Vaterlos - Frédéric Ringel - E-Book

Vaterlos E-Book

Frédéric Ringel

0,0

Beschreibung

Vaterlos aufgewachsen, sucht ein Sohn seinen Weg. Erzählt wird eine Nachkriegskindheit - allerdings wachsen auch heute viele Kinder ohne ihre Väter auf, was oft zu großen Schwierigkeiten führen kann. Der Autor reflektiert in kurzen Mosaiken und Essays sein bisheriges Leben. Er fragt sich, was die Gründe dafür gewesen sein könnten, dass sein Leben im Großen und Ganzen gut verlaufen ist. Es muss väterliche Ersatzfiguren gegeben haben, die als Rollenmodell zur Verfügung standen. Im Verlauf seiner Recherchen stößt er auf die umfangreiche Literatur der letzten 30 Jahre, die sich mit dem Thema Vaterlosigkeit (unter anderem Radebold u.a., "Söhne ohne Väter") beschäftigt haben sowie auf zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen zur Problematik von Kindern der Kriegs- und Nachkriegsgeneration, die Vaterlos aufgewachsen sind. Es wird darüber berichtet, dass Kinder mit einem derartigen Hintergrund oft verunglücken: Traurigkeit, Alkohol, Drogen, Übergewichtigkeit, emotionale Problem wie Depression und andere psychische Auffälligkeiten … . "Ein Sohn braucht seinen Vater, damit er sinnvoll Mann werden kann. Ohne Vater ist er für sein Leben nur unzureichend ausgestattet", lautet das Resümee der Experten. Wenn das gilt, hat "Vaterlos" auch heute eine hohe Relevanz, da in Deutschland mehr als 30% der Kinder nur von einem Elternteil und davon zu 90% von der Mutter aufgezogen werden, mit steigender Tendenz. Frauen sind heute oft der Auffassung, dass der Vater für die Entwicklung des Kindes nicht wirklich wichtig ist.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 289

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für meine Familie

Frédéric Ringel

VaterLos

Mosaik eines Lebens

Impressum

„Ein Sohn braucht seinen Vater, damit er sinnvoll Mann werden kann. Ohne Vater ist er für sein Leben nur unzureichend ausgestattet“, lautet das Resümee von Experten, die sich mit dem Thema Vaterlosigkeit beschäftigt haben. Wenn das gilt, hat „VaterLos“ auch heute eine hohe Relevanz, da in Deutschland mehr als 20% der Kinder nur von einem Elternteil und davon zu 90% von der Mutter aufgezogen werden (in Berlin mehr als 30%) – mit steigender Tendenz. Frauen sind häufig sogar der Auffassung, dass der Vater für die Entwicklung des Kindes nicht wirklich wichtig ist.

Ende 1945 geboren, fragt sich der Autor, der den Text unter einem Pseudonym geschrieben hat, als kleiner Junge, warum andere Kinder einen Vater haben und er nur eine Mutter. Und er fragt sich rückblickend, warum er, obwohl vaterlos, ein im Großen und Ganzen gutes und zufriedenstellendes Leben bis heute gelebt hat. Es muss Menschen gegeben haben, die als Vaterersatz präsent waren.

INHALT

1 Die Keimzelle

2 Wann ist jemand alt?

3 Erinnern und Erzählen

4 Meine Frau hat mich gerufen

5 Die Großmutter

6 Bin ich ein Nachkriegskind oder …

7 Schwanger

8 Kriegsbilanz

9 Der Großvater

10 Onkel Walter

11 Mutter heiratet

12 Atheist, Humanist, Freidenker?

13 Die Wohnung

14 Zurück zum Anfang

15 Die Krankenschwester

16 Verhalten in Kriegszeiten

17 Kinderjahre

18 Erlebnisse mit Onkel Walter

19 Opa Hackenberg

20 Beinahe entführt

21 Die Beerdigung

22 Söhne ohne Väter

23 Meine Mutter erzählt

24 Erstes Gespräch

25 Chronik 1946 – 1951

26 Berlin 2014

27 Was ist Bildung?

28 Zusammenführung und Einschulung

29 Die ersten Schuljahre

30 Der Tretroller

31 Kirschenzeit

32 Auf dem Eis

33 Die Wupper

34 Verhaftung

35 Herkunft

36 Der Tod des Großvaters

37 Ferien in Holland

38 Identität

39 Livia

40 Das Unbewusste

41 Und was ist das Bewusstsein?

42 Zweites Gespräch

43 Botanischer Garten

44 Schmuddelwetter

45 Griechenland

46 Februar 2015

47 Konzert

48 Meine Mutter

49 Selbstsorge

50 Der Freund

51 Dein Bruder

52 Sterbehilfe

53 Die Wiederkehr des immer Gleichen

54 Essen und Trinken

55 Drittes Gespräch

56 Chronik 1952 – 1960

57 Radevormwald 1954

58 Erster Kontakt zur Wirtschaft

59 Kartoffelernte

60 Der Goldhamster

61 Die kurze Zeit auf dem Gymnasium

62 Pünktlichkeit

63 Abschied vom Gymnasium

64 Ringkampf

65 Zeitungszusteller

66 Annelie

67 Lehrjahre sind keine Herrenjahre

68 Erika

69 Chronik 1961 – 1970

70 Dein Jugendfreund

71 Onkel Walter stirbt

72 Studentenzeit

73 Nebenerwerb

74 Professor Wagner

75 Homo compensator

76 Kopenhagen

77 Rückkehr

78 Arbeit und Beruf

79 Karriere – ja oder nein?

80 Chronik 1971 – 1980

81 Mönchengladbach

82 Fohlenelf

83 Tim und Pia I

84 Erneut Schule

85 Tim und Pia II

86 Urlaub in Calpe

87 Kommunalpolitik

88 Sozialliberal

89 Was macht einen guten Vater aus?

90 Wesensverwandtschaft

91 Lebensform, Lebensweise, Lebensstil

92 Skilaufen mit Tim

93 Stimmungen

94 Ostern 2015

95 Asylbewerber und Wirtschaftsflüchtlinge

96 Trennung – Leben mit dem Sohn

97 Moderne Kunst

98 Deine Musik

99 Sommer 1981

Liebe Kinder, liebe Enkelkinder

Anmerkungen

„Nicht, was wir erleben, sondern wie wir empfinden,

was wir erleben, macht unser Schicksal aus.“

(Marie von Ebner-Eschenbach)

