Unzertrennlich - Joyce Scott - E-Book

Unzertrennlich E-Book

Joyce Scott

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Beschreibung

Die Schwestern Joyce und Judith verbindet von Geburt an ein enges Band, als wären sie eine Person. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: Judith hat das Down-Syndrom, und sie spricht nicht. Den Mädchen ist dieser Unterschied egal. Sie wissen instinktiv, was die andere denkt und fühlt und wie es ihr geht. Sie teilen alles und schlafen gemeinsam in einem Bett. Doch eines Morgens, als Joyce aufwacht, ist Judith spurlos verschwunden. Dies ist die unglaubliche, wahre Geschichte von zwei Schwestern, die gegen ihren Willen getrennt und erst nach über dreißig Jahren wieder vereint werden. Sie handelt von Liebe und Verrat, von Unmenschlichkeit und großer Zuwendung – und der späten und unerwarteten Geburt einer großen Künstlerin.

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Seitenzahl: 368

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Joyce Scott

Unzertrennlich

Das unglaub­liche Schicksal der Zwillinge Joyce und Judith. Eine wahre Geschichte über Liebe und Kunst

Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Panster

Kösel

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Zitat Kapitel 4: Fjodor Dostojewskij, Die Brüder Karamasow. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. © Ammann Verlag & Co., Zürich 2003. Alle Rechte vorbehalten S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main. Mit freundlicher Genehmigung der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Entwined. Sisters and Secrets in the Silent World of Artist Judith Scott« bei Beacon Press, Boston, Massachusetts.

Beacon Press Books are published under the auspices of the Unitarian Universalist Association of Congregations.Copyright © 2016 by Joyce Scott

Copyright für die deutsche Ausgabe: © 2017 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt, München

Umschlagmotiv: © shutterstock/Elenamiv Bild-Nr. 181822889

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-20926-1V001www.koesel.de

Für meine Judy

und für alle, deren Talente

und Begabungen noch unverwirklicht sind.

Für das Creative Growth Art Center,

wo Judy ihre Talente entdeckte.

Mögen Einrichtungen wie diese auf der ganzen Welt wiePilze aus dem Boden schießen

und alle Menschen gesegnet sein.

Vorwort

Am Anfang

Teil I – Gefesselt

1 Eden

2 Facetten des Verlusts

3 Grabgedichte

4 Tausend Meilen weit weg

5 Frau ohne Vergangenheit

6 Unter den Redwood-Bäumen

7 Eine Welt der Stille

Teil II – Entfesselt

8 Wieder vereint

9 Eine große rote Bowlingkugel

10 Eine neue Sprache

11 Ihr eigenes Zimmer

12 Die Vernissage

13 Ein flüchtiges Lächeln

14 Herzleiden

15 Ein Fisch in der Flasche

16 Eine lautlose Symphonie

17 Ganz in Schwarz

Judys Vermächtnis

Dank

Bildteil

Vorwort

Nach dem Mittagessen hat Judy die Reste ihrer Mahlzeit bereits in die große schwarze Tasche neben sich gepackt. Sie hat ihre gewaltige Skulptur, ihre Garne und Scheren vor sich aufgereiht und wieder mit der Arbeit begonnen. Sie schaut zu mir hoch, wirft mir eine Kusshand zu und klopft auf den Stuhl neben sich. Ich gehe zu ihr, und wir umarmen uns lange. Dann macht sie sich wieder ans Werk. Ich sitze still daneben, sehe ihr zu und wünschte, ich hätte ein wenig von ihrer Konzentration und ihrer unbeirrbaren Entschlossenheit.

Gerade zieht sie einen roten Faden durch den dunklen Teil der Skulptur. Ich muss an unsere Kindheit denken und den Augenblick, als sie hingefallen war und das Blut aus ihrem Mund auf unsere Puppen und alles andere tropfte, was herumlag. Ich frage mich, woran sie sich wohl erinnert. Ich frage mich, welche Erinnerungen sie besonders schätzt. Ich frage mich, ob es die gleichen sind wie bei mir. Wie so oft betrachte ich eines ihrer Objekte und sehe einen Tag in Ohio, einen Sandkasten und einen Maulbeerbaum vor mir.

