Vaterlos - Denna Babul - E-Book

Vaterlos E-Book

Denna Babul

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  • Herausgeber: Mosaik
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Als wichtigster Mann im Leben eines Mädchens steht der Vater für Sicherheit und Stabilität. Fehlt der Vater – aus welchen Gründen auch immer –, so hat das enorme Folgen bis ins Erwachsenenalter. Denna D. Babul und Dr. Karin Luise verdeutlichen, was abwesende Väter für das Leben der Töchter bedeuten und wie dieser Verlust alle folgenden Beziehungen prägt. Mit großem Einfühlungsvermögen und fachlicher Kompetenz helfen die Autorinnen dabei, die Abwesenheit des Vaters zu verarbeiten und so ein selbstbestimmtes und glückliches Leben zu führen.

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Seitenzahl: 471

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Buch

Als wichtigster Mann im Leben eines Mädchens steht der Vater für Sicherheit und Stabilität. Fehlt der Vater – aus welchen Gründen auch immer –, so hat das enorme Folgen. Denna D. Babul und Dr. Karin Luise verdeutlichen, was abwesende Väter für das Leben der Töchter bedeuten und wie dieser Verlust alle folgenden Beziehungen prägt. Mit großem Einfühlungsvermögen und fachlicher Kompetenz helfen die Autorinnen dabei, die Abwesenheit des Vaters zu verarbeiten und so ein selbstbestimmtes und glückliches Leben zu führen.

Autorinnen

Denna D. Babul ist staatlich geprüfte Krankenschwester, Coach, Referentin und Autorin sowie eine der Gründerinnen der gemeinnützigen Organisation »The Fatherless Daughter Project«. Da sie selbst ohne Vater aufwuchs, ist es ihr ein besonderes Anliegen, anderen Frauen ohne Vater Gemeinschaft und Unterstützung zu bieten. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Atlanta.

Dr. Karin Luise arbeitet als Therapeutin, Referentin und Autorin und hat zusammen mit Denna D. Babul »The Fatherless Daughter Project« gegründet. Nach dem Studium der frühkindlichen Erziehung und einem Master in psychologischer Beratung hat sie an der George State University mit Auszeichnung promoviert. Sie lebt mit ihren drei Kindern in Atlanta.

Denna D. Babul, Dr. Karin Luise

Vaterlos

Wie die Abwesenheit des Vaters das Leben der Tochter prägtVerstehen und bewältigen

Aus dem Amerikanischen von Isabella Bruckmaier

Alle Ratschläge in diesem Buch wurden von den Autorinnen und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Eine Haftung der Autorinnen beziehungsweise des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist daher ausgeschlossen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe August 2016

Copyright © 2016 Wilhelm Goldmann, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

© 2016 der Originalausgabe: Denna D. Babul und Karin Luise

Originaltitel: The Fatherless Daughter Project

Originalverlag: Avery, an imprint of Penguin Random House LLC, New York

Umschlag: *zeichenpool

Umschlagmotiv: plainpicture/Stefanie Neumann (Frau), shutterstock/chuckchee (Hintergrund)

Redaktion: Susanne Lötscher

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

KW · Herstellung: IH

ISBN 978-3-641-11185-4V001www.mosaik-verlag.de

Für das jüngere Ich von Karin und Denna(Eines Tages wirst du ein Buch schreiben.)DENNA:Für meine zwei süßen Schmusekatzen, Sophie Bleu und Weston Grey.Für meinen Mann, Jon, danke, dass du mich auf dieser Reise begleitet hast.Für meine Mutter und meine beste Freundin, Mary Dobbins.KARIN:Für die drei Seelenwunder in meinem Leben, West, Elise und Hoyte.Für meine Mutter und Inspiration, Rev. Lisa L. Graves.Zum Andenken an:Joan BabulJames DobbinsNancy Gay Smithson

Der wahre Zweck von Büchern besteht darin, dem Verstand eine Falle zu stellen und ihn so zum Denken zu bewegen.

CHRISTOPHER MORLEY

Inhalt

Einleitung

1 – Wenn eine Tochter ihren Vater verloren hat

2 – Tod, Scheidung, Verlassenwerden und andere Arten des Vaterverlusts

3 – Der Zeitpunkt des Verlusts

4 – Familiendynamiken

5 – Beziehungen

6 – Bewältigungsmechanismen – der gesunde Umgang mit dem Schmerz

7 – Wenn Sie Ihren Vater vermissen

8 – Sorgen Sie gut für sich – mental, körperlich und spirituell

Nachwort

Dank

Weiterführende Literatur

Film

Hilfreiche Adressen

Anmerkungen

Register

Einleitung

Dieses Buch bedeutet uns sehr viel. Wir denken, dass es auch Ihnen viel bedeuten kann. Wir haben erlebt, was Sie erlebt haben. Wir wollen Ihnen dabei helfen, besser zu verstehen, wie sich der Verlust Ihres Vaters auf Ihr Leben auswirkt und wie diese Wunde heilen kann. Wir brennen darauf, unser Wissen mit Frauen zu teilen, eben weil wir diese persönliche Erfahrung haben und weil wir uns mit diesem Thema auch beruflich beschäftigten. Wir möchten, dass Frauen besser verstehen, warum sie handeln und fühlen, wie sie es tun – weil sie vaterlos sind.

Bei der Recherche zu diesem Buch wurde uns klar, dass wir noch mehr brauchen, um Frauen dabei zu helfen, sich in den Geschichten anderer wiederzuerkennen. Deshalb arbeiten wir an einem dreißigminütigen Dokumentarfilm, The Fatherless Daughter Project, voll intimer und fesselnder Interviews mit einer Gruppe ganz unterschiedlicher vaterloser Frauen, die zeigen, wie belastbar und wie erfolgreich diese Frauen in ihrem Leben sind.

Neben dem Dokumentarfilm wollten wir dieses Buch schreiben, um unsere Geschichten zu erzählen, die Geschichten der Frauen, die ihren Vater verloren, und vor allem auch über die erfolgreichen Strategien, mit diesem Verlust umzugehen, zu überleben und trotz dieses Verlustes im Leben zurechtzukommen und erfolgreich zu sein. Jede Frau hat ihre eigene, einzigartige Geschichte, doch vaterlose Töchter haben auch viel gemeinsam.

Karins Vaterverluste waren die Folge von Scheidung, Adoption und Zerrüttung. Dennas Verluste waren die Folge von Scheidung und Tod.

