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Beschreibung

Aktuelle Aspekte der Literaturlehr- und -lernforschung werden in diesem Band aufgegriffen und neu fokussiert. An der Schnittstelle zwischen Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft und Deutschdidaktik werden institutionelle, mediale und performative Räume der Literatur untersucht und auf ihr verführerisches Potenzial befragt. Welche diskursive Funktion haben Bibliotheken, Ausstellungen und eine institutionalisierte Literaturkritik? Welche spezifischen Rezeptionsweisen werden durch E-Books, Blogliteratur oder Literaturverfilmungen evoziert? Wie wird Literatur im Theater, bei Poetry-Slams oder bei Lesungen inszeniert? Die Beiträge diskutieren unterschiedliche Formate und Kontexte der Literaturvermittlung vor einem methodisch breiten Spektrum theoretischer Grundlagen und empirischer Befunde.

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Meri Disoski/Ursula Klingenböck/Stefan Krammer (Hrsg.)

(Ver)Führungen

Räume der Literaturvermittlung

ide-extraEine deutschdidaktische Publikationsreihe

Herausgegeben vonMargit Böck, Stefan Krammer, Annemarie Saxalber-Tetter, Anja Wildemann und Werner Wintersteiner

Band 19

Meri Disoski/Ursula Klingenböck/Stefan Krammer (Hrsg.)

(Ver)Führungen

Räume der Literaturvermittlung

Inhalt

MERI DISOSKI, URSULA KLINGENBÖCK, STEFAN KRAMMER:Literaturvermittlung und/als (Ver)Führung. Eine Einleitung

1. Institutionelle Räume

ULRIKE TANZER: Bibliotheken als Orte der Literaturvermittlung

JULIA DANIELCZYK: Literatur im Schaufenster.Über die (Un)Möglichkeit, Literatur auszustellen

DANIELA STRIGL: Der Kritiker:Gatekeeper, Platzanweiser, Zirkulationsagent, Raumpfleger oder Verkehrspolizist?Über die Literatur als herrschaftsfreie Zone

DORIS MOSER: Mediale Inszenierung von Literatur(vermittlung) am Beispiel des Bachmann-Preises und des Deutschen Buchpreises

2. Mediale Räume

GÜNTHER STOCKER: Flatscreen. Zur Räumlichkeit digitaler Lesemedien

CHRISTIANE ZINTZEN: Blogliteratur: Medium oder Message?Am Beispiel der Plattform litblogs.net – Literarische Weblogs in deutscher Sprache

MATTHIS KEPSER: Der doppelte Film im Kopf.Rezeption von Literaturverfilmungen: Perspektiven für ihre empirische Erforschung und die unterrichtliche Praxis am Beispiel von Krabat und Der Vorleser

3. Performative Räume

STEFAN KRAMMER: Theater konkretisieren.(Post)Dramatische Leseakte im Deutschunterricht

SUSANNE HOCHREITER: Was der Körper weiß.Über das Improvisieren als »Verführung« zur Literatur

EVA BRENNER, PIA JANKE: Vermittlung im Theater – Verführung zum Theater

WIEBKE DANNECKER: Poesie im Scheinwerferlicht.Poetry Slams als verführerische Formate der Literaturvermittlung

MERI DISOSKI, MICHAEL STAVARIČ: Schreiben – Lesen – Übersetzen.AutorInnen als LiteraturvermittlerInnen

Autorinnen und Autoren

Meri Disoski, Ursula Klingenböck, Stefan Krammer

Literaturvermittlung und/als (Ver)Führung

Eine Einleitung

Literaturvermittlung gehört zu den zentralen Fragen im bildungstheoretischen, (fach)wissenschaftlichen und schulpolitischen Diskurs. Das aktuelle Interesse an Literaturvermittlung dürfte einerseits Impulse durch empirische Untersuchungen zur Qualitätsmessung erhalten haben; andererseits scheint der theoretische Paradigmenwechsel der Didaktik hin zur Kompetenzorientierung des Unterrichts ein wesentlicher Faktor in der Diskussion um Literatur und/im Unterricht zu sein. Das schlechte Abschneiden der österreichischen SchülerInnen bei den PISA-Studien (Schwantner/Schreiner 2010) hat nicht nur eine zum Teil sehr emotional geführte Debatte über die Leistungsfähigkeit von Schulsystemen evoziert, sondern auch eine kritische Überprüfung des Erhebungsinstrumentariums (Stichwort: Testing the Test) sowie eine Interpretation der erhobenen Daten nach wissenschaftlichen Kriterien gefordert (u.a. Allerup 2007). Insbesondere für den Teilbereich »Lesen« hat das Sample der Aufgaben zu einer Reflexion des Begriffs »Lesekompetenz« (getestet wurde vor allem Sinn erfassendes Lesen und damit ein Aspekt von Lesekompetenz) und in weiterer Folge zu einer Relationierung von Lesekompetenz und literarischer Kompetenz geführt (Kammler 2006, Kämper-van den Boogaart/Ulrich 2010). In kompetenzorientierten Konzepten, wie sie derzeit von DidaktikerInnen und LehrerInnen kontrovers diskutiert werden (u.a. Abraham u.a. 2007), stehen »messbare« literarische Kompetenzen, Teilkompetenzen und Niveaustufen augenscheinlich einem »traditionellen« und zugegebenermaßen unscharfen Konzept von literarischer Bildung gegenüber, das zumindest partiell als nicht normier- und validierbar vorgestellt wird (Bertschi-Kaufmann/Rosebrock 2009). Obwohl, oder vielmehr: gerade weil Testarrangements wie PISA und kompetenzorientierte didaktische Entwürfe, die ihren Reflex auch in gesetzlichen Vorgaben wie Lehrplänen und Bildungsstandards finden, nicht auf Literatur und ihre spezifische (z.B. ästhetische) Qualität fokussieren, stellt sich vor ihrem Hintergrund die Frage nach Raum und Stellenwert der Literatur im Deutschunterricht und ihrer Vermittlung neu. Es scheint sogar, als würden laufende Debatten – oft auch ungewollt – eine Bresche für die Literatur in der Schule schlagen.

Die Einrichtungen insbesondere des sekundären Bildungssektors sind »klassische« Räume der Literaturvermittlung. Literatur und ihre Vermittlung werden in Bezug auf schulisches Lehren und Lernen vielfältig und differenziert in zahlreichen deutschdidaktischen Publikationen diskutiert. Im Rahmen einer umfassenden Literaturdidaktik muss aber vermehrt auch nach anderen Räumen der Literatur(vermittlung) und möglichen produktiven Verschränkungen von schulischen und außerschulischen Räumen der Literatur und ihrer Vermittlung gefragt werden. Anregungen dazu liefern aktuelle Publikationen, die vor allem auf den nicht schulischen Bereich des Literaturbetriebs fokussieren. So setzt sich etwa Plachta (2008) mit der medialen Verbreitung von Literatur auseinander und bespricht Prozeduren der Literaturkritik sowie der öffentlichen Erinnerungsarbeit, die durch Literaturhäuser, -archive und -museen geleistet wird; ebenso wird die kulturpolitische Funktion von Literaturpreisen und AutorInnenförderungen erläutert. Bei Neuhaus (2009) sind es der Buchhandel und das Verlagswesen, die Literaturkritik und Bildungsinstitutionen wie Bibliotheken, Literaturarchive und -häuser, denen eine zentrale Rolle in der Literaturvermittlung zukommt. In den Blick werden dabei jene AkteurInnen und Instanzen genommen, die sich professionell mit Literatur auseinandersetzen, indem sie Bücher herstellen, vermarkten und verkaufen oder über Inhalt und mögliche Lesarten informieren. Gefragt wird nach den Implikationen des Vermittelns, den technischen Voraussetzungen und Präsentationsmöglichkeiten von Literatur, wobei auch die ökonomischen Bedingungen angesprochen werden, unter denen Literatur als »Ware« an die LeserInnen gebracht werden kann. Ähnliche Betrachtungsweisen werden auch im Sammelband »Perspektiven der Literaturvermittlung« (Neuhaus/Ruf 2011) vorgenommen. Die Fülle an Beiträgen und die jeweils spezifischen Zugänge machen unterschiedliche Dimensionen von Literatur sichtbar, komplexe Systeme und Diskurse des literarischen Feldes werden deutlich. Nicht nur in diachroner, sondern auch in synchroner Perspektive wird nach der Partizipation der literaturvermittelnden Instanzen am literarischen und kulturellen Betrieb gefragt. Mit dem Fokus auf digitale Literaturvermittlung werden im Sammelband von Giacomuzzi u.a. (2010) weniger institutionelle Aspekte der Literatur als medienspezifische Aspekte zum Thema gemacht. Erläutert werden darin theoretische wie praktische Fragen der Archivierung von Netzliteratur wie auch unterschiedliche Formen der Literaturproduktion im Internet.

