nicht hatte mitkommen sollen, weicht der Mama nicht von der Seite.

Einige Tage zuvor war Gudrun aus Graz in den Norden getrampt, um beim Aufbau der Zelte zu helfen. Sobald die Zelte standen, sollte sie wieder zurück nach Hause trampen, um auf die jüngsten Geschwister aufzupassen, den siebenjährigen Basti und die vierjährige Hedi, damit die Eltern, Mina und Wilhelm Wagner, mit Hannchen nach Norden reisen und ungestört die Zeltfreizeit genießen könnten.

Doch Paul Schäfer hat andere Pläne. Er nimmt Alfred und Herbert beiseite und weist sie an, Mina Wagner in Graz zu überreden, ihre beiden Jüngsten unbedingt mitzubringen. So könne auch Gudrun an der Freizeit teilnehmen und müsse nicht zur Aufsicht der Kleinen in Graz zurückbleiben. »Auf die Kleinen wird aufgepasst«, lässt er ausrichten. Eine merkwürdige Anweisung, ein eigenartiges Hin- und Herfahren. Was kümmert ihn Gudrun? Aber Schäfers Befehle werden nicht hinterfragt. Was hätte er auch sonst sagen sollen? Die Wahrheit sicher nicht: Ich hab den kleinen Basti gesehen und will ihn haben. Schäfers fürsorglicher Hinweis, dann könne auch Gudrun an der Freizeit teilnehmen, ist wohl nichts als Tarnung. Ob Schäfer diese Wahrheit vor sich selbst noch zugibt, oder ob er auch glaubt, was er verkündet?

Gudrun macht sich keine Gedanken darüber; je länger sie mit Alfred unterwegs sein kann, desto besser. Egal, wohin, egal, ob sie trampen müssen oder mit einem von Schäfers Wagen fahren dürfen. Gudrun ist vierzehn und so verliebt, dass Alfred, der Mann neben ihr auf dem Rücksitz des braunen VW Bulli, mit einiger Vorfreude die zehnstündige Fahrt von Groß Schwülper in Niedersachsen nach Graz in Österreich antritt, auf die Paul Schäfer ihn schickt. Alfred Matthusen ist viel größer als Gudrun. Glücklich strahlt die Kleine zu ihm hoch. Für sie war es Liebe auf den ersten Blick. Sie glaubt, für ihn auch. Aber sie reden nie darüber.

Zu viert treten sie die Reise an, um die Grazer Familien abzuholen: Alfred, Herbert, Ingrid und Gudrun, die Jüngste. Dabei kommt es zu »engeren Kontakten«, so formuliert Gudrun das. Sie knutschen auf dem Rücksitz. Doch noch wichtiger als das Knutschen scheint es für Alfred zu sein, diese sündige Tat als Erster bei Paul Schäfer zu beichten. Gudrun muss ihm versprechen, dass sie ihm den Vortritt lässt.

Dass die Küsse auf dem Rücksitz ein ganz privates Vergnügen sein können, das man einfach für sich behält, ist für beide unvorstellbar. In ihren Augen ist es eine Schuld, ein Vergehen gegen Gott, das man beichten muss. So etwas dürfen sie nicht tun. Aber was eigentlich? Was wirklich geschah, weiß Gudrun am Ende der Fahrt nicht mehr. Nur dass sie kurz vor Graz, ein wenig aufgelöst, auf dem Rücksitz des Autos aufwacht und nicht fragen mag, was geschehen ist.

Die Verhandlungen mit Mina Wagner in Graz gestalten sich schwierig. Gudruns Mutter will die Jüngsten partout nicht mitnehmen. Misstraut sie Schäfer schon? Jedenfalls hält sie deutlich mehr Abstand als ihr Mann, der Schäfers Nähe sucht. Schließlich gibt sie doch nach, und alle machen sich zusammen auf die Reise. Zuerst nach Salzburg, wo eine weitere Familie zusteigt. Nun wird es eng im Wagen, Gudrun und Alfred müssen aussteigen und von Salzburg nach Groß Schwülper trampen. Im Bus wird viel gesungen. Fast der ganze Wagner-Chor ist in Schäfers VW Bulli versammelt. Sie üben Lieder, die sie auf der Freizeit vortragen wollen. Mit einem dieser Lieder wird Gudrun dann, ganz nebenbei und ohne es zu bemerken, den kleinen Wolfgang Müller mitten ins Herz treffen.