Karins Geschichte

Während der Arbeit an diesem Buch sprachen Denna und ich immer wieder über unsere eigenen Geschichten. Weil wir beide bereit waren, unser Leben unter die Lupe zu nehmen, kam es zu diesen überraschenden, lebensverändernden Momenten. Während der ersten großen Überarbeitung wurde mir klar, dass ich mit meinem Vater reden musste – meinem biologischen Vater. Er ist nicht der Vater, der mich aufzog, aber der Vater, dem ich mein Leben verdanke und der allmählich immer größeren Raum in meinem Alltag einnahm. Im Lauf der Jahre waren wir uns nähergekommen und sahen uns immer regelmäßiger. Er wurde ein wunderbarer Opa für meine drei Kinder. Obwohl meine Kinder ihren Opa haben, spürte ich diese Leere. Wir hatten nie darüber gesprochen, was diese Jahre, in denen er abwesend war, mit mir gemacht hatten. Und damit hatte ich immer noch zu kämpfen.

An einem sonnigen Junimorgen kam Vater wieder zu seinem üblichen Freitagsbesuch vorbei. Er wusste, dass ich an einem Buch über vaterlose Töchter arbeitete, aber wir hatten nie länger darüber gesprochen. Wir hatten über viele Dinge gesprochen; nur einfach nie über uns. Ich hatte dieses heikle Thema wohl vermieden, da ich wusste, wie schwierig ein Gespräch darüber sein würde.

Seine Abwesenheit während meiner Kindheit hatte verschiedene Ursachen; eine davon war, dass er mich meinem »neuen Vater« zur Adoption überlassen hatte. Die Geschichten meines Vaters und meiner Mutter widersprachen einander, was mich verwirrte. Ich verstand das Ganze nicht und hatte mich so lange von ihm verlassen gefühlt. Dass ich 20 Jahre später keinen Kontakt mehr zu meinem Adoptivvater hatte, machte alles nur noch bitterer. Trotzdem wollte ich meinen biologischen Vater keinesfalls durch meine Sicht der Dinge verschrecken und ihm so Anlass geben, mich erneut zu verlassen. Obwohl ich auf den idealen Augenblick für DAS GESPRÄCH wartete, ahnte ich nicht, dass es an diesem Vormittag stattfinden würde.

Er überrumpelte mich, als die Kinder zum Spielen das Zimmer verließen und Ruhe einkehrte. Langsam ging er um den Frühstückstisch und legte die Hand auf die geschwungene Rückenlehne eines Stuhls. Er wollte mir etwas sagen, was ihm schon lange am Herzen lag, das war mir sofort klar. »Karin, ich hab mir online deine Forschungsstudie zu den vaterlosen Töchtern angesehen.« Kopfschüttelnd verzog er das Gesicht und fixierte die weiße Tischdecke. Mir klopfte das Herz, ich blieb an der Küchentheke stehen und wartete. Das war DAS GESPRÄCH.

»Begreifst du dich als vaterlos? Ich meine, ich bin dein Vater und ich bin hier.« Einen Augenblick lang standen wir absolut regungslos, die Frage hing in der Luft, er sah mich an, ich suchte nach einem Sicherheitsnetz. Oje, was soll ich sagen? Ich bin nicht dazu bereit … Das kann ich nicht machen … Ich habe Angst, das zu sagen, was ich sagen möchte. Mein Herz schlug so heftig, dass ich fürchtete, ohnmächtig zu werden. Ich holte tief Luft. Ich musste meine jahrzehntealte Unsicherheit überwinden und sprechen. Was war dieser aufrichtige, ehrliche erste Satz? Ich sagte mir: »Du weißt es, Karin. Du musst es nur aussprechen.« Ich musste die Angst überwinden, die sich schon zu lange in mir breitmachte. Ich fasste mich und blickte ihm in die Augen.

»Papa, zuerst möchte ich sagen, wie froh ich bin, dass du jetzt hier bist. Ich will das auf keinen Fall verlieren. Ich bin so dankbar, dass du zu unserem Leben gehörst und dass meine Kinder ihren Opa haben.« Ich hielt inne. Würde dieser neue Mut tief in mir mich weitertragen? »Aber, Papa, als kleines Mädchen habe ich meinen Vater verloren. Du hast mich zur Adoption freigegeben. Du hast zugelassen, dass ein anderer Mann mich aufzieht, und nun ist auch der Kontakt zwischen ihm und mir abgerissen. Du hast keine Ahnung, was ich durchgemacht habe. Ich hatte so lange keinen Kontakt zu dir. Es gibt so viel, worüber wir nie gesprochen haben. Ich habe schlimme Zeiten hinter mir, es ging mir über Jahre schlecht.« Ich machte eine Pause, da ich spürte, dass er dazu etwas sagen wollte.

»Meinst du, es war nur für dich schlimm?«, warf er ein. »Hast du eine Vorstellung, wie schwer es für mich war?«

Ich spürte wieder, wie mein Blut in Wallung geriet, als er statt von mir von sich sprach. Heute wollte ich über mich reden. »Ja, ich weiß, es war schwer für dich, Papa, und das tut mir leid. Das tut mir alles leid. Aber es ist passiert. Es ist mir passiert. Ich war ein kleines Mädchen. Ich war die Tochter, und du warst der Vater. Du warst der Erwachsene. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war ein Kind.«

Er fuhr fort, seine Wahrheit zu erzählen. Er wollte, dass ich erfuhr, wie sehr er sich gewünscht hatte, Teil meines Lebens zu sein, aber er habe das Gefühl gehabt, keine Wahl zu haben. Diese Geschichte hatte ich schon oft gehört, und ich wollte mich nicht noch einmal mit den Details auseinandersetzen. Ich wollte selbst Gehör finden.

Ich hatte das Bedürfnis, meinem Vater von den verlorenen Jahren zu erzählen, der Depression und den negativen Folgen, die mein ganzes Leben überschatteten. Ich erzählte ihm vom Ritzen, den Tränen und den Traumata, die ich nur selten beim Namen nenne. Als ich weinte, wirkte er bestürzt. Mir war klar, dass meine Geschichte ihn verwirrte, aber um keinen Preis wollte ich zulassen, dass er das Thema wechselte, um nicht hören zu müssen, was ich sagen wollte. Ich wollte das hier loswerden. Jetzt. Ich holte tief Luft und sagte etwas, was ich noch nie gesagt hatte.