Trotz der teils ähn­lichen, teils unterschied­lichen Schwierigkeiten, mit denen wir zu kämpfen hatten, blieb die Verbindung zwischen uns bestehen. Sie war mal enger, mal lockerer, aber Judys Einsamkeit war auch meine Einsamkeit und meine Traurigkeit auch ihre.

Ich sehe zu, wie sie in schweigender Erkenntnis ihre Fundstücke zu einer Skulptur verbindet, und kann die schmerzhaften Erinnerungen nicht von mir fernhalten. Aber jeder Schöpfungsakt schafft neue Erinnerungen, verleiht unserer Vergangenheit neue Farben und eine neue Struktur – unsere beiden Leben sind wieder eins und ganz und gar miteinander verwoben.

Am Anfang

Das Laken ist kühl – kühl bis an den gegenüberliegenden Rand. Ich bewege mich, rutsche instinktiv tiefer ins Bett, suche die Wärme meiner Schwester, meiner Zwillingsschwester. Vielleicht hat mich das Kratzen der Äste des alten Ahornbaums auf den Schindeln geweckt. Ich öffne die Augen und sehe, wie das mattgraue Licht des Novembermorgens durch die zugezogenen Vorhänge dringt. Draußen kann ich schemenhaft den Umriss der riesigen Blaufichte erkennen. Sie hält Wache vor unserem Zimmer – dem Mittelpunkt unseres Universums, unserer Zuflucht vor der großen weiten Welt dort draußen.

Judy und ich waren im Mutterleib körperlich und seelisch miteinander verbunden – und doch waren wir verschieden. Gleich bei der Geburt wurden diese unerwarteten Unterschiede teils als Rätsel, teils als Geschenk und teils als Fluch empfunden.

Judy und ich lebten in einer üppig-sinn­lichen Welt aus reifen Beeren und saftigen Matschkuchen. In diesem heilen Universum war alles lebendig und mit Sinn erfüllt. Da Judy nicht sprach, waren wir gezwungen, unsere Welt unmittelbar und ohne Worte zu erfahren. Die meisten Menschen lassen diesen Zustand vorsprach­licher Verbundenheit mit Steinen, Bäumen und Vögeln spätestens im Alter von zwei Jahren hinter sich. Wir verbringen die ersten beiden Jahre, von denen nur flüchtige traumzeit­liche Bilder geblieben sind, in einer weichen Welt der Empfindungen – der Empfindungen ohne Worte. Ich erinnere mich an die Lichtflecken, die auf dem Vorhang neben unserem Bettchen tanzen; an unsere Hände, die mit dem Licht und den Schatten spielen, die durch die Gitterstäbe fallen; an Judys weiche Haut. Ich erinnere mich an ihre Wärme; an ihren warmen Atem, der sich mit meinem vermischt; an ihren warmen Körper neben mir. Als ich meinen eigenen Körper entdecke, entdecke ich auch ihren. Unsere Existenz ist eine Collage aus miteinander verschmelzenden Sinneseindrücken. Wenn ich mich umdrehe, berühre ich ihren Arm, und sie rutscht näher an mich heran. Es gibt kaum einen Unterschied zwischen Bewegung und Reaktion. Mein Körper, ihr Körper sind in unserem sensorischen Gedächtnis längst miteinander verschmolzen.