Eine historische Dimension der Literaturvermittlung beleuchten der Tagungsband »Literaturvermittlung im 19. und frühen 20. Jahrhundert« (Korte/Rauch 2005): Die Beiträge beleuchten die Komplexität der kulturellen Konstellationen, in denen schulische und universitäre Bildungsanstalten ihre Praxis der Vermittlung von Literatur organisieren. Der Fokus liegt auf den Bedingungen schulischer Literaturvermittlung, wie sie durch andere gesellschaftliche Institutionen geschaffen werden. Dabei werden auch Prozesse der Kanon- und Traditionsbildung erläutert. Als eine literaturwissenschaftlich fundierte Literaturdidaktik, wie sie in diesem Band verfolgt wird, ist auch die Publikation »Lesarten« (Delanoy u.a. 1996) zu verstehen, in der verschiedene Vorstellungen von Literatur und deren Vermittlung im Literaturunterricht entworfen werden. In einem interdisziplinären Entwurf werden unterschiedliche Perspektiven auf Vermittlungsfragen aufgerufen und vergleichend diskutiert. Auf den Ebenen des Verstehens, des Inszenierens, der Übersetzung und des Erinnerns wird Literatur auch in Hinblick auf andere mediale Formate beleuchtet, wenn etwa Hörtexte und Filme analysiert werden. Inszenierung als zentraler Begriff der Literaturvermittlung wird als didaktisches Arrangement verstanden, damit Literatur von Lernenden überhaupt wahrgenommen wird (ebd., S. 8). Die spatiale Dimension der Literaturvermittlung wird u.a. im ide-Heft »Lernräume« (Erlacher-Zeitlinger/Fenkart 2010) thematisiert. Nicht nur die Schulbibliothek wird zum Lernort, es werden ebenso virtuelle Räume aufgetan und Hörräume geschaffen. Durch unterschiedliche mediale Formate werden zentrale Kompetenzen angesprochen, die im Deutschunterricht erworben werden sollen. Für eine Öffnung der Literaturdidaktik auf kulturwissenschaftliche und lebenswissenschaftliche Zusammenhänge plädieren auch Dannecker und Thielking (2012) mit ihrem Konzept der »Öffentlichen Didaktik«. Räumliche Zugänge der Literaturvermittlung werden in Zusammenhang mit Konzepten von Local Knowledge, der Area Studies und Varianten von »Lernen vor Ort« diskutiert.

Der vorliegende Band greift aktuelle Aspekte der Literaturlehr- und -lernforschung (Hochreiter/Klingenböck u.a. 2009) auf und fokussiert sie neu, indem er sie explizit auf Räume der Literatur und deren Vermittlung bezieht. AutorInnen aus unterschiedlichen Disziplinen haben Räume der Literatur(vermittlung) aufgespürt, auf ihre spezifische Qualität hin untersucht und für unterschiedliche Learning Communities didaktisch erschlossen. Neben den »klassischen« Einrichtungen des sekundären und tertiären Bildungssektors wie Schulen, Hochschulen und Universitäten werden öffentliche Einrichtungen wie etwa Bibliotheken, Literaturhäuser, Theater und eine institutionalisierte Literaturkritik nach ihren spezifischen Formen der Literaturvermittlung befragt. Zum anderen wird – ausgehend von einem weit gefassten Literaturbegriff – das Augenmerk auf die Medialität bzw. die Pluri- und Intermedialität von Literatur gelenkt. Neben unterschiedlichen medialen Formaten von Literatur (u.a. Film, Theater, digitale Formen von Literatur) und ihren charakteristischen Rezeptionsweisen sollen auch Transformationsprozesse und ihre Auswirkungen auf Vermittlungsfragen untersucht werden. Der Vielfalt der Gegenstände entspricht die Verschiedenartigkeit der Darstellung: Die Beiträge basieren auf einem breiten Spektrum theoretischer Grundlagen wie empirischer Befunde und bedienen sich unterschiedlicher wissenschaftlicher und diskursiver Formate. An der Schnittstelle zwischen Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft und Deutschdidaktik adressieren sie FachwissenschaftlerInnen verschiedenster Disziplinen (wie etwa Literaturwissenschaft, Didaktik, Medienwissenschaft, Bildungswissenschaft, Soziologie) sowie Lehrende und Lernende in unterschiedlichen Lehr- und Lernkontexten.

Das Konzept des Bandes versteht Literatur sowohl als Gegenstand und Ziel, als auch als Mittel der (Ver)Führung zu etwas. Beiden Zugängen liegt die Prämisse einer literarischen Attraktion zugrunde, die (Ver)Führung im Sinne einer räumlichen wie qualitativen Annäherung, einer Hinwendung und eines Sich-Einlassens, erst ermöglicht. An ausgewählten Beispielen soll danach gefragt werden, wer unter welchen Bedingungen, mit welchen Mitteln und zu welchem Zweck wozu (ver)führt bzw. (ver)führen kann. In diesem Sinn verstehen wir den Band als Anstiftung zur Literatur, als Einladung, sich auf Literatur, auf die Auseinandersetzung mit Literatur und mit den theoretischen und praktischen Aspekten ihrer Vermittlung, einzulassen. Wer nach Verführung fragt, fragt aber immer auch nach Führung im Sinne von Lenkung, von Beeinflussung und Machtausübung. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Mechanismen der Literaturvermittlung hat mit der Anwesenheit bzw. Sichtbarkeit von Literatur in unterschiedlichen Kontexten immer auch nach deren Abwesenheit bzw. Unsichtbarkeit und deren möglichen Gründen zu fragen. Räume der Literatur(vermittlung) sind im Sinne Bourdieus (2001) auf ihre Situierung und auf ihre Rolle innerhalb des literarischen Feldes zu untersuchen und zu anderen Feldern in Beziehung zu setzen. Denn Literatur und ihre Vermittlung ist nicht nur eine Frage von wissenschaftlichen und kulturellen Konzepten, sondern auch eine eminent politische und systemische Frage, die immer mitreflektiert werden muss.

Im ersten Teil werden Institutionen, die als Räume der Literaturvermittlung fungieren, untersucht. Im Zentrum des Interesses stehen die öffentlichen Einrichtungen Bibliothek, Literaturausstellung, Literaturkritik sowie die mediale Inszenierung von Literatur(vermittlung) wie etwa Buchpreise.

Ulrike Tanzer skizziert zunächst zeitgenössische Bibliothekskonzepte wie die der extrovertierten, der introvertierten, der virtuellen bzw. hybriden Bibliothek, um sie anschließend auf ihre spezifische Rolle in der Literaturvermittlung zu befragen. Mit Rekurs auf die viel diskutierten Ergebnisse der PISA-Studie und vor den aktuellen Ergebnissen der Leseforschung fokussiert Tanzer auf die Bereiche Leseförderung und Lesekompetenz, wobei ihr Interesse insbesondere dem literarischen Lesen gilt. Innovative Beispiele aus der Praxis der öffentlichen Bibliotheken (Österreichisches Bibliothekswerk, Stadtbibliothek Salzburg, Bibliothekswerk der Erzdiözese Salzburg), die allesamt den kommunikativen Aspekt des Lesens betonen, illustrieren die Untersuchung. Mit Blick auf den hohen Stellenwert der Bibliotheken für die Lesesozialisation fordert Tanzer einerseits eine Verbesserung der strukturellen (u.a. rechtlichen) Gegebenheiten für Bibliotheken, andererseits sieht sie Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik gefordert, Bibliotheken vermehrt als Institutionen der Literaturvermittlung wahrzunehmen und zum Gegenstand ihrer Forschungen zu machen.

Der Beitrag von Julia Danielczyk zeigt, dass Literaturausstellungen in der Vermittlung von Literatur eine wachsende Bedeutung zukommt. Die Herausforderungen, die sich bei der musealen Präsentation von Literatur ergeben, diskutiert sie entlang folgender Fragestellungen: Wie lässt sich das Literarische in die Sprache der Ausstellung und des Schauraums übersetzen? Wie gelangt Literatur ohne den individuellen Leseakt zur Wirkung? Inwiefern eignen sich Museen und Ausstellungsräume als Orte des Lesens und der Literaturvermittlung? Um die Entwicklung von Literaturausstellungen nachvollziehen zu können, unternimmt Danielczyk zunächst eine sozialgeschichtliche und politische Kontextualisierung. Sodann stellt sie drei Herangehensweisen an Literaturausstellungen vor, die unterschiedliche Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis von Materialität und Immaterialität von Literatur aufzeigen. Anhand von Fallbeispielen werden Literaturausstellungen erstens als Übersetzung von Literarischem, zweitens als Schaufenster der Literatur und drittens als deren Inszenierung in den Blick genommen. Der Beitrag liefert ein Plädoyer für Literaturausstellungen, die sowohl mit der Materialität literarischer Erscheinungsformen arbeiten als auch den Anspruch verfolgen, Literatur mit ihren spezifischen Erzählweisen, performativen Aspekten und ästhetischen Formen zugänglich zu machen.