„Erkennen heißt sich erinnern;

1

Die Keimzelle.In gewisser Weise verdankst du dein Leben dem Zufall und leider auch einem der widerwärtigsten Typen der Geschichte: Adolf H. Du bist ein Produkt der letzten Kriegsmonate. Der Krieg führte deine Eltern für eine kurze Zeit zusammen.

In der Nazizeit musste jedes Mädchen ein Pflichtjahr ableisten. Deine Mutter verbrachte ihres in Norddeutschland auf einem bäuerlichen Gut und blieb dort, weil sie, wäre sie wieder nach Hause ins Bergische Land zurückgegangen, in der Rüstungsindustrie hätte arbeiten müssen. Das wollte sie unter keinen Umständen.

Nach ihrem Pflichtjahr war sie als 19-jährige an der Landfrauenschule, einer Internatsschule in Wilhelmshaven, angenommen worden, obwohl sie nicht aus einem bäuerlichen Milieu kam, was damals eigentlich vorgeschrieben war. Sie wollte Lehrerin für Haus- oder Landwirtschaft werden. Diese zweijährige Ausbildung wäre die Voraussetzung für ein Studium an der Pädagogischen Hochschule für Landwirtschaftliche Lehrer in Wilhelmshafen gewesen.

Das Schulgeld betrug 20 Reichsmark im Monat, die ihre Eltern ihr vom Lohn des Vaters zur Verfügung stellten; er verdiente ungefähr 160 Reichsmark im Monat.

Sie konnte im angeschlossenen Wohnheim wohnen, die Hausordnung sah vor, dass sie ihr Oberbett und ein Essbesteck mitbrachte.

Drei Monate nachdem der Unterricht dort begonnen hatte, wurde die Schule wegen der ständigen Fliegerangriffe geschlossen.

Der Not, nicht dem eigenen Trieb gehorchend, nahm sie in Norddeutschland eine Bürotätigkeit auf. Sie arbeitete für die NSV, die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt, eine Organisation der NSDAP. Die NSV kümmerte sich zu dieser Zeit schwerpunktmäßig um geflüchtete Familien aus den so genannten deutschen Ostgebieten.

Ende 1944 lernte sie dort einen Sanitäts-Oberfeldwebel auf Heimaturlaub kennen, verlobte sich im folgenden Februar mit ihm und kurz darauf traf eines seiner Spermien auf eine ihrer Eizellen, sie wurde schwanger und schenkte gegen Jahresende einem Sohn, nämlich dir, das Leben.

Nur weil das so stattgefunden hat, gibt es dich. Diesem einen Spermium und dieser einen Eizelle, die genau in jenem Moment aufeinander trafen, verdankst du dein Leben. Eine Sekunde früher oder später, ein anderes Spermium, eine andere Eizelle, und es wäre jemand völlig anderes heraus gekommen, ein anderer Mensch, innen wie außen. Die Existenz als Zufall oder als Wunder, je nach Sichtweise.

2

Wann ist jemand alt?Bist du ein junger Alter? Du fühlst dich weder alt noch jung, im Grunde fühlst du dich wie immer. Obwohl, letzthin wurde dir schwindlig und du wärest fast gestürzt. Es war der plötzlich zu niedrige Pulsschlag. Jetzt ist der Blutdruck wieder im Normalbereich. Inzwischen bist du 70 geworden.

3

Erinnern und erzählen.Deine Lebensgeschichte will ich hier erzählen, so, wie du sie mir erzählt hast und so, wie ich sie berichten kann. Die kleinen Geschichten und Mosaiksteine handeln von wirklichen Personen und von Ereignissen, die du, das hast du mir versichert, wirklich erlebt hast und die deine Biografie und Identität ausmachen.

Zu bedenken ist jedoch, dass Erinnerungen erzählende Konstruktionen sind. Sie sind dynamisch und unterliegen im Laufe der Zeit Veränderungen und werden mit dem Älterwerden oftmals revidiert. Ich erzähle die jeweils letzterinnerte Version und die kann durchaus abweichen von dem, was eine andere Person vom gleichen Ereignis in Erinnerung behalten hat.

Außerdem: Durch Erinnern und Erzählen wird deine Vergangenheit rekonstruiert und gegenwärtig. Aber das Gedächtnis bewahrt nur einen geringen Teil dessen auf, was wirklich geschehen ist. Auch hat die Erinnerung an ein Ereignis oft wenig mit dem zu tun, wie du es damals erlebt hast. Hinzu kommt, dass du bestimmten Ereignissen und bestimmten Tatsachen eine bestimmte Bedeutung gibst, die ein anderer ihnen nicht gegeben hätte.

Des Weiteren ist zu bedenken, dass deine Erinnerungen und die Erzählungen durch meinen Geist hindurch gegangen sind, sie sind aus zweiter Hand erzählt, da, wo du nicht selbst berichtest. Dennoch will ich versuchen, sie so genau wie möglich wiederzugeben. Und manches Mal, oft an jenen Stellen, wo es emotional schwierig zu werden schien und die Erinnerung versagte, habe ich mich gefragt, warum gerade das eine erinnert wurde und nicht etwas anderes. Lauert da Verdrängtes, etwas, dass du vielleicht abwehrst?