»Papa, bitte hör auf, das Thema zu wechseln. Ich muss über das hier reden – über mich – und du musst zuhören. Ich brauch dich hier, ich brauch es, dass du mir zuhörst. Ich muss dir das sagen. Du hast mich nicht beschützt. Du bist nicht gekommen, um die Bösen zu vertreiben, auch dann nicht, als ich versucht habe, dir zu sagen, was läuft. Ich hätte dich gebraucht, damit du für mich eintrittst. Ich hätte irgendjemanden gebraucht, der für mich eintritt. Sogar jetzt stehen wir hier, und ich weine und erzähl dir das alles, und du weichst mir aus.« Überrascht von meiner Offenheit verharrte er regungslos. Aber er hörte zu. Und dann setzte ich alles auf eine Karte und bat ihn um genau das, was ich brauchte.

»Papa«, ich zitterte, »ich … möchte, dass du zu mir sagst: ›Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass ich nicht da war. Es tut mir leid, dass das passierte.‹ Und dann musst du mich in die Arme nehmen.« Ich wartete.

Während ich meine Tränen wegwischte, machte mein Vater etwas anderes. Er stand wie ich schweigend da. Er schloss die Augen. Dann trat er zu mir und umarmte mich. Er blieb im Zimmer, jetzt, und bei mir. Dann flüsterte er mir ins Ohr: »Karin, es tut mir leid, dass ich nicht da war.« Und mit diesen zehn Worten bekam ich das Geschenk, auf das ich 40 Jahre gewartet hatte. Wahrgenommen werden. Eine Entschuldigung. Eine Umarmung. Als wir uns in den Armen lagen, spürte ich, wie sich die klaffende Lücke zwischen uns zu schließen begann.

Dennas Geschichte

Ich verlor meinen Vater zweimal. Zum ersten Mal, als ich drei war und meine Eltern sich scheiden ließen. Das zweite Mal, als ich 13 war und er ermordet wurde. Erst 2008, da war ich 37, hatte ich einen entscheidenden Durchbruch und konnte meine Geschichte – mein Leben – benutzen, um anderen vaterlosen Frauen zu helfen.

Erst nachdem ich mich hatte scheiden lassen und in einen anderen Staat zog, um ein neues Leben anzufangen, spürte ich, wie mein altes Leben mein neues Leben beeinflusste. Meine Angst, verlassen zu werden, kam wieder hoch, da ich alle hinter mir gelassen hatte, die ich kannte und liebte. Meine neue Beziehung lief nicht gut. Ich klammerte mich daran, um mich nicht mit meiner Vergangenheit auseinandersetzen zu müssen. Nachdem wir zum dritten Mal und endgültig Schluss gemacht hatten, war ich am Boden zerstört und erkannte endlich, dass eine neue Postleitzahl mich nicht »gesund« machte. Es ließ sich nicht vermeiden – ich musste allein sein und eine Therapie machen. Bis dahin war mir nicht klar gewesen, wie sehr mich die Sache mit meinem Vater aufwühlte. Ich dachte, es ging vor allem darum, Liebe zu finden und zu verlieren – und nicht um die größte Liebe, die ich verloren hatte.

Ich stürzte mich mit ganzer Kraft darauf, meine Vergangenheit minutiös durchzuarbeiten. Träne für Träne setzte ich das Puzzle zusammen. An einem besonders emotionalen Tag sagte mein Therapeut etwas, was mich im Innersten erschütterte. Er beugte sich zu mir und sagte eindringlich: »Denna, das Einzige, was Sie mit Sicherheit über Ihren Vater wissen, ist, wie er starb. Sie müssen herausfinden, wie er lebte. Was für ein Mensch er war. Was für ein Vater.«

Ich war zutiefst aufgewühlt, aber er hatte recht. Ich hatte keine Ahnung, wie mein Vater war, außer, dass er sich elegant kleidete, gelegentlich Zaubertricks vorführte und morgens immer Schokolade trank statt Kaffee. Den Rest hatte ich aus einem Fotoalbum und den Geschichten, die ich gehört hatte. Ich wusste, dass ich nicht viele Fragen über ihn stellen durfte, das regte meine Mutter auf. Und so lernte ich zuzuhören, statt nachzuforschen. Mein Vater war tabu. Je älter ich wurde, umso mehr schien ich diesen Mann zu vermissen, der Jim hieß und mein Vater war. Ich wollte unbedingt mehr über ihn herausfinden. Ich wollte unbedingt die andere Hälfte von mir kennen und wissen, von wem ich abstammte.

Da meine Mutter und mein Vater durch eine stürmische Scheidung gegangen waren, war mir klar, dass meine Mutter nicht mein erster Ansprechpartner sein würde bei meinem Versuch, die Lücken zu schließen. Glauben Sie mir, ich habe es versucht. Nach einigem Nachdenken wandte ich mich an den Bruder meines Vaters, meinen Onkel Bill. Der Kontakt zwischen uns war nie abgerissen. Zu den entsprechenden Festen hatte er mir immer Geld geschickt, und wenn wir miteinander sprachen, sagte er immer »Ich liebe dich«. Aber über meinen Vater – seinen Bruder – hatten wir nie ausführlicher gesprochen.

Mit sechzehn nahm ich allen Mut zusammen und schrieb Onkel Bill einen Brief mit ein paar allgemeinen Fragen: Was war die Lieblingsfarbe meines Vaters? Ging er gern angeln? Aber was ich wirklich wissen wollte, war, ob er mich liebte. Ob er gerne Vater war. Ob ich meinen Onkel an meinen Vater erinnerte? Ob er wusste, wer ihn umgebracht hatte? Mein Onkel schrieb zurück und beantwortete alle allgemeinen Fragen. Die Lieblingsfarbe meines Vaters war Blau, und er ging auch gern angeln. Ich wollte noch so viel mehr wissen, aber ich hatte Angst zu fragen. Das Leben ging weiter.

Nachdem ich mich jahrelang mit dem Thema auseinandergesetzt hatte, beschloss ich, ein Buch zu schreiben und so die Lücken in meiner Geschichte zu schließen. Ich musste meine Geschichte schwarz auf weiß vor mir sehen, um sie zu verstehen. Außerdem, so dachte ich, würde ich mit der Auseinandersetzung mit all diesen Höhen und Tiefen nicht nur mir, sondern vielleicht auch anderen helfen. Um die Details richtig hinzukriegen, verbrachte ich im darauffolgenden Jahr beinahe jedes Wochenende mit meinem Onkel Bill in Charleston, South Carolina. Wir spazierten am Strand entlang. Wir hielten uns bei der Hand. Wir lachten. Wir weinten. Er gab sich große Mühe, mir bei der Recherche über meinen Vater zu helfen, und auf dem Weg dahin fühlte ich mich geliebt und angenommen.