Zwei Wochen voller Arbeit, Kinderbetreuung, Küchendienst, Saubermachen, liegen vor Gudrun: Aufgaben, die die Frauen und Mädchen ganz selbstverständlich erfüllen, sie werden nicht besonders erwähnt. Wichtig sind die Andachten und Gebete von morgens bis abends, in großen und in kleinen Gruppen, prophetische Reden von Schäfer, Zungenreden und Teufelsaustreibungen in freier Natur. Mitglieder aus den Gemeinden Hamburg, Salzgitter, Gronau, Gerstetten, Groß Schwülper, Graz und Gartow sind dabei.

Einige Fotos von damals sind noch erhalten: eine Sommerwiese, niedergetreten von vielen Füßen, ein Wall, bewachsen mit Büschen, Laubbäumen und Krüppelkiefern, kleine Zelte. Rechts, etwas abseits, hocken Gudruns jüngste Geschwister Basti und Hedi und fremdeln. In der Mitte die Gruppe von dreißig Personen, sie blicken in die Kamera, erwartungsvoll. Die Vergangenheit ist düster, was bringt die Zukunft? Worum geht es im Leben? Wenn nicht in dieser Welt, dann in der nächsten. »Es geht um Ewigkeitszubereitung«, das jedenfalls behauptet Schäfer in seinen Rundschreiben. Doch für die Jugend geht es auch um ein wenig Spaß, ein wenig Vergnügen, oft mit schlechtem Gewissen. Für einige, wie für die 22-jährige Ida Ritz, die diese Fotos gemacht hat, geht es außerdem um sehr konkrete Ziele, um eine Ausbildung, einen Beruf, beides muss und will sie sich erkämpfen. Zur Not auch gegen Paul Schäfer.

Als es Abend wird an diesem Sonntag im August, läuft ein Gerücht durch Groß Schwülper, dass Ungeheuerliches geschieht auf dieser Zeltfreizeit: Im Wald hat man sie gesehen, wie sie sich peitschen mit Birkenzweigen, man hat gehört, dass sie sich auf den Boden werfen, sich herumwälzen, Unverständliches stammeln oder lallen. Vom Teufel ist die Rede, der da ausgetrieben wird. Und um eine Eiche sollen sie getanzt haben. Vorchristlich klingt das. Heidnisch.

An einigen Abenden wandern die Ältesten mit einer kleinen Gruppe in den Wald, zum inbrünstigen Beten und in der Hoffnung, dass Gott sie erhört. Sie beten um das Geschenk der Zungensprache. Und Gudrun erlebt, wie nach langen, sich steigernden Gebeten, nach Bekenntnissen, demütigem Niederknien, Flehen um göttliche Botschaften und großer Erschöpfung die unverständlichen Worte und Laute schließlich auch über ihre Lippen kommen. Sogenannte Zungensprachen sind nach dem wörtlichen Bibelverständnis einiger evangelisch-fundamentalistischer Gruppen, wie der Pfingstler, eine Gnadengabe des Heiligen Geistes. Sie empfinden in diesem Gebet besondere Nähe zu Gott18. Gudrun selbst versteht nicht, was sie in ihrer Entrücktheit sagt, aber sie fühlt, dass etwas anderes durch sie gesprochen hat. Sie könnte es auch nicht wiederholen, aber dass es wichtige Botschaften sind, die andere, Kundigere auslegen können, das weiß sie wohl.

Erschüttert und erhoben fühlt Gudrun sich durch dieses Erlebnis. Eine Berührung durch Gott, da ist sie sicher. Sprechen kann sie über diese Erfahrung nicht. Das ist auch gar nicht nötig, denn die anderen wissen Bescheid, als sie sie sehen. Als Gudrun wieder aus dem Wald kommt und zu den Zelten geht, flüstert Tante Resi aus Graz ihr zu: »Du brauchst mir nichts zu sagen, du strahlst ja, ich weiß es auch so.« Gudrun fällt ihr in die Arme, sie drücken sich voller Freude.

Noch fünfzig Jahre später ist etwas von ihrer Erschütterung spürbar, wenn Gudrun verschämt und bewegt in ihre Erinnerungen hinabtaucht und die Gefühle des vierzehnjährigen Kindes von damals wiedererweckt. Errötend, wie ein junges Mädchen von ihrem ersten Schwarm, erzählt Gudrun von diesem Erlebnis, das ihr heute noch kostbar ist. Ein Gottesgeschenk, da ist sie sicher.