In meiner Erinnerung verbringen wir die meiste Zeit unserer Kindheit in einem Sandkasten. Er ist wie ein eigener kleiner, von einem Zaun aus Hasendraht umgebener Garten mit einer kaputten alten Gartentür aus Holz, die wir mit einem kleinen Zweig verriegeln. Wir fühlen uns dort ebenso zu Hause wie in unserem Zimmer und unserem Bett. In dieser Welt aus Sand und Erde kritzeln und graben wir, spielen wir mit Stöcken, Blättern und Steinen, die wir aus dem Bach fischen. Wir basteln Teller und Tassen aus den grünen Blättern des Trompetenbaums. Wir krakeln Zeichnungen in den Sand, kochen Steinsuppe und gießen Wasser in Löcher. Beim Spiel mit unseren Steinen entdecken wir eine Form des Zählens, aber vor allem entdecken wir die Freude am Teilen. Das Gefühl von grobem Sand zwischen Zehen und Zähnen gibt uns tiefe Befriedigung. Ich kann die Rinde von einem Ast abziehen und den Geschmack eines Steins erleben. Gemeinsam sammeln wir die Maulbeeren, die von dem großen Baum jenseits unseres Gartentürchens fallen. Wir essen sie, zerdrücken sie, bemalen unsere Gesichter mit ihrem Saft. Wir holen die umherstreifenden Schildkröten zu uns herein und bemalen ihre Panzer, damit sie aussehen wie wir. Wir fangen Kaulquappen im Teich, halten Glühwürmchen in Gläsern und greifen mit unseren kleinen Händen nach diesen blinkenden Lichtpunkten, die immer in Bewegung sind und die wir nur so selten zu fassen bekommen. Viele Jahre lang ist dies unsere Welt.

In kühlen Nächten schlafen wir aneinandergekuschelt unter unseren Decken; in warmen Nächten ist unsere Haut feucht, vermischt sich der Geruch unserer Körper und wird eins. Judy und ich – immer zusammen, immer miteinander verschlungen. Wir schlafen aneinandergeschmiegt wie zwei geschwungene Löffelchen, zarte Zwillingslöffelchen, und halten einander fest und warm. Aber jetzt ist mir kalt – sehr kalt. Ich strecke die Hand nach ihr aus, um sie an mich zu ziehen, strecke die Hand weiter und weiter aus. Judy liegt nicht neben mir.

Schnell schlüpfe ich aus dem Bett. Meine nackten Füße berühren kaum den Boden, als ich auf Zehenspitzen ins Badezimmer schleiche und überlege, wo sie sein könnte. Die Handtücher liegen noch feucht vom Bad am letzten Abend auf dem Boden, und die gelbe Gummiente, die wir in der Wanne zwischen uns hin- und hergeschubst haben, liegt einsam auf der Seite. Aber Judy ist nicht hier.

Teil I Gefesselt

2Facetten des Verlusts

Wo ist sie? Ich kann sie nirgends finden. Sie ist weder im Zimmer nebenan, um unsere schlafenden Brüder zu wecken, noch bei den Nachbarn, noch in der Küche. Und wo ist Papa? Auch von ihm fehlt jede Spur.

Mama steht allein in der Küche. Sie raucht eine Zigarette, die Kaffeetasse in der Hand. Ihre Hände zittern. Trotz der Wärme drückt sie sich eng an den Ofen. Der Wasserkessel pfeift vor sich hin, aber sie merkt es nicht. Wasserdampf kondensiert auf den Fenstern, sie sind nicht einmal den üb­lichen Spalt breit zum Lüften geöffnet. Die weißen Lochstickereivorhänge hängen schlapp herunter. Das Radio ist aus. Jimmys zottiger grauer Kater liegt auf dem Stuhl neben dem Ofen und schläft. Ich berühre sein warmes, ungepflegtes Fell. Heute duftet es weder nach Speck noch nach Toast; es gibt auch keine Pfannkuchen. Es ist viel zu ruhig. Irgendetwas stimmt nicht.

»Wo ist Judy?«, will ich wissen. »Ich kann sie nirgends finden.« Mamas Augen sind rot, ihr Blick ist abwesend. Sie sieht weg, schaut zum Fenster, wo der Regen im Garten rauscht. Sie spricht mit einem leeren Punkt im Raum, und ich weiß nicht, ob sie mich überhaupt sieht. »Judy ist weg. Papa hat sie ganz früh heute Morgen in eine besondere Schule gebracht, und dort wird sie von jetzt an bleiben. Dort wird man ihr das Sprechen beibringen. Das ist doch gut, nicht wahr?«

Ich kann ihre Worte nicht verstehen. Was sagt sie da? Judy ist fort … sie ist weg? Das ist unmöglich. Ich kann es mir nicht vorstellen. Wie kann Judy fort sein?