Daniela Strigl betrachtet die Räume der Literaturvermittlung aus der Perspektive der Literaturkritik und gibt so aufschlussreiche Einblicke in den Literaturbetrieb wie auch in die Mechanismen des Buchmarktes. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bildet die Krise der Literaturkritik, wie sie im Zuge der Zeitungskrise der letzten Jahre und der wachsenden Bedeutung der Laienkritik im Internet ausgerufen wurde. Dass diese Krise nicht nur eine aktuelle Zeiterscheinung darstellt, sondern die Literaturkritik allenfalls in der Dauerkrise steckt, zeigt Strigl pointiert unter Einbeziehung zahlreicher Stellungnahmen von LiteraturkritikerInnen wie Kurt Tucholsky, Sigrid Löffler, Franz Schuh und Klaus Nüchtern. Für Strigl ist die Krise der Kritik vor allem eine Krise der KritikerInnen. Demnach fragt sie in ihrem Beitrag auch nach deren Rollenverständnis: Übt die Kritikerin bzw. der Kritiker das Amt des »Gatekeepers« (Bodo Rollka) im Haus der Literatur aus? Sind die KritikerInnen »Zirkulationsagenten« (Hans Magnus Enzensberger) ihrer selbst? Oder sind sie vor allem Teil der Werbemaschinerie der Verlage? Besteht ihre Aufgabe in einer wohlwollenden Ausleuchtung und sorgsamen Pflege des literarischen Raumes? Oder regulieren sie Diskurse über Texte mit der Macht eines Exekutivorgans? Angesichts der von Strigl skizzierten Typen von KritikerInnen erweist sich die Literaturkritik auch heute, im Zeitalter der Internetforen und UserInnen-Rezensionen, keineswegs als herrschaftsfreier Raum.

Am Beispiel des Bachmann-Preises und des Deutschen Buchpreises fragt Doris Moser danach, was mediale Inszenierungen von Literatur vermitteln, welcher Verfahren sie sich bedienen und welches Potenzial zur Generierung von Aufmerksamkeit diesen zukommt. Vor den Theorien Pierre Bourdieus (1999) charakterisiert Moser den im Medium Fernsehen inszenierten Bachmann-Preis als ständige Neuverhandlung des Regelkonflikts zwischen literarischem und medialem Feld. Eine Analyse von Autorenporträt und Lesung Peter Lichts (2007) weist Aufmerksamkeit als Folge einer gelungenen Kombination von Neuheit und Redundanz aus. Den Deutschen Buchpreis beschreibt der Beitrag dagegen als (Ganzjahres-)Inszenierung mittels unterschiedlicher Medien(partnerInnen) wie Feuilleton, Tages- und Wochenpresse, Online-Portalen etc., deren Feldgrenzen überschreitende Strategie vorwiegend auf Marktexpansion und damit ökonomische Ziele gerichtet sei. Mit Bachmann-Preis und Deutschem Buchpreis – beide inszenieren Moser zufolge weniger die Literatur als den Akt der Literaturvermittlung – nimmt der Beitrag nicht nur eine Instanz, sondern auch Begriff und Anspruch der Literaturvermittlung selbst kritisch in den Blick.

Im zweiten Teil wird das Augenmerk auf die Medialität von Literatur gelenkt. Neben unterschiedlichen Formaten von Literatur, wie sie der Film, das E-Book und die Blogliteratur darstellen, werden medial bedingte Rezeptionsweisen untersucht und ihre Auswirkungen auf Vermittlungsfragen diskutiert.

Im Zentrum des Beitrags von Günther Stocker stehen digitale Lesemedien, die in Hinblick auf deren Materialität wie auch Performativität untersucht werden. Dass E-Book-Reader, Tablet-PCs und Smartphones nicht einfach nur tausende digitalisierte Texte rasch und mit einem einzigen kleinen Endgerät zugänglich machen, sondern auch neue Formen des Umgangs mit Texten und Literatur wie auch neue Formen des Lesens implizieren, zeigt Stocker in seinen medienkritischen Überlegungen, die immer auch durch konkrete Beispiele veranschaulicht werden und empirische Befunde aufgreifen. Um die historische Dimension der medialen Veränderungen deutlich zu machen, werden Analogien aus der Buchgeschichte herangezogen. Besonderes Augenmerk legt Stocker auf Fragen nach der Räumlichkeit alter und neuer Lesemedien: das Verhältnis von Teil und Ganzem, die Grenze zwischen dem einzelnen Text und dem gesamten Schrifttum, die Rolle von Ko- und Paratexten. Diskutiert werden des Weiteren die Funktion der Typografie als Instrument der Lesesteuerung wie auch die unterschiedliche Topografie von gedruckten und digitalen Seiten. Der Beitrag macht deutlich, wie sehr digitale Lesemedien zur Mobilisierung, Vernetzung und Multifunktionalität bzw. -medialität tendieren.

Das autonome Publizieren im Internet bildet den Ausgangspunkt von Christiane Zintzen, die am Beispiel literarischer Blogs darlegt, welch neue Formen der Darstellungen ihrer Ästhetiken und Inhalte es AutorInnen ermöglicht. Anhand des von ihr und Hartmut Abendschein herausgegebenen Literaturportals litblogs.net – Literarische Weblogs in deutscher Sprache, welches 20 AutorInnenblogs, ein Verlagsblog und ein kollaboratives Blog umfasst, zeigt Zintzen die Breite der möglichen »écritures« sowie die höchst diverse Nutzung des Mediums Blog auf. Zintzen skizziert zunächst die Charakteristika des Weblogs an sich und des literarischen Blogs im Besonderen, um darauf aufbauend das Potenzial dieses spezifischen Mediums sowohl für AutorInnen als auch für LeserInnen darzulegen. Dabei zeichnet sie ein Bild vom Blog als eine flexible Form des Publizierens im World Wide Web, die an institutionalisierten Qualitätskontrollen wie beispielsweise einem Verlagslektorat oder der Literaturkritik vorbeischreibt.

Matthis Kepser geht in seinem Beitrag der Bedeutung der Literaturverfilmung für den aktuellen Deutschunterricht nach. Seine Überlegungen setzen bei den in der schulischen Praxis selten friktionsfreien Interferenzen an, die bei der Lektüre eines literarischen Textes und der anschließenden Rezeption der filmischen Adaption entstehen. Der eigene Film im Kopf, den sich SchülerInnen während des Lektüreprozesses im Gedächtnis aufgebaut haben, will mit den Bildern und Narrationen der Verfilmung nicht so recht zusammengehen. Dadurch kommt es zu einem doppelten Film im Kopf, den Kepser am Beispiel der Romane Krabat und Der Vorleser wie deren Filmadaptionen in den Blick nimmt. Mittels statistischer Auswertungen und Inhaltsanalysen untersucht er Internetforen, in denen entsprechende Lektüre- und/oder Kinoerfahrungen mitgeteilt werden. Kepser geht davon aus, dass derartige Äußerungen im Internet nicht nur einen Einblick in die komplexen Zusammenhänge bei der Rezeption von Literaturverfilmungen erlauben, sondern auch für den schulischen Deutschunterricht genutzt werden können. Die damit verknüpften didaktischen Ziele gehen über die bloße Medienreflexion hinaus, geht es doch um Geschmacks- und Urteilsbildung im Sinne einer produktiven Kritikfähigkeit.

Der dritte Teil fokussiert auf performative Räume – also solche, die über andere Kodes als die des (literarischen) Textes funktionieren – wie Theater(aufführung), Improvisationsarbeit, Poetry Slam und AutorInnenlesung.