Ich schrieb Tag und Nacht, las Auszüge davon meinem Onkel, meiner Familie und meinem Therapeuten vor. Ich brauchte fünf Jahre für das Buch. Der Prozess war sowohl heilsam als auch äußerst schwierig. Ich wurde dadurch ein wesentlich besserer Mensch und zur Tochter meines Vaters. Mein Umgang mit Problemen änderte sich völlig, ich kam besser mit meiner Vergangenheit und meiner Zukunft zurecht. Meine Gedanken waren nicht mehr durcheinander und wirr. Ich war frei von den Fesseln der Vergangenheit und freute mich auf meine Zukunft. Doch nun kam der schwere Teil. Ich musste mich und meine Geschichte der Außenwelt zeigen, wenn ich anderen vaterlosen Töchtern helfen wollte.

Eines Tages stieß ich auf der Website der Today Show auf eine Sendung über Familiengeheimnisse. Instinktiv wusste ich, während ich die Geheimnisse meines Lebens in einem Absatz zusammenfasste, dass ich dabei war, mein Leben zu ändern. Es würde kein Zurück geben, und ich war mir sicher, dass ich dazu bereit war. Mein Bauch sagte mir, ich würde bei dieser Sendung dabei sein, auf dieser Couch sitzen und Meredith Vieira würde mich interviewen. Und die ganze Welt würde mich sehen.

Es dauerte nur ein paar Wochen, dann kamen die Produzenten nach Atlanta, um mich und meine Familie zu interviewen. Mein Onkel lehnte es höflich ab, interviewt zu werden. Einer nach dem anderen legten wir die Wahrheit bloß, während wir über etwas sprachen, was bis dahin als Geheimnis behandelt worden war: wie ich vaterlos wurde.

Auf eine seltsame Weise trat durch das Geheimnis, das ich all diese Jahre für mich behalten hatte, der Tod meines Vaters in den Vordergrund. Meine Familie und ich sprachen in diesen 48 Stunden mehr über meinen Vater als in den 20 Jahren zuvor. Als ein paar Tage später ein Produzent anrief, hörte ich einen Satz, der mein Leben verändern sollte: »Wir möchten, dass Sie in unsere Sendung kommen und Ihre Geschichte erzählen.« Es geschah wirklich. Ich wusste nicht, ob ich laut schreien oder mich übergeben sollte. Was ich wusste, war, dass ich endlich bereit war, den Stier bei den Hörnern zu packen.

Am nächsten Morgen fand ich mich in einem blauen Kleid und mit schweißnassen Händen in New York vor Kameras wieder. »Oh Gott«, dachte ich, »was habe ich mir da eingebrockt!« Ich saß still da und sah mit dem Rest der Welt zu, wie meine Geschichte auf dem Bildschirm vor mir gezeigt wurde, als wär’s ein Familienvideo.

Ein Gedanke spukte mir wild durch den Kopf: »Jetzt erfahren 20 Millionen Menschen, dass ich vaterlos bin … 20 Millionen Menschen … Ich bin vaterlos, weil ihn jemand da draußen umgebracht hat. Oh Gott. Passiert das wirklich?« Aber ehrlich gesagt wollte ich mich, trotz der 24 Jahre alten Angst, im tiefsten Inneren nicht mehr verstecken. Irgendwie fand ich den Mut, die Wahrheit zu sagen.

Jahrelang hatte ich allen erzählt, mein Vater sei an einem Herzschlag gestorben, als ich 13 war. Es war meine Standardversion. Aber hier in der Livesendung erzählte ich, worüber man in meiner Familie nie reden konnte: die wahre Geschichte. Mein Vater war ermordet worden. Wir wussten nicht, warum. Wir fanden nie heraus, wer es getan hatte. Wir sprachen nie darüber. Bis jetzt. Und das Geheimnis war draußen, in diesem Moment, in dem ich Meredith gegenübersaß und über die Vergangenheit redete und die starke Frau sein wollte, die zu sein ich mir beigebracht hatte. Endlich übernahm ich Verantwortung für meine Vergangenheit und mein Schicksal. Ich dachte: »Meine Geschichte hilft jemandem. In diesem Augenblick spreche ich zu all den vaterlosen Töchtern, die sich so sehr wünschen, besser mit dieser Situation zurechtzukommen. Ich zeige ihnen, dass ich eine von ihnen bin und es mir gut geht.«

Die Ironie daran war, dass ich mich, kaum hatte ich mein Geheimnis geteilt, frei fühlte. Freier denn je! Es war einer der eindrucksvollsten Tage meines Lebens. Ich hatte der Welt meine Vaterverlust-Geschichte erzählt. Und wartete. Und wissen Sie was? Nichts Schreckliches passierte. Ich fiel in keine tiefe Depression. Ich wurde nicht aus meinen sozialen Gruppen verstoßen. Ich wälzte mich nicht daumenlutschend am Boden.

Genau das Gegenteil passierte. Ich hatte meine Berufung und mich selbst gefunden. Ich hatte das Gefühl, dass das schon immer das gewesen war, warum ich hier war. Obwohl ich das Geheimnis tief in mir vergrub, hatte etwas in mir schon immer geahnt, dass ich eines Tages anderen Frauen helfen würde, die denselben Verlust erlebt hatten. Es war immer da gewesen, dieses Bedürfnis, Ausschau zu halten nach anderen, die so waren wie ich. Mein Vaterloser-Tochter-Radar war stets in Alarmbereitschaft und piepte drauflos, wo immer ich mich befand.

Ich war das Mädchen, das bei der Dinnerparty bis Mitternacht am Tischende saß und mit der jungen Frau mit dem gebrochenen Herzen über ihre gerade zu Ende gegangene Beziehung redete, was zu einem Gespräch darüber führte, warum sie wirklich so sehr litt – wegen ihres Vaters. Wirklich. Es lief immer auf Vaterlosigkeit hinaus, wenn Frauen mir ihr Herz ausschütteten.