4

Meine Frau hat mich gerufen.Sie findet, ich solle den Schmutz, den meine Schuhe im Flur hinterlassen haben, wegfegen.

Wir sind inzwischen mehr als dreißig Jahre verheiratet. Obwohl sie mich nach wie vor erziehen möchte, sind wir immer noch gerne zusammen. Vielleicht ist sie mit ihrem pädagogischen Anliegen nicht alleine. Es beruht wohl auf Gegenseitigkeit und ist zu einer Art Routine geworden. Wie schwierig es doch sein kann, den anderen so zu lassen, wie er ist.

Es ist meine zweite Ehe. Wir haben uns auf eine gute Weise arrangiert, ich liebe sie nicht nur wegen ihres vortrefflichen Charakters, sondern auch wegen ihrer Kochkünste, aber ganz besonders, weil sie mir oder besser uns vor nunmehr fast dreißig Jahren eine wunderbare Tochter geschenkt hat. Ja, ich finde, es war ein großes Geschenk. Es setzte mein bis dahin gelebtes Leben mit Kindern, das mir aus meiner ersten Ehe so vertraut war, fort.

Für mich gab es nichts schöneres, als mit Kindern zusammen zu leben. Der tägliche Trubel, die vielen Fragen, die Verantwortung, die Freude an ihnen und mitzuerleben, wie Babys zu Kindern und dann zu jungen Erwachsenen werden. Heute bevorzuge ich ruhigeres Fahrwasser, manchmal auch das Alleinsein.

Obwohl, seit bald einem Jahr hole ich mein jüngstes Enkelkind Charlotte jeden Mittwoch von der Kita ab. Sie ist jetzt dreieinhalb Jahre und es ist eine große Freude, mit ihr einige Stunden in der Woche zu verbringen. Es ist immer das gleiche Ritual: Sie sieht mich, kommt freudestrahlend angerannt, springt auf meine Arme, schaut triumphierend in die Runde, bevor ich sie begrüßen kann.

Inzwischen haben wir Mai und der Eissalon schräg gegenüber der Kita hat seit einigen Wochen geöffnet. Dorthin strebt Charlotte als erstes. Es gibt eine Eiskugel im Becher, die sie selber aussucht aber immer nur zur Hälfte verzehrt, denn als nächstes möchte sie auf den Spielplatz ganz in der Nähe: Schaukel, Wippe und Rutsche warten.

Die Zeit, wo ich neben den Geräten stand und aufpasste, dass sie nicht runterfiel, ist seit einigen Monaten vorbei. Inzwischen macht sie das alles alleine und ich darf dabei zusehen, wie sie größer wird, jede Woche.

5

Die Großmutter.Wenn du zurück denkst, hast du als erstes deine Großmutter, die Mutter deiner Mutter, deine Oma Elly vor Augen. Sie stammte noch aus dem vorletzten Jahrhundert, geboren war sie 1899.

Als sie achtzehn Jahre alt war, verstarb ihre Mutter plötzlich. Ab sofort war sie verantwortlich für den Haushalt und hatte für ihre jüngeren drei Schwestern zu sorgen. Ihr Vater Josef arbeitete als Maschinist und trank viel. Er suchte und fand nach einiger Zeit eine neue Frau. Diese Stiefmutter brachte selber vier Kinder in die neue Ehe ein und muss eine Stiefmutter der üblen Art gewesen sein.

Im letzten Kriegsjahr „verlor“ deine Großmutter ihren Mann und damit deine Mutter ihren Vater. Er war im Juli 1944 mit 48 Jahren noch zum Militär eingezogen worden, zwei Monate später war er tot. Er war an der Westfront eingesetzt, Engländer und Deutsche lagen sich in einem Straßenzug gegenüber.

Mittags soll er für sich und seine Kameraden Essen in einem Essensbehälter holen, es fallen Schüsse, er hört eine Frau schreien: „Mein Kind, mein Kind ist weg!“, läuft zu der Frau hin und sieht, dass das Kind inzwischen wieder neben seiner Mutter steht. Die Frau sagt zu ihm, er solle sich hinsetzen, bis die Schießerei aufgehört hat. Er folgt ihrem Ratschlag.

Als man die Reste seines Körpers einsammelt, steht der Essenbehälter noch an dem Platz, wo er ihn abgestellt hat. Von ihm selber findet man nur noch vereinzelte Körperteile. Diese Version über seinen Tod erfährt deine Großmutter zwei Jahre später, als sie zu eben dieser Frau fährt, um sich Gewissheit über sein Ableben zu verschaffen.

Die offizielle Mitteilung über seinen Tod hast du der Zweitschrift seines Wehrpasses entnommen, den du von deiner Mutter erhalten hast; das Original ist „durch Feindeinwirkung zerstört worden“, wie darin zu lesen steht. Der Leiter des Wehrmeldeamtes Remscheid schrieb in einer offiziellen Mitteilung: „Am 28.09.1944 starb der Kanonier Fritz Ringel den Heldentod für Führer, Volk und Vaterland.“

Der verdammte Krieg, so viel Elend hat er den Menschen gebracht! Jeder! Heldentod oder Granatenfutter!

Deine Großmutter sprach häufig über den Krieg. Das ging dir damals, spätestens nachdem du sieben oder acht Jahre alt warst, ziemlich auf den Nerv. Heute kannst du sie besser verstehen. Sie hatte beide Weltkriege hautnah erlebt. Den ersten als junges Mädchen und den zweiten als Frau, deren Mann getötet wurde.