Die Konkretisierung von (post)dramatischen Leseakten steht im Zentrum des Beitrags von Stefan Krammer. Wurde Theater in schulischen Lernkontexten bislang vor allem über die Lektüre von Dramentexten rezipiert, fordert Krammer Rezeptionsmodelle, die sich mit unterschiedlichen Kommunikationssituationen von Literatur und Aufführung produktiv auseinandersetzen und so Theater im Kopf entstehen lassen. Als Instrumentarium für das Kennen- und Lesenlernen theatraler Zeichensysteme fungiert ein modifizierter theatersemiotischer Katalog nach Fischer-Lichte. Wie SchülerInnen einerseits Lesekompetenz spezifisch für (post)dramatische Texte entwickeln und andererseits die Kunst des Zuschauens theatraler Aufführungen erlernen können, wird anhand von zwei Unterrichtskonzepten vorgeführt. Bei der aufführungsbezogenen Dramenlektüre steht im Gegensatz zu szenischen Verfahren die Erarbeitung von Inszenierungsentwürfen aufgrund genauer Lektüre und Analyse des Dramentextes im Vordergrund; der Transformationsprozess vom dramatischen Text hin zu seiner Aufführung wird am Beispiel von Thomas Bernhard erläutert. Der textbezogenen Aufführungsrezeption, gezeigt an einem Stück Elfriede Jelineks, geht dagegen die Rezeption der Aufführung der Textlektüre voraus. Über die Suche nach theatralen Zeichen der Aufführung entsteht ein sprachlich fixierter dramatischer Text. Hilfsmittel für die Unterrichtspraxis können filmische Aufzeichnungen von theatralen Aufführungen sein.

Susanne Hochreiters praxisorientierter Beitrag fokussiert auf das Potenzial szenischer Methoden für die Vermittlung von Literatur. Als eine Form der Auseinandersetzung, in der körperliches Agieren und emotionale Beteiligung wesentlich sind und die grundsätzlich ergebnisoffen ist, unterstützt und erweitert die Improvisation die (literatur)wissenschaftliche Textarbeit: Indem sie sich in der Gruppe und auf der Ebene der Erfahrung mit Literatur auseinandersetzt, kann sie dazu beitragen, einen Text zu verstehen. Am Beispiel des im Rahmen der Tagung gehaltenen Workshops »Vom Spiel zum Text. Spielen mit Texten« demonstriert Hochreiter die Arbeit an einem zuvor nicht gelesenen Text: Auf Übungen zu Körper- und Raumwahrnehmung, Imaginations- und Ausdrucksübungen folgen variierende Improvisationen und deren Reflexion. In der Auseinandersetzung mit einem den TeilnehmerInnen zuvor bekannten Text folgt der Beitrag der Arbeit von Gitta Martens. Die theatertheoretischen Ansätze einer gedoppelten Körper-Leib-Dualität (Lehmann, Fischer-Lichte) aufgreifend und weiterführend, weist der Beitrag auch auf die Bedeutung mimetischen Lernens für die Deutung von Welt und Wirklichkeit und die Relevanz szenischer (Text)Arbeit für die Konzeption von Identitäten hin.

Wie wird in der Theaterpraxis mit literarischen Texten gearbeitet und wie werden literarische Texte in diesem Medium vermittelt? Diese beiden Fragen bilden den Ausgangspunkt des Gesprächs zwischen der Literaturwissenschaftlerin Pia Janke und der Regisseurin und Theaterpraktikerin Eva Brenner. Die Wichtigkeit von Improvisation akzentuierend, beschreibt Brenner dabei anhand ihrer eigenen Arbeiten jene Transformationsprozesse, die ein Text erfährt, bis er im Rahmen einer Aufführung bzw. Performance (auf Theaterbühnen, aber auch im öffentlichen Raum) szenisch dargestellt wird. Die Regisseurin erläutert ihr Konzept des Transformance-Theaters, dessen Intention die radikale Öffnung des Theaters zur Inklusion benachteiligter Personengruppen (wie zum Beispiel MigrantInnen oder sozial benachteiligte Personen) ist, und übt dabei Kritik an »neoliberalen Entwicklungen« in den Bereichen Kunst und Kultur.

Wiebke Dannecker fokussiert auf Slam Poetry/Poetry Slams als (jugend)kulturelles Phänomen. Der erste, kulturwissenschaftliche Teil des Beitrags skizziert die Entstehung von Poetry Slams und die Besonderheiten dieses Formats über produktions- und rezeptionsorientierte Faktoren (insbes. Text, Performance, Veranstaltungsmodus). Mit Begriffen wie »Theatralität«, »Inszenierung« und »Performanz« folgt Dannecker neueren theaterwissenschaftlichen Ansätzen, insbesondere den Arbeiten Fischer-Lichtes; illustriert werden ihre Überlegungen durch mehrere Beispiele. Die Potenziale von Slam Poetry/Poetry Slams im Bereich schulischer Literaturvermittlung stehen im Zentrum des 2. Teiles, der produktionsorientierte Inszenierungsmuster (selbst Texte schreiben und diskutieren; Slam Performances untersuchen und reflektieren) für den (Deutsch)Unterricht vorstellt, der sowohl die sprachästhetische als auch die performative Gestaltung der Slam-Beiträge in den Blick nimmt und zu einer selbstständigen Auseinandersetzung mit literarischen Texten anregen kann.

Fragen nach der zeitgemäßen Gestaltung literarischer Leseformate und der adäquaten Nutzung (neuer) technischer Möglichkeiten für AutorInnenlesungen sowie die Beobachtung, dass Lesungen zunehmend auch intermedial arbeiten, stehen am Beginn des Gesprächs zwischen Meri Disoski und Michael Stavarič. Neben der (Selbst-)Inszenierung von AutorInnen sowie der Ökonomisierung von Literatur wird im Verlauf des Gesprächs vor allem die/der AutorIn als literaturvermittelnde Figur thematisiert. Anhand seiner eigenen Arbeit erläutert Stavarič, der neben dem Verfassen belletristischer Titel auch Kinderbücher schreibt und als Übersetzer tätig ist, exemplarisch, welche Möglichkeiten der Literaturvermittlung AutorInnen zur Verfügung stehen.

Literatur

ABRAHAM, ULF; BAURMANN, JÜRGEN u.a. (2007): Kompetenzorientiert unterrichten. Überlegungen zum Schreiben und Lesen. In: Praxis Deutsch 203 (2007), S. 6–14.

ALLERUP, PETER N. (2007): Identification of Group Differences Using PISA Scales – Considering Effects of Inhomogeneous Items. In: Hopmann, Peter; Brinek, Gertrude; Retzl, Martin (Hg.): PISA zufolge PISA – PISA According to PISA. Hält PISA, was es verspricht? Does PISA Keep What It Promises? Wien: LIT, S. 175–201.

BERTSCHI-KAUFMANN, ANDREA; ROSEBROCK, CORNELIA (Hg.) (2009): Literalität. Bildungsaufgabe und Forschungsfeld. München, Weinheim: Juventa.

BOURDIEU, PIERRE (2001): Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

DANNECKER, WIEBKE; THIELKING, SIGRID (Hg.) (2012): Öffentliche Didaktik und Kulturvermittlung. Bielefeld: Aisthesis.

DELANOY, WERNER; RABENSTEIN, HELGA; WINTERSTEINER, WERNER (Hg.) (1996): Lesarten. Literaturunterricht im interdisziplinären Vergleich. Innsbruck: Studienverlag.

ERLACHER-ZEITLINGER, EDITH; FENKART, GABRIELE (Hg.): Lernräume. Themenheft der Zeitschrift ide 3/2010.

GIACOMUZZI, RENATE; NEUHAUS, STEFAN; ZINTZEN, CHRISTIANE (Hg.) (2010): Digitale Literaturvermittlung: Praxis – Forschung – Archivierung. Innsbruck: Studienverlag.

HOCHREITER, SUSANNE; KLINGENBÖCK, URSULA u.a. (Hg.) (2009): Schnittstellen. Aspekte der Literaturlehrund -lernforschung. Innsbruck: Studienverlag.

KAMMLER, CLEMENS (Hg.) (2006): Literarische Kompetenzen. Standards im Literaturunterricht. Seelze: Klett/Kallmeyer.

KÄMPER-VAN DEN BOOGAART, MICHAEL; ULRICH, WINFRIED (Hg.) (2010): Deutschunterricht in Theorie und Praxis. Handbuch zur Didaktik der deutschen Sprache und Literatur in elf Bänden. Bd. 11. Leseund Literaturunterricht. 2. Tlbd. Kompetenzen und Unterrichtsziele. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.

KORTE, HERMANN; MARJA RAUCH (Hg.) (2005): Literaturvermittlung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Lang.

NEUHAUS, STEFAN (2009): Literaturvermittlung. Konstanz: UVK-Verlag.

NEUHAUS, STEFAN; RUF, OLIVER (2011): Perspektiven der Literaturvermittlung. Innsbruck: Studienverlag.