Jede Woche sah ich mir Sunday Morning auf CBS an. Wenn der jeweilige Gast erwähnte, ohne Vater aufgewachsen zu sein, notierte ich mir den Namen und las darüber nach. Besonders gut erinnere ich mich daran, wie ich gebannt verfolgte, als Patricia Cornwall erzählte, wie ihr Vater sie verließ. Wo immer ich hinsah, sah ich eine Tochter mit einer Geschichte. Und mit jeder neuen Geschichte verstand ich besser, worum es in meinem Leben geht. Ich hörte genau hin, mit welchen Worten Bethenny Frankel in ihrer Reality Show ihrem Therapeuten ihre Vaterlos-Geschichte erzählte. Demi Moores Geschichte, wie ihr Vater sie vor ihrer Geburt verließ, bewegte mich tief. Und jedes Mal, wenn Caroline Kennedy über ihren Vater sprach, machte ich mir Notizen, so faszinierend fand ich ihr Leben. Ich fühlte mich mit diesen Frauen verbunden.

Dieses leidenschaftliche Interesse für vaterlose Töchter war extrem. Ich führte eine Liste mit Frauen und Statistiken, die ich für relevant hielt. Überall machte ich mir Notizen, auf Servietten, in Notizbüchern, im Computer. Ich fütterte mein Gehirn mit Fakten und häufig hatte ich das Gefühl, nur diese Geschichten würden durch das weiße Rauschen zu mir dringen. Manche nannten es eine Obsession, für mich war es meine Berufung.

Das spürte ich, wenn ich mit jemandem sprach, der keinen Vater hatte. Ich war getrieben davon. Jahrelang bekam ich zu hören, ich solle einfach loslassen. Ich versuchte es. Ich fragte mich immer wieder, ob ich mich nicht verrannt hatte. Ob ich den Schmerz, meinen Vater zu verlieren, nie würde abschütteln können. Alles führte mich an diesen Punkt. Das war es, was mich ausmachte.

Als ich an diesem kühlen Morgen die Today Show verließ, traf es mich wie der Blitz. Es ging nicht darum, was mit meinem Vater passiert war. Es ging darum, was mit mir passiert war, weil mir mein Vater fehlte. Das bedeutete: Alles zurück auf Anfang. Ich würde ein Buch über all unsere Geschichten schreiben müssen, nicht nur über meine. Das wurde mir klar. Das war der Durchbruch. Je mehr ich das Geheimnis und die Scham über den Tod meines Vaters losließ sowie die Tatsache, von ihm verlassen worden zu sein, umso klarer wurde mir mein Ziel. Ich wollte allen vaterlosen Töchtern helfen, die Vergangenheit loszulassen, die Scham abzustreifen und ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Man muss sich nicht über Vaterlosigkeit definieren. Aber Vaterlosigkeit kann definieren, wer man werden will.

Ihre Geschichte

Eine Frage nach den Eltern ist nicht ungewöhnlich. Für den Fall, dass Sie nach Ihrem Vater gefragt werden, haben Sie wahrscheinlich ein paar Sätze parat, die Sie so gut geformt und geknetet haben, dass Sie damit umgehen können – und dass andere damit umgehen können. Schließlich haben Sie entscheidende Jahre Ihres Lebens ohne die Sicherheit einer Vater-Tochter-Bindung überstanden. Wir müssen unsere Geschichte und unser Herz davor bewahren, durch das Erzählen dieser Geschichte erneut verletzt zu werden. Gleichzeitig haben wir das Bedürfnis, die Fragenden vor einer für sie unangenehmen Antwort zu schützen. Irgendwann sind wir es leid, uns um die Leute zu kümmern, die wir gerade mit einer schmerzlichen Antwort abgespeist haben. Deshalb verändern wir die Geschichte und experimentieren mit verschiedenen Versionen, bis wir eine passende finden. Das Positive daran ist: Wir lernen, kreativ Geschichten zu erzählen.

Zunächst gibt es da die Geschichte über das, was wirklich im Leben Ihres Vaters geschah, im Leben Ihrer Eltern und in Ihrem Leben. Diese wahre Geschichte halten Sie geheim, denn sie zu erzählen hieße womöglich, eine sonst verborgene Wunde zu zeigen. Die wahre Geschichte kann sehr privat sein, Sie haben sie vielleicht nur einer Handvoll vertrauenswürdiger Menschen erzählt.

Die Leute, die Ihre wahre Geschichte kennen – Ihre Vertrauten –, sind die Freunde oder Verwandten, zu denen Sie genug Vertrauen haben, um sie anzurufen, wenn der Schmerz Sie am Vatertag überwältigt. Diese Vertrauten wissen, dass die heisere Stimme Ihres Onkels Sie aus der Fassung bringen kann, weil sie Sie an die Ihres Vaters erinnert. Sie wissen, dass da immer noch dieser glitzernde Pfau in Ihrer Schmuckschatulle liegt, den Sie von Ihrem Vater zum zehnten Geburtstag bekamen. Den Sie jedes Jahr herausnehmen, nur um die vertrauten Konturen zu spüren und sich in den Moment zurückzuversetzen, in dem Sie sich als jemand ganz Besonderes fühlten.

Ihre Vertrauten wissen, dass es für Kummer kein Verfallsdatum gibt, jeder empfindet ihn anders. Sie verstehen das. Dafür haben sie bewiesen, dass sie nicht von Ihnen erwarten, darüber hinwegzukommen, auch wenn die Gesellschaft das verlangt. So lernen Sie, ihnen langsam zu vertrauen. Einige von ihnen haben ebenfalls einen geliebten Menschen verloren und begreifen, was das mit einem macht. Sie können darauf vertrauen, nicht verurteilt oder kritisiert zu werden. Und darauf, dass diese Menschen Ihre Geschichte so achten wie Sie. Ihre Vertrauten verstehen, wenn etwas so Nebensächliches wie eine Werbesendung Sie erschüttert, in der ein Vater seine Tochter huckepack trägt. Wir finden es nicht überraschend, dass über die Hälfte der engsten Freundinnen von vaterlosen Töchtern ebenfalls ihren Vater verloren hatte, wie wir bei unserem Forschungsprojekt herausfanden. Ihr engster Freundeskreis versteht das und versteht Sie.

Die andere Geschichte, die Sie mit sich herumtragen, ist Ihre Standardversion, die in wenigen Sätzen erklärt, was mit Ihrem Vater passierte. In den meisten Situationen erzählen Sie diese Version kurz und gefühlsneutral, um keine schlafenden Hunde zu wecken. Sie lassen die tragischen Elemente weg – sofern es welche gibt – oder überspielen Ihre tieferen Gefühle, um schneller das Thema wechseln zu können. Sie schämen sich für den Grund, warum Sie Ihren Vater verloren haben? Dann haben Sie womöglich eine halbwahre Version parat, um zu erklären, wo er ist, warum er ging oder wie er starb. Eine Version, mit der Sie Ihren Frieden fanden, weil sie die Dinge einfacher macht, sich nicht so tragisch anhört und keinen Platz für Fragen lässt. Es gibt weder Tränen noch Aufsehen, Sie schützen so sich und Ihr Gegenüber vor unangenehmen Details.