Es ist weder verwunderlich, dass sich ihre Gedanken immer wieder um den Krieg drehten noch, dass sie häufig kränkelte. Sie war ständig besorgt, voller Angst vor weiteren Verlusten oder Schäden. Bis ins hohe Alter war ihre allererste Frage bei deinen Besuchen, ob du noch Arbeit hattest. Die Weltwirtschaftskrise und die Arbeitslosigkeit der 30er Jahre steckten ihr noch in den Knochen.

Sie ist 92 Jahre alt geworden, trotz der vielen Krankheiten. In den letzten Jahren wurde sie dement. Eines Tages fragte sie ihre Tochter, die sie täglich im Altersheim besuchte: „Wer sind Sie? Kennen wir uns?“

6

Bin ich ein Nachkriegskind oder ein Kind des Krieges?Beides. Bisher habe ich das große Glück gehabt, dass es, seitdem ich lebe, in Deutschland keinen Krieg mehr gegeben hat. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten haben die Menschen zumindest in dieser Region der Welt über einen so langen Zeitraum nicht unter einem Krieg gelitten. Dafür bin ich dankbar.

Ich weiß nicht konkret, wem ich dankbar sein soll, aber offenbar haben die Politiker es nach 1945 vermocht, einen neuen Krieg in unserem Teil der Welt zu vermeiden. Wenn Andere über die aktuelle Weltlage klagen, über die Unfähigkeit und Versäumnisse der Regierung oder die Ungerechtigkeiten auch im eigenen Land, dann erinnere ich mich dankbar an die vergangenen 70 Jahre ohne Krieg, die ich und wir alle in Frieden und Freiheit leben konnten.

7

Schwanger.Wie wird es deiner Mutter in der Zeit ihrer Schwangerschaft mit dir ergangen sein? Du weißt aus ihren Erzählungen, dass sie sich, als nachts die Wehen einsetzten, mit deiner Großmutter zu Fuß auf den Weg ins Krankenhaus machte, Verkehrsmittel gab es mitten in der Nacht nicht. Der Winter 1945/46 muss sehr kalt gewesen sein, in dieser Nacht war es minus 15 Grad.

Der Weg zum Krankenhaus betrug drei oder vier Kilometer. Wegen der Wehen kamen die beiden Frauen nur unter großer Anstrengung vorwärts. Auf halber Strecke hielt ein Polizeiwagen an und brachte sie schnellstmöglich in die Entbindungsstation.

8

Kriegsbilanz.Als deine Mutter im April 1945 erfuhr, dass sie schwanger war, lag der Krieg in den letzten Zügen. Seine Bilanz war grauenvoll. Über 50 Millionen Menschen waren seit 1939 ums Leben gekommen. Mehr als die Hälfte davon Soldaten: von 110 Millionen Soldaten sind 27 Millionen bei den weltweiten Kämpfen gefallen. 19 Millionen Zivilisten starben und sechs Millionen Menschen, vorwiegend Juden, fielen dem nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer.

Fast ganz Europa lag 1945 in Trümmern, am schlimmsten Osteuropa, Teile Ostasiens waren verwüstet.

Millionen flohen vor den Russen von Ost nach West. Am 25. April vereinigten sich die Alliierten mit der russischen Armee. Den Soldaten bot sich ein Bild des Grauens, als sie auf die Konzentrationslager trafen.

Am 30. April beging Adolf H. in Berlin Selbstmord und entzog sich seiner Verantwortung.

Bereits im Februar hatten sich die Siegermächte USA, Großbritannien und Sowjetunion in Jalta auf der Krim getroffen und Absprachen für die Nachkriegszeit getroffen. Im Juli gab es die Konferenz in Potsdam mit dem Ergebnis, Deutschland zu demilitarisieren, seine Bevölkerung zu entnazifizieren, die Wirtschaft zu entflechten und die Deutschen in die Demokratie zu führen.

Deutschland wird in vier Besatzungszonen aufgeteilt und unter die Aufsicht der Besatzungsmächte gestellt. In den Städten werden die Reste der zerstörten Häuser weggeräumt. Das öffentliche Leben beginnt langsam wieder.

Die Hauptlast der „Aufräumarbeiten“ tragen die Frauen, da die Männer entweder gefallen oder in Kriegsgefangenschaft sind.

9

Der Großvater.Das Grab deines Großvaters befindet sich in der Nähe von Aachen. Als Kind hast du es mit Mutter und Großmutter mehrfach besucht.

Du kennst deinen Großvater nur von den wenigen Fotos, die es von ihm gibt, eines hängt an der Wand neben deinem Bett.

Er scheint von zarter Statur gewesen zu sein, das Gesicht wirkt schmal. Bei näherer Betrachtung meinst Du Jo, das älteste deiner sechs Enkelkinder, in ihm wiederzuerkennen. Auf dem Foto hat er einen zugewandten, offenen, aber sehr ernsten Blick. Damals schaute man meist ernst in die Kamera. Das unvermeidliche Lächeln in die Kamera kam erst später.

Sein Grab hast Du seit mindestens dreißig Jahren nicht mehr besucht. Vielleicht würdest Du es nicht wieder finden.

10

Onkel Walter.Im Rückblick taucht die Straße, in der du vor deiner Schulzeit wohntest, vor deinem geistigen Auge auf: das große Schieferhaus, die Wohnung im oberen Stockwerk, die Gestalt von Oma Elly und das Gesicht von Onkel Walter.

Diese beiden Menschen waren so etwas wie deine Ersatzeltern, da deine Mutter berufstätig war und sich nur am Wochenende ausgiebig um dich kümmern konnte.

Sie haben ihr Bestes gegeben und es so gut gemacht, wie man es sich als Kind nur wünschen kann. Sie waren voller Verständnis und Liebe.

Deine Großmutter war eine gutmütige Frau, die dich umsorgte und immer für dich da war.