PLACHTA, BODO (2008): Literaturbetrieb. Paderborn: Fink.

SCHWANTNER, URSULA; SCHREINER, CLAUDIA (2010): PISA 2009. Internationaler Vergleich von Schülerleistungen. Erste Ergebnisse Lesen, Mathematik, Naturwissenschaft. Graz: Leykam.

1.Institutionelle Räume

Ulrike Tanzer

Bibliotheken als Orte der Literaturvermittlung

1. Verführung

Ein zwölfjähriger Junge verbringt die Sommerferien bei seinem Onkel, einem Prälaten und Stiftsbibliothekar. Um den kostbaren Boden des barocken Büchersaals zu schützen, soll der Neffe an die BesucherInnen Filzpantoffel austeilen. Der Junge merkt bald, dass sich ihm neue Welten eröffnen – die Welt der Bücher und des anderen Geschlechts. Fasziniert beginnt er zu lesen und wagt es, scheue Blicke unter die Röcke der Besucherinnen zu werfen – argwöhnisch beäugt von der gestrengen Haushälterin des Onkels, die dem Fleiß des Jungen misstraut und um dessen Seelenheil fürchtet. Es ist ein Sommer, der für den Jungen eine Zäsur markiert: Seine Mutter erwartet Nachwuchs und im Herbst steht ihm der Eintritt in ein Klosterinternat in den Schweizer Bergen bevor.

Diese Geschichte – Sie werden sie wahrscheinlich längst erkannt haben – erzählt der Schweizer Schriftsteller und Dramatiker Thomas Hürlimann in seiner 2001 erschienenen Novelle Fräulein Stark. Die Bibliothek, die darin beschrieben wird, die Stiftsbibliothek des Klosters St. Gallen, scheint aus einer versunkenen Welt. Von schweren Folianten ist die Rede, von Hilfsbibliothekaren mit dickglasigen, rundgerillten Brillen, grauen Ärmelschonern und nikotingefärbten Krummfingern, von griechischen Inschriften auf Portalbögen: Psychesiatreion – »Heilstätte für den Geist: Seelen-Apotheke« (Hürlimann 2001, S. 35). Die Aura, die diese Bibliothek verströmt, ist für den Ich-Erzähler so fremd wie verführerisch. Gleich am Beginn heißt es:

Mein Onkel war Stiftsbibliothekar und Prälat, seine Hüte hatten eine breite, runde Krempe, und gedachte er die Blätter einer tausendjährigen Bibel zu berühren, zog er Handschuhe an, schwarz wie die Dessous meiner Mama. An Bord unserer Bücherarche, sagte der Onkel, haben wir schlicht und einfach alles, von Aristoteles bis Zyste. (Hürlimann 2001, S. 7)

Die Bibliothek als Ort des allumfassenden Wissens, der Ordnung und damit der Zuflucht vor einer chaotischen Welt sind einige der Aspekte, die hier anklingen.1 Zugleich ist der Text erotisch aufgeladen. Leselust und körperliche Lust, in der Geschichte des Lesens bekanntlich mit dem Verdikt des Krankhaften und Krankmachenden belegt (vgl. Anz 2002, S. 11–32), werden hier bildhaft zusammengeführt.

Die Kritik hat Hürlimanns autobiografisch gefärbte Novelle als einen Entwicklungsroman en miniature gefeiert, als einen Text, der nicht nur zwischen katholischer Triebunterdrückung und aufflackernden Pubertätsfantasien changiert, sondern auch die verdrängten antisemitischen Tendenzen in der Schweizer Geschichte benennt. Der Bibliotheksraum wird darin für den Jungen zum Schwellenraum zwischen der Welt der Kindheit und der Welt der Erwachsenen, ein Raum mit eigenen Gesetzmäßigkeiten und wohl gehüteten Geheimnissen, ein Raum der Suche nach sich selbst.

2. Bibliotheken der Zukunft

Zwischen der von Hürlimann geschilderten und einer modernen Bibliothek liegen sprichwörtlich Welten. Die Bibliothekslandschaft befindet sich seit etlichen Jahren in einem tiefgreifenden Veränderungsprozess.2 Längst haben audiovisuelle Medien in die Bibliotheken Einzug gehalten. Die Digitalisierung eröffnet neue Perspektiven der Konservierung und Nutzung. Von multifunktionalen Schnittstellen der Information ist die Rede, wenn das Bild einer »Bibliothek der Zukunft« (vgl. Zimmer 2000) skizziert wird. Zu einem großen und sich ausweitenden Teil wird – so Dieter E. Zimmer – die Bibliothek der Zukunft aus digitalen Medien bestehen. Alles Geschriebene ist dabei, sich zu »entmaterialisieren« (Zimmer 2000, S. 7) und immer mehr auszubreiten in einen virtuellen Raum. »Bibliotheken aus Stein und Beton und Glas sind überflüssig«, schreibt Zimmer, »die neue, die allgegenwärtige Bibliothek ist aus elektrischem Strom« (Zimmer 2000, S. 9). Alles wandert ins Netz – vom gedruckten Buch zum E-Book, von der gedruckten Zeitschrift zum E-Journal. Ist also die Bibliothek als institutioneller Ort, als »steinerne[s] Depositorium von Büchern« (Zimmer 2000, S. 9) obsolet geworden?

Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Bibliotheken erfreuen sich im Digitalisierungs- und Internetzeitalter wachsender Attraktivität. Davon zeugen neue spektakuläre Bibliotheksbauten in Asien (China, Japan, Singapur und Südkorea), Nordamerika (Seattle, Montreal) und Europa wie z.B. in Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Dänemark und den Niederlanden (vgl. Roth 2010; Krämer 2007). Diese Bauten sind »Erlebnisarchitekturen« (Leiß 2011, S. 216), die als Kulturbauten wahrgenommen werden, neue städtebauliche Akzente setzen und zur Aufwertung von Stadtvierteln beitragen. In Österreich sind in diesem Zusammenhang neben der Wiener Hauptbücherei am Gürtel die beiden Neubauprojekte in Linz (Wissensturm) und Salzburg (Salzburger Stadt:Bibliothek in der Neuen Mitte Lehen) zu erwähnen.3 Signifikant sind die städtebaulichen Konzeptionen, die mit den erwähnten Bibliotheksbauten einhergehen. Die Wiener Hauptbücherei wurde an einer der verkehrsreichsten Straßen errichtet, in einer Gegend, in der sich verschiedenste Bevölkerungsgruppen mischen. Auch in Salzburg wurde mit dem Standort Lehen ein Stadtteil mit hoher Bevölkerungsdichte und einem hohen Anteil an MigrantInnen gewählt.

Abb. 1: Bibliothek Salzburg außen (Copyright Helmut Windinger)

Damit folgen die Einrichtungen, um mit Caroline und Johann Leiß zu sprechen, dem Konzept der »extrovertierten Bibliothek« und damit einem der drei Trends, die – durchaus widersprüchlich und konkurrierend – entscheidend für die künftige Entwicklung sind (Leiß/Leiß 2011, S. 224–232). Bibliotheken verstehen sich in diesem Sinne als soziale Integrationsorte, die Konzerte, Lesungen und kulturelle Veranstaltungen anbieten,4 die in zentralen Bereichen über Cafés und gemütliche Sitzecken verfügen und die damit auch in ihrer Raumkonzeption dem Bedürfnis nach sozialem Austausch entgegenkommen. Bislang sind Versuche, Bibliotheken auf Online-Plattformen als virtuelle Orte zu etablieren, gescheitert.5 Der zweite Trend lässt sich mit dem Begriff der »introvertierten Bibliothek« umschreiben. Nicht ein Ort des sozialen Austauschs in der Umgebung von Büchern steht im Zentrum dieser Überlegungen, ein Raumkonzept, das Multimedia-Shops und Einkaufscentern entspricht, sondern eine Umgebung, die konzentriertes Lesen und Arbeiten ermöglicht. Diese Bibliotheken, die sich architektonisch an den klassischen, symmetrisch möblierten Lesesälen orientieren und sich insgesamt durch klare Strukturen auszeichnen, sind auch heute noch inmitten des Lärms, der Unübersichtlichkeit und Beschleunigung als (Gegen-)Orte der Ruhe, Ordnung und Entschleunigung konzipiert – und damit den alten Klosterbibliotheken nicht ganz unähnlich.6 Die »virtuelle Bibliothek« ist der dritte Trend, der sich abzeichnet. Das Nebeneinander von gedruckten und elektronischen Medien wird seit den 1990er Jahren unter dem Stichwort »hybride Bibliothek« (Leiß/Leiß 2011, S. 230) subsumiert. Viele wissenschaftliche Bibliotheken geben mittlerweile den größeren Teil ihres Einkaufsbudgets für elektronische Medien aus und verfolgen in einzelnen Bereichen wie Zeitschriften und Nachschlagewerken die Strategie, nur noch elektronische Werke zu kaufen. Die Konsequenzen für den Bibliotheksbau sind immens. Magazine werden weitgehend überflüssig, der Weg in die Bibliothek ebenso. Die Vorteile liegen auf der Hand. Bequem und rasch können die gewünschten Inhalte bereitgestellt werden.