Was auch immer Sie anderen bisher erzählt haben, Sie kennen die Wahrheit und haben gelernt, sie zu verbergen. Um die Geschichte genau so zu erzählen, wie sie sich zugetragen hat, müssen Sie auf vielen Ebenen bereit sein. Sie müssen selbst mit der Wahrheit umgehen können, bevor Sie sie uneingeschränkt jemandem anvertrauen. Sie müssen sich sicher fühlen, um sich öffnen zu können. Kummer lässt sich nicht vorhersagen. Sie können nie wissen, wie betroffen Ihr Gegenüber auf Ihre Enthüllungen reagiert oder wie Sie sich fühlen, wenn Sie alles preisgeben. Vaterlose Töchter tragen daher die Bürde, wann sie etwas sagen sollen, wann sie besser schweigen, wie viel sie sagen sollen und wie viel sie besser für sich behalten.

Im Lauf der Jahre gewöhnen wir uns als vaterlose Töchter in der Regel daran, unsere Rolle zu spielen – nach außen knallhart zu wirken. Während unserer Trauer machen wir eine einmalige Verwandlung durch. Wir versuchen, alles im Griff zu haben, sosehr wir auch innerlich leiden. Und wir beschließen, dass wir, wenn unser ursprünglicher Superheld uns nicht rettet, das eben selbst tun müssen. Manchmal sind wir stark genug, um dieses Supergirl oder diese Superwoman zu sein, aber manchmal sind wir zu schwach, um diese Rolle zu spielen. In einem Interview mit der International Design Times drückte Charlize Theron es wunderbar aus, als sie über ihren Entschluss sprach, der Öffentlichkeit zu sagen, dass ihr Vater 1991 ermordet wurde. »An dem Tag, als mein Vater starb, änderte sich für mich alles. Früher verschleierte ich das und sagte, er sei bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Jetzt habe ich mich damit abgefunden und kann nach vorne blicken.«

Unsere Geschichten sind verschieden, und wir kommen aus ganz verschiedenen Ecken, aber eins haben wir alle gemein: den Verlust unseres Vaters. Unser Schmerz wird sich unterschiedlich äußern, aber letztendlich wollen wir alle dasselbe – uns besser fühlen.

Dieses Buch erforscht das facettenreiche Leben vaterloser Töchter. Durch bahnbrechende Forschungsarbeit, die Geschichten von Frauen und unzählige Interviews haben wir neue Erkenntnisse gewonnen, durch die Sie Ihre Geschichte als vaterlose Tochter auf eine ganz neue und inspirierende Weise sehen werden. Dieses Buch hilft Ihnen zu erkennen, wie sehr der Verlust Ihres Vaters Ihr Leben beeinflusst. Wir haben zusätzlich Übungen in das Buch aufgenommen, die Sie dabei unterstützen, sich selbst zu erkennen und weiterzuentwickeln. Wir möchten, dass Sie eine Minute (oder zwei) innehalten und über Ihre ganz persönliche Erzählung nachdenken. Was sagt Ihnen Ihre innere Stimme? Wie sehen Sie die Welt und die Menschen in Ihrer Umgebung vor dem Hintergrund Ihrer Geschichte? Setzen Sie sich, um sich auf diese Reise zu begeben, an Ihren Laptop oder greifen Sie zu einem Blatt Papier und nehmen Sie sich die Zeit, um die Geschichte Ihrer Vaterlosigkeit aufzuschreiben. Denken Sie dabei daran: Hier gibt es kein Richtig und kein Falsch. Vielleicht genügt Ihnen für Ihre Geschichte ein einziger Absatz, oder Sie schreiben viele Seiten voll. Aber schreiben Sie dabei auch über Ihre Gefühle und darüber, was Sie sich für die Zukunft erhoffen. Legen Sie die Geschichte zur Seite. Wir werden am Ende des Buches darauf zurückkommen.

Wir wollen ehrlich sein und darüber sprechen, wie Sie in der Vergangenheit gelebt haben, was Sie jetzt tun und was später sein könnte. Wie Dr. Brené Brown in ihrem Bestseller Die Gaben der Unvollkommenheit schrieb: »Wenn wir aus vollem Herzen leben und lieben wollen und wenn wir uns in der Welt mit Würde einbringen wollen, müssen wir über die Dinge reden, die sich uns dabei in den Weg stellen – vor allem Scham, Angst und Verletzlichkeit.« Amen.

Reden wir also darüber.

1

Wenn eine Tochter ihren Vater verloren hat

Der Verlust meines Vaters war der entscheidende Moment meines Lebens.

– Denna Babul, The Fatherless Daughter Project: The Documentary

Sie haben Ihren Vater verloren? Damit sind Sie nicht allein. Ebenso wenig allein sind Sie mit der Frage, wie sich dieser Verlust auf Ihre Beziehungen, Ihr Verhalten und vieles mehr auswirkt. Vaterlos zu sein, heißt, viele Schwestern zu haben. Wir haben es selbst erlebt, wir kennen das. Und dank entscheidender Wendepunkte in unserem Leben beschlossen wir, uns genauer anzusehen, was Vaterlosigkeit für uns beide bedeutet. Wir nahmen unsere Vergangenheit unter die Lupe, weil wir wissen wollten, was gut gelaufen war und was nicht. Wir entschieden uns beide für einen helfenden Beruf. Denna arbeitete über zehn Jahre als Intensivkrankenschwester; an ihrer Liebe zur Krankenpflege hat sich bei ihrer derzeitigen Arbeit, wo sie mit medizinischen Geräten zu tun hat, nichts geändert. Viele Jahre lang half sie Familien in schweren wie guten Zeiten. Denna arbeitet auch als Coach, hält Vorträge und inspiriert Menschen dazu, die Vergangenheit los- und sich auf die Zukunft einzulassen. Karin war Grund- und Mittelschullehrerin, bevor sie zum Thema Therapieausbildung und Erwachsenenarbeit promovierte. Heute nutzt sie ihre Ausbildung und ihre Lebenserfahrung als psychologische Beraterin und Therapeutin, Rednerin und Pädagogin. Für uns beide war die Vergangenheit ein Sprungbrett zu einem tieferen und besseren Verständnis dafür, was es bedeutet, eine vaterlose Tochter zu sein. Unsere persönliche Erfahrung brachte uns einander näher, unsere beruflichen Erfahrungen ergänzten sich und bestärkten uns in dem Wunsch, unser Wissen mit anderen vaterlosen Töchtern zu teilen.