Erst viele Jahre später, als die Zeit Mutters Zunge ein wenig gelöst hat, erzählt sie mir von jenem Morgen. Wie hübsch Judy ausgesehen hat. Dass sie ihr ein hellgelbes Kleid mit kleinen weißen Blüten angezogen hat. Dass ihr das Herz brach, als sie zum letzten Mal die Schleife an Judys Kleid band. Aber sie hat nicht gesehen, wie Judy ging. Hat die Vorhänge nicht zurückgezogen, um aus dem Fenster zu schauen und zu sehen, wie sie in den Wagen stieg. Am Ende wandte sie sich ab.

Auch ich sah Judy nicht gehen. Ich stellte mir vor, wie sie neben Papa im Wagen saß und leise vor sich hin brabbelte – glücklich, weil sie nicht wusste, dass er sie von zu Hause wegbrachte. Aber bestimmt hat sie etwas gespürt. Sie muss etwas gespürt haben. Sie verstand zwar nicht, was die Menschen sagten, aber sie wusste immer, wenn jemand aufgebracht war. Sie verstand. Wahrscheinlich hat Papa sich geräuspert, an seinem Kragen gezerrt und geschwiegen. Er hat mit den Fingern aufs Lenkrad getrommelt, und Judy hat gespürt, dass etwas Schlimmes passieren würde. Wahrscheinlich hat sie seine Schulter getätschelt, so wie sie es bei mir machte, wenn ich mich aufregte.

Als Papa an jenem Abend nach Hause kommt, verstecke ich mich im Flur und belausche sein Gespräch mit Mama. »Es war schrecklich, Lil. Sie hatte Angst und klammerte sich im Aufzug an mir fest. Als er losfuhr, war sie außer sich, und es geschah ein kleines Malheur. Du weißt, wie lange ihr das schon nicht mehr passiert ist. Und als der Hilfssheriff sie mir abgenommen hat und mit ihr durch die Schwingtüren gegangen ist, hat sie die Arme nach mir ausgestreckt und geweint. Ich konnte sie den ganzen Flur entlang weinen hören. Es war schrecklich, einfach schrecklich.«

Papa schweigt, und auch Mama ist still. Mir ist schlecht. Ich weiß, wie viel Angst Judy gehabt haben muss, denn auch ich habe Angst – und sind wir nicht gleich? In jener Nacht strecke ich im Schlaf die Hand nach ihr aus, aber das Bett ist leer.

Am nächsten und allen folgenden Tagen sitzt Mama in der Küche, während wir uns anziehen, um zur Schule zu gehen. Sie sitzt auf dem gepolsterten Stuhl mit dem rissigen Plastiküberzug an dem gelben Resopaltisch, raucht und trinkt ihren Kaffee. Sie umklammert die Tasse mit beiden Händen, als hätte sie Angst, sie fallen zu lassen. Sie gibt ein seltsames Schlürfen von sich, weil sie trinkt und gleichzeitig Luft holt. Wenn sie getrunken hat, seufzt sie.

-

Unser Zimmer sieht aus wie immer, mit Zeitschriften auf dem Boden und altem Popcorn in den Ecken. Und überall kann ich Judys Gegenwart spüren. Meine »Puppen der Welt«-Sammlung befindet sich ganz oben auf dem Regal. Hasserfüllt starre ich sie an. Warum habe ich Judy nicht erlaubt, so oft mit diesen Puppen zu spielen, wie sie wollte? Viele von den Zootieren aus Plastik, die Papa von einer seiner Dienstreisen mitgebracht hat, liegen in einer kleinen Schüssel. Ich wette, Judy hat sie hineingelegt. Ich sammle auch die im Zimmer verstreuten Tiere auf und lege sie dazu. Ich streiche über unsere Joanie-Puppen und ihre Decken und decke sie gemeinsam zu. Anschließend hebe ich die Garnrollen auf, die Judy von Tante Helen bekommen hat. Dann gehe ich nach draußen. Ich sage nichts zu den anderen Kindern, nicht einmal zu Kathy. Sie werden nicht glauben, dass Judy fort ist – am allerwenigsten Kathy. Jimmys Kater sitzt auf der Treppe. Ich nehme ihn in den Arm und fahre mit den Fingern gegen den Strich durch sein Fell.