»Der wohl unaufhaltsame Umstieg der traditionellen Bibliotheken in digitalisierte Formen [bringt] auch beträchtliche Verluste mit sich« (Pfoser 2010, S. 236), so der Germanist und Bibliothekar Alfred Pfoser. Das hat nicht (nur) mit einem nostalgischen Blick zurück zu tun, denn Bibliotheken sind Orte der Kommunikation7 – und der »Verführung«. Es gilt also, mit den BibliotheksbenutzerInnen auf Tuchfühlung zu bleiben. Die Bibliothek mag ihre Funktion als ausschließlicher Aufbewahrungsort und Ausleihanstalt einbüßen – als Ort, wo Integration und (interkulturelles) Lernen, wo Leseförderung und Literaturvermittlung stattfinden, wird sie nach wie vor und mehr denn je gebraucht. Die öffentlichen Bibliotheken, von denen hier vor allem die Rede sein soll, reagieren auch darauf, indem sie zum Beispiel Mischformen anbieten. Peter Vodosek hat in diesem Sinne für die Bibliothek der Zukunft die Formel »Informationsbibliothek + x« geprägt (Vodosek 2011, S. 212).

3. Leseförderung und Literaturvermittlung. Drei Beispiele

Die PISA-Studien8 haben die öffentliche Wahrnehmung der Kulturtechnik Lesen gestärkt. Die Bedeutung von Lesen als einer Schlüsselkompetenz für schulischen Erfolg und damit weitere berufliche Möglichkeiten ist deutlicher in das öffentliche Bewusstsein gerückt. Über die Notwendigkeit einer verstärkten Leseförderung in allen Schultypen, besonders aber für die 20 Prozent an Jugendlichen der »Risikogruppe« (Leistungsstufe I und darunter in der PISA- Wertung), herrscht allgemeiner Konsens. Aus der Perspektive der Deutschdidaktik wird nun langsam akzeptiert, worauf schon vor Jahren hingewiesen wurde (vgl. Hurrelmann 1994), nämlich dass wir eine dreifache begriffliche Ausweitung von Leseförderung brauchen:

  Leseförderung ist nicht mehr auf AnfängerInnen und »schwache« LeserInnen beschränkt, sondern für alle SchülerInnen auf allen Schulstufen erforderlich.

  Das Handlungsfeld der Leseförderung ist nicht ausschließlich der Deutschunterricht, sondern das sind alle Schulfächer in Verbindung mit außerschulischen Angeboten wie Bibliotheken, Literaturhäusern und anderen Formen der Leseförderung (wenn auch dem Deutschunterricht nach wie vor eine Schlüsselfunktion zukommt).

  Leseförderung im Medienzeitalter ist nicht mehr mit Literaturdidaktik gleichzusetzen, sondern erfordert eine Neuorientierung der Buchkultur im Medienkontext.

Zugleich hat PISA aber auch den Effekt, dass zumindest der politisch-pädagogische Diskurs sich nicht wirklich auf das Lesen konzentriert, sondern auf das Abschneiden der eigenen Nation im internationalen Ranking. Das hat hektische und nicht immer gut überlegte Initiativen zur »Leseförderung« zur Folge, ohne dass genau analysiert wird, wo eigentlich die Defizite liegen. Vor allem scheint sich die Debatte um die Leseförderung zu verengen, auf den – bisher unterschätzten – Bereich der basalen Lesekompetenzen und die Fähigkeit, aus Sachtexten Informationen zu entnehmen.

Diese zweifellos wichtigen Kompetenzen werden nur allzu oft gegen das literarische Lesen ausgespielt. Was wir hingegen brauchen, ist die Wiederherstellung und Aktualisierung eines ganzheitlichen Begriffs von Lesen, der zumindest die folgenden Hauptelemente umfassen müsste:9

  basale Lesekompetenz (im Sinne einer Informationsentnahme) gegenüber Alltagstexten, Fachliteratur und Massenmedien, die beruflichen Erfolg und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben erlaubt,

  »kritisches Lesen«, um Textintentionen zu durchschauen und gegenüber Manipulation und Meinungsbeeinflussung wachsam zu bleiben,

  literarisch-ästhetisches Lesen als die Fähigkeit, Imaginationen zu entwickeln und bestehende Welten zu transzendieren, als Entwicklung des »Möglichkeitssinns«.10

Literarische Sozialisation ist »kein Programm für eine elitäre Minderheit, sondern Bestandteil allgemeiner Bildung« (Tanzer 2006, S. 6). Dass dieses Konzept von Bildung heute durch eine von reinem Nützlichkeits- und Verwertbarkeitsdenken geprägte Aus-Bildung nicht nur bedroht, sondern weitgehend ersetzt worden ist, ist evident. Davor ist auch die Zusammenarbeit zwischen Schulen und Bibliotheken (vgl. Neuhaus 2009, S. 234–247) nicht gefeit. Meist werden die schuleigenen Bibliotheken in den Unterricht integriert, seltener finden Kooperationen auch mit öffentlichen Bibliotheken statt. Im Mittelpunkt der didaktischen Überlegungen steht in überwiegendem Maße die Informationskompetenz (vgl. Umlauf 2005). Die Schulbibliotheken selbst haben in den letzten Jahren einen großen Wandel durchgemacht und sich vom »Bücheraufbewahrungsort« zu »multimedialen Lese- und Lernwerkstätten« entwickelt (Fritz 2010, S. 31–38). Sie dienen als Fach- und Unterrichtsraum, stellen Medien für den Unterricht und als Unterrichtsergänzung bereit, sind Orte der Unterrichtsvor- und -nachbereitung für SchülerInnen und LehrerInnen. Lesen sollte aber nicht nur unterrichtsbezogen stattfinden. Schulbibliotheken – und umso mehr öffentliche Bibliotheken – sind daher auch Orte, wo SchülerInnen ihre Freizeit verbringen können, um sich zu treffen, um zu spielen, vor allem aber um zu schmökern. Bei allem Eifer für didaktisch-methodische Konzepte zur Leseförderung und Literaturvermittlung sollte das Bild der Bibliothek als Ort des plan- und ziellosen Lesens, auch des Lesens »verbotener« Literatur, nicht aus unseren Köpfen verschwinden. Denn »Schmökern lernen«, so Gerhard Falschlehner, Geschäftsführer des Österreichischen Buchklubs der Jugend, sei »die wichtigste Form des Lesens: Jenes ziellos-absichtsvolle Hin- und Herblättern, da und dort hängen bleiben, hineinlesen. Ein angenehmer Spaziergang durch Bücher anstelle eines Lesemarathons. Der Anfang jedes Lesens« (Falschlehner 1997, S. 215).

Die Förderung von Lesekompetenzen muss immer mit der Förderung von Lesemotivation Hand in Hand gehen. Der Büchereiverband Österreichs (BVÖ), der Dachverband der öffentlichen Bibliotheken mit mehr als 3000 Mitgliedsbibliotheken, setzt in diesem Zusammenhang viele Initiativen, am öffentlichkeitswirksamsten wohl mit der 2006 ins Leben gerufenen Aktion »Österreich liest. Treffpunkt Bibliothek«, einer großen Imagekampagne für das Lesen und für die Bibliotheken eine Woche vor dem Nationalfeiertag. Drei Beispiele aus der Praxis der öffentlichen Bibliotheken seien zur Illustration herausgegriffen. Die Beispiele sind subjektiv gewählt und selbstredend um weitere zu ergänzen.