Onkel Walter, so nanntest du ihn, hatte dich in sein Herz geschlossen. Er war wohl in den ersten Jahren die väterliche Ersatzfigur. Er hatte Humor, der Schalk saß ihm im Nacken. Er war auch in der Nachbarschaft sehr beliebt, nahm dich häufig mit auf seine Ausflüge und ließ dich teilhaben an seinem Leben.

Ein uneheliches Kind war damals ein ziemlicher Makel. Heute spricht niemand mehr darüber, außer vielleicht in orthodoxen Kreisen. Du vermutest, dass die strenge Verurteilung unehelicher Kinder und unverheirateter Mütter den moralischen Regeln von Kirche und Religion entspringt. Bist du vielleicht deshalb in Sachen Religion auch heute noch vollkommen unmusikalisch und distanziert gegenüber der Kirche?

11

Mutter heiratet.Sie war fünfundzwanzig, als sie heiratete, hatte eine kaufmännische Anstellung und war damit beschäftigt, den Lebensunterhalt für sich, ihre Mutter und dich zu verdienen. Sicherlich bedrängte Oma Elly sie, sich einen Mann und dir einen Vater zu beschaffen. Andererseits kannst du dir aber auch vorstellen, dass deine Mutter endlich ihr eigenes Leben führen, eine Familie gründen und der Oberaufsicht ihrer Mutter entkommen wollte.

Sie lernte einen Mann kennen, der auf der Suche nach einer Frau für sich und einer Mutter für seinen Sohn war. Franz war nach Kriegsende und kurzer Gefangenschaft bei den Engländern wieder in seinem Beruf als Maler und Anstreicher tätig geworden und arbeitete zu der Zeit in dem Haus, in dem deine Mutter und deine Großmutter ein Zimmer gefunden hatten.

Wegen seines oft schroffen Verhaltens fragtest du dich lange Zeit, welche Rolle Franz wohl im Krieg gespielt haben mag, ob und wie er in die Gräueltaten des Naziregimes verstrickt gewesen war.

Später erfuhrst du von deiner Mutter, dass er als Soldat Fernmelder an der Front in Russland war und wegen einer Beinverletzung das Glück hatte, in den letzten Kriegswochen in ein Lazarett in seiner Heimat verlegt zu werden.

Er hätte die Nazis gehasst, hat sie dir erzählt, wäre auch einmal, als er die Fahne nicht gegrüßt hatte, von SA-Leuten dermaßen verprügelt worden, dass er anschließend sechs Wochen im Krankenhaus lag.

Und du erinnerst dich an die Erzählung deiner Mutter, dass er wegen einer Kopfverletzung, er war von einem Splitter am Hinterkopf getroffen worden, einige Zeit im Lazarett verbracht hatte. Sie meinte, dass seine oft schlechte Laune und sein unwirsches Verhalten auch mit dieser Verletzung zu tun gehabt haben könnte. Er hätte mehrere Male im Jahr cholerische Anfälle bekommen, hätte dann geschrien und getobt und über starke Kopfschmerzen geklagt.

Die Hochzeit der beiden fand im Oktober 1948 statt. Mit Franz und seinem damals fast sechsjährigen Sohn Peter, dessen Mutter zwei Jahre zuvor an Diphtherie verstorben war, lebte deine Mutter von da an in einer Nachbarstadt zusammen.

Sie erzählte: „Im gleichen Haus wohnte auch die Mutter von Franz in einer Zweizimmerwohnung, Peter war vorwiegend bei seiner Großmutter, der Mutter seines Vaters. Franz und ich lebten in einem Zimmer eine Etage tiefer.

Peter war eine große Herausforderung, er war schwierig. Er hatte oft Streit mit den Nachbarskindern, deren Eltern sich dann bei mir beschwerten. Ich habe ihn manchmal verprügelt, auch, weil er oft gelogen hat und manchmal Dinge, die anderen Kindern gehörten, einfach mitnahm.“

12

Atheist, Humanist, Freidenker – was bin ich eigentlich?Erst kürzlich sah ich bei der Durchsicht alter Unterlagen, dass ich gleich nach meiner Geburt katholisch getauft wurde. Ich fragte meine Mutter, wie es dazu gekommen sei, da sie nicht katholisch war. Sie berichtete: „Ich ging zur Entbindung in das katholische Krankenhaus und dachte, es wäre praktisch, wenn ich dich gleich taufen lasse, da es dort eine kleine Kirche und einen Priester gab.“

Mutter denkt immer praktisch und so wurde ich erst einmal katholisch.

Vor meiner Einschulung veranlasste Mutter meinen Austritt aus der katholischen und den Eintritt in die evangelische Kirche. Mit vierzehn wurde ich, wie üblich, konfirmiert.

Mit 25 bin ich aus der Kirche ausgetreten. Ich fand damals schon die Bibel eine Ansammlung von Mythen und Geschichten, die von Menschen über Jahrhunderte erzählt, aufgeschrieben und wieder abgeschrieben worden waren. Weder hatte ich einen Bezug zur Kirche noch zur Religion und musste als Familienvater mit zwei kleinen Kindern in den ersten Berufsjahren jeden Pfennig umdrehen, auch die durch Staatsvertrag einbehaltene Kirchensteuer.

Wozu bedarf der Mensch eines Gottes? Vermutlich ist es Angst, die ihn umtreibt, hauptsächlich die Angst vor dem Tod. Deshalb auch die Geschichten vom einem Leben nach dem Tod, von der Himmelstür, wo man begrüßt wird, und vom himmlischen Paradies, in dem man weiterleben soll, es sei denn, man landet in der Hölle.