Nach dem Mittagessen stellt Mama die Teller in die Spüle und sagt, sie würde in unser Zimmer gehen und ein paar von Judys Sachen holen: »Ich packe sie in eine Schachtel, und später können wir sie ihr bringen.« Irgendwie weiß ich, dass das nicht stimmt. Judy kommt ohnehin bald wieder nach Hause, und ihre Sachen sind alles, was noch von ihr bleibt. Wenn sie verschwinden, wird ihre Abwesenheit nur noch deut­licher zu spüren sein. Ich laufe in unser Zimmer voraus und rufe Mama zu: »Ihre Sachen bleiben da! Das sind alles Dinge, mit denen ich noch spiele.«

»Um Himmels willen, Joyce! Ich weiß, dass du nicht mit diesen alten Zeitschriften spielst.« Sie beugt sich hinunter und hebt ein paar davon auf.

»Doch, natürlich! Natürlich spiele ich damit.« Ich sammle ein paar davon ein. »Ich mag sie und schaue sie manchmal abends an.«

»Das tust du nicht. Du liest. Ich kenne dich. Judy hat ohnehin die meisten davon zerrissen.« Mama hebt ein paar Bauklötze auf, die in der Nähe der Tür herumliegen. »Na gut, dann nehme ich eben diese Bauklötze.«

»Nein … warte! Ich mag diese Bauklötze. Und das Schaukelpferd brauche ich auch, weil ich manchmal darauf reite.« Das Pferd wird von Federn gehalten, eine davon ist ausgeleiert und der Sitz ist vom Spielen glatt poliert. Ich habe es lange geliebt, und Judy hat gerade erst gelernt, darauf zu reiten. Es darf auf gar keinen Fall ausrangiert werden.

Mama seufzt, dreht sich um und geht in die Küche. Wahrscheinlich, um eine Zigarette zu rauchen. Ich nehme unsere Tellerchen, Judys Bauklötze und ein paar Zeitschriften, die kleinen Plastiktiere und die Garnrollen und verstecke alles in der Schublade unter meinen T-Shirts.

An diesem und an allen anderen Abenden hole ich die ganzen Sachen heraus und türme sie auf dem Bett neben mir auf. Im Dunkeln berühre ich jeden einzelnen Gegenstand und denke daran, dass Judy ihn in der Hand hatte. Es ist beinahe, als könnte ich ihren Geruch daran noch wahrnehmen. Jetzt werde ich mich an ihrer Stelle darum kümmern, und ich werde warten. Die Luft ist kalt, aber ihre Sachen fühlen sich fast warm an.

Eines Abends vor dem Schlafengehen setzt Papa sich zu mir und fragt: »Was hältst du davon, wenn wir Judy morgen in ihrer neuen Schule besuchen?« Statt einer Antwort schlinge ich die Arme um ihn, und wir lachen. Aber es dauert sehr lange, bis es Morgen wird. Ich stehe nachts auf und packe die Sachen, die ich für sie aufgehoben und versteckt habe, in meine Balletttasche – vor allem ihre Joanie-Puppe, die genauso aussieht wie meine.

Wir packen weitere Kleidungsstücke und einen warmen Mantel für Judy in den Kofferraum. Die Fahrt nach Columbus, wo sie an dieser besonderen Schule sein soll, dauert ewig, und es scheint mir unendlich lange her zu sein, dass wir sie zuletzt gesehen haben. Ich zähle zuerst Kühe, dann Autos und versuche, mir zu merken, wie viele rote und wie viele blaue Autos uns begegnen. Unterwegs wünsche ich mir unendlich viele Dinge. Ich wünsche mir, dass es Judy gut geht; dass wir sie mit nach Hause nehmen können; dass Mama und Papa, wenn wir erst einmal dort sind, ihre Meinung ändern und merken werden, dass sie einen großen Fehler gemacht haben. Ich zupfe am Kunststoff des Rücksitzes herum, taste mit den Fingern nach den unregelmäßigen Kanten. Ich werfe kleine Fitzelchen aus dem Spalt im Fenster des fahrenden Wagens und fange den Wind in meiner Hand.