1. Das österreichische Bibliothekswerk mit Sitz in Salzburg, das als Forum katholischer Bibliotheken von der Bischofskonferenz eingerichtet wurde, hat sich in den letzten Jahren durch eine Vielzahl innovativer Projekte ausgezeichnet. Zu erwähnen sind hier vor allem die Fachzeitschrift für Bibliotheken bn.bibliotheksnachrichten (www.biblio.at), die umfangreiche Rezensionsdatenbank Rezensionen online (www.rezensionen.at) und Materialien zur Lesemotivation (www.biblio.at) wie Lesemotive und LebensSpuren.11 Vor kurzem wurde das Projekt Buchstart: mit Büchern wachsen initiiert, das sich der frühkindlichen Leseförderung widmet. Hier wird erfolgreich versucht, das große Potenzial, das Bibliotheken gerade im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur aufweisen, mit anderen Einrichtungen und Initiativen (z.B. Eltern-Kind-Gruppen) zu vernetzen. Stichwort: »Bibliothek trifft Purzelbaumgruppe!« (Hesche 2011, S. 441). Die Themenbereiche der im November 2011 in Salzburg abgehaltenen Studientagung12 vermitteln einen guten Überblick über die inhaltlichen Aspekte der frühkindlichen Leseförderung: wie Babys und Kleinkinder mit ihren Eltern Bücher entdecken, der spielerische Umgang mit Sprache (Reime und Verse), von den ABC-Büchern bis zu den Erstlesereihen, Leseförderung und Lesespaß. Ziel des Projektes ist es, mit niedrigschwelligen Angeboten, Familien – auch aus so genannten bildungsfernen Schichten – in die Bibliotheken zu »locken« (Ehgartner 2011, S. 439–443).

2. Auch die Stadt:Bibliothek Salzburg in der Neuen Mitte Lehen13 richtet sich mit ihren Angeboten an Eltern mit Kleinkindern. Ein Schwerpunkt sind interkulturelle Veranstaltungen und Veranstaltungsreihen (z.B. Lesungen unter dem Titel Miteinander lesen und der Konversationskurs Miteinander reden). Zweisprachige Märchenlesungen für Kinder zwischen sechs und zehn Jahren werden gemeinsam mit dem Literaturhaus Salzburg angeboten. Die Broschüre Miteinander lesen mit Tipps zum Vorlesen in zehn Sprachen, von Albanisch bis Türkisch, von Arabisch bis Rumänisch, wurde in Zusammenarbeit mit der Integrationsbeauftragten der Stadt Salzburg und anderen PartnerInnen erstellt. Dieser Leitfaden soll demnächst über den Büchereiverband eine österreichweite Neuauflage erfahren. Darüber hinaus läuft gerade unter dem Titel Wo die wilden Kerle lesen ein Leseförderungsprojekt für Jungen an. Ein eigenes Regal mit Lesestoff für Buben wurde eingerichtet. Eine Mitarbeiterin beschäftigt sich in ihrer Projektarbeit im Rahmen der Ausbildung zur Bibliotheksassistentin mit diesem Thema. Ein weiteres Projekt, das Genderaspekte in der Leseerziehung in den Mittelpunkt rückt, ist die umfangreiche Vorleseliste für Väter und erziehende Männer. Darin finden sich altersspezifische Lesetipps, Lektürevorschläge für alleinerziehende Väter, Patchwork-Väter und homosexuelle Väter.14

Abb. 2: Bibliothek Salzburg innen (Copyright Magistrat Salzburg INFO-Z)

Abb. 3: Lesendes Kind (Copyright Christina Repolust)

Wichtige Impulse für die Leseförderung in Salzburg und Tirol sind in den letzten Jahren auch vom Bibliothekswerk der Erzdiözese Salzburg ausgegangen.15 Neben Fördermaßnahmen im Bereich der frühen Leseförderung (z.B. das Vorleseprojekt mit dem Titel Wenn am Abend die Stimme zärtlich wird) sind es vor allem Projekte im Bereich der Erwachsenenbildung im ländlichen Raum. Das Foto-Projekt zum Weltfrauentag 2005 Frauen lesen und schreiben ist ein Beispiel dafür. Ausgehend von einer Gesprächsrunde in der Öffentlichen Bibliothek in Tamsweg zum Thema »Bücher meines Lebens« entstand die Idee zu dieser Fotoserie. Zwölf Lungauerinnen ließen sich beim Lesen und Schreiben an ihrem Lieblingsplatz fotografieren. Sie reflektierten dabei über ihre Lese- und Schreiborte, über Rituale und Möglichkeiten, den »Büchern wieder Raum im All-Tag zu geben« (Gastager-Repolust 2006). Der Wunsch der Germanistin, Bibliothekarin und Fotografin Christina Repolust, Frauen beim Lesen und Schreiben zu fotografieren, verband sich mit dem Anliegen, Frauen zum Lesen zu motivieren und »Lesen selbstbewusst als Tätigkeit, auch als Vergnügen, neben andere Tätigkeiten zu stellen« (Gastager-Repolust 2006, S. 118).

Alle genannten Initiativen geben – kurz zusammengefasst – professionelle Anleitungen zum Lesen und damit letztlich zum »Leseglück«. Damit ist der emotionale Vorgang gemeint, den das Lesen von Literatur darstellt.16 Ludwig Muth hat versucht, den emotionalen Akt des Lesens mit Hilfe der »flow«-Theorie des Chicagoer Psychologen Mihaly Csikszentmihalyi (Csikszentmihalyi 1999) zu fassen. Mit dem englischen Begriff »flow«, der meist unübersetzt bleibt und wörtlich übertragen »fließen«, »strömen« bedeutet, bezeichnet die Glücksforschung den Zustand einer »optimalen Erfahrung« (Csikszentmihalyi 1999, S. 61). Das Bewusstsein ist in diesem Zustand höchster Konzentration gut geordnet, alle Gedanken und Sinne sind auf das gleiche Ziel gerichtet, nichts anderes scheint eine Rolle zu spielen. Diese Erfahrung der Harmonie entsteht im hohen Maße bei Aktivitäten, die herausfordern, aber nicht überfordern, die zielgerichtet sind und eine völlige Konzentration und Hingabe verlangen. Dadurch kommt es zu einer Veränderung des Zeitgefühls, Ich-Grenzen werden überwunden, die Sache geschieht um ihrer selbst willen. Das Aufgehen in einer Arbeit ist eine der Tätigkeiten, die Csikszentmihalyi als besonders charakteristisch für diese »autotelische Erfahrung« anführt, ebenso wie Klettern, Hochseesegeln, Schachspielen – und Bücherlesen (vgl. Csikszentmihalyi 1999, S. 70).

4. Zusammenschau und Ausblick

Die vorgeschlagenen Herangehensweisen sind alters- und situationsbezogen unterschiedlich. Leseförderung und Literaturvermittlung sind nicht streng voneinander zu trennen, ja bedingen einander. Während die Beispiele frühkindlicher Leseförderung dem Ansatz des erlebenden Lernens verpflichtet sind und die haptische, körperliche Dimension des Bücherlesens betonen (Stichwort: »Lesen mit allen Sinnen!«), ist der Fokus beim vorgestellten Frauenprojekt auf die Schaffung geeigneter Räume gerichtet, die ein konzentriertes, hingebungsvolles Lesen erst ermöglichen. So anachronistisch dies klingen mag: Virginia Woolfs Forderung nach einem »room of one’s own« (Woolf 2001, 9–125) ist auch heute noch nicht obsolet geworden – im Gegenteil. Gemeinsam ist den Projekten der kommunikative Aspekt: sei es die Einbeziehung der Eltern in die Leseförderung, sei es der Austausch Erwachsener über Lesegewohnheiten und Lesebiografien. Das niedrigschwellige Angebot (kein Eintritt, kein Konsumzwang) macht etwa die Stadtbibliothek in Lehen für Kinder und Jugendliche auch zum Platz, wo sie aufgrund ihrer beengten Wohnverhältnisse Hausübungen machen können (vgl. Burgstaller 2011). Lernen und Lesen gehen hier ineinander über. Die strenge Trennung von öffentlich und privat wird hier ebenfalls aufgehoben (vgl. Schroer 2006). Das Vorleseprojekt für Väter wiederum versucht über männliche role models die Zuschreibung, dass Lesen »weiblich« sei, zu durchbrechen. Diese Imagekorrektur ist in Hinblick auf die Tatsache, dass bei den Buben bereits über ein Viertel zur so genannten »Leserisikogruppe«17 (vgl. PISA 2006) zählt, von großer Bedeutung (vgl. Schönbaß 2010, S. 66–82).