Freud schreibt in „Zukunft einer Illusion“: „Die Wahrheiten, welche die religiösen Lehren enthalten, sind doch so entstellt und systematisch verkleidet, daß die Masse der Menschen sie nicht als Wahrheit erkennen kann. Es ist ein ähnlicher Fall, wie wenn wir dem Kind erzählen, daß der Storch die Neugeborenen bringt.“ Freud war der Auffassung, dass jede Religion auf eine Zwangsneurose zurückgeht.

Glaube und Religion haben oft über die Jahrhunderte Leid, Hass und Tod über die Menschen gebracht, obwohl Frieden, Toleranz, Nächstenliebe und Eintracht eigentlich ihr Anliegen sein sollte.

Juden meinen, ein auserwähltes Volk zu sein. Christen verurteilen Juden, weil sie Christus angeblich umgebracht haben, sie veranstalteten Religionskriege und Kreuzzüge, Inquisition und Bartholomäusnacht, Index und Hinrichtungen auf dem Scheiterhaufen.

Der Koran fordert im Namen seines barmherzigen Gottes auf, die Ungläubigen (dazu gehörigen für den gläubigen Muslim auch Christen und Juden) zu töten sowie deren Religion und Kultur zu zerstören und radikale Muslime führen das aus, was im Koran steht.

Im Namen von Religionen wurde und wird gemordet. Wie viele Konflikte und Kriege wurden in der Vergangenheit und werden heute aus religiösen Gründen geführt? Religion ist offensichtlich eine Geschichte der Intoleranz Andersgläubigen gegenüber, eine Geschichte von Krieg und Gewalt. Heute sind es nicht mehr die Kreuzzüge, heute ist es der islamische religiöse Fundamentalismus, der militante Islamismus mit seinem Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen, also den Rest der Welt, der uns in Atem hält und viele Menschenleben kostet.

Kann man auch ohne Kirche, Religion und den Glauben an eine göttliche Schöpfung ein moralisch gutes oder besser gesagt ein tugendhaftes Leben führen, so, wie es Platon und Aristoteles verstanden haben?

Oder anders gefragt: Kann ich mir ein eigenes Urteil bilden, indem ich auf meine moralischen Empfindungen vertraue und mir überlege, wie ich mit dem Anderen umgehe? Ja, durchaus. Auch der Atheist hat ein ethisches Fundament, obwohl er nicht an eine göttliche Autorität glaubt, er sieht Gott als eine von Menschen geschaffene Fiktion.

Ich selber finde meine moralischen Werte in der Philosophie, in der Aufklärung mit ihrem Vertrauen auf die menschliche Vernunft und ihrer Hinwendung zu den Naturwissenschaften sowie im Humanismus mit seinen Werten von Selbstbestimmung, Toleranz und Verantwortung begründet.

Lange, bevor sich die im Westen verbreiteten Religionen etablierten, gab es sehr konkrete Vorstellungen zu Moral und Werten, beispielsweise bei Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik. Für ihn war Tugendhaftigkeit die Position zwischen zwei entgegen gesetzten Lastern, zwischen dem Übermaß und dem Mangel. Zum Beispiel die Großzügigkeit als Mittleres zwischen Verschwendung und Geiz oder die Tapferkeit zwischen Tollkühnheit und Feigheit.

Immanuel Kant brachte 1793 zu Papier: „Es gibt nur eine Religion, vorgegeben durch die Moral, gelehrt durch die Vernunft, ist sie für alle dieselbe.“ Kant entwickelte eine Pflichtethik, nach der es der gute Wille und das in jedem innewohnende moralische Gesetz sind, die eine moralische Handlung gut heißen. Ein tugendhaftes Leben führen heißt nach Kant, vernunftbestimmt zu handeln. Er findet Tugenden zwar nützlich, sie brauchen aber verpflichtend den Kategorischen Imperativ als Maßstab: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Lange habe ich mich gefragt, ob ich Atheist oder vielleicht Pantheist im Sinne Spinozas bin. Die Bibeltexte habe ich immer schon als große Märchen verstanden, so sah es wohl auch Spinoza. Mir fehlt der religiöse Glaube, der im Wesentlichen auf der Bibel und deren Verkündung beruht. Jeder der Propheten hat seine Sicht der Dinge in Geschichten und Metaphern dargestellt. Die Bibeltexte als Worte eines Gottes zu verstehen und diesen anzubeten, ist mir nicht möglich.

Trotzdem glaube auch ich, am meisten an das Gute und Konstruktive im Menschen, obwohl mir die täglichen Nachrichten häufig ein anderes Bild vermitteln.

13

Die Wohnung.Das Verhältnis zwischen Oma Elly und Onkel Walter, der dein Nenn-Onkel war, ist erklärungsbedürftig.

Der Krieg war im Mai 45 durch die Kapitulation der Nazis beendet worden. Deine Mutter und Oma Elly konnten nach ihrer Rückkehr aus Norddeutschland nicht mehr in ihre Wohnung zurück, da diese von einer anderen Familie belegt worden war. Es war damals üblich, dass ausgebombte Familien in leerstehende Wohnungen zogen und dort bleiben konnten, selbst wenn die ursprünglichen Mieter wieder auftauchten. Wenn der frühere Mieter Glück hatte, erhielt er seine Möbel oder Teile davon zurück, musste sich aber um eine neue Bleibe kümmern.

Ihr wart zunächst in einem Zimmer bei Bekannten in Lüttringhausen, einem kleinen Ort im Bergischen Land, mit heute circa 17.000 Einwohnern, untergekommen. Das war aber keine zufrieden stellende Lösung und so gingt ihr im gleichen Ort auf Wohnungssuche.

Einem alleinstehenden älteren Herrn, jenem späteren Onkel Walter, der mit seiner inzwischen verstorbenen Schwester zusammen gelebt hatte, war die Dreizimmerwohnung im zweiten Stockwerk eines Mietshauses zu groß geworden und ihr zogt ein.