Zungenreden oder Glossolalie, verzücktes Stammeln in religiöser Ekstase, gehört aus Sicht vieler Pfingstgemeinden zu den Gaben des Heiligen Geistes, so wie Krankenheilung, Prophetie (Weissagung) und Evangelisation, also die Fähigkeit, »Ungläubige« zu bekehren. Die unverständlichen, oft melodisch klingenden, rhythmisch vorgetragenen Wörter und Laute müssen von Kundigen aus der Gemeinde übersetzt werden.

Hirnstrommessungen zeigen, dass die Selbstkontrolle in dieser Ekstase stark eingeschränkt ist. Die Aktivität des Frontalhirns wird verringert, andere Teile sind stärker aktiviert: Bewegungen werden zügellos, die Sprache enthemmt, das Schamgefühl schwindet; die Gefühlserfahrungen dagegen werden intensiv wahrgenommen – man könnte sagen: für wahr genommen.19 Umso leichter sind diese Menschen zu steuern. Sektenführer in aller Welt wissen das. Psychologisch gesehen ist Zungenreden ein Regressionszustand, der Glücksgefühle auslösen kann. Besonders bei Menschen, die starker Kontrolle und Regulierung unterliegen, kann ritualisierte Ekstase unterdrückte Gefühle freisetzen. Ist der kritische Verstand ausgeschaltet, empfinden sich Gläubige umso leichter als Werkzeug Gottes.20

Ekstase – Außer-sich-Sein: Menschen suchen diesen Zustand, den sie als ein Aus-sich-Heraustreten, Über-sich-Hinauswachsen erleben. Sie sehnen sich danach, suchen es in Sexualität, Meditation, Drogenrausch, Religion, Askese und Exzess. Allein, in Gruppen oder in Menschenmassen wie bei der Love Parade.

Das Alltagsbewusstsein verlassen, sich leer machen für neue Erfahrungen, sich öffnen für neue Empfindungen. Intensive Gefühle erleben, die zittern und beben lassen: Alle Religionen kennen die Ekstase. In der griechischen Antike bescherte der Gott des Weines den Menschen dionysische – ekstatische – Erfahrungen im Rausch. Im alten Rom war es Bacchus. »Im Begreifen ergreift der Erkennende das Erkannte, in der Ekstase aber ergreift das Erkannte den Erkennenden«, schrieb Bonaventura, Philosoph und Theologe schon im Jahre 1255.

In den Sechziger- und Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts waren es bewusstseinsverändernde Drogen – von Haschisch über LSD bis Kokain21, Heroin. Das Musical »Hair« bündelte Erfahrungen der Hippie- und Friedensbewegung; der indische Yogi Maharishi Mahesh lehrte die Beatles – und Millionen Menschen weltweit – Transzendentale Mediation. Transzendiert werden sollte das normale Alltagsbewusstsein, dann könnte man angeblich aus eigener Kraft fliegen.

Schon Gudruns Großvater empfing Botschaften von Gott. »Nimm deine Familie und geh nach Kärnten«, befahl ihm eine Stimme, als er 1928 auf einem Acker in der Nähe von Bromberg in Posen bei der Feldarbeit war. Dreimal ordnete die Stimme das an, aber es war niemand zu sehen. Wenige Jahre zuvor war er von Österreich nach Westpreußen gezogen. Und jetzt sollte er wieder zurück? Er seufzte, aber er fügte sich und kehrte mit Frau und fünf Kindern heim nach Österreich. Auch seine Schwester folgte ihm, die dreizehn Brüder aber blieben in Bromberg zurück. Alle wurden ermordet – so jedenfalls erzählt es die Familiensaga. Warum und durch wen, sagt sie nicht. Falls die Geschwister bis 1939 bei Bromberg geblieben waren, könnten sie Opfer des »Bromberger Blutsonntags« geworden sein, eines Kampfes zwischen Polen und volksdeutscher Minderheit im polnischen Korridor, bei dem vermutlich 5437 Deutsche ums Leben kamen – zwei Tage nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen am 1. September 1939, dem Beginn des Zweiten Weltkriegs.22

Falls diese Rekonstruktion zutrifft, hätte Gott mit elfjähriger Vorlaufzeit eine Frühwarnung abgegeben. Leicht zu verstehen, dass diese Familie auf göttliche Botschaften lauscht. Auch Wunderheilungen soll es gegeben haben. Der Großvater, von dem dieses ausging, wurde 97 Jahre alt, ein gesegnetes Alter. Mina, eine der Töchter dieses beeindruckenden Mannes, heiratete den Gärtner Wilhelm Wagner aus dem österreichischen Burgenland; zusammen bekamen Mina und Wilhelm sieben Kinder, eines von ihnen ist Gudrun. Drei Kinder waren schon auf der Welt, als Wilhelm Wagner als Panzerfahrer im Zweiten Weltkrieg das Gelübde ablegte, eine eigene Pfingstgemeinde zu gründen, sollte er je lebend aus Russland nach Hause kommen. Er kam nach Hause. Er gründete die Gemeinde.