Die vorgestellten Beispiele aus der Praxis weisen aber auch auf Forschungsdesiderate der Literaturdidaktik hin. Sowohl die Lesesozialisation von Kleinkindern als auch das Leseverhalten der Altersgruppe 30+ sind bislang kaum beachtet worden. Auf Letzteres hat Sigrid Thielking mit ihrem Konzept der »Lebensspannendidaktik und Seneszenzforschung« (Thielking 2009, S. 27–31) zu Recht hingewiesen. Selbstverständlich sind alle diese Initiativen auf ihre Nachhaltigkeit hin zu überprüfen. Und selbstverständlich können sie nicht Leseförderung im familiären Umfeld und im schulischen Kontext ersetzen. Die Bibliotheken sind auch keine »Konkurrenten« zu anderen Bildungseinrichtungen, sondern »Bildungspartner« (Vodosek 2011, S. 212).18 Sie verfügen über den entscheidenden Vorteil, »freier« zu sein als andere Institutionen, indem sie »nicht-formale und informelle Lernumgebungen« anbieten können Vodosek 2011, S. 212). Dieser Vorteil kann und soll auch für die Vermittlung von Literatur genützt werden. Die Bibliotheken sollten daher nicht in erster Linie als Konkurrentinnen im Feld der literaturvermittelnden Institutionen wahrgenommen werden, sondern als strategische Partnerinnen. Denn Bibliotheken zählen zu den am stärksten frequentierten kulturellen Institutionen überhaupt, mit einem hohen Bevölkerungsanteil in allen Altersgruppen, unterschiedlichen sozialen Schichten und mit unterschiedlichem Bildungshintergrund.

5. Postskriptum

Dass der große Stellenwert der außerschulischen Leseförderung und der Beitrag der öffentlichen Bibliotheken zur Leseförderung und Literaturvermittlung auch innerhalb der Scientific community der Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik immer noch zu wenig Beachtung finden,19 hat auch mit den strukturellen Gegebenheiten in Österreich (und etwas anders gelagert in Deutschland) zu tun. Zwei Drittel aller Länder der Europäischen Union verfügen über Bibliotheksgesetze. Nur zehn Länder haben überhaupt keine eigenständige Bibliotheksgesetzgebung vorzuweisen. Dazu gehören Bulgarien, Frankreich, Deutschland, Irland, Luxemburg, Malta, die Niederlande, Österreich, Portugal und Zypern. Widerstand gegen eine gesetzliche Regelung kommt häufig von Seiten der Kommunen, die neue finanzielle Verpflichtungen eingehen müssten und um ihr lokales Recht auf Selbstbestimmung fürchten. Selbstredend löst eine gesetzliche Verankerung nicht alle Probleme, dennoch spiegelt sich auch darin der politische Wille eines Staates, Bibliotheken zu fördern. Dies bedeutet, die Existenz der Bibliotheken im Rahmen der Informationsund Meinungsbildungsfreiheit durch eine staatliche Finanzierung zu sichern sowie deren Basisleistung für die BürgerInnen kostenfrei zur Verfügung zu stellen (vgl. Schleihagen 2009, S. 14–22).

In Österreich geschieht außerschulische Leseförderung überwiegend auf Basis ehrenamtlicher Arbeit. Die Initiative für die Errichtung einer Bibliothek geht oftmals nicht auf die sogenannten TrägerInnen, wie Gemeinden und Pfarren zurück, sondern auf engagierte BürgerInnen.20 Welche Rolle dabei die vor allem im englischsprachigen Raum etablierten »Buchgruppen« spielen, müsste für Österreich eingehender untersucht werden (vgl. Novak 2007). Schulbibliotheken können, so gut ausgestattet sie auch sein mögen, den Bildungsauftrag von öffentlichen Bibliotheken nicht übernehmen. Um diesen Zustand zu ändern, braucht es – um mit dem Schriftsteller Drago Jančar zu sprechen – einen »Aufstand der Leser/innen« (Jančar 2001), also der mündigen BürgerInnen.

Anmerkungen

1 Das Motiv der Bibliothek in der Literatur des 20. Jahrhunderts ist von Günther Stocker eingehend untersucht worden (vgl. Stocker 1997).

2 Von diesen Veränderungen sind alle Bibliotheksformen (öffentliche wie wissenschaftliche Bibliotheken) gleichermaßen betroffen.

3 Diesem Bauboom steht allerdings die Schließung vieler kleiner Bibliotheken gegenüber.

4 Die Bibliothek als Veranstaltungsort begibt sich damit auch in Konkurrenz zu anderen literaturvermittelnden Einrichtungen, z.B. Literaturhäusern.

5 Im Falle der Stadt:Bibliothek Salzburg in der Neuen Mitte Lehen ist das Konzept aufgegangen. Gegenüber dem letzten Volljahr 2007 am alten Standort im Schloss Mirabell konnten die Entlehnzahlen in Lehen um ein Drittel gesteigert werden. Im ersten Jahr (2009) gab es knapp 1.035.000 Entlehnungen. Im zweiten Jahr (2010) waren es sogar 1.100.000 Entlehnungen, eine Zahl, die 2011 nochmals leicht gesteigert werden konnte. Täglich sind zwischen 1.000 und 1.200 BesucherInnen im Haus. Eine Befragung, die von 19. bis 30. September 2011 durchgeführt wurde, zeigt eine hohe Kundenzufriedenheit. 54 Prozent der LeserInnen besuchen die Stadt:Bibliothek monatlich, 35,6 Prozent wöchentlich, 1,3 Prozent täglich. Fast drei Viertel der Volksschulkinder der Stadt Salzburg haben die Stadt:Bibliothek bereits besucht. Jugendliche ab der neunten Schulstufe kommen vor allem wegen Schule und Ausbildung in die Bibliothek (45,3 Prozent), gefolgt von Freizeit und Unterhaltung (32,4 Prozent). Bei den jüngeren SchülerInnen steht die Freizeitnutzung im Vordergrund (41,4 Prozent), noch mehr bei den Erwachsenen (71,3 Prozent). Die NutzerInnen der Bibliothek kommen aus der Stadt Salzburg und den Umlandgemeinden, aus Oberösterreich und dem südlichen Bayern. Die altersmäßig am stärksten vertretene Gruppe sind die 20 bis 35-Jährigen. Was die Art der Entlehnungen betrifft, so fällt in der Stadt:Bibliothek Salzburg – im Unterschied zu anderen vergleichbaren Bibliotheken – der hohe Anteil an Belletristik auf. – Herrn Direktor Helmut Windinger danke ich für zahlreiche Informationen.

6 Auch architektonisch wird auf mittelalterliche Kloster- und Kirchenbauten angespielt (z.B. Jacobund-Wilhelm-Grimm-Zentrum in Berlin, Hachioji Library der Tama Art University in Tokio), ja diese werden sogar in Bibliotheksbauten integriert wie z.B. bei der Johannes a Lasco Bibliothek in Emden (vgl. Leiß 2011, S. 229).

7 Zu den wichtigsten Funktionen einer Bibliothek zählen das Sammeln, Erschließen und Vermitteln von Medien (vgl. Gantert 2008, S. 54).

8www.bifie.at.

9 Vgl. zum Folgenden: Ulrike Tanzer u. Werner Wintersteiner: Editorial. In: ide 33 (2006), S. 5ff.

10 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman [1930/32]. Neuausgabe 1978. Reinbek: Rowohlt 1987, Bd. 1, S. 16.

11 Ein großer Teil der Projekte ist übrigens teils aus EU-Geldern, teils aus nationalen Förderquellen drittmittelfinanziert.

12 Anfänge: der Zauber des Beginns. Studientagung des Österreichischen Bibliothekswerks. 4./5.11.2011, Heffterhof, Salzburg.

13 Die Stadtbibliothek in Salzburg verlangt im Unterschied zu anderen öffentlichen Bibliotheken in Österreich keine Einschreibgebühr.

14 Vgl. www.stadt-salzburg.at/bibliothek.

15 Der Leiterin, Dr. Christina Repolust, sei an dieser Stelle herzlich für die Überlassung der Fotos gedankt.

16 Ergebnisse der empirischen Sozialforschung legen einen Zusammenhang von Bücherlesen und psychischem Wohlbefinden nahe (vgl. Muth 1996).

17 Das sind SchülerInnen, die nicht Sinn erfassend lesen können.

18 Dies wurde etwa in dem Strategiepapier für das Projekt Bibliothek 2007, initiiert nach dem PISASchock im Jahr 2000 und finanziert von der Bertelsmann-Stiftung, festgehalten (Bertelsmann-Stiftung 2004, S. 15).

19 Als Institutionen der Literaturvermittlung werden meist Literaturkritik, Buchhandel und Verlage, Archive, Literaturunterricht in Schulen und Einrichtungen wie Literatur- und Dichterhäuser angeführt (vgl. Neuhaus 2011).

20 Ein in mehrfacher Hinsicht interessantes Beispiel dokumentierte die Journalistin Barbara Denscher in ihrem Radiobeitrag Döner und lesen. Wie Familie Aksit zur größten deutschsprachigen Bibliothek der Türkei kam (Tonspuren v. 15.11.2010, ORF-Ö1).

Literatur

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