Vielleicht wurde er von der Stadtverwaltung aufgefordert, Ausgebombte aufzunehmen. Vielleicht wünschte er sich Menschen in seiner Nähe. Vielleicht waren es praktische Erwägungen, weil er jemanden zum Kochen und für die sonstigen alltäglichen Erfordernisse gut gebrauchen konnte.

Er war gehbehindert. Eine Holzprothese ersetzte sein rechtes Bein. Mit Hilfe seines Gehstockes konnte er sich jedoch recht schnell fortbewegen. Uns Kindern drohte er manchmal scherzhaft mit seinem Stock.

Nach eurem Einzug bewohnte Onkel Walter eines der Zimmer, Oma Elly, deine Mutter und du erhielten das zweite, das dritte diente als Küche und Wohnzimmer für alle; eine Not- und Wohngemeinschaft hatte sich gebildet.

Deine Familie mütterlicherseits kam aus klein-bürgerlichen und somit bescheidenen Verhältnissen, man schränkte sich ein, war knapp bei Kasse, aber redlich.

In dieser Wohnung hast du die ersten fünf Jahre deines Lebens verbracht. Nachdem du später dann zu deiner Mutter, deinem Stiefvater und seinem Sohn Peter gezogen warst, bist du meist am Wochenende zu Oma Elly und Onkel Walter gefahren.

Mit zehn Jahren wurdest du Mitglied in dem Fußballverein BV 08 Lüttringhausen, einmal in der Woche wurde trainiert und samstags waren Meisterschaftsspiele. Auch an diesen Tagen hieltest du dich bei deiner Oma und Onkel Walter auf. Deine Woche war geteilt. Mal warst du bei deiner Oma und Onkel Walter, wo die Stimmung gut war, und mal bei deiner Mutter, wo meist dicke Luft herrschte.

14

Zurück zum Anfang.Deine Mutter hatte im September 1944 in Norddeutschland einen Soldaten auf Heimaturlaub kennen gelernt. Sie hatte in seinem Elternhaus ein Zimmer gemietet.

Kurz zuvor war ihre Mutter zu ihr gekommen weil die Bombenangriffe auf Remscheid enorm zugenommen hatten.

Eines Tages nun erschien jener Sanitäts-Oberfeldwebel, er wäre von großer Gestalt und gut aussehend gewesen, hieß es. Er war deiner Mutter bereits von seiner Schwester als etwas Besonderes avisiert worden. „Aber für Dich kommt er nicht in Betracht! Er ist ein paar Jahre älter als Du und interessiert sich nicht für junges Gemüse!“, hatte sie gesagt.

Sie war damals einundzwanzig und diese Aussage hat wohl ihren Ehrgeiz befördert. Hinzu kam, dass ihre Mutter den Herrn von Anfang an sehr angenehm und charmant fand. Sie schwärmte ihrer Tochter von seinen guten Umgangsformen, seiner Intelligenz und seinen glänzenden Zukunftsaussichten vor.

In den nächsten Wochen gab es weitere Treffen zwischen den beiden, man sah sich täglich, kam sich nahe und näher, verlobte sich und nach einiger Zeit war klar und bald auch unübersehbar, dass sich eine Schwangerschaft eingestellt hatte.

Der Soldat kehrte wieder zu seiner Einheit zurück, wurde einige Wochen später am Bein verwundet und kam in ein Lazarett in Schleswig-Holstein.

Deine Mutter besuchte ihn dort und er erzählte ihr, dass er medizinisch gut versorgt würde und auch die Schwestern sehr bemüht und nett seien. Mit einer der Schwestern spiele er abends gelegentlich bei einem Gläschen Wein Schach, langweilig wäre ihm nie.

15

Die Krankenschwester.Warum heiratete der Oberfeldwebel die schachspielende Krankenschwester und nicht deine schwangere Mutter, mit der er verlobt war? Die Antwort: auch die Krankenschwester war in froher Erwartung.

Sie hatte aus diesem Grund eines Tages deine Mutter angeschrieben und nach der Feldpostnummer des Soldaten gefragt, der inzwischen wieder an der Front war. Durch den Brief erfuhr deine Mutter, dass sich ihr Verlobter offenbar noch für jemand anderes interessierte.

Sie bat um Aufklärung und erfuhr, dass es nicht beim Schachspielen geblieben war.

Ihre Enttäuschung muss riesig gewesen sein; sie schrieb ihm, er solle sich nie mehr blicken lassen und brach jeden weiteren Kontakt ab.

Das Kind sollte nur ihr allein gehören, erzählte sie später. Dein Erzeuger erfuhr nie, dass deine Mutter schwanger war und er einen Sohn gezeugt hatte.

Auf all deine Fragen nach den damaligen Ereignissen, nach seinem Namen und seinem Wohnort, antwortete dir deine Mutter bis zu deinem achtzehnten Lebensjahr ausweichend.

Heute kommt es dir merkwürdig und unverständlich vor, dass du nicht mit mehr Energie der Frage nach deinem leiblichen Vater nachgegangen bist. Wolltest du deine Mutter nicht bedrängen? War ihr Schweigen so mächtig? Hattest du Angst vor einer Begegnung mit ihm?

Weder noch. Vermutlich war es dir nicht so wichtig. Aber es gab Momente, da hattest du das Gefühl, dass dir etwas fehlt, es war wie ein weißer Fleck, eine Terra Incognita.

Dem Drängen deiner Töchter folgend hast du vor einigen Jahren Nachforschungen angestellt. Es hat lange gedauert, bis du zum Hörer griffst, nachdem du die Telefonnummer ermittelt hattest. Eine Dame, offenbar seine Ehefrau, meldete sich. Du erfuhrst, dass ihr Mann schon einige Jahre zuvor verstorben war.