Zusammen interviewten wir in den letzten zehn Jahren für unseren Dokumentarfilm The Fatherless Daughter Project über tausend vaterlose Töchter, zum Teil nach formalen Kriterien, zum Teil in offenen Gesprächen, häufig an überraschenden Orten, etwa an der Kasse im Supermarkt, in Bestattungsinstituten, Nagelstudios, im Hort und so weiter – einfach weil Frauen das Bedürfnis haben, ihre Erfahrungen mitzuteilen und wertgeschätzt zu werden. Unsere quantitative Forschung führten wir innerhalb eines Jahres durch; darin flossen bislang die Ergebnisse von über 500 Frauen aus der ganzen Welt ein. Das Alter der Teilnehmerinnen lag zwischen 15 und fast 80 Jahren, sie kamen aus den verschiedensten Ethnien, Berufen und Gesellschaftsschichten und hatten die unterschiedlichsten Ausbildungen. Der Großteil der Frauen, von denen wir eine Rückmeldung erhielten, kam aus den USA, doch dank der sozialen Medien erhielten wir auch Meldungen aus anderen Ländern. Interessiert stellten wir fest, dass vaterlose Töchter einander auf die Umfrage aufmerksam machten. Sie lernten sich selbst besser kennen und wollten das auch anderen ermöglichen.

In dem Jahr, bevor wir unsere Umfrage starteten, sahen wir uns nach Büchern zu dem Thema sowie nach entsprechenden Webseiten und Foren um und stellten fest, da fehlt etwas. Wir suchten Antworten auf Fragen, von denen wir uns wünschten, man hätte sie uns gestellt. Zum Beispiel fragten wir die Töchter, wie der Verlust des Vaters sich auf ihre Beziehungen, ihre Sexualität und ihren beruflichen Werdegang auswirkte. Wir wollten die positiven Eigenschaften hervorheben, die durch die Vaterlosigkeit entstanden, und uns nicht nur auf all das Negative konzentrieren. Wir formulierten eine Umfrage, die die Tochter und die Wahrnehmung ihrer Erfahrungen in den Mittelpunkt stellt und der Frage nachgeht, woher sie kommt, was sie durchgemacht hat und was sie in ihrem Leben erreichen will. Persönlich interessierten uns die Erfahrungen der vaterlosen Töchter in bestimmten Lebensbereichen: mit ihrer Mutter, der Familie ihres Vaters, ihren Geschwistern und wichtigen Menschen in ihrem Leben sowie mit Kollegen und Freunden. Wir wollten herausfinden, welche Bewältigungsmechanismen sie verwendeten und welche ihnen halfen, ein erfüllteres Leben zu führen. Wir waren überwältigt von den Ergebnissen, von den Folgen der Vaterlosigkeit für das Leben der Töchter. Diese Ergebnisse finden Sie in diesem Buch. Wenn Sie möchten, können Sie auf die Website zu unserem Projekt, FatherlessDaughterProject.com, gehen und den Fragebogen als Schritt zur Eigenwahrnehmung ausfüllen.

Im Leben der vaterlosen Töchter gibt es viele Gemeinsamkeiten, allerdings auch Unterschiede, je nachdem, wie sie ihren Vater verloren. Wir decken die grundlegenden Ursachen – von Tod bis zu emotionaler Abwesenheit – ab.

Unsere Recherche zeigt, dass die meisten vaterlos aufgewachsenen Frauen anscheinend ähnliche Probleme haben – gewöhnlich in Beziehungen –, unabhängig von den Ursachen der Vaterlosigkeit. Es kann ihnen sowohl schwerfallen, Liebe zu geben als auch Liebe anzunehmen. Das andere Geschlecht ist ihnen oft ein Rätsel, vielleicht weil sie zu wenig Zeit mit ihrem Vater verbracht haben, um die nötige Grundlage für eine intime Beziehung aufzubauen. Da die Verbindung zu ihrem Vater abgeschnitten wurde, haben sie womöglich nicht gelernt, was es wirklich heißt, zu lieben und von einem Mann geliebt zu werden. Es wurden keine Grenzen gesetzt, es konnte keine Komfortzone entstehen und sich kein volles Verständnis für wahre Liebe entwickeln. Was eine Beziehung ausmacht, welche Maßstäbe gelten, suchten sich viele vaterlose Töchter aus dem zusammen, was sie beim Erwachsenwerden beobachteten, ob dies nun gut oder schlecht war.

Töchter lernen durch Beobachten, vor allem, wenn sie keine klaren Anweisungen von den Menschen bekommen, die sie ihnen eigentlich geben sollten. Tina zum Beispiel beschrieb, wie sie lernte, sich den perfekten Vater vorzustellen. »Um ehrlich zu sein, ich lernte als Mädchen am meisten über Vater-Tochter-Beziehungen durch die Fernsehserie Full House, in der die Mädchen von ihrem Vater und den anderen Männern, die aushalfen, geliebt und angeleitet wurden. Man kann sagen, die Vaterrolle erfüllte bei mir der Fernseher in unserem Wohnzimmer.«

Denken Sie über Ihre Beziehungen nach. Sind Sie häufig vom Kurs abgekommen und haben sich verwirrt gefragt, warum Ihnen ständig das Herz bricht? Würden Sie gerne wissen, warum Sie immer dieselben Fehler machen? Frustrieren Sie diese ständigen Beziehungsprobleme? Sie wissen doch im tiefsten Inneren, was Sie wirklich wollen. Was hindert Sie dann daran, es zu bekommen? Konnten Sie ein Muster in Ihrer Partnerwahl entdecken? Durch unsere ausgedehnte Forschung zum Thema vaterlose Töchter, darunter unsere eigene klinische Arbeit, Umfragen, Interviews und die eingehende Beschäftigung mit anderen Studien, entdeckten wir Verhaltensmuster, die zu erkennen anderen vaterlosen Töchtern helfen könnte. Wir arbeiteten mit unzähligen Frauen, die verwirrt waren von diesen ständig wiederkehrenden Themen in ihrem Leben, die ihnen zusätzlich zu dem ungelösten Schmerz über den zu frühen Vaterverlust zu schaffen machen. Die Ursache für Ihre Beziehungsprobleme sind vielleicht die Bedürfnisse, die durch das Fehlen Ihres Vaters nie erfüllt wurden.