Die Fahrt führt an endlosen flachen Feldern und Bauernhöfen vorbei und scheint niemals zu enden. Mama und Papa sitzen vorne und reden nicht viel. Mama gibt mir einen Oreo-Keks, aber sie vergisst zu lächeln.

Ich trage das gesmokte Kleid, das Judy in Blau hat. Papa hat uns die Kleider aus West Virginia mitgebracht, wo er arbeitet. Ich hoffe, dass sie es ebenfalls anhat und alle sehen können, dass wir Zwillinge sind. Aber vor allem hoffe ich, dass ihre Schule eine gute Schule ist, mit vielen Spielsachen und Kindern und Erwachsenen, die nicht gemein zu ihr sind.

Wir halten in einer kleinen Stadt namens Washington Court House, um in einem kleinen Restaurant zu Mittag zu essen. Wir haben den Ecktisch, und überall sind Fenster. Es gibt hübsche Plastikblumen und ein weißes Tischtuch, und wir können bestens beobachten, was draußen vor sich geht. Wir bestellen alle Hühnchen mit Brötchen und Haschee, aber ich stochere nur in meinem Essen herum. Ich habe keinen Appetit, aber ich tue so, als würde ich essen, und schiebe alles zu einem ordent­lichen Haufen zusammen, damit es nach weniger aussieht. Die Brötchen packe ich für Judy ein. Ich bestreiche sie dick mit Marmelade und wickle sie in meine Serviette. Sie werden ihr schmecken. Ich sehe sie schon vor mir, wie sie mit klebrigen Fingern die Brötchen isst und ihre Mundwinkel ganz lila werden.

Auf dem Schild an der Einfahrt steht nicht »Schule«, sondern »Columbus State Insti … irgendwas«. Die Auffahrt ist lang, und die großen alten Gebäude stehen zwischen Bäumen, sodass keine Sonne hineinscheinen kann. Alles sieht düster und ein wenig unheimlich aus. Beim Aussteigen spüre ich die Kälte, und es fallen ein paar Schneeflocken vom Himmel. Da wir so viel zum Anziehen und ein paar Spielsachen für Judy dabeihaben, gibt es ein Riesendurcheinander, als wir den Kofferraum ausräumen und alles ins Haus tragen.

Bevor wir zu Judy dürfen, müssen wir zunächst in ein anderes Gebäude mit riesigen Gängen. Papa beugt sich durch ein Fenster, um sich stapelweise Dokumente anzusehen und überall zu unterschreiben. Das Warten fällt mir sehr schwer. Ich habe eine Zeitschrift in der Hand, die wir für Judy gekauft haben, und schaue sie mir bestimmt hundert Mal an. Auf einer Seite sind Bilder von kleinen Kaninchen. Ich wette, das wird ihr gefallen. Sie sehen genauso aus wie die von Onkel Toady, und jeder weiß, wie gerne sie seine Kaninchen auf den Arm nimmt und streichelt.

Als wir das Gebäude endlich betreten, sieht es dort gar nicht aus wie in einer Schule. Ich sehe weder Tafeln noch Poster oder Bücher, noch nicht einmal Spielsachen oder Bauklötze. Alles ist viel zu groß für Kinder, mit einer riesigen Treppe und einem sehr breiten Gang. Er ist leer bis auf ein paar Leute, die an der Wand sitzen. Ein paar von ihnen wiegen sich vor und zurück, ein paar lassen die Köpfe hängen. Es riecht nach abgestandenem Rauch, Schweiß und feuchten Wischmops.

Wir werden gebeten, in einem kleinen Zimmer mit Stühlen und einem alten grünen Sofa zu warten, auf dem wir zusammen Platz nehmen. Der Heizkörper direkt hinter uns zischt vernehmlich, im Zimmer ist es warm und stickig. Außer uns wartet nur noch eine andere Frau. Sie sitzt auf einem Plastikstuhl gegenüber, aber sie schweigt. Ich versuche, sie anzulächeln, aber sie schaut weg. Dann kommt eine große Frau mit einem roten Fleck im Gesicht herein. Sie trägt einen weißen Kittel, umklammert einen Schlüsselbund und führt Judy an der Hand. Neben ihr sieht Judy so klein aus. Kleiner, als ich sie in Erinnerung habe.