Vermutlich war sie jene Krankenschwester, die er im Lazarett kennen gelernt und geheiratet hatte. Kinder der beiden wären deine Stiefbrüder oder Stiefschwestern gewesen, ging dir durch den Sinn.

Es war ein kurzes Telefonat. Du hattest nicht den Mut, weiter zu fragen und du wolltest keinen Staub mehr aufwirbeln.

Deine Fragen bleiben offen: Wer war dieser Mensch, für was interessierte er sich? Wie ist sein Leben verlaufen? Hat es vielleicht Ähnlichkeiten mit dir gegeben?

16

Verhalten in Kriegszeiten.Im Krieg und in Ausnahmesituationen gelten offensichtlich andere Regeln als in Friedenszeiten.

Ich habe selbst nie einen Krieg am eigenen Leib erfahren; es ist nicht leicht, sich in die Situation der Eltern, Groß- und Urgroßeltern, die einen oder sogar zwei Kriege erlebten, hineinzuversetzen.

Krieg ist kein normaler Zustand. Die Menschen haben Angst, getötet oder verletzt zu werden, ihre Angehörigen zu verlieren und auch Angst um ihr Hab und Gut. Nervosität und Überforderung machen sich breit.

Von ehemaligen Soldaten ist bekannt, dass die Einstellung „Mir ist alles scheißegal“ oder „Mach dir noch ein paar schöne Stunden, bevor es zu Ende geht“ weit verbreitet ist, insbesondere dann, wenn ein Krieg nicht mehr zu gewinnen ist.

Der emeritierte Stanford-Professor Philip Zimbardo hat sich jahrzehntelang mit der Frage beschäftigt, warum Menschen in Krisen- und Ausnahmesituationen unmoralisch handeln und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass Ängste, die Abwesenheit von Regeln und Kontrollen, Verwahrlosung, Dreck und Anarchie die Ursachen sind. Seine These: „Das Handeln eines Menschen ist nicht von seinen moralischen Prinzipien abhängig, sondern von der Situation, in der er sich befindet.“

Meinem Erzeuger kann ich wegen seines Verhaltens keinen Vorwurf machen. Er hatte nicht gewusst, dass meine Mutter schwanger war und ich geboren wurde. Vorhalten könnte ich ihm, dass er, obwohl mit meiner Mutter verlobt, ein Verhältnis mit einer anderen Frau begonnen hatte, das nicht ohne Folgen blieb.

Ich kann ihn nicht mehr fragen, wie er heute dazu stehen würde.

17

Kinderjahre.An die ersten Jahre, als du bei Oma Elly und bei Onkel Walter lebtest, kannst du dich nur bruchstückhaft erinnern. Die Wohnung allerdings hast du ziemlich genau vor Augen.

In der Wohnküche stand der große Küchenherd in einer Ecke. Er wurde mit Kohle, Briketts und Holz geheizt; deine Oma kochte darauf und in den kalten Monaten beheizte der Ofen diesen Raum und das angrenzende Schlafzimmer.

Im Zimmer von Onkel Walter, in dem auch sein Bett stand, befand sich ein eigener Ofen mit einem langen Abluftrohr, durch das der Raum zusätzlich geheizt wurde; das Heizmaterial war im Keller gelagert. Außerdem gab es in seinem Raum eine Empore mit Holzgeländer, zu der drei Stufen führten. Auf der Empore befand sich das Fenster mit Sicht auf die Straße und in Richtung Rathaus.

Die Wohnküche hatte eine Dachschräge mit Fenster und neben einem Waschbecken ein weiteres Fenster, aus dem man auf die hinter dem Haus liegenden Gärten und auf einen großen Platz mit einem Teich, dem Löschteich der Feuerwehr, sehen konnte. In das Waschbecken wurdest du gestellt und gewaschen, als du noch kleiner warst. Auf dem großen Platz fand zweimal im Jahr Kirmes, die Berliner sagen Rummel, statt.

Die Wohnung lag im zweiten Stockwerk eines mit Schiefer verkleideten Hauses, das vier Eingänge hatte. Zwei nach vorne zur Straße und einer an jeder Seite des Hauses, in dem insgesamt zehn Familien wohnten. Zu jeder zweiten Wohnung gehörte ein Garten, deine Oma beackerte einen davon.

Sie hielt einen Hühnerstall und pflanzte Kartoffeln, Salat und Gemüse an. Es gab Erdbeeren und Johannisbeeren, auch eine Himbeerhecke, die Himbeeren waren leider immer voller Würmer.

Der Garten war von einer großen Hecke umgeben, im hinteren Teil befand sich eine Gartenbank mit einem Tisch und zwei Stühlen. Davor stand ein kleiner Kirschbaum, der im Spätsommer Sauerkirschen trug. In dieser Gartenecke habt ihr manchen Frühlings- und Sommertag verbracht.

Morgens gingst du mit der Oma in den Hühnerstall um die Eier zu holen. Als du dann älter warst, durftest du die Hühner füttern und die Eier aus den Nestern holen.

In dieser Kleinstadt, die sie heute immer noch ist, machtest du deine ersten Welterfahrungen. Machtest deine ersten Schritte, lerntest andere Kinder, Gegenstände und die Umgebung kennen.

Es gab einige Jungen und Mädchen in der Nachbarschaft, die in deinem Alter waren; mit Peter spieltest du am liebsten, er war dein erster Kamerad und Freund, ihr wart damals vier, fünf Jahre alt und gingt gemeinsam in den Kindergarten.

Die meisten eurer Spiele fanden auf der Straße statt, die direkt am Haus vorbeiging und am Ende in einer Linkskurve zum Rathaus führte. Zwei Häuser neben eurem Haus befand sich die Feuerwehr mit ihren Feuerwehrwagen hinter großen Eisentoren.