Für die Verheirateten unter Ihnen: Bestrafen Sie Ihren Mann, wenn er einen Fehler macht? Sehen Sie in ihm einen Vaterersatz oder bemuttern Sie ihn? Vielleicht versuchen Sie die Situation dadurch zu kontrollieren, dass Sie ihn ständig zu irgendwelchen Mätzchen zwingen, um seine Zuneigung zu steigern? Sehnen Sie sich nach einer gleichberechtigten Beziehung, wissen aber nicht, wie diese zu erreichen ist?

Sind Sie Mutter und entdecken, dass Sie einige Bewältigungsmuster an den Tag legen, die schon Ihre Mutter einsetzte? Vielleicht möchten Sie, dass Ihre Tochter härter ist als ihre Freundinnen, oder erwarten von Ihrem Sohn, er solle Ihr einziger Quell männlicher Aufmerksamkeit sein. Leben Sie mit einer unbändigen Angst, Ihren Kindern, Ihrem Mann oder Ihnen könnte etwas zustoßen? Als vaterlose Tochter haben Sie gelernt, sich wunderbar um andere zu kümmern, leiden aber zu oft unter der schrecklichen Angst, etwas könne schiefgehen.

Sie sind Single und bei dem geringsten Anzeichen einer Zurückweisung ganz aus dem Häuschen? Neigen Sie dazu, wenn Sie einen Konflikt vermuten, den anderen zurückzuweisen, bevor er Sie zurückweisen kann? Das könnte an der Angst der vaterlosen Tochter liegen, die nicht verletzt werden will. Einfach zu gehen, erscheint da oft als bessere Lösung, als verlassen zu werden.

In Freundschaften sind vaterlose Töchter oft die Fürsorgenden (oder die Mutter), und jeder kommt mit seinen Problemen zu ihnen. Je nachdem, was Sie zu Hause erlebt haben, können Sie mit Konflikten umgehen, gut zuhören und andere unterstützen. Anderen zu helfen ist für Sie ein lohnendes Ziel, Sie fühlen sich dadurch anerkannt. Sie sind durch den Verlust belastbar geworden, ob Ihnen das klar ist oder nicht, und das ist einer Ihrer stärksten Charakterzüge. Fragen Sie sich doch einmal, ob Sie nicht zu viel geben. Erfahren auch Sie im Gegenzug Unterstützung?

Die Abwesenheit des Vaters hinterlässt auch bei der Mutter tiefe Spuren, daher haben vaterlose Töchter oft eine schwierige Beziehung zu ihr. Schleppen Sie noch widerstreitende Gefühle wie Mitleid, Wut oder Schuldgefühl gegenüber Ihrer Mutter mit sich herum? Ist da ein tiefes Bedürfnis, sich um Ihre Mutter zu kümmern? Die meisten vaterlosen Töchter verstehen diese Problematik. Obwohl sie viele Fragen an ihre Mutter haben, wollen sie keinesfalls alte Gefühle aufwühlen und stellen daher lieber keine Fragen über ihren Vater. Vaterlose Töchter finden im Leben typischerweise allein ihren Weg, denn jede hat für sich im Kopf ein Handbuch mit Überlebensregeln verfasst. Darin stehen ihre ganz persönlichen Regeln, je nachdem, was sie gesehen, gehört und erlebt hat, in denen sie nachliest, um schwierige Situationen zu meistern und mit ihren Gefühlen umzugehen. Schade nur, dass viele dieser Regeln problematisch sind und sie deshalb gezwungen ist, schädliche Muster zu wiederholen; das frustriert und verwirrt sie.

In unserer Studie entdeckten wir, dass 42 Prozent der vaterlosen Töchter eine ebenfalls vaterlose Mutter haben und mehr als ein Drittel von ihnen wiederum eine Tochter vaterlos aufzogen. Wir wiederholen häufig, was wir erlebt haben, und setzen so den Kreislauf der Vaterlosigkeit fort. Das liegt an den erlernten Bewältigungsmechanismen, der Beziehungswahl und der falschen Selbstwahrnehmung. Dieses Verhalten und diese Haltung geben wir dann an unsere Töchter weiter. Treiben wir den Heilungsprozess voran und beenden wir so diese negativen, generationenübergreifenden Muster – für uns und für die nach uns.

So viele Fragen

Im Mai 1994 erschien Hope Edelmans ungemein erfolgreiches Buch Töchter ohne Mütter, das 24 Wochen auf der Bestsellerliste der New York Times stand. Paige, eine der von uns interviewten vaterlosen Frauen, erzählte, sie habe nach dem Verlust ihres Vaters Edelmans Buch wie eine Bibel mit sich herumgetragen. Auf die Frage, warum sie ein Buch über Mutterlosigkeit lese, wo sie doch vaterlos sei, antwortete sie: »Es gab kein Buch über Vaterverlust, weil der Vater es so gewollt hat. Mir macht das sehr zu schaffen, und Mutterlosigkeit ist anscheinend akzeptierter, darüber kann man lesen.«

Mit »weil der Vater es so gewollt hat« meint Paige Verlust durch Sucht, nicht durch Tod. Ihr Vater war Alkoholiker, tauchte immer wieder mal in ihrem Leben auf und verschwand wieder. Als Teenager brach sie nach langen Phasen voller Angst den Kontakt zu ihm ab und sagte ihm, er könne wiederkommen, sobald er nüchtern sei. Inzwischen ist sie 38 und hat keine Ahnung, ob er tot oder noch am Leben ist.

Paige empfindet Vaterlosigkeit als Stigma und versucht, ihre Gefühle zu erklären. »Wie soll ich sagen – die Leute schauen mich mit großen Augen an, wenn ich sage, dass ich inzwischen nicht mehr weiß, wo er ist oder wovon er lebt. Es ist kompliziert. Manchmal denke ich, es wäre einfacher, wenn er gestorben wäre.« Paiges Geschichte bestätigt die Erfahrungen vieler anderer vaterloser Töchter.

Vaterlosigkeit kann so viele Ursachen haben. Sie kann gewollt, den Umständen geschuldet oder durch ein Unglück verursacht sein. Man kann als Kind, Teenager oder Erwachsene den Vater verlieren. Der Verlust kann privat oder öffentlich geschehen, eine Familientragödie bleiben oder zur Schlagzeile werden. Jede von uns hat ihre eigene Geschichte, jede ihre eigenen Fragen.

ENDE DER LESEPROBE