Judy läuft sofort auf mich zu und wir umarmen uns fest. Anschließend umarmt sie auch Mama und Papa und beginnt, mit uns zu reden, wie sie es immer tut – mit Lauten, die fast schon Wörter sind. Sie setzt sich einfach auf den Boden und zieht mich zu sich hinunter. Sie will mit uns die Zeitschrift anschauen, die ich mitgebracht habe. Ich schlage sofort die Seite mit den kleinen Kaninchen auf, die ihr in der Tat sehr gefällt. Ich wusste, dass ihr das gefallen würde. Mama wischt sich mit dem Ärmel über die Augen. Sie merkt nicht, dass Judy ihr etwas sagen will. Judy hat immer mehr zu sagen als jeder andere. Wir wissen nur nicht, was. Ich sehe sie durchdringend an und sage laut: »Hallo.« Ich war zu dem Schluss gekommen, dass dies ein guter Einstieg in eine Unterhaltung wäre. Sie antwortet: »Ho, ho, bah«, und tätschelt mein Gesicht.

Weil ich zur Toilette muss, führt mich die Frau mit dem roten Fleck durch ein paar Türen und Flure und lässt mich dann in einem Raum mit noch mehr Türen und Toiletten zurück. Wenn ich fertig bin, soll ich allein zurückgehen. Ich versuche es, finde aber den Weg nicht mehr. Ich habe keine Ahnung, aus welcher Richtung wir gekommen sind.

Ich stehe in einem dunklen Flur, in dem alle Türen gleich aussehen. Ich schaue nach rechts und nach links. Weil ich nicht weiß, welche Tür die richtige ist, mache ich eine nach der anderen auf. Um die richtige zu finden, öffne ich alle und schaue hinein. Aber ich finde nur Zimmer mit Kindern, die keine Schuhe und manchmal noch nicht einmal Kleider anhaben. Ein paar sitzen auf Stühlen und Bänken, aber die meisten liegen auf Matten am Boden. Manche verdrehen die Augen, ihre Körper zucken und winden sich. Sie stöhnen und strecken die Hände aus; aber da ist niemand, der sie ergreift. Nur die schwüle, warme Luft. Es riecht ganz schrecklich nach Schweiß und Toilette, obwohl keine Toilette da ist.

Irgendwann öffne ich die richtige Tür und da sind sie – ganz genauso wie zuvor, außer dass Mama gerade versucht, Rattenschwänzchen aus Judys flaumigem Haar zu machen. Alle sehen genauso aus wie vorher, nur ich bin völlig verändert. Ich habe Angst, und ich habe Bauchschmerzen.

Als wir aufbrechen, gehen Mama und ich zum Wagen voraus. Papa kommt nach. Im Wagen ist es still, und in der Stille füllt sich mein Kopf mit namenlosen Bildern und mit Worten, die ich niemals aussprechen kann. Ich werde all die schreck­lichen Dinge, die ich gesehen habe, nie wieder los. Sie bleiben tief in mir verborgen.

In Gedanken kehre ich immer wieder in jene Zeit und an jenen Ort zurück. Ich irre nachts in meinen Träumen und sogar tagsüber in meinen Gedanken über diesen langen Flur und öffne unaufhörlich eine Tür nach der anderen. Alle Farbe ist verschwunden, und ein lautloses Grau hüllt mich ein. Ein anderes Mal bin ich Judy. Dann bin ich an ihrer Stelle dort, und immer irre ich ziellos umher. Ich bin das kleine Mädchen im Heim. Manchmal sind wir beide dort, irren beide umher, aber wenigstens sind wir zusammen. Und immer habe ich diesen Gestank in der Nase, kann ich die Hitze und eine schwere, schwüle Traurigkeit in der Luft spüren.

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