Diese kleine Gemeinde wird Paul Schäfer auf einem seiner Raubzüge erbeuten.

Groß Schwülper, Sonntag, 5. August 1956, nachtsPAUL SCHÄFER

Auch Paul Schäfer lauscht dem Gesang des Wagner-Chors. Besonders ein Vers ist ganz nach seinem Sinne:

Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib:

lass fahren dahin, sie haben’s kein’ Gewinn,

das Reich muss uns doch bleiben.

Sein eigenes Reich will Schäfer errichten, eines, aus dem niemand ihn verjagen kann. Im Frühjahr hat er vor den Brüdern seiner Gemeinde ausführlich zu biblischer, geistlicher, menschlicher, leiblicher Zucht und Ordnung in der Ehe gepredigt. »Sündig, sündig, sündig, ihr seid alle sündig!«, hat er sie angeschrien. So wie Gott es ihm eingab. Ehelosigkeit ist das Ziel, und wenn nicht das, dann wenigstens eine Ehe ohne Fleischeslust. Wie es das alte Luther-Lied sagt: »Kind und Weib lass fahren dahin, sie haben’s kein’ Gewinn.«

Sein Blick bleibt an dem kleinen Basti hängen, der matt auf der Wiese hockt. Den sollte man erst mal fasten lassen, denkt Schäfer, aber vielleicht ist der nur müde und muss ins Bett. Zuerst muss er sicher gewaschen werden. Dabei gehen ihm die Worte durch den Kopf, die er seiner Gemeinde im Mai im letzten Rundbrief zu Vers 13,17 aus dem Johannes-Evangelium über die Fußwaschung geschrieben hat: »In Wahrheit meint der Herr hier dich. Ich meine waschen und gewaschen werden. Kostet es dich viel Anstrengung zu merken, wovon ich rede? – Worauf es bei dir ankommt? – Selig zu sein!!«

Und dann stellt er sich vor, wie er den Kleinen wäscht.

Das Lagerfeuer ist fast heruntergebrannt, die Mädchen haben sich längst in ihre Zelte zurückgezogen, manche der »Herren« schlafen auch schon, nur eine kleine Gruppe Neuankömmlinge hockt noch müde zusammen. Ein junger Mann tritt zu der Gruppe und zeigt auf einen der Jungs: »Du darfst heute bei Paul schlafen.« Die anderen schauen den blonden Elfjährigen an. Was für eine Ehre! Was für eine Auszeichnung! Sie sind neidisch. Warum gerade der? Der junge Mann bringt den Kleinen in das Zelt von Schäfer, das etwas abseits aufgeschlagen wurde. Sie gucken hinter ihm her. Dann gehen auch sie schlafen in das Gemeinschaftszelt der Jungen.

Allmählich wird es still in den Zelten.

Gegen fünf am Morgen beginnt es zu dämmern. Die ersten sind schon wach, gehen zum Fluss, um sich zu waschen. Oder an die Waschschüsseln in einigen Zelten, eine Schüssel für drei Personen, erst obenrum, dann untenrum.

Es ist noch recht kühl. Schäfer braucht morgens immer länger, um hochzukommen, seine Vertrauten wissen das. Heute ist er aber schon unter den Ersten, er geht zu den Zelten der Mädchen und ruft zwei Namen. Die Schwestern kriechen aus ihren Schlafsäcken.

»Euer Bruder ist weggelaufen«, sagt Schäfer, »verprügelt ihn.« Eine der Schwestern macht sich sofort auf die Suche nach ihrem kleinen Bruder. Als sie ihn gefunden hat, schlägt sie dem blonden Elfjährigen ins Gesicht und beschimpft ihn.

Niemand fragt, warum.

Keiner der Jungen, die in den Nächten zuvor die Ehre hatten, bei Onkel Paul zu übernachten, spricht über die nächtlichen Ereignisse, die immer auf dieselbe Weise ablaufen. Zuerst betet Schä